Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
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Band 4 (1886), Seite 564570
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Darwinismus. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 564–570. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Darwinismus (Version vom 22.11.2023)

[564] Darwinismus (Darwinsche Theorie), dasjenige naturphilosophische System, welches Charles Darwin zur Erklärung des Naturlebens in seinem Zusammenhang aufgestellt hat, und welches gegenwärtig von der überwiegenden Mehrzahl der jüngern Naturforscher als die beste bisher gegebene Erklärung der Rätsel des Lebens betrachtet wird. Die Darwinsche Theorie gipfelt in Beweisen für die sogen. Abstammungs- oder Deszendenztheorie (s. d.), die durch sie erst zu dem Rang einer annehmbaren Theorie erhoben wurde. Seit dem Erscheinen des grundlegenden Werkes über die „Entstehung der Arten“ (1859) hat dieses System durch seinen Urheber selbst wie durch andre und namentlich durch deutsche Forscher bedeutend an Zuwachs und Festigkeit des Gefüges gewonnen, wovon wir nachstehend nur kurz die Umrisse andeuten können.

Die Grundlagen des D. bilden die drei Erfahrungsthatsachen der Veränderlichkeit, der Vererbungsfähigkeit und der Überproduktion der Lebewesen. Gegenüber dem Linné-Cuvierschen Dogma von der Konstanz der Arten zeigte Darwin zunächst durch sein auf der Reise um die Welt und durch langjährige Beobachtung auf dem Gebiet der Züchtung gewonnenes und außerordentlich reichhaltiges Material, daß die Veränderlichkeit oder das Variationsvermögen der Pflanzen und Tiere viel weiter gehe und eine viel weiter tragende Thatsache sei, als man bisher geglaubt. Die tägliche Erfahrung ergibt, daß die zu einer sogen. Art gerechneten Individuen einander ebensowenig jemals absolut gleichen wie die Glieder einer menschlichen Familie, daß sie vielmehr in größerm oder geringerm Grad einander unähnlich sind, also von dem vermeintlichen Urbild der Art abweichen. Schon die Beobachtung wild lebender Pflanzen und Tiere bestätigt dies, und man hat in allen systematischen Übersichten stets Nebenformen aufführen müssen, welche als klimatische, lokale etc. Varietäten entweder in einen gewissen Bezug zu den umgebenden Bedingungen gesetzt, oder einfach als Vorkommnisse, für die man eine Erklärung nicht weiter suchen zu müssen glaubte, hingenommen wurden. Die Erfahrungen der Tier- und Pflanzenzüchter erweitern diese Beobachtungen namentlich durch den Nachweis, daß kein einziges Organsystem des lebenden Körpers von diesem Variationsvermögen frei ist. Die ungeheure Mannigfaltigkeit unsrer Kulturpflanzen und Haustiere (man denke z. B. an die Spielarten der Gartenblumen und Obstsorten oder an die von Darwin zum besondern Gegenstand seiner Studien gemachten Taubenrassen) bietet selbst bei Anerkennung der Mitwirkung von Hybridationen das ausgiebigste Beweismaterial gegen das Dogma von der Unveränderlichkeit der Art. Die Varietäten aber sind nach Darwins Auffassung nichts andres als beginnende Arten, und es kommt nur darauf an, daß sie sich weit genug von der Stammform entfernen, um als selbständige, neue Arten zu gelten. Die Ursache der meisten Absonderungen [565] ist wahrscheinlich in äußern Einwirkungen zu suchen, auf welche jeder Organismus in bestimmter, eigentümlicher Weise reagiert, wie dies schon Etienne Geoffroy de Saint-Hilaire in seinen Darlegungen über den Einfluß des äußern Mittels behauptet hatte. Nur in den seltensten Fällen kann man begreiflich den bedingenden Faktor der Umwandlung und noch seltener die Art seiner Wirkung feststellen, aber einige Beispiele beweisen die Wirksamkeit dieser äußern Einflüsse hinlänglich. So ändern bestimmte Tiere infolge einer abweichenden Nahrung die Farbe, wie z. B. Kanarienvögel durch fortgesetzte Beimischung von spanischem Pfeffer zu ihrer Nahrung eine tief orangerote Färbung annehmen. Anderseits kann man bei gewissen Blattkrebsen bestimmte Formverwandlungen beliebig hervorrufen, indem man den Salzgehalt des Wassers, in welchem sie leben, vermehrt oder vermindert. Einen direkten abändernden Einfluß der Temperatur zeigen gewisse Schmetterlinge, die einen sogen. Saisondimorphismus darbieten, bei denen nämlich aus überwinterten Puppen Schmetterlinge hervorgehen, die durch Färbung und Flügelschnitt von der Sommerbrut sehr verschieden sind. Aber die Winterform kann künstlich im Sommer erzielt werden, wenn die Puppen der Sommerbrut in einen Eiskeller gebracht werden, und dieses Beispiel ist besonders lehrreich, weil es die nachwirkenden Einflüsse der äußern Bedingungen auf alle Lebensperioden erweist. Alle derartigen Änderungen sind in der Regel nicht auf ein Organ oder Organsystem beschränkt, vielmehr sind gewisse Änderungen immer mit solchen in andern Organen verknüpft, wie die Farbe der Haare und der Augen oder die Geweihbildung mit dem Fehlen aller obern Zähne oder der Schneidezähne. Man nennt dieses noch vielfach dunkle Verhalten das Gesetz von den Wechselbeziehungen oder der Korrelation der Organe. Einer der wichtigsten Faktoren ist die schon von Lamarck betonte Wirkung des Gebrauchs und Nichtgebrauchs von Körperteilen (funktionelle Anpassung). Jedermann erinnert sich der kräftigen Arme des Arbeiters, der starken Beine der Tänzer und Fußwanderer. Auf der andern Seite schwinden Organe, die außer Gebrauch gesetzt werden, alsbald dahin, so die Augen der beständig im Finstern lebenden Tiere, die Füße der festwachsenden und die meisten äußern Organe der Schmarotzertiere. Es sind dies Fälle von einer sogen. direkten Anpassung an neue Lebensbedingungen, insofern hier die Variation unmittelbar das Zweckmäßige bewirkt, nämlich Stärkung durch fortgesetzten Gebrauch und Schwund bei aufgehobenem. Am stärksten werden solche äußere umwandelnde Umstände einwirken, wenn ein Organismus in eine völlig neue Umgebung mit sehr veränderten Lebensverhältnissen gebracht wird, z. B. in ein fernes Land. Wir können diesen Einfluß täglich an Europäern studieren, wenn sie nur ein Menschenalter in Nordamerika zugebracht haben, und offenbar wird der verändernde Einfluß der Auswanderung in ferne Länder (Migration) bei Tieren und Pflanzen noch viel größer sein als beim Menschen, der sich vielen Natureinflüssen entzieht. Daher hat auch Moritz Wagner im Gegensatz zur Darwinschen Theorie eine besondere Migrations- oder Separationstheorie aufgestellt, welche die Mannigfaltigkeit der Tier- und Pflanzenwelt aus der räumlichen Trennung der Varietäten oder aus einer direkten Anpassung an überall verschiedene Lebensbedingungen erklären will, so daß jedes Wesen seinen besondern Schöpfungs- oder besser Entstehungsmittelpunkt habe. Das letztere mag richtig sein, aber jedenfalls genügt diese Theorie nicht, um die sogen. Anpassung (s. d.), d. h. die zweckmäßige Ausrüstung der Lebewesen für die neuen Lebensbedingungen, zu erklären. Man kann vernunftgemäß weder annehmen, daß die Kälte der Polarzone weiß gefärbte und dickpelzige Tiere direkt erzeugt habe, noch daß solche Tiere etwa, weil sie aus andern Gründen eine weiße Farbe und einen dicken Pelz erhalten haben, nach der Polarzone ausgewandert wären; die Migration ist eben, wie so viele andre mitwirkende Faktoren, nur eine kompliziertere Veränderungsursache und kann die Befestigung der Variation zuweilen dadurch befördern, daß sie auswandernde abgeänderte Individuen strenger isoliert und dadurch die geschlechtliche Vermischung mit den unverändert gebliebenen Individuen hindert.

Das zweite Hauptprinzip des D. beruht in der Vererbungsfähigkeit der neuerworbenen Eigentümlichkeiten, welche ebenfalls durch zahllose Beobachtungen bestätigt wird und sich zuweilen bis auf willkürlich erzeugte Verstümmelungen erstreckt. Nicht nur finden wir in der Natur konstante Lokalformen von Pflanzen und Tieren, welche diese Vererbungsfähigkeit bestätigen, sondern auch die gesamte Praxis der Züchter beruht auf der genauen Kenntnis und richtigen Anwendung gewisser Gesetze der Erblichkeit (s. d.). Das wichtigste derselben ist, daß eine neuentstandene Variation am sichersten und gewöhnlich sogar befestigt und gesteigert wieder auftreten wird, wenn zwei nach derselben Richtung variierende Individuen miteinander gepaart werden (Inzucht). Anderseits werden Abänderungen wieder verschwinden, wenn durch die Paarung mit unveränderten Individuen die Vererbungskraft der neuerworbenen Eigenschaften durch die stärkere Vererbungstendenz der ältern Eigenschaften überwogen und geschwächt wird. Isolierung wird deshalb die Erhaltung neuer Variationen befördern, ungehinderte Kreuzung, sofern sie den Rückschlag zur Stammform begünstigt (s. Atavismus), sie hindern.

Variabilität und Erblichkeit sind als Thatsachen der Erfahrung nicht zu bestreiten, aber aus ihrem Zusammenwirken ist man noch nicht im stande, die Thatsache der vollendeten Anpassung der neuen Arten an neue Lebensverhältnisse, die Zweckmäßigkeit und gesteigerte Vollkommenheit der Organisation, die uns in der Stufenleiter der Wesen entgegentritt, zu erklären, mögen wir nun bloß die heute lebenden oder auch die ausgestorbenen ins Auge fassen. Von den wunderbaren Erfolgen der künstlichen Züchtung überrascht, fragte sich Darwin, ob nicht auch in der freien Natur ein Verhältnis sich finden möge, welches im stande wäre, eine der auswählenden Thätigkeit des Züchters entsprechende Wirkung zu äußern, indem es die Entstehung bestimmter Varietäten begünstigte. Durch das Studium eines Buches des Nationalökonomen Malthus über die Mißverhältnisse, welche in der menschlichen Gesellschaft durch die starke Bevölkerungszunahme im Gegensatz zu der beschränkten Anzahl der Nährstellen entstehen, wurde Darwin zu der Erkenntnis geführt, daß ein ähnlicher Kampf ums Dasein (struggle for life), wie ihn Malthus unter den Menschen schildert, in sogar noch erhöhtem Maßstab unter den Tieren und Pflanzen wegen ihrer zum Teil ungeheuern Vermehrungsfähigkeit entbrennen und die Folge haben müßte, daß nur die den obwaltenden Lebensverhältnissen am besten entsprechenden Varietäten erhalten werden. Dies Prinzip der sogen. natürlichen Auslese oder natürlichen [566] Züchtung wurde übrigens gleichzeitig mit Darwin von Wallace zur Erklärung der Wesenmannigfaltigkeit und der Zweckmäßigkeit ihres Baues angewendet (Zuchtwahl- oder Selektionstheorie).

Um die Wirkungsweise der natürlichen Auslese zu verstehen, muß man sich erinnern, daß die Mitbewerbung wegen der Gleichartigkeit der Ansprüche an Boden, Nahrung, Sicherheit gegen Nachstellungen etc. unter den Angehörigen derselben Art am stärksten sein würde, und daß hier geringe körperliche Vorzüge nach der einen oder andern Richtung, z. B. auf einem trocknen Boden und in einer trocknen Jahreszeit das Vermögen, mit etwas weniger Feuchtigkeit auszukommen, oder die Fähigkeit, durch eine bestimmte Färbung den Feinden besser zu entgehen, zum Sieg führen können; es ist das Überleben des Passendsten, wie Herbert Spencer den Vorgang genannt hat. Die vielbewunderte Zweckmäßigkeit des Baues und die vollkommene Anpassung bestimmter Organismen für ihre Lebensverhältnisse sind in dieser Auffassung nichts andres als die Endergebnisse eines allseitigen Variationsvermögens im allgemeinen Konkurrenzkampf; nur das unter den gegebenen Verhältnissen Zweckmäßigste kann gegen seinesgleichen aufkommen und Fortdauer erringen. Einige Beispiele werden die Sache deutlicher machen. Es ist seit langem bekannt, daß sehr viele Tiere in die Farbe ihrer Umgebung gekleidet sind, z. B. die Polartiere in die Farbe des Schnees, die Wüstentiere in ein sandgelbes Gewand; die auf der Erde lebenden Tiere sind häufig grau oder graubunt, die Baumraupen und Frösche grün, viele Seetiere sind beinahe durchsichtig wie Glas. Die Theorie der natürlichen Auslese erklärt, daß sie diese Schutzfarben erlangen konnten, weil auf diese Weise gefärbte Varietäten ihren Feinden am besten entgehen oder die zu ihrer Nahrung dienenden Tiere leichter beschleichen konnten, da sie sich von ihrer Umgebung nicht unterschieden. Bei vielen Tieren ist diese Nachahmung oder Mimikry bis auf die Zeichnung der Rinden oder Blätter ausgedehnt worden, auf denen sie gewöhnlich unbeweglich sitzen, z. B. bei Nachtschmetterlingen, Heuschrecken, Raupen etc. Anderseits findet man sehr viele giftige oder widrig schmeckende und duftende Seetiere, Raupen, Schmetterlinge, Amphibien und Reptilien so lebhaft gefärbt und gezeichnet, daß man sie bereits von weitem von dem Grund, auf welchem sie sitzen, unterscheiden kann. Diese Tiere werden, wie man sich durch den Versuch überzeugen kann, von den Tieren, denen ihresgleichen zur Beute dienen, gemieden; die grell gefärbten und von ihrer Nährpflanze stark abstechenden Raupen werden z. B. nicht von Vögeln angerührt, welche unscheinbar gefärbte Raupen begierig fressen. Man kann daher annehmen, daß es sich hierbei um Trutzfarben handelt, d. h. um Farben, die sich durch die natürliche Auslese zu Warnungssignalen ausgebildet haben, an denen Vögel und andre Insektenfresser gern gemiedene Tiere schon von weitem erkennen. Wallace und Bates haben ferner die Entdeckung gemacht, daß derartige auffällig gekleidete Tiere, welche nur wenig Verfolger besitzen, von andern Arten nach Form und Färbung nachgeahmt werden, so daß sich zwei oder mehrere einander im sonstigen Bau ganz fern stehende Tiere im Aussehen sehr ähnlich werden. Man bezeichnet diese namentlich bei Schmetterlingen, aber oft auch bei andern Insekten, Vögeln und Reptilien beobachtete Erscheinung als Nachahmung geschützter Arten oder Mimikry im engern Sinn.

Was hier in Bezug auf die äußere Färbung mit einigen Worten ausgeführt wurde, bezieht sich aber auch auf den innern Bau, auf die gesamte Organisation, ja auf die Instinkte und Geistesfähigkeiten der Tiere; überall muß die natürliche Auslese das für die bestimmte Lebensweise Zweckmäßigste hervorgebracht haben. Hierher gehören natürlich auch Waffen und Panzer der Tiere, Verstärkungen des Gebisses für besondere Zwecke, Umgestaltungen der Füße zu Lauf-, Scharr-, Greif- und Ruderfüßen, bei den Pflanzen Aussäungsvorrichtungen, welche die möglichste Verbreitung einer Pflanze sichern, etc. Die erlangte Zweckmäßigkeit ist in allen Einzelfällen eine relative, denn eine allen Verhältnissen der einen Lebensweise (z. B. dem Wasserleben) angepaßte Tierart wird in den meisten Fällen für andre Verhältnisse (z. B. für das Leben auf der Erde oder auf Bäumen) sehr unzweckmäßig organisiert erscheinen. Indessen läßt sich unschwer verstehen, wie die Auslese als treibendes Agens auch zu Steigerungen der allgemeinen Leistungsfähigkeit führen, d. h. eine Vervollkommnung der Lebewesen von niedern Stufen zu höhern bewirken konnte. Das hierfür von der Auslese in Bewegung gesetzte Prinzip ist hauptsächlich das der Arbeitsteilung (s. d.). Die Vollkommenheitsstufe eines Lebewesens prägt sich stets am einfachsten dadurch aus, daß sein Körper zur Ausführung der verschiedenartigsten Leistungen immer spezialisierter entwickelte Organe ausgebildet hat. An die Stelle einer gleichartigen, alle Lebensthätigkeiten ausführenden Substanz, wie des Protoplasmas der niedersten Urwesen, treten, wenn wir etwas höher steigen, allmählich Substanzteile, die durch besondere Eigenschaften besondern Leistungen angepaßt sind. Aus gemeinsamen Funktionskreisen löst sich ein Glied nach dem andern, um in höhern, zusammengesetztern Formen durch besondere Teile oder Organe vertreten zu werden. Nicht plötzlich wachsen dabei dem Körper neue Organe zu, sondern es findet meist ein Funktionswechsel statt; die Haut, welche bisher das Allgemeingefühl vermittelte, wird an besondern Stellen empfindlicher für Lichtwirkungen und an andern für Geschmacks- und Geruchsempfindungen; aus der früher nur nebenbei den Gasaustausch vermittelnden Schwimmblase der Fische entstand die Lunge der Lufttiere etc. Es liegt aber auf der Hand, daß solche Spezialisationen von der Auslese begünstigt werden müssen, da durch sie immer mehr Wesen zum Genuß besonderer Nährstellen im Naturhaushalt befähigt wurden, unter denen dann die Konkurrenz stets leistungsfähigere Organisationen schaffen mußte, immer unter der Voraussetzung der, soweit wir sehen, unbegrenzten Variationsfähigkeit. Natürlich darf dieser Fortschritt zu höherer Vollkommenheit nicht wie ein allgemeines Ziel oder wie ein Endzweck betrachtet werden, denn das würde den Thatsachen widersprechen. Wir sehen vielmehr, daß, wenn auch im allgemeinen ein steter Fortschritt zu höhern Organisationen in der Natur seit jeher stattgefunden zu haben scheint, dabei doch auch zahllose Rückschritte und häufig ein tiefes Herabsinken von bereits erlangten Stufen höherer Organisation unter Tieren und Pflanzen stattgefunden hat. Eine Krebsart, die sich im Laufe vieler Generationen daran gewöhnte, auf Kosten andrer Wesen von deren Säften zu leben, konnte dadurch vielleicht gewisse bei der ältern, selbständigen Ernährungsweise stehen gebliebene Geschwister überleben und büßte dabei durch Nichtgebrauch alle Sinnes- und Bewegungsorgane ein, für sie war der Rückschritt vorteilhafter als der Fortschritt, und so haben auf einigen ozeanischen Inseln einige Käfer [567] und sonstige Insekten, welche das Flugvermögen durch Verlust der Flügel ganz eingebüßt haben, über ihre geflügelten Kollegen das Übergewicht erlangt, wahrscheinlich, weil die fliegenden durch diese Fertigkeit immer wieder in Gefahr gerieten, bei heftigem Wind ins Meer geweht zu werden.

Einen ähnlichen ehemaligen Verlust muß man bei den Zweiflüglern unter den Insekten voraussetzen, denn die meisten andern Insekten haben vier Flügel, und in der That gewahrt man bei genauerm Hinschauen an der Stelle der beiden Hinterflügel zwei kleine Stummel, die in der Entwickelung immer von neuem erscheinenden Überreste der verlornen Organe (rudimentäre Organe). Solchen Beweisen eines in irgend einer Richtung stattgehabten Rückschritts begegnet der aufmerksame Naturbeobachter in großer Anzahl, sowohl bei Pflanzen als bei Tieren. Dahin gehören z. B. die verkümmerten Staubfäden weiblicher Blüten, die Augäpfel völlig blinder Tiere, die Zähne junger Wale, die Schwanzwirbel und Muskeln schwanzloser Wirbeltiere, die Beinstummel fußloser Schlangen und Eidechsen etc. Diese rudimentären Organe sind weit entfernt, irgendwie nützlich zu sein, ihrem Inhaber zuweilen geradezu schädlich, wie der Blinddarm und die Schilddrüse des Menschen, welche beide ohne ersichtlichen Nutzen unter Umständen Verderben und Krankheit herbeiführen.

Die bisher angedeuteten Hypothesen suchen die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit der organischen Bildungen durch mechanische Prinzipien zu erklären. Eine Reihe von Erscheinungen der organischen Natur fallen aber nicht unmittelbar unter den Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit, und hier läßt sich alles das zusammenfassen, was die ästhetische Seite der Natur angeht, auf die Schönheit oder Unschönheit der äußern Erscheinung, Farbenpracht, Formenreiz, Duft und Geschmack, Bezug hat. Auch auf dem ästhetischen Gebiet hat Darwin zuerst die Wege des nähern Verständnisses eröffnet und zwar in seinem 1871 erschienenen Buch über die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Er zeigte, daß auch eine zufällig erlangte äußere Schönheitszunahme einem Tier von Nutzen werden könne, sofern bei der Paarung schönere Tiere augenfällig bevorzugt werden und zuerst, bez. allein unter ihresgleichen dazu gelangen, sich fortzupflanzen. In der Regel ist es das männliche Geschlecht, welches auffallende äußere Zieraten erlangt und mit denselben kokettiert, wie z. B. der männliche Pfau, Paradiesvogel, Fasan etc. Die Weibchen, welche einfacher gefärbt erscheinen, üben eine Wahl aus und verhalten sich der Konkurrenz der Männchen gegenüber wie Preisrichter, die sich selbst als Preis hergeben. In der Regel erwirbt das stärkste Männchen den Preis im Ringkampf, oft besteht aber der Wettkampf nur in einem Entfalten der körperlichen Schönheit oder im Wettgesang vor dem wählenden Weibchen. Da nun die schönern und stärkern Männchen am meisten Aussicht haben, sich fortzupflanzen, so schließt Darwin, daß das unscheinbare Weibchen der Stammform am meisten gleicht, und daß die Schönheit der Männchen allmählich durch geschlechtliche Zuchtwahl entwickelt worden ist. Das Weibchen nimmt vielleicht darum keinen Teil an dieser Verschönerung, weil ihm beim Brüten die größte Unscheinbarkeit zum Schutz gegen seine Feinde nützlich ist. Auch die männlichen Jungen gleichen zuerst stets der Mutter, also der mutmaßlichen Stammform, und erlangen erst im Lauf ihrer fernern Entwickelung jenen auszeichnenden Schmuck des Männchens. Gegen diese Erklärung sind zwar von Wallace und Mantegazza beachtenswerte Einwände erhoben worden, doch haben dieselben keine wahrscheinlichere Theorie zur Erklärung der Steigerung geschlechtlicher Zieraten an deren Stelle zu setzen gewußt.

Durch eine ähnliche Betrachtungsweise hat man auch die Schönheit und den Wohlgeruch der Blumen nach mechanischen Prinzipien aus einem Züchtungsprozeß hergeleitet, bei welchem die dem Blumenstaub und dem Honig nachgehenden Insekten als die Züchter anzusehen sind, welche die durch Größe, Farbenschönheit oder Wohlgeruch ausgezeichneten Blüten, weil sich dieselben ihnen schon aus einiger Entfernung sichtbar machten, bevorzugten und, indem sie zu ihrer Befruchtung und Fortpflanzung beitrugen, die Steigerung ihrer Anziehungskraft bewirken konnten. Auch auf diesem von teleologischem Standpunkt schon im vorigen Jahrhundert durch Kölreuter und Sprengel bearbeiteten Feld wirkten Darwins Arbeiten bahnbrechend, und er zeigte zunächst an den Orchideen, daß sich hierbei die innigsten Wechselbeziehungen zwischen Blumen und Insekten herausgebildet haben, und daß die Kreuzung der Blüten mit fremdem Pollen, wie sie die Insekten bewirken, für die Nachkommenschaft von Vorteil ist, indem die Samen kräftiger ausfallen als bei Selbstbefruchtung. Kann man sich nun erklären, wie sich aus den ältern Gewächsen mit unscheinbaren Blüten, die der Wind befruchtete, solche mit farbenreichen und duftenden Blüten entwickelt haben, so haben Darwins Arbeiten auch den Schlüssel für viele andre Umbildungen des Pflanzenreichs gegeben, z. B. für die Entstehung der besondern Wachstumsart der Kletterpflanzen und für die abnorme Ernährungsweise der insektenfressenden Pflanzen. Schon sein Großvater hatte darauf hingewiesen, daß viele Pflanzen die Fähigkeit erlangt haben, sich durch Dornen, Nesselhaare, Harzausschwitzungen, scharfe Öle und Giftstoffe gegen die Angriffe unerwünschter Gäste, die nichts zu ihrer Fortpflanzung beitragen, zu schützen, und auch hier haben sich höchst merkwürdige Wechselbeziehungen entwickelt, indem z. B. manche Gewächse durch Ameisen, denen sie Unterkunft und Honignahrung gewähren, vor dem Besuch andrer, ihr Laub verzehrender Insekten geschützt werden. Auf diesem die Wechselbeziehungen zwischen Pflanzen und Tieren behandelnden Gebiet haben namentlich Fritz und Hermann Müller, Delpino, Kerner die Erkenntnis beträchtlich erweitert.

Man begreift ohne Mühe, wie durch die zahllosen Wechselbeziehungen der lebenden Natur, unter dem regelnden Einfluß der natürlichen Auslese und geschlechtlichen Zuchtwahl im Lauf unübersehbarer Zeiträume vielleicht aus sehr geringen Anfängen jene ungeheure Mannigfaltigkeit der Pflanzen- und Tierformen, die wir bewundern, entwickelt worden sein kann. Erst dadurch wird das natürliche System der Pflanzen und Tiere, bei denen man schon längst von Verwandtschaftsbeziehungen und natürlichen Familien sprach, verständlicher, und das ganze Reich des Lebens löst sich in wenige Hauptstämme, von denen sich unter Einordnung der ausgestorbenen, fossilen Formen die andern ableiten lassen, kurz das Gesamtsystem wird ein genealogisches, und die heute lebenden Arten lassen sich als die letzten grünenden Verzweigungen von Ästen verstehen, deren Stämme und Wurzeln in der grauesten Vorzeit ruhen. Die Gattungen lassen sich dann ebenso den Hauptzweigen, die Familien und Ordnungen den Nebenästen und die Klassen den Hauptästen am Stamm [568] des Lebens vergleichen, und so wird die immer entferntere Formenverwandtschaft der einzelnen höhern Gruppen verständlicher, als sie jemals war. Bei der Aufsuchung dieser Verwandtschaften ist vor allem die Gleichwertigkeit (Homologie) der Teile blutsverwandter Tiere maßgebend, und man darf sich nicht von bloßen, durch ähnliche Lebensverhältnisse und Mimikry, also durch Vorgänge, die man unter dem Namen der konvergenten Züchtung zusammenfaßt, erzeugten Analogien täuschen lassen. So ist die Ähnlichkeit der äußern Körpergestalt bei Regenwürmern, Blindwühlern u. Schlangen durch die gleiche Lebensweise und nicht durch Blutsverwandtschaft bedingt, und Schmarotzerpflanzen der verschiedensten Klassen nehmen eine gewisse Ähnlichkeit miteinander an, indem die Blätter sich zurückbilden und die Chlorophyllbildung unterbleibt. Hierbei bleibt vor allem die Entwickelungsgeschichte maßgebend, indem die Homologie der Bildungen früh hervortritt, während die durch konvergente Züchtung hervorgebrachten Analogien zweier Tiere meist erst ganz zuletzt hervortreten. Erschwert wird die Aneinanderreihung der zu einander gehörigen Formen dadurch, daß zahlreiche Zwischen- und Übergangsformen im Lauf der Zeiten ausgestorben sind, so daß wir im glücklichsten Fall hoffen dürfen, diese die Lücken des Systems ausfüllenden Formen im fossilen Zustand zu finden. Sehr viele solcher Lücken, die noch vorhanden waren, als Darwin seine diesbezügliche Ansicht vom natürlichen System aufstellte, sind inzwischen bereits ausgefüllt worden, so z. B. die tiefe Kluft, welche ehemals die Vögel von den übrigen Wirbeltieren trennte, durch die Auffindung der Archaeopteryx und der gezahnten Vögel.

Die Stärke und der Wert des D. beruht in der schon von Kant geforderten mechanischen Erklärung der organischen Natur, durch welche gezeigt werden soll, wie alle Organismen und ihr zweckmäßiger Bau im Lauf einer langen Entwickelung allmählich geworden sein können, also in dem Ersatz der vorher geplanten Zweckmäßigkeit durch die gewordene Zweckmäßigkeit, weil sich nur das unter den gegebenen Verhältnissen Zweckmäßigste erhalten konnte. Der hierin gegebenen Bekämpfung des teleologischen Prinzips verdankt der D. einerseits seine Bedeutung für die Philosophie, anderseits die vielfachen Angriffe von seiten der Theologen und teleologischen Naturforscher. Aber nicht weniger wichtig als die Erklärung des Zweckmäßigen ist die des Unzweckmäßigen und Bösen in der Natur, deren Dasein man sonst nur durch viele Winkelzüge, oder indem man sie einem bösen Prinzip zuschrieb, zu erklären wußte. Sie erklären sich aber sehr leicht, wenn wir bedenken, daß sich die durch die natürliche Auslese erlangte Zweckmäßigkeit immer nur auf das betreffende Wesen und seine Lebensweise selbst beziehen kann, also unter Umständen nicht ausschließen, ja eher dahin drängen wird, dasselbe den übrigen Lebewesen möglichst gefährlich zu machen. Das Raubtiergebiß, der Giftzahn der Schlangen, das Gift vieler Pflanzen sind solche Errungenschaften. Dadurch, daß er aus demselben Prinzip die relative Zweckmäßigkeit und Unzweckmäßigkeit, also z. B. auch die der rudimentären Organe, erklärte, wurde Darwin jener Newton der organischen Welt, den noch Kant erwartete. Eine besondere Lehre zur Erklärung unzweckmäßiger Bildungen (Dysteleologie) hat sich nach dieser Richtung ausgebildet.

Eine solche philosophische Bewegung mußte bald bedeutende Dimensionen annehmen und eine Menge wissenschaftlicher Gebiete in Mitleidenschaft ziehen. Ein festeres Gefüge empfing der D. zuerst durch das organisatorische Talent Häckels, welcher ihm in mehreren populären Schriften die Gestalt eines abgerundeten naturphilosophischen Systems gab. Während Darwin in seinem grundlegenden Werk mehrere erschaffene niedere Formen angenommen und den Menschen vorläufig außer Betracht gelassen, behandelte Häckel in seiner „Generellen Morphologie“ (1866) bereits alle Organismen von demselben Gesichtspunkt, indem er die niedersten Urwesen oder Protisten als durch freiwillige Entstehung (generatio aequivoca) hervorgegangen annahm und von ihnen, wie von einer gemeinsamen Wurzel, einerseits das Pflanzenreich und anderseits das Tierreich ableitete und das Menschengeschlecht als einen besonders weit entwickelten Zweig des letztern hinstellte. Infolge dieser genealogischen Betrachtungsweise der lebenden Natur wurde Häckel zum Entwerfen von sogen. Stammbäumen sowohl für die Gesamtheit als für die einzelnen Abteilungen veranlaßt, die zunächst nichts sein können und sein sollen als Forschungsprogramme oder Fragebogen, deren Bestätigung oder anderweite Ergänzung der Weiterforschung anheimgestellt wird. Ferner stützte er die Entwickelungstheorie durch den Hinweis auf die Entwickelung des Einzelwesens, weil sich hier oftmals der Parallelismus mit der Entwickelung der Klasse, Gattung und Art aufdrängt. Schon in den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts hatten die Embryologen auf diesen Parallelismus hingewiesen (s. Entwickelungsgeschichte), durch welchen man z. B. aus dem Auftreten der Kiemenspalten bei den Embryonen höherer Wirbeltiere auf die Abstammung derselben von Kiementieren geschlossen hatte. Durch Huxley, Fritz Müller und Häckel wurde der Nachweis geführt, daß die individuelle Entwickelungsgeschichte einer Art (Ontogenie) in vielen Fällen ein getreues Nachbild der Geschichte ihres Stammes (Phylogenie) sei, und als sogen. biogenetisches Grundgesetz (s. Entwickelungsgeschichte) von Häckel formuliert. Die Entwickelungsgeschichte wurde so zum Beweismittel der Darwinschen Theorie und konnte in gewissen Fällen sogar als Wegweiser zur Ermittelung der natürlichen Verwandtschaften und der Abstammung dienen. Eine solche Gelegenheit trat bei der Entdeckung Kowalewskys über die übereinstimmende Entwickelung der Seescheiden und des Lanzetttiers (Amphioxus) ein, durch welche zuerst eine Anknüpfung des Stammes der Wirbeltiere mit den niedern Tieren und speziell mit den Würmern angedeutet wurde. Bei den Larven verschiedener Seescheiden wurden nämlich Andeutungen der Chorda oder des Rückenstabes, eines embryonischen Organs der Wirbeltiere, entdeckt, die dort in der weitern Entwickelung durch Rückbildung wieder verschwinden (s. Entartung) und Häckel zur Aufstellung einer besondern ausgestorbenen Mittelklasse zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen führten, die als Chordatiere, Chordonier oder Rückenstrangtiere bezeichnet wurden. Eine ähnliche Rekonstruktion versuchte Häckel bald danach auf eine gemeinsame Larvenform der meisten echten Tiere, der Darmlarve oder Gastrula, indem er eine ihr ähnliche selbständige Tierform, die Gastraea, als die gemeinsame Stammform aller eigentlichen Tiere bezeichnete, in seiner viel angefochtenen Gasträatheorie (s. Entwickelungsgeschichte). Das Studium der Entwickelungsgeschichte ist so zu einer sehr fruchtbaren Disziplin geworden, besonders in den Arbeiten von Häckel, Fritz Müller, Weismann, O. Schmidt, Balfour u. a.

[569] Eine ähnliche Befruchtung erfuhr das Studium der vergleichenden Anatomie und der Paläontologie durch die neuen Gesichtspunkte des D. Auf dem Gebiet der erstern haben insbesondere die Arbeiten von Gegenbaur, Huxley und Kowalewsky die Erkenntnis der natürlichen Verwandtschaft und der Beziehungen der einzelnen Gruppen zu einander gefördert; die klassischen Untersuchungen des erstern erwiesen die Homologie der Teile aller zu einer und derselben Abteilung gehörigen Tiere, zumal der Knochen des Schädels, Rumpfes und der Extremitäten aller höhern und niedern Wirbeltiere. Huxley wies unter anderm die völlige Übereinstimmung des Körperbaues bei Affen und Menschen bis in die kleinsten Details des Gehirn- und Gliederbaues nach und arbeitete so den Werken Darwins und Häckels über die Abstammung des Menschen vor, deren Erscheinung die Theorie krönte, aber natürlich einen großen Sturm hervorrief. Beiläufig mag hier bemerkt werden, daß weder von Huxley, Darwin oder Häckel noch von irgend einem unterrichteten Darwinisten jemals die ihnen von ununterrichteten Gegnern zugeschriebene Ansicht ausgesprochen worden ist, daß der Mensch vom Gorilla oder von sonst einem heute lebenden anthropoiden Affen abstamme; es ist vielmehr stets von ihnen hervorgehoben worden, daß dieselben mit dem Menschen nur die Spitzen divergierender Zweige eines gemeinschaftlichen Stammes sein könnten, der auf einen gemeinsamen Urzeuger zurückführe. Es handelt sich also nach darwinistischen Ansichten hier um Vetterschaft, nicht um Ahnenschaft.

Sehr wichtige Unterstützungen hat der D. durch den paläontologischen Nachweis einerseits von sogen. Übergangsformen, die jetzt getrennt erscheinende Tier- und Pflanzenabteilungen verbinden, wie z. B. der schon erwähnte Urvogel (Archaeopteryx), anderseits durch Auffindung ganzer Reihen ineinander übergehender und der Zeitfolge entsprechend nacheinander auftretender Tiere erhalten. Vor allem wichtig ist der paläontologische Nachweis, daß in allen Abteilungen einfacher organisierte Lebensformen den höher stehenden in strenger Stufenfolge vorausgegangen sind. So begannen im Pflanzenreich Algen, Farne, Schafthalme und Lykopodiaceen, d. h. Pflanzen ohne Blüten- und Samenbildung, die Reihe, es folgten die Ursamenpflanzen, zu denen Nadelhölzer und Cykadeen gehörten, und erst dann traten die höhern, Blumen tragenden Gewächse auf die Schaubühne; im Tierreich erschienen nacheinander wirbellose Tiere, Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere. Auch in jeder Unterabteilung gingen, soweit es sich irgend übersehen läßt, einfacher gebaute Formen den höher stehenden voraus, so unter den Säugern die Beuteltiere, während der Mensch sich erst in den jüngsten Schichten fossil findet. Bei einzelnen Tieren konnte die Umwandlung durch zahlreiche Zwischenformen, die sich zu mehr oder weniger lückenlosen Reihen verbinden lassen, verfolgt werden. Eins der lehrreichsten Beispiele hierfür bietet eine Süßwasserschnecke (Planorbis multiformis), von welcher Hilgendorf 1866 einen vollständigen Stammbaum mit mehreren divergierenden Ästen im Steinheimer Süßwasserkalk nachweisen konnte. Ähnliche lückenlose Reihen sind von andern Forschern bei Trilobiten, Brachiopoden, Ammoniten und andern Tieren beschrieben worden. Das größte Aufsehen in dieser Richtung haben die Untersuchungen über die fossilen Säugetiere, namentlich über die fossilen Pferde und andre Huftiere, von Rütimeyer, Kowalewsky, Huxley, Marsh u. a. erregt. Durch mehr als ein halbes Hundert Arten, von denen die meisten in Nordamerika gefunden worden sind, hat sich der Stammbaum des Pferdes bis in die frühste Eocänzeit zurück verfolgen lassen. Schritt für Schritt zeigen die fossilen Gattungen Eohippus, Orohippus, Mesohippus, Miohippus, Pliohippus, Protohippus und Hipparion, wie aus einem kleinen fünfzehigen Huftier, nicht größer als ein Fuchs, durch lauter allmähliche Übergänge das Einhufergeschlecht hervorgegangen ist; die Verkümmerung der Seitenzehen, die Umbildung der Bein- und Armknochen, die Veränderung des Gebisses, das Wachstum des Gehirns und alle andern im Skelett ausgedrückten Veränderungen während dieses ungeheuern Zeitraums haben sich paläontologisch nachweisen lassen, so daß hier ein Beweis für die Wahrheit der Deszendenztheorie vorliegt, wie er nicht bündiger verlangt werden kann. Überhaupt ist in den letzten Jahren durch die Untersuchungen französischer, englischer, deutscher und namentlich amerikanischer Paläontologen der Stammbaum zahlreicher Tiere, deren ältere Reste in Europa selten sind, aufgehellt worden, so namentlich derjenige der Raubtiere, Nashörner, Schweine, Hirsche, der kamelartigen Tiere und andrer Wiederkäuer.

Eine der nächsten Folgen der Erstarkung des D. war, daß er eine Reihe andrer Wissenschaften in seine Kreise zog. In der Geologie hatte Lyell bereits das Prinzip der allmählichen Entwickelung gegenüber der Katastrophentheorie zur vollsten Geltung gebracht. Du Prel wandte die Lehre vom Kampf ums Dasein mit Glück auf die Astronomie an, indem er zeigte, daß die verschlungenen Bahnen der Weltkörper so lange Eliminationen bewirken mußten, bis für die übrigbleibenden völlig freie Bahn geschaffen wurde. Die Medizin beginnt namentlich in neuester Zeit in der Lehre von den Infektionskrankheiten von darwinistischen Betrachtungen über die Formwandlungen der Krankheitspilze und ihre Anpassung an verschiedene Lebensweise Nutzen zu ziehen und darwinistische Erklärung der Ansteckung, Immunität etc. zu versuchen. Nägeli, Pasteur und andre Forscher haben auf diesem Gebiet bemerkenswerte Erfolge erzielt. Selbst die Chemie blieb nicht unberührt, sofern Pfaundler u. a. zeigten, daß auch unter den Elementarstoffen und Verbindungen von einem Kampf ums Dasein gesprochen werden müsse. Der folgenschwerste und bedeutungsvollste Akt dieser Übertragung der das ganze Weltall beherrschenden Naturgesetze auf die Entwickelungserscheinungen des Alls bestand aber offenbar darin, daß, wie einst die Erde durch Kopernikus aus ihrer Mittelpunktsstellung geworfen wurde, nunmehr der Mensch selbst, der bisher eine Ausnahmestellung einzunehmen gewillt war und als über der Natur stehend namentlich in seinem geistigen Leben betrachtet worden war, als ein zugehöriger Teil des Ganzen reklamiert und mitten in die Natur hinein versetzt wurde. Damit zog der D. auch die Geisteswissenschaften in seine Kreise, und es begann nun eine nie vorher dagewesene Wechselwirkung zwischen den sogen. objektiven und den subjektiven Wissenschaften; alle boten Berührungspunkte, und ihre Bearbeitung vom entwickelungsgeschichtlichen Standpunkt hat auf manche derselben ein ganz überraschendes Licht geworfen. In diesem Sinn zeigt sich die Menschenhistorie mit allen ihren Verzweigungen als ein Glied der allgemeinen Naturhistorie, und die Naturgeschichte rechtfertigt damit erst wirklich ihren Namen, indem sie sich als wirklich historische Wissenschaft entpuppt. Die Geschichtswissenschaft, soweit sie den Menschen und seine geistigen Kräfte und Leistungen [570] betrifft, wird durch eine „Vorgeschichte“ ergänzt, und die „Vorgeschichte des Menschen“ findet wiederum in einer Entwickelungsgeschichte der Erde, des Sonnensystems und des Weltalls ihre ergänzende Vorgeschichte, wobei immer dieselben treibenden Kräfte und dieselben regelnden Gesetze der Entwickelung zu Grunde gelegt werden.

Sofern die Durchforschung der jüngern Erdschichten das hohe Alter des Menschengeschlechts durch echt fossile Funde längst bestätigt hat, und da die vorhistorischen Forschungen zahlreiche Anhaltspunkte für die Entwickelung des Menschen aus niedern, tierähnlichen Zuständen beibrachten, sind Anthropologie und Ethnologie alsbald nach darwinistischen Grundsätzen behandelt worden. Hier gingen ältere französische und englische Forscher voran, wie Boucher de Perthes, Christie, Lartet, Lyell, Lubbock, Tylor, Spencer u. a., während die deutschen Gelehrten, wie Bastian, Virchow u. a., vielfach einen antidarwinistischen Standpunkt einnehmen. Inzwischen sind jedoch die Erfolge der von entwickelungsgeschichtlichen Prinzipien ausgehenden Forscher in der Erklärung der menschlichen Zustände, z. B. hinsichtlich des Ursprungs der Sprache und der Gefühlsäußerungen, der Sitten und Gebräuche, der Gesetze und Religionssysteme, der Gesellschaftsbildungen und Verträge, der Fähigkeiten und Kunstfertigkeiten, so schlagend ans Licht getreten, daß die Frage, welche Richtung auf diesem Gebiet siegreich sein werde, kaum mehr zweifelhaft erscheinen kann. Was den Ausdruck der menschlichen Gemütsbewegungen durch Mienenspiel und Gesten betrifft, so hat auch auf diesem anscheinend fernab liegenden Gebiet Darwin 1872 den ersten sichern Grund gelegt, indem er zeigte, daß unter den höhern Tieren, wie unter den Menschen selbst, eine übereinstimmende Physiognomik entwickelt ist, um die Grundempfindungen, wie Freude, Schmerz, Anhänglichkeit, Furcht, Schrecken, Zorn etc., auszudrücken. Auf dieser Grundlage haben dann Wundt, Preyer u. a. weitergebaut und den Grund zu einer Lehre von einer Entstehung der Instinkte und des Geistes (Psychogenesis, s. d.) gelegt. Was den Ursprung des sprachlichen Ausdrucks der Empfindungen und Gedanken betrifft, so haben über die körperliche Anlage besonders Jäger und Preyer[WS 1] fruchtbare Gedanken entwickelt. Die Bildung der Begriffe und die Weiterentwickelung der Sprache im mehr oder weniger entschieden darwinistischen Sinn haben besonders Pictet, Geiger, Steinthal, Schleicher, Bleek, Whitney u. a. zu ihrer Aufgabe gemacht und dabei gezeigt, daß sich die Wortformen sowohl als die verschiedenen Sprachen vielfach ganz ähnlich entwickelt, verbreitet und verdrängt haben wie die lebendigen Organismen. Für eine darwinistische Behandlung der Psychologie ist eine materielle Unterlage geschaffen worden, seitdem Hitzig, Fritsch, Ferriar, Munck u. a. die Übereinstimmung der menschlichen mit den tierischen Gehirnfunktionen experimentell nachgewiesen haben, und wie es im menschlichen Gehirn ein besonderes Organ für die Sprache gibt, so nehmen die meisten neuern Psychologen an, daß sich das Denkvermögen und die Fähigkeit, abstrakte Vorstellungen und Begriffe zu bilden, Hand in Hand mit der Sprache entwickelt haben müssen. Das Verhältnis zu den Sinneseindrücken ist namentlich durch Helmholtz, die physische Grundlage durch Meynert, Bain und Maudsley, die Funktion des Gedächtnisses durch Hering, die allgemeine Psychologie durch Horwicz und Spencer bearbeitet worden. Die hierher gehörigen Betrachtungen berühren sich mit denen über das Verhältnis der Ethik und Philosophie zum D., und in beiden Gebieten hat man auf Spinoza zurückgegriffen und die hier auftretenden Fragen im monistischen Sinn zu lösen gesucht. Der Monismus nimmt nicht nur die Einheit von Geist und Materie, sondern auch eine gleichmäßig fortschreitende Entwickelung beider an, und in diesem Sinn haben Carneri, Noiré, Wundt, Caspari sowie neuerdings Frohschammer und Häckel die einschlägigen Fragen zu lösen gesucht. Die Kulturgeschichte vom darwinistischen Standpunkt ist außer von den oben genannten englischen Forschern, die vom ethnologischen Standpunkt ausgehen und die Zustände der wilden Völker zur lehrreichen Vergleichung heranziehen, in mehr historisch-kritischer Richtung von Hellwald, auf psychologischer Grundlage mit besonderer Rücksicht auf Mythologie und Entwickelung der religiösen Vorstellungen von Caspari, Twesten, Lang, Strauß u. a. behandelt worden. Die Gesellschaftswissenschaften und Politik haben unter andern Bagehot, Spencer, Lilienfeld in diesem Sinn betrachtet, die Rechtswissenschaften Post und Fick, die Medizin Kühne u. a., so daß beinahe kein Gebiet des menschlichen Forschens und Denkens von dieser bedeutenden Geistesbewegung unberührt geblieben ist. Den einenden Mittelpunkt aber, in welchem sich alle diese Wissenschaften und Bestrebungen zusammenfinden, bildet der befruchtende Gedanke, daß der Mensch mit allem seinen Denken und Empfinden, mit allem seinen Können und seinen Einrichtungen ein Gewordenes ist, wie die gesamte Natur.

Vgl. Ch. Darwin, Gesammelte Werke (deutsch von Carus, Stuttg. 1875–82, 13 Bde.); Derselbe, Kleinere Schriften (hrsg. von Krause, Leipz. 1886); Wallace, Beiträge zur Theorie der natürlichen Zuchtwahl (deutsch von A. B. Meyer, Erlang. 1870); Häckel, Generelle Morphologie (Berl. 1866, 2 Bde.); Fritz Müller, Für Darwin (Leipz. 1864); Weismann, Studien zur Deszendenztheorie (das. 1875–76, 2 Tle.). Mehr darstellend sind: Häckel, Schöpfungsgeschichte (7. Aufl., Berl. 1879); G. Jäger, Die Darwinsche Theorie (Wien 1869); Seidlitz, Die Darwinsche Theorie (2. Aufl., Leipz. 1875, mit ausführlichen Litteraturangaben); O. Schmidt, Deszendenzlehre und D. (2. Aufl., das. 1875); Spencer, Prinzipien der Biologie (deutsch, Stuttg. 1876). Ganz populär gehalten sind: Büchner, Sechs Vorlesungen über die Darwinsche Theorie (4. Aufl., Leipz. 1876); Ratzel, Sein und Werden der organischen Welt (das. 1869); Dodel, Die neuere Schöpfungsgeschichte (das. 1875); Carus Sterne, Werden und Vergehen (3. Aufl., Berl. 1885). Über die Stellung des Menschen in naturhistorischer Beziehung handeln insbesondere: Huxley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen (deutsch von Carus, Braunschw. 1863); Häckel, Anthropogenie (3. Aufl., Leipz. 1877); Lyell, Das Alter des Menschengeschlechts (deutsch von Büchner, 2. Aufl., das. 1874). Von den gegnerischen Schriften seien hervorgehoben: Wigand, Der D. (Braunschw. 1873–76, 3 Bde.), und v. Baer, Studien aus dem Gebiet der Naturwissenschaften (Petersb. 1876). Die Einwürfe des erstern sind von Jäger („In Sachen Darwins contra Wigand“, Stuttg. 1874), die des letztern, welche sich nur gegen einzelne Punkte wenden, von Seidlitz („Beiträge zur Deszendenztheorie“, Leipz. 1876) zurückgewiesen worden. Vielfach abweichende Ansichten erörtert C. v. Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre (Münch. 1884). Seit 1877 vertritt den D. eine besondere Monatsschrift: „Kosmos“ (Stuttg.).


Ergänzungen und Nachträge
Band 17 (1890), Seite 208211
korrigiert
Indexseite

[208] Darwinismus. Nach der von Nägeli aufgestellten und von ihrem Verfasser mechanisch-physiologische Abstammungslehre genannten Hypothese erfolgt die Entstehung neuer Arten aus innern Ursachen, die in der Molekularstruktur der Organismen selbst gelegen sind und die Umänderung der Sippen (Individuen, Arten, Familien) nach bestimmten Richtungen bedingen. Diese Umänderung der Sippen erfolgt zugleich in der Richtung zum Vollkommnern, d. h. zum Zusammengesetztern (Vervollkommnungsprinzip). Mit mechanischer Notwendigkeit geht die Umbildung in der eingeschlagenen Richtung fort in der Art, daß die Nachkommen immer über die Eltern in der Vervollkommnung hinausgehen und so Generation auf Generation stets um einen weitern Grad verändert wird, soweit es nämlich die Natur der Verhältnisse erlaubt. Denn neben der Organisationsvollkommenheit und von dieser zu unterscheiden findet sich dann noch auf jeder Organisationsstufe eine Anpassungsvollkommenheit, welche in der unter den jeweiligen äußern Verhältnissen vorteilhaftesten Ausbildung des Organismus besteht. Selektion, wie sie die Theorie Darwins als einen Hauptfaktor bei der Entstehung der Arten hinstellt, ist bei Nägeli nur ein Hilfsprinzip, indem sie nach ihm durch Verdrängung der Lebewesen nur sippenscheidend und sippenumgrenzend, nicht aber sippenbildend wirkt. Äußere Veränderungen, insbesondere klimatische und Ernährungsverhältnisse, haben nach Nägeli auf die Umbildung der Arten keinen Einfluß. Dem Einwand, daß bei Gültigkeit des Vervollkommnungsprinzips es heute gar keine niedern Formen mehr geben dürfte, begegnet Nägeli durch die Annahme einer auch heute noch bestehenden Urzeugung. Wie schon angedeutet, sind die formbildenden innern Ursachen Nägelis an etwas Stoffliches gebunden, welches als Träger der erblichen Eigenschaften anzusehen ist. Diesen Träger findet Nägeli in einem Teil des Protoplasmas, dem Idioplasma, welchem das übrige, weniger feste Protoplasma als Ernährungsplasma gegenübersteht; Nägeli denkt sich das Idioplasma in Form von netzartig angeordneten, den ganzen Körper von Zelle zu Zelle durchziehenden, zusammenhängenden Strängen, welche aus parallelen Längsreihen von Molekülgruppen (Mizellen) bestehen. In diesen Längsreihen sind alle Anlagen des Organismus, nicht nur für Arten, sondern auch für Individuen, enthalten und werden in ähnlicher Weise zur Entfaltung gebracht, „wie der Klavierspieler auf einem Instrument die aufeinander folgenden Harmonien und Disharmonien zum Ausdruck bringt“. Bei der Vermehrung des Idioplasmas erfolgt Verlängerung dieser Längsreihen ohne Veränderung der Konfiguration des Querschnittes; neue Anlagen treten durch Einschiebung neuer Längsreihen auf. Ein mikroskopischer Nachweis des Idioplasmas ist bis jetzt noch nicht gelungen.

Der Theorie Nägelis ziemlich entgegengesetzt, jedoch darin mit ihr übereinstimmend, daß bei der Erklärung der Variabilität von außen wirkenden Einflüssen wenig oder keine Bedeutung zugestanden wird, ist die Hypothese Weismanns von der Kontinuität des Keimplasmas. Auch Weismann betrachtet als Träger des spezifischen Entwickelungsganges eines Organismus eine geformte Masse, die er Keimidioplasma oder kurzweg Keimplasma nennt; statt sich jedoch dieses Keimplasma als ein im ganzen Organismus verbreitetes Netzwerk zu denken, verlegt er seinen Sitz einzig in den Kern der Keimzellen. In dem Kern der Keimzellen, sowohl dem Keimbläschen der Eizelle als dem Kern der Samenzelle, unterscheidet Weismann zweierlei Plasma, einmal das Keimplasma und zweitens das histogene Plasma, welches, je nachdem von der Eizelle oder der Spermazelle die Rede ist, spezieller als ovogenes oder spermogenes Plasma bezeichnet wird. Das histogene Plasma wird vor der Befruchtung als sogen. Richtungskörperchen ausgestoßen; dies geschieht auch bei den parthenogenetisch sich entwickelnden Eiern; bei den befruchtungsbedürftigen Eiern wird aber noch ein zweites Richtungskörperchen ausgestoßen, welches einen Teil des Keimplasmas selbst enthält, wodurch dieses reduziert wird (Reduktionsteilung). Bei der Befruchtung ergänzt sich durch Hinzutritt des Spermakerns das Keimplasma wieder zur vollen Höhe.

Das Keimplasma ist „ein Stoff von bestimmter chemischer und besonders molekularer Beschaffenheit“, dem eine überaus komplizierte feinste Struktur zuzuschreiben ist. Zugleich ist dieses Keimplasma der Träger der Vererbung, und es nimmt, was der Angelpunkt der Weismannschen Theorie ist, eine ganz besondere Stellung dadurch ein, daß es keinen Veränderungen unterliegt, sondern kontinuierlich ist. Das Keimplasma steht dem ganzen übrigen Körper insofern streng gegenüber, als es an all den Veränderungen, die derselbe während des Lebens erfährt, keinen Anteil nimmt; auch können die Keimzellen, die das Keimplasma enthalten, nicht aus beliebigen Körperzellen entstehen, eine Rückverwandlung von somatischem Idioplasma in Keimidioplasma findet nicht statt. Statt dessen entstehen die Keimzellen direkt aus den elterlichen Keimzellen, indem bei der Ontogenese nicht das ganze Keimplasma, welches die elterliche Eizelle enthält, zum Aufbau des kindlichen Organismus verbraucht wird, sondern ein Teil desselben unverändert für die Bildung der Keimzellen der folgenden Generation reserviert wird. Es geht also stets ein Teil des Keimplasmas unverändert aus dem Körper der Vorfahren in den der Nachkommen über, und in dieser unveränderten Übertragung durch Generationen hindurch repräsentiert das Keimplasma einen unsterblichen Teil des Organismus. Diese [209] Theorie vermag insbesondere auf eine leichte Weise die Erscheinungen des Atavismus, die Vererbung von Eigenschaften von einer Generation auf eine entferntere mit Überspringung der dazwischenliegenden zu erklären. Als logische Folge dieser Kontinuität des Keimplasmas, auf welches äußere Einflüsse nicht einwirken, muß sich ergeben, daß keine neuen Eigenschaften erworben und weiter vererbt werden können. In der That ist es gerade dieser Punkt der Theorie, die Frage der Erblichkeit erworbener Eigenschaften, welcher einen heftig entbrannten Kampf hervorgerufen hat, denn mit diesem Satz steht und fällt die Lehre von der Kontinuität des Keimplasmas. Nach Weismann gelangen nur diejenigen Eigenschaften zur Vererbung, welche der Anlage nach schon im Keim vorhanden sind; alle Abänderungen, welche nach der Teilung des Eies in die beiden ersten Furchungskugeln entstehen, nennt Weismann „erworbene Charaktere“ oder auch, da sie nach seiner Ansicht nicht erblich sind, sondern mit dem Individuum entstehen und vergehen, „passante Charaktere“. Zu ihnen gehören vor allem die während des individuellen Lebens erworbenen Verletzungen und Verstümmelungen, deren Vererbung nach Weismann bisher noch in keinem Fall nachgewiesen ist. Scheinbare derartige Vererbungen lassen sich nach ihm auf andre Weise erklären.

Leugnet so Weismann jede direkte Veränderung des Keimplasmas durch äußere Einflüsse, so gibt er anderseits doch die Möglichkeit zu, daß durch sehr lang andauernde Einflüsse derselben Art, z. B. Temperatur, während des Lebens Anlagen, Prädispositionen, zu neuen Eigenschaften erworben werden und zur Vererbung gelangen können. Nur bei den Protozoen verändern äußere Einflüsse den Organismus direkt, und diese unterscheiden sich nach dieser Theorie dadurch scharf von den Metazoen. Dem Keimplasma Weismanns fehlt aber nicht nur die Fähigkeit, neue Eigenschaften zu erwerben und durch deren Vererbung Varietäten zu erzeugen, sondern es geht ihm auch die Tendenz ab, aus sich selbst heraus abzuändern, so daß die Folge dieser Theorie die Konstanz der Arten wäre. Zur Erklärung der thatsächlichen Variabilität der Arten zieht daher Weismann einen andern Faktor bei und findet diesen in der geschlechtlichen Fortpflanzung. Bei diesem Vorgang wird nicht nur der Vorrat des Keimplasmas immer wieder ergänzt und so die sonst notwendig eintretende Erschöpfung desselben vermieden, sondern durch die Mischung der Eigenschaften, welche die geschlechtliche Fortpflanzung veranlaßt, wird zugleich das Material für die Entstehung neuer Arten gegeben; es kann bei der Mischung zweier Vererbungstendenzen nie wieder Gleichheit eintreten, sondern es müssen im Lauf der Generationen immer neue Kombinationen der individuellen Charaktere erscheinen. So kommt die erbliche individuelle Variabilität zu stande. Unter den durch die Mischung verschiedenen Keimplasmas entstandenen neuen Formen tritt dann der Kampf ums Dasein und Selektion in sein Recht.

Im Zusammenhang mit der Ansicht von der Nichtvererbung erworbener Eigenschaften stehend und als eine Folge derselben erscheint eine weitere Theorie Weismanns über die Entstehung der rudimentären Organe, die er in einer „Über den Rückschritt in der Natur“ betitelten Schrift behandelt. Sie können nach ihm nicht dadurch entstanden sein, daß der Nichtgebrauch direkt verkümmernd auf bestimmte Organe eingewirkt und diese Einwirkung, sich verstärkend, vererbt worden sei und dadurch zur immer weitergehenden Rückbildung des Organs geführt habe, denn die Resultate des Nichtgebrauchs müssen nach Weismanns Ansicht auf das Individuum beschränkt bleiben. Er findet für die Rückbildung eine andre Erklärung in der „Kehrseite der Naturzüchtung“. In der Definition dieses Begriffs geht Weismann von der Annahme der Richtigkeit der Ansicht aus, daß die Zweckmäßigkeit der lebenden Wesen in allen ihren Teilen auf dem Vorgang der Naturzüchtung beruht, und schließt weiter, daß diese Zweckmäßigkeit auch durch dasselbe Mittel erhalten werden müsse, durch welches sie zu stande gekommen ist, umgekehrt aber wieder verloren gehen müsse, sobald dieses Mittel, die Naturzüchtung, in Wegfall kommt. Sobald nun ein Organ für einen Organismus sich nicht mehr nützlich oder notwendig erweist, wird seine mehr oder minder vollkommene Ausbildung bei der Kreuzung nicht mehr in Betracht kommen, sondern in Bezug auf dieses Organ Allgemeinkreuzung, Panmixie, eintreten; durch diesen Nachlaß in der Auslese geht dann dieses Organ immer mehr zurück. Auf diese indirekte Weise erklärt Weismann auch solche Fälle von Rückbildungen, die, wie das Schwinden des Haarkleides bei Delphinen und Walen, sich nicht direkt als eine Folge des Nichtgebrauchs des betreffenden Organs erklären lassen.

Der Ansicht Weismanns im wesentlichen entgegengesetzt ist die von Eimer aufgestellte Theorie über die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben erworbener Eigenschaften. Eimer knüpft zunächst daran an, daß die Theorie Darwins die Entstehung der Varietäten und damit der Arten dem Zufall anheimstelle, indem sie die Möglichkeit des Variierens nach allen Richtungen ohne jede Gesetzmäßigkeit zulasse und keine Erklärungen für das erste Auftreten der Variationen gebe. Dem gegenüber kam Eimer, hierin mit Nägeli und Weismann übereinstimmend, auf Grund seiner Untersuchungen zu dem Resultat, daß das Abändern der Arten überall nach ganz bestimmten Richtungen stattfindet, deren es jedoch in gegebener Zeit nur wenige sind. Zunächst konstatierte Eimer diese Gesetzmäßigkeit beim Abändern für eine bis dahin als völlig gleichgültig, bedeutungslos und zufällig angesehene Erscheinung, nämlich für die Zeichnung der Tiere. Bei zahlreichen in den verschiedensten Klassen des Tierreichs angestellten Untersuchungen fand er als Regel, daß im ganzen Tierreich die Längsstreifung die ursprüngliche ist; im Verlauf der Entwickelung zerfällt sie in Flecke, und diese vereinigen sich wieder zu Querstreifen. Hierbei treten diese Zeichnungen, wie alle neuen Eigenschaften, stets an bestimmten Teilen des Körpers, vorzüglich hinten, auf und rücken während der Entwickelung mit dem Alter nach vorn, während von hinten die nächst jüngere Eigenschaft nachrückt und die vorderste schwindet, ganz wie eine Welle der andern folgt („Gesetz der wellenförmigen Entwickelung“ oder „Undulationsgesetz“).

Weitere Untersuchungen ließen eine ähnliche Gesetzmäßigkeit auch in Beziehung auf andre Eigenschaften nachweisen. Mit der Auffindung der Gesetzmäßigkeit des Abänderns sah sich Eimer aber zugleich auch vor die Frage nach den Ursachen dieses Abänderns gestellt. Eine große Anzahl von Eigenschaften wird bekanntlich durch das Nützlichkeitsprinzip, die Auswahl des Nützlichen im Kampf ums Dasein, erklärt, und in ähnlicher Weise wird gleich der natürlichen Zuchtwahl die geschlechtliche Zuchtwahl zur Erklärung der Entstehung andrer Eigenschaften herbeigezogen. Von vielen Eigenschaften, deren Bedeutung für den Organismus wir heute nicht zu erkennen vermögen, können wir doch sagen, [210] daß sie den Vorfahren der heutigen Träger nützlich gewesen sind und darin heute noch ihre Existenzberechtigung finden, und die Entstehung wieder anderer Eigenschaften läßt sich vielleicht durch den uns noch ganz dunkeln Vorgang der Korrelation der Organe erklären, der darin besteht, daß die Entstehung und Weiterentwickelung eines Organs die Bildung eines ganz andern, mit ihm sonst gar nicht im Zusammenhang stehenden Organs nach sich zieht. Diese letztere Annahme erklärt speziell die Entstehung schädlicher Eigenschaften, die dann durch die nützlicher andrer, mit ihnen in Wechselbeziehung stehender, aufgehoben werden. Für eine Reihe andrer Eigenschaften aber genügen diese Erklärungen nicht. So ist es unzweifelhaft, daß auch direkt schädliche Eigenschaften zur Ausbildung gelangen können und sich in einer Weise weiter entwickeln, daß sie den Untergang des ganzen Geschlechts nach sich ziehen. So führt Döderlein aus der Stammesgeschichte der Säugetiere einige Fälle an, wo als Endglieder einer längern Entwickelungsreihe Formen auftreten, bei denen ein bestimmtes Organ sich extrem entwickelt hat und wahrscheinlich zum Erlöschen der Form mit beitrug, so die Größe und Form der Zähne beim säbelzahnigen Tiger (Smilodon neogaeus) und die riesenhafte Ausdehnung des Geweihes beim Riesenhirsch (Cervus dicranius). Döderlein erklärt diese Fälle durch die Annahme einer erblich werdenden Tendenz, nach einer bestimmten, ursprünglich nützlichen Richtung hin zu variieren, wobei jedoch im Verlauf der Entwickelung das Maximum der Nützlichkeit für den Organismus überschritten wird. Er hält demnach für das Wesentliche bei der Vererbung nicht etwa die „Erreichung eines bestimmten Entwickelungszustandes“, sondern die „Bestimmung der Entwickelungsrichtung“. Neben diesen direkt schädlichen Eigenschaften gibt es dann noch eine weitere Anzahl, die uns völlig bedeutungslos für den Organismus scheinen, und bei denen wir das Entstehen und besonders die Regelmäßigkeit bei ihrer Entstehung nach den angeführten Theorien nicht zu erklären vermögen; hierher gehört beispielsweise eben die Zeichnung im Tierreich. Eimer geht aber weiter und weist darauf hin, daß die vorerwähnten Darwinschen Theorien überhaupt bei keiner Eigenschaft die erste Entstehung derselben zu erklären vermögen und die Frage nach den Ursachen des Abänderns ganz offen lassen. Er betont besonders, wie oft der Fehler gemacht wird, daß die auf dem Nutzen beruhende Auslese als die selbstthätige Kraft behandelt wird, welche die Veränderungen der Eigenschaften selbst hervorbringt, während sie nach seiner Ansicht nur die Steigerung und das Herrschendwerden, nicht aber das Entstehen dieser Eigenschaften erklären kann. Den Grund der Entstehung der Abänderungen findet Eimer in „konstitutionellen Ursachen“. Nach seiner Auffassung „sind die physikalischen und chemischen Veränderungen, welche die Organismen während des Lebens durch die Einwirkung der Umgebung, durch Licht oder Lichtmangel, Luft, Wärme, Kälte, Wasser, Feuchtigkeit, Nahrung etc. erfahren, und welche sie vererben, die ersten Mittel zur Gestaltung und Mannigfaltigkeit der Organismenwelt und zur Entstehung der Arten. Aus dem so gebildeten Material macht der Kampf ums Dasein seine Auslese.“ Es beruht also die organische Formgestaltung auf physikalisch-chemischen Vorgängen; aus diesem Grund ist sie aber ebenso wie die Form der anorganischen Kristalle eine bestimmte und wird auch bei der Neubildung nur einzelne bestimmte Richtungen einschlagen können. Die Entstehung der Neubildungen und damit der Arten unterliegt zugleich denselben Gesetzen wie einfaches Wachstum; „sie ist die Folge unendlichen, unter veränderten Bedingungen stattfindenden ungleichartigen Wachstums der Organismenwelt unter Voraussetzung der bleibenden Trennung ungleichartiger Glieder der wachsenden Kette dieser Organismenwelt; Fortpflanzung und individuelle Entwickelung beruhen gleicherweise auf den Gesetzen des Wachsens“. Für die Ausbildung der Abänderungen zu Arten, für die Artentrennung, sieht Eimer die wesentlichste Ursache in dem von ihm Genepistase genannten Vorgang, d. h. in dem Stehenbleiben einer Anzahl von Individuen auf einer bestimmten niedrigern Stufe der Umbildung, während die übrigen in derselben weiter fortschreiten. Hierzu kommen weitere, schon bekannte Ursachen, die die Verschiedenheit der Entwickelungsrichtung bestimmen und die Trennung in Arten verursachen, so räumliche Isolierung, unmittelbare äußere Einwirkung, Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe, der Kampf ums Dasein, die sprungweise Entwickelung durch Korrelation, „konservative Anpassung“, d. h. Einfluß einer ununterbrochenen Fortdauer derselben Einwirkungen auf einen Organismus, und endlich geschlechtliche Fortpflanzung, welche an und für sich zur Bildung ganz neuer stofflicher Zusammenfügungen, d. h. zur Bildung neuer Formen, führen kann.

Speziell mit der Frage nach der Trennung in Arten hat sich schließlich auch Romanes in seiner Theorie der „physiologischen Selektion“ beschäftigt. Der englische Forscher geht von dem der Darwinschen Theorie gemachten Einwurf aus, daß neuentstandene Variationen, sie mögen noch so nützlich sein, durch die Kreuzung mit den andern Tieren immer mehr verwischt werden, bis sie endlich ganz verschwinden. Diesen Einwand sucht Romanes mit der Behauptung zu widerlegen, daß mit dem Auftreten einer Variation sich zugleich Sterilität der neu variierten Tiere mit den übrigen einstellt, und gibt hiermit zugleich eine Erklärung für die gegenseitige Unfruchtbarkeit der natürlichen Arten. Die Sterilität kann primär oder sekundär sein. Der Fortpflanzungsapparat ist bekanntermaßen sehr zu Variationen geneigt, und es ist daher wohl anzunehmen, daß einmal bei einer Anzahl von Individuen eine Variation entsteht, welche die Sterilität gegenüber der Hauptart bedingt, gegenseitige Befruchtung der Abart aber zuläßt. Hierdurch ist eine neue Art geschaffen und in ihrer Existenz geschützt, und durch unabhängige Variabilität kommen weitere spezifische Abänderungen hinzu, die die Art von der Mutterart sich immer weiter entfernen lassen. Umgekehrt mag die Sterilität auch sekundär sein und indirekt durch vorher auftretende Unterschiede hervorgerufen werden. Jedenfalls haben unter allen auftretenden Abänderungen diejenigen am meisten Aussicht auf Erhaltung, welche zugleich eine bestimmte Unfruchtbarkeit im Gefolge haben. Denn diese „physiologische Zuchtwahl“ errichtet zwischen der alten und der neuentstandenen Art einen Grenzwall, der ebenso unüberwindbar ist wie eine in Höhenzügen oder in Meeresteilen bestehende geographische Barriere. Indem so zur Entstehung neuer Arten keine räumliche Isolierung oder Wanderungen zu Hilfe genommen zu werden brauchen, erklärt sich auch auf diese Weise die Existenz nahe verwandter Arten in dem gleichen Verbreitungsbezirk. Die Unfruchtbarkeit der Varietät gegenüber der Mutterspezies besteht des öftern nicht in einer Variation des Geschlechtsapparats, in einer wirklichen Sterilität, sondern in Verlegung der beiderseitigen Befruchtungsperioden, so der Blütezeit bei den Pflanzen und der Paarungszeit bei den Tieren. [211] Vgl. C. v. Nägeli, Mechanisch-physiologische Abstammungslehre (Münch. 1884); A. Weismann, Die Kontinuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung (Jena 1885); Derselbe, Über den Rückschritt in der Natur (Freiburg 1886); Derselbe, Über die Zahl der Richtungskörper und über ihre Bedeutung für die Vererbung (Jena 1887); Th. Eimer, Die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben erworbener Eigenschaften nach den Gesetzen organischen Wachsens (das. 1888); Derselbe, Die Artbildung und Verwandtschaft bei den Schmetterlingen (das. 1889); Döderlein, Phylogenetische Betrachtungen („Biologisches Zentralblatt“ 1887); Romanes, Physiological selection, an additional suggestion on the origin of species (Journ. Linn. Soc., Lond. 1886, Bd. 19). Von A. R. Wallace erschien ein neues Werk: „Darwinism, an exposition of the theory of natural selection“ (Lond. 1889).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Preyrer