Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Deszendenztheorie“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 4 (1886), Seite 725
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Deszendenztheorie. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 725. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Deszendenztheorie (Version vom 22.11.2023)

[725] Deszendenztheorie (Abstammungslehre, Umwandlungs- [Transformations- oder Transmutations-] Theorie), die Lehre, daß die Lebewesen nicht seit jeher in der Gestalt, welche sie heute zeigen, existiert haben, sondern von anders gestalteten und in der Regel einfacher organisierten Wesen abstammen, so daß die höhere Organisation einzelner Gruppen als erst im Lauf der Zeiten ausgebildet betrachtet wird. Ähnlich klingende Ansichten sind schon im Altertum von Empedokles, Anaximandros und andern Philosophen ausgesprochen worden, in den letzten Jahrhunderten haben mancherlei Theologen und Naturforscher (die erstern, um die Arche Noah zu entlasten) die Ansicht ausgesprochen, daß wenigstens die einzelnen Arten einer Gattung, z. B. alle Mitglieder des Geschlechts der Katzen, Papageien, Weiden etc., von einer gemeinsamen Urform abstammen möchten und zum Teil klimatische Varietäten der Urform sein könnten. Im vorigen Jahrhundert neigten Buffon und Goethe (der letztere im Anschluß an seine Metamorphosenlehre) diesen Ansichten zu, aber erst Erasmus Darwin (gest. 1802) brachte die Lehre in ein System, indem er meinte, einige wenige Urwesen könnten durch Selbstzeugung entstanden sein und hätten sich dann im Laufe vieler Generationen allmählich zu höhern Formen entwickelt. Als die Umwandlung befördernde Faktoren sah er bereits die Ausbildung der Gliedmaßen durch Gebrauchswirkung sowie die geschlechtliche Zuchtwahl (s. Darwinismus) an und erklärte auch bereits die rudimentären Gliedmaßen in dem heutigen Sinn als Überreste bei der Umwandlung außer Gebrauch gesetzter Gliedmaßen. Jean Lamarck, der gewöhnlich als der Begründer der D. angesehen wird, hat nur, wenn auch mit großem Scharfsinn, die Grundgedanken des ältern Darwin weiter ausgeführt, indem er namentlich die Anpassung der Lebewesen an neue Lebensbedingungen und die Wirkung des Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Gliedmaßen zur Grundlage seines zuerst 1809 in der „Philosophie zoologique“ ausführlicher dargelegten Systems machte und dasselbe bis zu seiner letzten Konsequenz, der Abstammung des Menschen, ebenso wie Goethe und E. Darwin, verfolgte. Ähnliche Ansichten wurden auch von den Begründern der sogen. naturphilosophischen Schule in Deutschland, namentlich von Oken, Treviranus, Schelling u. a., vertreten, obwohl diese mehr an eine planmäßige Entwickelung durch einen in den Lebewesen liegenden Drang nach höherer Vollendung dachten und sich dabei an die Ergebnisse des Studiums der Entwickelungsgeschichte (s. d.) anlehnten, wobei sie z. B. die niedern Tiere wie Embryonalformen oder Hemmungsbildungen des Menschen als Urziel der Entwickelung ansahen. Diese Form der D. wird auch gelegentlich als Evolutionstheorie in neuerm Sinn bezeichnet. Eine noch andre Form wurde der D. durch Etienne Geoffroy de Saint-Hilaire gegeben, welcher meinte, die Weltentwickelung (le monde ambiant) und die mit derselben gegebene Veränderung der äußern Umstände, des sogen. Mittels, hätten den Hauptanteil an der Fortbildung der Wesen zu höhern Formen gehabt. Alle diese Theorien hatten keinen durchgreifenden Erfolg, diejenigen von Erasmus Darwin und Lamarck wurden von den exakten Naturforschern kaum beachtet; die Ansichten Geoffroys de Saint-Hilaire wurden in erbitterter Weise durch Cuvier als Vertreter des Konstanzdogmas bekämpft, während die naturphilosophische Schule in Deutschland namentlich durch E. v. Baer widerlegt wurde. Obwohl vor einigen Jahrzehnten die Wahrheit der D. durch den Verfasser der „Vestiges of creation“ und durch Louis Büchner von neuem verteidigt wurde, blieben doch alle diese Versuche erfolglos, bis Darwin und Wallace in der natürlichen Zuchtwahl ein mechanisches Prinzip nachwiesen, durch welches das Fortschreiten der Wesen verständlich wird. Die Darwinsche Theorie (s. Darwinismus) ist die einzige Form der D., die sich bis heute lebensfähig erwiesen hat, und einige derselben in neuerer Zeit entgegengestellte Theorien, wie z. B. die der Heterogenesis oder sprungweisen Entwickelung Köllikers, haben so gut wie keine Beachtung gefunden. Die ältere Geschichte der D. findet man bei Krause, Erasmus Darwin (Leipz. 1880), die neuere in Häckels „Schöpfungsgeschichte“ (7. Aufl., Berl. 1879). In Bezug auf Goethes Verhältnis zur D. vgl. Kalischer, Goethes Verhältnis zur Naturwissenschaft (Berl. 1878). Vgl. Evolutionstheorie.