MKL1888:Entwickelungsgeschichte
[681] Entwickelungsgeschichte (Ontogenie), die Wissenschaft von der Entwickelung des pflanzlichen oder tierischen Lebewesens von der Eizelle an bis zu seiner Vollendung; sie umfaßt also nicht nur die Embryologie (s. Embryo), sondern auch alle spätern Metamorphosen. Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte man im Sinn der Evolutions- oder Präformationstheorie angenommen, daß die Entwickelung des Embryos nur auf einer Entfaltung von Teilen beruhe, welche im Ei bereits vorgebildet vorhanden seien. Diese Anschauung gipfelte konsequenterweise in der Einschachtelungstheorie, nach welcher jede Tier- oder Pflanzenart ursprünglich nur in einem Individuum oder Paar vorhanden gewesen sein sollte, welches aber die Keime aller folgenden Individuen derselben Art, einen in dem andern eingeschachtelt, enthalten habe. Auf einer Auswickelung solchergestalt eingeschachtelter vorgebildeter Teile sollte demnach alle Entwickelung beruhen. Diesen Anschauungen machte K. F. Wolff ein Ende, indem er 1759 in seiner „Theoria generationis“ den Nachweis führte, daß der Embryo aus einer Reihe von Neubildungen hervorgeht, welche durch die Zeugungsstoffe veranlaßt, aber in keiner Weise, weder im Ei noch im Sperma, vorgebildet vorhanden sind (Epigenesis-, Postformationstheorie). Allein Wolff war seinen Zeitgenossen viel zu weit vorangeeilt, und das Ansehen seiner Gegner, an deren Spitze A. v. Haller stand, war zu groß, als daß seine Leistungen nach Gebühr hätten gewürdigt werden können; deshalb gerieten seine Arbeiten in Vergessenheit, bis Merkel 1812 einzelne Teile derselben von neuem herausgab. Durch Oken wurde die E. zu derselben Zeit zwar genauer studiert, aber zugleich in den Dienst einer besondern naturwissenschaftlichen Theorie gestellt, nach welcher aller tierischen Entwickelung das Ziel der Menschwerdung zu Grunde liegen sollte, so daß die niedern Tiere nur als eine Art Hemmungsbildung des Menschen, als Wesen, die auf dem Weg der Menschwerdung auf einer niedern Stufe stehen geblieben seien, betrachtet wurden, während der Mensch und die höhern Tiere umgekehrt in ihrer Entwickelung durch alle niedern Stufen hindurchgehen müßten. Diese in Deutschland namentlich durch Oken, Rudolphi, in Frankreich durch Etienne Geoffroy de Saint-Hilaire und Serres verteidigte sogen. Hemmungstheorie setzte, wie man sieht, die Einheit des Plans sämtlicher Tiere voraus und mußte erst durch Baer und Cuvier widerlegt werden, bevor das Studium der E. emporblühen konnte. Der Aufschwung derselben begann mit den Forschungen von Pander und Baer, welche von Döllinger in Würzburg zu erneuerten Forschungen auf diesem Gebiet veranlaßt worden waren. Pander ist der Urheber der sogleich näher zu erwähnenden Keimblättertheorie, während Baer zum erstenmal die Entwickelung höherer Wirbeltiere durch alle Stadien und in allen Einzelheiten genau verfolgte, weshalb er auch mit Recht als der „Vater der E.“ bezeichnet wird. Das Resultat dieser Untersuchungen war, daß die Tiere nicht nach einheitlichem Plan sich [682] entwickeln, und daß man wenigstens vier verschiedene Hauptabteilungen unterscheiden müsse, daß die Entwickelung stets vom Allgemeinen ins Spezielle gehe, und daß sich zuerst die Kennzeichen der Klasse, dann die der Ordnung und hierauf nacheinander die der Familie, Gattung und Art ausbilden. So erkennt man beim Hühnchen zuerst nur das Wirbeltier, dann den Vogel, hierauf einen Angehörigen der Scharrvögel,
Entwickelungszustände von Monoxenia Darwinii. Vergrößert. | |
das Huhn, und zuletzt die spezielle Art. Damit blieben aber die Thatsachen unerklärt, auf welche die Okensche Schule ihre Hemmungstheorie gestützt hatte, daß nämlich höhere Tiere wirklich in ihrer Entwickelung durch gewisse Zustände hindurchgehen, die bei tiefer stehenden Tieren bleibend sind, also z. B. der lungenatmende Frosch durch den Zustand eines Kiementiers, und diese Thatsache war um so frappanter, als man bald hernach auch bei den Embryos der höhern Wirbeltiere, die niemals durch Kiemen atmen, bis zum Menschen hinauf das Auftreten von Kiemenspalten und andern Einrichtungen bemerkte, die bei niedern Tieren bleibend sind. Für diese embryologischen Thatsachen konnte erst die durch Darwin zum Siege gelangte Deszendenztheorie die gesuchte Erklärung geben, und hier waren es Huxley, O. Schmidt, Fritz Müller, Häckel u. a., welche bald den Zusammenhang darlegten. In zweifellosester Weise gelang dies Fritz Müller (1865) durch seine Studien über die Entwickelung der Krebse, indem er zeigte, daß Arten aus den verschiedensten Krebsfamilien, die im ausgewachsenen Zustand nur eine ziemlich entfernte Verwandtschaft und nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander zeigen, anfangs in fast gleicher Gestalt als sogen. Nauplius-Larve erscheinen. Es ist dies ein kleines, sechsfüßiges Tier mit einem unpaarigen Auge auf dem Kopf, und einzelne niedere Krebsformen gehen zeitlebens nur wenig über seine Gesamtorganisation hinaus. Mit derselben Form beginnen aber auch gewisse Garneelen, die den höchsten Krebsfamilien angehören, ihre Entwickelung und gehen dann durch andre Larvenformen hindurch, die man als Zoëa- und Mysis-Larven bezeichnet hat, weil sie gewissen mittlern Krebsgeschlechtern gleichen; kurz, der Schluß wurde unabweisbar, daß die Nauplius-Larve dem gemeinsamen Ahnen des Krebsgeschlechts gleiche, und daß die höhern, vollkommener differenzierten Krebsarten von den mittlern Formen abstammen, deren Nachbilder ebenfalls in den Metamorphosen ihrer Larve auftreten. Ganz unabweisbar wurde dieser Schluß bei jenen Krebsarten, die im erwachsenen Zustand zu einem Klumpen ohne alle Gestaltung entartet sind, und deren Zugehörigkeit zum Krebsgeschlecht fast nur noch an der Nauplius-Larve oder durch die Entwickelung überhaupt erkennbar ist (s. Entartung). Auf diese Thatsachen begründete Fritz Müller die Folgerung, welche Häckel unter dem Namen des biogenetischen Grundgesetzes kurz dahin formuliert hat: die E. des Individuums (Ontogenesis) ist die abgekürzte Wiederholung seiner Stammesgeschichte (Phylogenesis). Dieser Schluß hat sich seither in tausendfältiger Weise bewährt und das Studium der E. zu einer der wichtigsten Erkenntnisquellen sowohl für die Ermittelung der natürlichen Verwandtschaften als besonders der Abstammung der Organismen erhoben. Freilich ist diese Quelle eine nur mit großer Vorsicht zu benutzende, weil nicht immer ungetrübte, wie dies schon Fritz Müller erkannte. Die in der E. erhaltene geschichtliche Urkunde wird nämlich allmählich verwischt, indem die Entwickelung einen immer geradern Weg vom Ei zum fertigen Tier einschlägt, sie wird außerdem sowohl, wenn das Tier sich nicht frei, sondern in einem Ei entwickelt, als auch, indem es als Larve den Einflüssen des Kampfes ums Dasein ausgesetzt wird, nachträglich verändert, also im Hinblick auf den getreuen Bericht der Stammesgeschichte gefälscht, und das ist, was Häckel als Fälschungsgeschichte (Cenogenesis) bezeichnet. Das biogenetische Grundgesetz gibt uns demnach, wenn mit der [683] nötigen Vorsicht angewendet, die wichtigsten Aufschlüsse darüber, warum sich viele Tiere, statt direkt, auf so vielen Umwegen entwickeln, und warum sie zuerst die Kennzeichen der höhern Abteilungen und dann erst die der niedern und der Art erkennen lassen, denn die Art ist ja das jüngst entstandene Glied dieser Formenkette; es erklärt ferner die Erscheinungen des Atavismus, vieler Mißbildungen und vor allem die natürliche Verwandtschaft der Wesen. Daher der ungeheure Aufschwung, den das Studium der E. in der Neuzeit genommen hat.
Nach dieser geschichtlichen Einleitung bleibt uns noch übrig, kurz den allgemeinen Gang der tierischen Entwickelung anzudeuten. Die Entdeckung von Schwann und Schleiden, daß die Zelle das Elementarorgan ist, aus welchem sich jeder zusammengesetzte organische Körper aufbaut, führte bald zu genauern mikroskopischen Studien über den Aufbau der Gewebe, und es zeigte sich, daß jedes tierische (oder pflanzliche) Wesen seine Entwickelung als einfache Zelle beginnt. Auch bei den höhern Wirbeltieren ist das weibliche Ei, wie es aus dem Eierstock kommt, eine solche einfache Zelle. Dieselbe unterliegt dann nach der Befruchtung zunächst dem von Prevorst und Dumas (1824) entdeckten Furchungsprozeß oder der Segmentation, d. h. sie teilt sich zuerst in 2 Zellen und diese durch wiederholte Doppelteilung in 4, 8, 16, 32 etc. Zellen (Fig. A, B, C, D), die zuletzt einen kugeligen Klumpen, die sogen. Maulbeerlarve (Morula, Fig. E), bilden. Hierauf treten die einzelnen Zellen auseinander und bilden einen mit Flüssigkeit gefüllten Hohlraum, die Flimmerlarve, auch Blasenkeim (Planula oder Blastula) genannt (Fig. F, G). Indem sich diese aus einer einzigen Lage von Wimperzellen bestehende Hohlblase durch Einstülpung (Invagination, Fig. H) oder, wie es in einzelnen Fällen geschehen soll, durch Teilung ihrer Wandzellen in einen aus einer doppelten Zelllage bestehenden Hohlsack mit Mundöffnung verwandelt, entsteht die sogen. Darmlarve oder Gastrula (Fig. I, K), auch Becherkeim, welche nach Häckel die letzte, allen echten, vielzelligen Tieren (Metazoen) gemeinsame Grundform darstellt. In der That ist der bis hierher beschriebene Entwickelungsgang bei den Tieren der verschiedensten Klassen derselbe, obwohl die Gastrula-Larve unter mancherlei abgeleiteten Formen auftritt, und Häckel schloß daraus nach seinem oben erwähnten „biogenetischen Grundgesetz“, daß die Gastrula-Larve das Nachbild einer gemeinsamen Ahnenstufe aller höhern Tiere sei, der sogen. Gasträa, von der noch heute zu den Pflanzentieren gerechnete Verwandte („Gasträaden der Gegenwart“) leben, deren Körper zeitlebens nur aus einer doppelten Zellenschicht besteht. Es ist dies die vielgenannte Häckelsche Gasträatheorie, die von mehreren Zoologen verworfen wird, indem sie annehmen, es seien einzig tektonische Ursachen, welche einen derartigen Verlauf der ersten Entwickelung aller Tiere bedingen.
Auf diese Weise sind zwei deutlich unterschiedene Zellenschichten entstanden, welche den schon von Pander entdeckten primären Keimblättern entsprechen, das die Innenwand der Gastrula auskleidende Magen- oder Innenblatt, auch unteres Keimblatt (Entoderm) genannt, und das sie bedeckende Hautblatt oder äußere Keimblatt (Exo- oder Ektoderm), welche die Grundlage aller fernern Entwickelung der Tiere bilden und zwar so, daß stets aus dem Hautblatt die Körperbedeckungen, das Nervensystem und die Sinnesorgane hervorgehen, weshalb es auch Hautsinnesblatt genannt wird, während sich aus dem Magenblatt die Schleimhaut des Magens und die Eingeweide bilden. Huxley wies 1849 die sogen. Homologie der Keimblätter, d. h. ihre Gleichwertigkeit durch alle Tierklassen, nach und zeigte, daß der Körper der meisten Pflanzentiere zeitlebens nur aus diesen beiden Zellenschichten und deren Derivaten besteht. Bei höhern Tieren bildet sich indessen zwischen beiden bald noch ein mittleres, sekundäres Keimblatt (Mesoderm) oder auch zwei sekundäre Keimblätter, woraus die verschiedenen Muskelsysteme hervorgehen. Über den Ursprung und die Beziehungen sowie die weitern Umbildungen der Keimblätter haben namentlich Remak im Beginn der 50er und Kowalewsky um die Mitte der 60er Jahre gearbeitet, und in neuester Zeit haben Häckel, van Beneden, Balfour, Ray. Lankester, die Gebrüder Hertwig u. a. darüber gearbeitet. Bei der weitern Entwickelung der Tiere krümmen und falten sich diese drei Platten in der mannigfaltigsten Weise, schließen sich an der Bauchseite röhrenförmig zusammen und bilden so die Grundlage des Embryos, über dessen weitere Entwickelung bei den höhern Wirbeltieren der Artikel „Embryo“ zu vergleichen ist. Vgl. Wolff, Theoria generationis (Halle 1759); v. Baer, E. der Tiere (Königsb. 1828–37, 2 Bde.); Remak, Untersuchungen über die Entwickelung der Wirbeltiere (Berl. 1850–55); Rathke, E. der Wirbeltiere (Leipz. 1861); Balfour, Handbuch der vergleichenden Embryologie (deutsch, Jena 1880–1881, 2 Bde.); Häckel, Biologische Studien (das. 1876–77); Derselbe, Ziele und Wege der heutigen E. (das. 1875); Derselbe, Anthropogenie, E. des Menschen (4. Aufl., Leipz. 1881); Kölliker, E. des Menschen (2. Aufl., das. 1879); Derselbe, Grundriß der E. des Menschen und der höhern Tiere (2. Aufl., das. 1884); His, Unsre Körperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung (das. 1875).