Textdaten
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Autor: Rudolf Gottschall
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Titel: Literaturbriefe an eine Dame/XXVIII
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aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 710–712
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[710]
Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf von Gottschall.
XXIII.


Die Lesesaison hat begonnen, verehrte Freundin; in eintöniges Grau kleidet sich der Himmel, der über dem baltischen Meere ruht, und eintönig an den langen düsteren Abenden rollen und branden die Wogen an’s Gestade. Ich weiß es, daß Sie nie das Gefühl der Einsamkeit überkommt, auch wenn kein willkommener Besuch auf Ihrem Schlosse eingekehrt ist, auch wenn Sie wochenlang nicht zu Gesellschaften bei Ihren Gutsnachbarn eingeladen worden sind. Sie sind nicht einsam; denn Sie leben im Verkehr mit den großen Geistern aller Zeiten. Glauben Sie nicht, daß ich Sie für eine Spiritistin und Geisterklopferin halte; die durch ein Medium herbeibeschworenen großen Geister haben sich des Ruhmes, den sie auf Erden sich erworben, niemals würdig gezeigt, sondern auf alle Fragen, die man an sie richtete, eine so hülflos gestammelte Auskunft ertheilt, in Vers und Prosa sich so überaus trivial ausgedrückt, daß man befürchten müßte, in geistiger Hinsicht nach dem Tode einige Bänke herabgesetzt zu werden, wenn sich diese Bewohner der Schattenwelt wirklich durch richtige Pässe als die Träger jener großen Namen legitimiren könnten. Nein, Sie verkehren nur mit den Geistern Ihrer Bibliothek, wozu es keines Mediums bedarf, aber auch keiner Legitimation; denn jedes Wort, das diese Unsterblichen sprechen, ist eine Bürgschaft ihrer Unsterblichkeit. Wie können Sie einsam sein, wenn Shakespeare und Dante, Schiller und Goethe Ihre geistigen Genossen sind?

Doch auch der mitlebenden Dichter und Schriftsteller bleiben sie eingedenk; Sie prüfen und wählen unter den Werken der Zeitgenossen, und Ihre Lieblinge sind nicht immer diejenigen der Mode. Mancher große Erfolg, von dem die Zeitungen berichten, befremdet Sie; manches dichterische Werk, über welches die Journale zur Tagesordnung übergehen, erregt Ihren Antheil; sie wundern sich über den Widerspruch zwischen Ihrem eigenen Geschmack und der allgemeinen Schätzung und bitten mich um Erklärung dieser räthselhaften Erscheinung.

So folgen Sie mir einmal auf den Büchermarkt, verehrte Freundin! Nicht zu den einzelnen Schriftstellern und ihren neuesten Erzeugnissen will ich Sie diesmal führen; wir wollen uns nur nach den Sorten erkundigen, welche der Buchhandel auf Lager hat, und nach ihrem Absatz. Ich bin nicht so ungalant, Sie dorthin zu führen, wo die gestrengen Facultäten ihre Bücherbuden aufgeschlagen haben und ihre dicken Bände zur Schau stellen. Gehen wir an ihnen vorüber, und geben wir uns den Anschein, so geringschätzig von ihnen zu denken wie Faust, der doch auch ein großer Gelehrter war, freilich nur hinter den Prosceniumslampen! Sie selbst sind zwar eine wohlunterrichtete und geistreiche Dame, aber die Facultäten haben keine Ehren auf Ihren Scheitel gehäuft, wie auf denjenigen der mehrfach promovirten Doctorin, deren Name im innern Hof der Universität von Padua mit unverlöschbaren Zügen in eine Gedenktafel eingegraben ist; Sie sprechen weder Griechisch noch Lateinisch, wie Göttinger Professorentöchter; ja, Sie sind nicht einmal eine moderne Studentin, und ich bezweifle, daß Sie jemals in Ihrem Leben einen Commers mitgemacht haben, sei es ein Commers beiderlei Geschlechtes oder ein solcher, wo das genus femininum allein die Farben und die Kosten trägt. Gehen wir vorüber! Sie ahnen vielleicht nicht, wie viele Seiten des Meßkatalogs wir damit überschlagen; denn von den mehr als zehntausend Werken, die er leider! alljährlich zu verzeichnen hat, gehört bei weitem mehr als die Hälfte den eigentlichen Fachwissenschaften an. Die deutschen Fachgelehrten sind fleißig wie die Seidenwürmer; manche von ihnen spinnen Fäden von tausendachthundert Ellen Länge aus sich heraus und verwandeln sie in einen Cocon, in den sie sich einpuppen, um von hier aus dann in freiem Fluge zur Unsterblichkeit sich aufzuschwingen– es ist freilich nicht Alles Seide, was sie spinnen.

Jetzt treten wir in den Kreis, welcher der großen Leserwelt geöffnet ist; da begegnen wir zuerst den Lyrikern. Sie haben so oft vom deutschen Dichterwalde gelesen, in welchem es von allen Zweigen singt; an Gesang fehlt es nicht, aber wie Wenige wollen noch in diesem Dichterwalde spazieren gehen! Der Lyriker ist für sich, für seine Freunde und besonders für seine Geliebte die geborene Nachtigall, für den Buchhändler aber ist er der geborene „Krebs“ – seine Werke kehren nach der Messe in dicken Ballen wieder dorthin, von wo sie ausgegangen sind. Es ist wahr, viele zwitschern gar zu nichtssagend, und auch manche der besseren haben wie naßgewordene Canarienvögel ihre Stimme verloren und ihren schmetternden Gesang verlernt; auch hat sich der deutsche Dichterwald nur zu oft in einen Vogelladen verwandelt, wo sich Amaranthfinken und Paradieswittwen und alle möglichen, oft etwas verfärbten ausländischen Prachtvögel tummeln: ich meine die zahllosen Nachdichtungen, Aneignungen, Uebersetzungen fremder Dichtungen. Dennoch bleibt es ein bedenkliches Zeichen der Zeit, daß der Sinn für Lyrik von Jahr zu Jahr mehr erlischt; die Lyrik ist aus der Mode gekommen, und das sieht bei der heutigen Zeitrichtung fast einem Todesurtheil ähnlich; denn noch nie hat in der Literatur die Mode eine größere Rolle gespielt. Wer unterhält sich in den Salons heutzutage noch von lyrischen Dichtern? Höchstens geschieht dies am Pianoforte, beim Hervorsuchen der Notenblätter, wenn es sich um das neucomponirte Lied eines Poeten handelt. Doch auch dann sind es Heine, Geibel und andere Dichter einer früheren Zeit oder Dichter, die wenigstens in einer früheren Zeit sich einen Namen erworben haben.

Einige Günstlinge des Glückes haben es sogar zu einer diamantenen Jubelfeier gebracht, wie Bodenstedt mit den Auflagen seines Mirza-Schaffy. Andern wiederum ist das Glück nicht treugeblieben, und der Beifall, den ihre ersten Gedichtsammlungen fanden, ist den späteren gegenüber erlahmt, wie dies bei Hermann Lingg der Fall ist. Wenn einige Sänger sich neuerdings ein größeres Publicum erwarben, so waren es die Vertreter einer poetischen Jovialität und lebensfrischen Munterkeit wie Victor von Scheffel und Julius Wolff, der Dichter des „Rattenfänger von Hameln“, aber alle jungen Talente, die, von höherem Schwung getragen, den classischen Idealen des Gedankenreichthums und der Formenschönheit nachstreben, werden kaum ein Echo finden in dieser von tausend Geräuschen betäubten Zeit. Und doch sollte unsere Schulbildung, welche den Geist der Jugend am Studium der classischen Muster nährt, diese gerade darauf hinführen, daß sie dem verwandten Streben der Gegenwart eine begeisterte Theilnahme entgegenbrächte.

Hier ist aber eine große Lücke in unserer Erziehung: es fehlt jede Nutzanwendung auf die Gegenwart. Die classische Epoche [711] wird von den Lehrern als etwas Abgeschlossenes hingestellt, was durch eine nicht zu überbrückende Kluft von der Neuzeit geschieden ist. Und auf den Universitäten gilt es kaum für gelehrt genug, über neuere und neueste deutsche Literatur zu lesen. Dazu kommt die wachsende Beschränkung auf Fächer und Specialitäten, welche so himmelweit verschieden ist von der schönen Allgemeinheit humaner Bildung, welche die Gelehrten unseres classischen Zeitalters, die Humboldt und ihre Gesinnungsgenossen vertraten. Der handwerksmäßige Zug der Zunftgelehrsamkeit kann den Musen kein Asyl gründen. Die Zöglinge aber jener weiblichen Erziehungsanstalten, an denen die neuere Literatur noch am meisten gepflegt wird, begnügen sich meistens mit den Anthologien, wo sie alle Dichter hübsch beisammen finden; auch fehlt es ja an den Vätern, Brüdern und Schwägern, die ihnen einen neuen Lyriker in geschmackvoller Gewandung unter den Christbaum legen.

So bleibt die Lyrik das Stiefkind der Gegenwart; ihre Erzeugnisse sind die Ladenhüter des Buchhandels. Und doch wird sich das echte dichterische Talent vorzugsweise in der Lyrik bewähren müssen, in welcher die angeborene Poesie ihr seelenvolles Auge aufschlägt: von den alten Tragikern bis zu Shakespeare, Goethe, Schiller und Victor Hugo sind die großen Dichter, auf wie vielen Gebieten sie sich auch Lorbeeren erringen mochten, große Lyriker gewesen, und ich halte nicht viel von den neuen lorbeergekrönten Größen des Parnasses, die nie vermocht haben, in weihevollem Gesang ihre innersten Gefühle auszuströmen und ihnen dabei eine schöne Kunstform von dauerndem Gepräge zu geben; mir ist, wenn ich mich durch manche Bände dieser Prosaiker hindurchgewunden, zu Muthe, als müßte ich die Worte des Mephistopheles wiederholen: „ich bin des trock'nen Tons nun satt.“

Noch schlimmer als den Lyrikern ergeht es auf den Buchhändler-Messen den Dramatikern; was auf den Bühnen ihr Loos ist, davon will ich Ihnen nächstens berichten, verehrte Freundin. Ein dramatischer Dichter, dessen Dichtung nicht zur Aufführung gekommen ist, schläft einen bleischweren Schlaf in den Fächern der Sortimentsbuchhändler, und wenn einmal eine mitleidige Seele, vielleicht ein entfernter Vetter, oder eine verlassene Geliebte, sich seiner annimmt und erbarmt, so muß erst der Staub von dem Umschlage seines Werkes geblasen werden. Es ist vielleicht unsterblich; wer kann es wissen? Wir Alle nicht, verehrte Freundin, auch die Kritik nicht; nur ist dem Dichter zu wünschen, daß seine Schöpfung auf dauerhafteres Papier gedruckt würde, als z. B. jetzt für die meisten Standesregister verwendet wird; sonst würde sein Trauschein mit der Muse schon nach zwei Jahrzehnten verloren gehen. Wird aber ein Stück aufgeführt, so finden sich doch wenigstens einige Liebhaber, die es zur Erinnerung an den Theaterabend ihrer Bibliothek einverleiben. Freilich ist die Zahl derselben keine große, und die zweiten Auflagen dramatischer Werke lassen meistens lange auf sich warten; es müßten denn ein- oder zweiactige Stücke für Haustheater und Liebhaberbühnen sein; da ist viel Begehr und Nachfrage; denn wer spielte heutigen Tages nicht Komödie? An den Pariser Bühnen wird in den Zwischenacten das Stück – „la pièce“ – als gedrucktes Exemplar ausgerufen und feilgeboten; in Deutschland ist dies nirgends der Fall. Kauft aber ein eifriger Theaterfreund eins der heutigen Zug- und Modestücke im Buchladen und vertieft er sich dann in die einsame Lectüre desselben, so wird er allzu oft einer schmerzlichen Enttäuschung preisgegeben sein und sich fragen: wie, dies geist- und witzlose Product konnte mir auf der Bühne gefallen? Das sind die Täuschungen der Prosceniumslampen!

Besser sieht es mit den Romanen aus: sie haben ein Publicum; in der Regel erscheint aber der Roman im Buchhandel erst, wenn er bereits durch die Spalten verschiedener Zeitungen und Journale die Runde gemacht hat. Mancher Leser derselben hat sich durch den stückweisen Genuß bereits den Geschmack daran verdorben; doch es bleiben als sichere Abnehmer immer die Leihbibliotheken, die keinem Romane von gutem Klang aus dem Wege gehen dürfen. Aus diesen Reservoirs der Lectüre führen dann die Canäle überall hin, wo unterhaltungsbedürftige Herzen schlagen, in die Schnittwaaren- und Fleischerläden, wie in die Boudoirs der eleganten Damen. Es ist so eine oft wiederholte Klage in Deutschland, daß auch in den vornehmsten Kreisen der Lesebedarf mit Hülfe der Leihbibliotheken bestritten wird, daß es noch nicht Mode ist, durch eine geschmackvoll ausgewählte Privatbibliothek die eigene Bildung und die Kenntniß der Classiker sowohl wie der neuesten Literatur zu bekunden. Und wenn es sich nur um die schönen Einbände handelte – der Literatur wäre jedenfalls damit geholfen.

Freilich giebt es auch Ausnahmen von dieser Regel; es giebt Autoren, die solch eine Dictatur der Mode ausüben, daß der Privatbesitz ihrer Werke unerläßlich ist und zum guten Ton gehört. Man könnte sich anständiger Weise in keinem Salon mehr sehen lassen, wenn man nicht über den Inhalt jener Werke genaue Auskunft zu ertheilen vermöchte. Dazu aber muß man sie in seinem Schranke stehen haben, um gelegentlich immer wieder nachschlagen zu können und besonders nicht die Namen zu verwechseln; die oft einen seltsam fremdartigen Klang haben; denn Mode ist vorzugsweise jetzt das Alterthümliche. Die Werke dieser beliebten Autoren haben einen buchhändlerischen Absatz, mit welchem sich der Absatz unserer classischen Werke bei Lebzeiten der Autoren nicht entfernt messen konnte, ja der selbst den Absatz früherer Moderomane aus der Feder eines Lafontaine, Vulpius und Clauren weit hinter sich läßt.

Was unsere Classiker betrifft, so war es mit ihren buchhändlerischen Erfolgen nicht sonderlich bestellt, ehe der Glorienschein der Classicität ihre Häupter umstrahlte. Goethe veranstaltete bei der großen Leipziger Firma Göschen die erste Gesammtausgabe seiner Werke; dies geschah im Jahre des Herrn 1786, und es fanden sich in dieser Ausgabe „Götz“ und „Werther“, „Tasso“, „Iphigenie“, „Egmont“ und der „Faust“ in seiner ersten fragmentarischen Gestalt, also die werthvollsten Geschenke, die der Genius des Dichters seiner Nation gemacht. Und diese Ausgabe lag wie Blei in den Buchläden fest. Goethe selbst sagt, sie sei in eine Zeit gefallen, wo Deutschland nichts mehr von ihm wußte noch wissen wollte. Hatte Göschen, als er diese unsterblichen Werke wie taube Körner in die Furchen des deutschen Buchhandels streute, eine Ahnung davon, welche goldene Ernte einst Cotta mit ihnen einheimsen würde? Wann aber wird ein Dichter ein Classiker? Ueber diesem Mysterium schwebt ein heiliges Dunkel, das noch keine kritische Forschung gelichtet hat; keinesfalls haben die Lieblinge des Tages die Bürgschaft der Unsterblichkeit für sich – sonst wäre Kotzebue ein Classiker geworden und nicht Goethe.

Sie lächeln, verehrte Freundin? Sie zucken mit den Achseln? Uns freilich ist Kotzebue nur ein gewandter und veralteter Bühnendichter, und die großen Literarhistoriker haben alles gethan, ihn fast über Gebühr in Verruf zu bringen; doch wenn Sie zur Zeit, als „Menschenhaß und Reue“ erschienen war und Goethe's Werke noch immer zu den unverkäuflichen Ladenhütern gehörten, die Zeitgenossen gefragt hätten, wie sie über diese beiden Dichter dächten, Sie würden eine Antwort erhalten haben, die sich mit unseren heutigen Anschauungen über Beide gar nicht in Einklang setzen läßt: die Höfe, der Adel, die höheren Beamten, die Modedamen, das große Publicum, ja selbst die Gelehrten (denn Kotzebue wurde Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, eine Ehre, die weder Schiller noch Goethe zu Theil wurde) – sie hätten alle Kotzebue für eine mindestens so bedeutende literarische Größe erklärt, wie Goethe, und besonders die Berliner hätten über den Weimarischen Hofpoeten, der an der Spree auch später nur in kleinen Kreisen gefeiert wurde, wie über einen beiseitegeschobenen literarischen Posten geurtheilt.

Erfreulich ist es immerhin, daß die heutigen Mode-Autoren mit Talent ein literarisch berechtigtes Genre anbauen und nicht wie viele Vorgänger in der Gunst des Publicums auf den schlechten Geschmack desselben speculiren. Merkwürdiger Weise sind es gleichzeitig der urgeschichtliche archäologische und der zeitgeschichtliche Roman, welche die meiste Verbreitung finden. Was den letzteren betrifft, so hat schon vor zwei Jahrzehnten John Retcliff mit seinen Zeitungsromanen einen Erfolg davongetragen, den sein Nachfolger auf diesem Gebiete, Gregor Samarow, kaum erreichen konnte. Daneben blüht allerdings, während die Dorfgeschichte ziemlich aus der Mode gekommen ist, der modern-sociale Roman in geistvoller Vertretung. Dazwischen weht ein ganzer Staubwirbel von Novellen, Novelletten, Humoresken, doch das findet Alles seine Leser.

Am meisten bevorzugt ist die Literaturgeschichte: der Deutsche liest lieber Werke über die Dichter, als die Werke der Dichter selbst. Es zeugt dies für seine reflectirende Natur: er liebt die [712] Spiegelung. Alljährlich erscheinen neue, besonders deutsche Literaturgeschichten, und wenn sie mit Bildern und Bildchen, mit Autographen, mit dem Abdruck alter Handschriften und ähnlichem Krimskrams reichlich versehen sind, so erleben sie zahlreiche Auflagen. Unerschöpflich aber ist die Literatur über unsere Classiker und über Shakespeare; hier trifft man neben manchen werthvollen Enthüllungen und wohlbegründeten Urtheilen auf eine solche Menge Vergötterungen, auf einen solchen widerwärtigen Zettelkram, auf eine solche Wichtigthuerei mit den gleichgültigsten Daten und Reliquien, die nur in den Papierkorb gehören, daß dies sich breitmachende Epigonenthum geradezu ein Hemmniß für die Fortentwickelung unserer Literatur ist.

So sieht es, verehrte Freundin, auf unserem Büchermarkte aus. Bedeutendes erscheint nicht in jedem Jahr, nicht einmal in jedem Jahrzehnt; es wäre unbillig, dies zu erwarten; aber zur Sonderung des Echten und Werthvollen von dem bestechenden Flitterkram des Tages hat die vielbewegte Gegenwart nicht Zeit; das ist Sache der Zukunft, welche nicht das Urtheil der Menge, sondern das der feinfühligen Geister adoptiren wird, zu denen ich seit lange Sie, verehrte Freundin, rechne.