Textdaten
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Autor: J. K.
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Titel: Robert Wilms todt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 712
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[712] Robert Wilms todt! Im rüstigen Mannesalter ist Robert Wilms, seit Albrecht von Gräfe’s Dahinscheiden der populärste Arzt Berlins, durch den Tod dahingerafft worden. Die deutsche Reichshauptstadt zählt unter ihren Mitbürgern die glänzendsten Namen der modernen medicinischen Wissenschaft, allein Keiner dieser kühnen Forscher, dieser genialen „Mehrer des Reiches“ der Wissenschaft dürfte sich auch nur entfernt einer solch allgemeinen Verehrung in der gesammten Bevölkerung rühmen können wie sie dem Verblichenen entgegengebracht wurde. Keine irgendwie bedeutsame Entdeckung, auch nicht einmal die Erweiterung der chirurgischen Technik, wird den Namen des Verewigten auf die Nachwelt bringen, aber die herzlichste Anerkennung und Dankbarkeit Unzähliger ist ihm zu Theil geworden. Wilms’ Wirken war ein unmittelbar persönliches; es verschwand mit ihm; denn er starb ohne eine literarische Nachkommenschaft. Und dennoch dürfte er den Berufensten in seinem Fache beigezählt werden. Von Anfang seiner Laufbahn an betrachtete er sich ausschließlich als im Dienste der Leidenden stehend, und um dieser seiner Auffassung von dem ärztlichen Berufe voll entsprechen zu können, begnügte er sich mit der einfachen Lebensstellung eines ausübenden Chirurgen.

Jede naturwissenschaftliche Entdeckung, mochte dieselbe in einer Vermehrung des vorhandenen Arzneischatzes oder in der Anwendung eines folgenreichen Princips auf einzelne Fälle bestehen, gewann für ihn eine sofortige Beziehung zu seinem selbsterwählten Berufe, und nur in sofern galt sie ihm etwas, als er in ihr ein weiteres und gesicherteres Hülfsmittel erblicken durfte – das nicht etwa, weil er den Selbstzweck einer wissenschaftlichen Arbeit nicht zu schätzen verstanden, nein, weil ihm in erster Linie die Frage stand, ob die neu entdeckte Methode geeignet wäre, irgendwie die vorhandenen Leiden seiner Mitmenschen zu lindern oder etwaige drohende zu beschwören. Denn vor allem Anderen wollte Wilms ein ärztlicher Helfer sein. Der ausschließlich dialektische Scharfsinn, der mit dem Aufgebot des vielschichtigen Rüstzeuges unserer modernen naturwissenschaftlichen Forschung die Diagnose der Erkrankung sichert, war für Wilms stets nur Mittel zum Zweck, dem betreffenden Kranken Linderung, womöglich Heilung, bringen zu können.

Was die Chemiker in ihren Laboratorien an neuen Stoffen zusammensetzten, was die Physiologen sodann in ihren Thierversuchen von der Wirksamkeit jener Stoffe sicher zu stellen bemüht waren, das sollte nunmehr unter der erfahrenen Leitung des ausübenden Arztes und Chirurgen seine Probe bestehen. In diesem Gedanken lebte Wilms ausschließlich; von diesem Gedanken wurde sein rastloses Wirken vollständig beherrscht. Zwischen der theoretischen Wissenschaft und dem leidenden Menschen versah er unverdrossen seine vermittelnden Dienste. Aber wie entledigte er sich dieses Berufes! Er brachte fürwahr in jedem Augenblicke seiner ausübenden Wirksamkeit die ganze Summe des zur Verfügung gestellten wissenschaftlichen Apparates zur Anwendung. Dadurch allein würde er jedoch nicht so berühmt und beliebt geworden sein, denn großes Wissen und chirurgische Virtuosität vermag sich Jeder bis zu einem gewissen Grade durch unverdrossen fortgesetzte Arbeit anzueignen, und jeder Arzt muß dies auch; – allein wie der geschickteste Marmorarbeiter durch Beharrlichkeit nicht zum Künstler, der tüchtigste Maschinenzeichner nicht zum James Watt wird, ebenso wenig machen bloße Kenntnisse und chirurgische Geschicklichkeit einen Wilms.

Sein Genie war seine Persönlichkeit, und hierzu gesellte sich sein nicht ermüdender Fleiß, seine nicht nachlassende Sorge, seine gewinnende Herzensgüte. Die Kranken glaubten an ihn; die Hülfesuchenden blickten mit einem unerschütterlichen Vertrauen zu ihm auf. Und wahrlich, sie durften es. Denn nicht blos der kundige Arzt, der unerschrockene, kaltblütige Chirurg stand vor dem Krankenbette oder am Operationstische, sondern der herrliche, fühlende Mensch war es, in dessen ruhig freundlichen Augen eine edle, theilnahmvolle Seele sich abzuspiegeln schien. Darum war Wilms ein Freund und Helfer vornehmlich der Mühseligen und Bedrückten. Und diese waren es zuvörderst, welche seinen Namen und seine Güte in die weitesten Kreise hinaustrugen, und in dieser Hinsicht hat er unter den zahlreichen Berufsgenossen nicht sobald seines Gleichen. Die wissenschaftliche Objectivität, welche gar viele unserer berühmten medicinischen Geheimräthe bis an das Krankenbett bringen, hat in ihrer Gefühlsleerheit für den Kranken etwas Furchterregendes. Wilms wußte jener wissenschaftlichen Objectivität ihre Herbigkeit dadurch zu benehmen, daß er ihr von seinem eigenen subjectiven Empfinden so viel hinzufügte, wie nöthig war, um dem Leidenden seine Lage zu erleichtern. Die praktische Heilkunde verfährt ja stets in ihren Arzneiverordnungen nach dem bewährten Grundsatze, die bitteren Mittel durch Corrigentia, durch Zusätze annehmbarer zu machen. Es giebt auch derartige psychische Corrigentia, und auf die Anwendung dieser Mittel, zu deren Abwägung freilich noch kein ziffermäßiges Formular aufgefunden werden konnte, verstand sich der verstorbene Wilms in beneidenswerther Weise.

An Anerkennungen, an äußerlichen Ehrenbezeigungen hat es dem seltenen Manne nicht gefehlt. Aber seine Seele war zu rein, sein Sinn zu vornehm, sein Denken zu stolz, um nach jenen vielbegehrten Auszeichnungen zu streben, und die edle Unabhängigkeit seiner Gesinnung ließ es nicht zu, daß er um solcher Kleinigkeiten willen sich irgendwie bemühen sollte. Fürwahr, in unserer nur allzu sehr auf den äußerlichen Erfolg gerichteten Zeit soll man einen Mann doppelt hoch halten, der es sich an dem stolzen Gefühl genug sein läßt, seine Pflicht zu erfüllen, welche ihm die Wahl seines edlen, menschenfreundlichen Berufs auferlegt hat. Und weil der Verstorbene groß dachte von den Aufgaben seines Standes, weil ihm vor allen Dingen die Persönlichkeit des Arztes viel galt, deshalb war er Freund jener offenen rückhaltslosen Männlichkeit, jener Ueberzeugungstreue, die, wenn es sein muß, auch vor unliebsamen Bekenntnissen nicht zurückschreckt. Da Jedermann von der Uneigennützigkeit der Bestrebungen Wilms’ durchdrungen war, halte sein Dazwischentreten Bedeutung und Wirkung. Er hat manch schweren Kampf gegen hochmütige Bornirtheit, die ihm in seinem Wirken entgegentrat, zu bestehen gehabt, aber er hat ihn stets mit der ihm eigenen Unbefangenheit durchgeführt, die ihm wirklich etwas echt Heldenhaftes verlieh.

Ganz und voll lebte er in den Ansichten einer wahrhaft erleuchteten und aufgeklärten Weltanschauung; er war ein in jeder Beziehung frei und groß denkender Mann, an den sich selbst der Hochmuth gewisser einflußreicher geistlicher Kreise nur äußerst selten heranwagte. Manch schönes Wort wurde an Wilms’ Bahre gesprochen, wenn dort aber die Frage nach dem Christenthum des Verstorbenen laut wurde mit der Bemerkung: gehandelt hätte er sein Leben lang christlich, so fügen wir hinzu, daß doch wohl Eines das Andere mit Nothwendigkeit fördert: Wilms hat stets als ein edler Mensch gehandelt und gedacht.[1]
J. K.
  1. Ueber die Todesursache und die letzte Krankheit Wilms' noch Folgendes: Im Juni dieses Jahres erlitt er bei einer Operation eine leichte Stichverletzung am Finger, welche er wenig beachtete und mit der er mehrere andere Operationen vollzog. Nach einigen Tagen nahm die Wunde einen bösartigen Charakter an, und bald zeigten sich auch die Symptome einer Blutvergiftung. Trotzdem trat Besserung ein; Wilms glaubte die Krankheit überstanden zu haben und begab sich auf eine Erholungsreise, auf welcher sich leider sein Gesundheitszustand erheblich verschlechterte. Nach einer vergeblich angewandten Cur kehrte er nach Berlin zurück und begann hier am 23. September nach langer Pause wieder Sprechstunden zu halten. Aber schon am 24., früh 10 Uhr, trat plötzlich ein Blutsturz ein, der den sofortigen Tod des berühmten Mannes zur Folge hatte. Wilms starb in einem Alter von 56 Jahren. Ueber den Lebenslauf des zu früh Daheimgegangenen dürften die nachfolgenden Mittheilungen unsern Lesern nicht unwillkommen sein. Im Jahre 1824 in Arnswalde geboren, besuchte er das Gymnasium zu Stargard und bezog zu Michaelis 1842 die Berliner Universität, um Medicin zu studiren. Hier war er Assistent und Liebling von Johannes Müller und wurde später in Wien Schüler und eifriger Verehrer Oppolzer’s. Im Jahre 1848 trat er als Assistenzarzt des Geheimraths Bartels in das Krankenhaus Bethanien in Berlin ein und widmete sich von dieser Zeit an ausschließlich der Chirurgie. 1852 wurde er zum ordinirenden und 1862 zum dirigirenden Arzt der chirurgischen Station desselben Krankenhauses ernannt, in welcher Stellung er bis zu seinem Tode verblieb. Die Resultate seiner verdienstvollen Thätigkeit pflegte er in den „Jahresberichten“ von Bethanien zu veröffentlichen, welche in der medicinischen Welt sehr hoch geschätzt wurden. Seine großen Verdienste um das kaiserliche Haus, seine segensreiche Wirksamkeit als Generalarzt in den Kriegen von 1866, 1870 und 1871 sind allgemein bekannt. – Ein langjähriger Freund des Verstorbenen, Eugen Hahn, hebt in der „Berliner Klinischen Wochenschrift“ hervor, daß das Gedächtniß Wilms’ für seine Kranken so ausgezeichnet war, daß er sie selbst nach langen Jahren zu ihrem größten Erstaunen auf den ersten Blick wieder erkannte. Seine Mußestunden füllte Wilms am liebsten mit dem Studium der Mathematik, Physik und der deutschen Literatur aus. Lessing und Platen waren seine bevorzugten Lieblinge, und auf seinen Reisen trug er stets ein Werk des ersteren bei sich.
    D. Red.