Textdaten
<<< >>>
Autor: Rudolf Gottschall
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Literaturbriefe an eine Dame/III
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 12, S. 182–184
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[182]
Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf Gottschall.
III.

Sie besinnen sich, Madame, auf den kleinen Philologen, der, so lang er in der benachbarten Gymnasialstadt Lehrer war, Sie öfter auf Ihrem Schlosse besuchte. Ihm voraus ging der Ruf einer außerordentlich tiefen Gelehrsamkeit, namentlich im Fache der altclassischen Dichtung. Wir hatten allen Respect vor dieser Gelehrsamkeit; aber wir konnten uns ihren Vertreter nicht zusammendenken mit der Dichtung alter und neuer Zeiten. Es wehte uns immer so urprosaisch an in seiner Gegenwart, als ob alle Grazien und Musen vor ihm Reißaus nehmen müßten. Die wasserblauen Augen unter den Brillengläsern hatten jene nixenhafte Kühle, die man sich bei weiblichen Sirenen eher gefallen läßt, als bei männlichen Größen; denn eine Undine, welcher die Seele fehlt, kann immer noch, wie wir aus alten und neuen Erfahrungen wissen, einen verführerischen Zauber ausüben.

Er sprach wenig, nur selten setzten seine Worte die zahlreichen Falten des pergamentenen Teints in netzförmige Bewegung, und wenn er sprach, so geschah es so nachdrucksvoll langsam, mit so gewichtiger Bedachtsamkeit, daß seine Rede stets von den Gedanken der Zuhörer überflügelt wurde und daß wir Alle längst am muthmaßlichen Ende der Periode angekommen waren, während er sich noch mit einigen rebellischen Zwischensätzen herumschlug. Wie oft gaben Sie mir einen heitern Wink, Madame, zum Zeichen, daß Sie die unwillkürliche Komik dieser salbungsvollen Weisheit empfanden und bei mir die gleiche Genußfähigkeit voraussetzten! Wir konnten den Gedanken nicht fassen, daß dieser Lehrer seine Schüler für die heitere Lebensweisheit des Horaz, für den schwunghaften Patriotismus des Virgil und die genialen Göttergeschichten des römischen Heinrich Heine, des kecken Ovidius Naso, erwärmen könne.

Gleichwohl hat unsere profane Kritik jenem Gelehrten Unrecht gethan. Die Männer von Fach haben seine Bedeutung anerkannt; ihm ist der Lehrstuhl der Philologie an einer Hochschule anvertraut worden. Und diese Hochschule ist weit entfernt von Ihrem Schloß, Madame; Sie müssen jetzt seines lehrreichen Umgangs entbehren. Er selbst wird sich ebenso rasch darüber zu trösten wissen; denn er hatte keinen Sinn für Naturschönheiten und blieb kalt in Ihrem herrlichen Park, in dem weitschauenden Felspavillon und, was noch unverzeihlicher ist, selbst in Ihrer liebenswürdigen Nähe.

Sie werden mich fragen, Madame, warum ich das etwas farblose Bild des ehrenwerthen Mannes heraufbeschwöre und gleichsam als Vignette vor diesen Literaturbrief setze? Weil er mir eine willkommene Anknüpfung giebt, das Verhältniß der Gelehrsamkeit zur Dichtkunst zu besprechen, und auf einige neue Gestaltungen desselben hinzuweisen, die Ihnen gewiß sehr fremdartig vorkommen werden. Ohne Frage bedürfen die Dichter der Griechen und Römer des Commentars, und wenn auch oft durch die umhertastende Gelehrsamkeit der Flügelstaub von ihren Schwingen abgestreift wird, so sind doch die Verdienste unserer Gelehrten um Erläuterung jener unsterblichen Meisterwerke des Alterthums, um die Kenntniß der alten Culturwelt, ihrer Sprachen und Sitten hoch anzuschlagen. Ein unversiechlicher Quell geistiger Bildung entströmt ihnen, und noch heutigen Tags wird man es dem modernsten Schriftsteller anmerken, ob er die hohe Schule durchgemacht hat oder nicht; denn nur sie gewährt eine wahrhaft geläuterte Geschmacksbildung. Die dichterischen Werke der geistreichsten Autodidakten zeigen oft Risse und Sprünge, denen man es gleich anmerkt, daß sie aus dem Mangel jener unerschütterlichen Grundlage hervorgehen. Es haben zwar jene mächtigen Bauten der geistigen Könige des Alterthums auch vielen Kärrnern zu Thun gegeben; es sind unglaubliche Schuttmassen überflüssiger Weisheit zusammengekarrt worden; es haben sich jene parasitischen Berühmtheiten gebildet, die nur von dem Ruhm der anerkannten großen [183] Dichter zehren, aber auch feine und geistreiche Köpfe führten uns in die Weisheit und Schönheit der alten Denker und Dichter ein und wiesen die Staatsmänner und Philosophen, die Künstler und Poeten hin auf die großen Muster, denen ein dauernder Ruhm zu Theil geworden ist.

Doch man begnügt sich jetzt nicht mehr mit der gelehrten Behandlung der altclassischen Dichter; auch die neueren und neuesten werden nach denselben Grundsätzen wissenschaftlich, textkritisch, mit allem Aufgebot staubiger Schulweisheit zurechtgeknetet. Und das ist das Phänomen, Madame, auf welches ich Sie aufmerksam machen wollte.

Sie freilich, wenn Sie Ihren Shakespeare lesen, glauben auf Rosen zu wandeln und ahnen gar nicht, welch’ ein tückischer Abgrund, den hundert Folianten nicht auszufüllen vermögen, sich unter Ihren Füßen aufthut; Sie glauben Shakespeare zu verstehen und wissen gar nicht, daß Sie das nöthige Zeugniß der Reife für das Verständniß des britischen Dichters noch lange nicht besitzen; Sie lassen sich von einzelnen seiner Dramen begeistern und merken nicht, wie hohl Ihre Begeisterung ist, da Sie nicht einmal den Grundgedanken der Stücke richtig gefaßt haben; Sie tadeln dies und jenes an seinen schwächern Werken und ahnen nicht, daß diese anscheinenden Fehler längst als unvergängliche Schönheiten nachgewiesen sind, und daß man in den Kreisen der Eingeweihten über derartige Ketzereien einer ungeläuterten Auffassung vornehm die Achseln zuckt! Sie glaubten in dem englischen und deutschen Shakespeare, der in so schönem Einband von Ihrem Bücherbrett auf Ihr epheuumranktes Arbeitstischchen herabsieht, den Inbegriff aller Shakespeare-Weisheit zu besitzen, während ein solcher Shakespeare doch nur ein ganz ungenießbarer Rohstoff ist, der erst durch die Verarbeitung der gelehrten Köpfe dem Genuß zugänglich gemacht wird.

Sie lächeln, Madame? Sie meinen, ein Dichter müsse sich selbst erläutern, durch die Macht der Poesie, durch den Zauber der Schönheit wirken? Das sind veraltete Ansichten! Wer Shakespeare verstehen will, muß Schulgeld bezahlen. Shakespeare ist jetzt eine ganze Facultät für sich, die alle anderen umfaßt; es giebt eine Shakespeare-Philologie, eine Shakespeare-Philosophie, eine Shakespeare-Theologie, ja selbst eine Botanik, eine Jurisprudenz und alle erdenklichen Hülfswissenschaften hat man aus den Werken des großen Dichters zusammengestellt. Es hat sich in Weimar eine Shakespeare-Gesellschaft gebildet und die reichhaltige Bibliothek dieser Gesellschaft würde Ihnen beweisen, Madame, daß auch in Bezug auf Shakespeare die Kunst lang und das Leben kurz ist, und daß man Shakespeare zu seiner Lebensaufgabe machen kann. Schon Goethe seufzte: „Shakespeare und kein Ende!“ Und jetzt ist seitdem ein halbes Jahrhundert vorübergegangen, und die Shakespeare-Literatur ist noch immer im Wachsen. Gewiß ist die ernste Beschäftigung mit einem bedeutenden Dichter verdienstlich und rühmlich, und da sich die Shakespeare-Gesellschaft diese Aufgabe gestellt hat, so wollen wir sie nicht nur Ihnen, Madame, sondern auch weitesten Kreisen empfehlen. Gleichwohl ist die Art und Weise, wie sie diese Aufgabe in den bisher erschienenen Jahrgängen des „Shakespeare-Jahrbuchs“ zu lösen gesucht hat, nicht durchweg zu billigen; die Bedeutung Shakespeare’s für uns, die Sonderung des Bleibenden und Vergänglichen in seinen Werken tritt allzusehr zurück gegen eine in bengalischen Flammen leuchtende Apotheose.

Da trat neuerdings ein Kritiker auf, der sich den „Realisten“ nannte, Gustav Ruemelin, seines Zeichens ein würtembergischer Minister außer Diensten, und wagte in seinen anregenden geistvollen „Shakespeare-Studien“ ästhetische Bedenken gegen mehrere Werke des großen Britten, gegen seine Motivirungen, gegen die Auslegung von Seiten der deutschen Gelehrten auszusprechen namentlich aber die Ueberlegenheit des britischen Dichters über unsere großen deutschen Dioskuren, Schiller und Goethe, zu bestreiten. Diese Studien hätten unbedingt in das Shakespeare-Jahrbuch gehört; denn sie brachen einer modernen Auffassung des britischen Dichters die Bahn; sie beleuchteten seine Werke vom philosophischen und politischen Standpunkte des neunzehnten Jahrhunderts aus und maßen sie mit dem Maßstabe unserer doch wesentlich fortgeschrittenen ästhetischen Bildung, Doch was that das Shakespeare-Jahrbuch? Es zuckte vornehm die Achseln über den neuen Kritiker; er gehörte ja nicht zur Facultät. Dazu muß man mindestens eine neue Lesart in einem Shakespeare’schen Trauerspiele entdeckt oder, wenn man die höheren Grade erlangen will, ein Shakespeare’sches Drama in englischer Sprache mit Noten herausgegeben haben.

Fällt Ihnen da nicht wieder unser kleiner, dürrer, poesieloser Philologe ein? Sie sehen, meine Vignette war nicht blos eine müßige Arabeske! Auch die Shakespeare-Weisheit und das Shakespeare-Jahrbuch hat solche Philologen aufzuweisen. Es hat etwas Unheimliches, diese gespenstigen Schatten hervorhuschen zu sehen aus dem Zauberwalde der Shakespeare’schen Poesie, wie der Londoner Annoncenmohr mit Zetteln, von Kopf zu Fuß mit Lesarten, Varianten, Noten beklebt. Sie haben etwas von den blutsaugenden Vampyren, wenn sie über einen Dichter herfallen, um mit seinem Lebensblut ihre eigene geistige Existenz zu fristen.

Da giebt es zunächst die Räthsellöser, welche an den dunkeln Stellen Shakespeare’s ihren Scharfsinn üben. Hierin sind namentlich die Engländer groß, ein Volk, das die größten Seehelden und die größten Wortklauber hervorgebracht hat, ein Volk von einer unglaublichen Orthodoxie und einem Fetischdienst des Buchstabens, wie er in Deutschland trotz unseres gelehrten Rufes unbekannt ist. Shakespeare-Nüsse zu knacken gehört dort zu den beliebtesten geistigen Uebungen; Gevatter Nußknacker und Compagnie erfreuen sich dort des größten Ansehens.

Sie werden, Madame, in Shakespeare, sowohl im Original wie in den Uebersetzungen, manche dunkle Stelle gefunden haben, die mehrfache Auslegungen zuläßt. Solche Dunkelheiten entstehen theils aus dem allzugroßen Phantastereichthum des Dichters, der von Verworrenheit des bildlichen Ausdrucks nicht freizusprechen ist, theils aus der Incorrectheit seines Styls oder des Textes, in welchem er überliefert ist. Sie würden sich irren, Madame, wenn Sie meinten, daß bei Erklärung dieser Stellen ein höheres Interesse und eine andere geistige Thätigkeit im Spiele sei, als beim Auflösen eines Rebus von jüngstem Datum, über dem eine ganze Familie am häuslichen Heerd mit allen confirmirten und unconfirmirten Töchtern oder die Modedamen der Salons mit dem ganzen Hofstaat ihrer Verehrer nachdenklich brüten.

Freilich, der Eine findet diesen Sinn heraus, der Andere jenen, und das Schlimmste ist, daß hier nicht, wie in der nächsten Nummer des Journals, die richtige Auflösung des Rebus steht. Nun begiebt es sich aber oft, daß der größte Scharfsinn in einer solchen dunkeln Stelle gar keinen Sinn zu finden vermag. Soll er sich nun händeringender Verzweiflung überlassen, irre werden an seiner eigenen Mission und an dem Phosphorgehalt der von der Natur ihm angewiesenen Hirnsubstanz? Nein, da giebt es glücklicherweise noch einen Ausweg. So wie die Stelle dasteht, kann sie Shakespeare nicht gedichtet haben, dies oder jenes Wort muß anders lauten. Die Abschreiber, die Drucker, die Herausgeber haben sich einen Fehler zu Schulden kommen lassen. Ein anderer Buchstabe schafft ein anderes Wort; das andere Wort einen andern Sinn. So nur konnte Shakespeare geschrieben haben. Gefunden – ruft der glückliche Entdecker und wie Pythagoras seine hundert Ochsen, schlachtet er aus Freude über seine Entdeckung alle früheren Herausgeber, Ausleger und Erläuterer ab, in deren dumpfes Gemüth nicht jener Blitz vom Himmel zündend und erleuchtend fuhr.

Dies, Madame, nennt man mit einem sehr gelehrten Namen eine Text-Emendation. Sie bereitet dem glücklichen Urheber in der Regel eine schlaflose Nacht, während das stumpfe Menschengeschlecht diese geistige Großthat oft mit einer bedauerlichen Gleichgültigkeit betrachtet. Sie können sich denken, Madame, daß mit dieser anscheinend so harmlosen Beschäftigung nicht unbedeutende Gefahren verbunden sind, nicht für den Entdecker, nein, für den Dichter selbst, der dies Alles über sich ergehen lassen muß und nicht einmal von irgend einem Medium citirt werden kann, um sich darüber auszusprechen, welcher von den Herren ihm seine aus den Gelenken gefahrenen Gedanken am sachgemäßesten eingerenkt hat.

Im Vertrauen will ich Ihnen sagen, Madame, daß ich oft wunderbare Curen erlebt habe, welche der Diagnose dieser Herren nicht das günstigste Zeugniß ausstellen. Die kritischen Nachfolger verfahren denn auch auf das Rücksichtsloseste mit den Erfolgen ihrer Vorgänger, ähnlich den Aerzten, die mit einem schlecht geheilten Armbruch in so grausamer Weise zu Werke gehn, daß sie den Knochen noch einmal zerbrechen. In der That ist einem poetisch empfindenden Gemüthe im Atelier dieser Texteskritik oft zu Muthe, wie in einer chirurgischen Klinik, wo man rings um sich raspeln, sägen und die Gebeine knacken hört, während der als Opfer daliegende [184] Patient, der Dichter selbst, so chloroformirt ist, daß aller Zusammenhang des Denkens bei ihm aufgehört hat.

Wenn Sie nun von „Varianten“ hören, Madame, so werden Sie alsbald wissen, was Sie sich unter diesem an die Varietäten der Blumenflora erinnernden Ausdruck zu denken haben. Eine Shakespeare-Ausgabe mit Varianten stellt eine Blüthenlese der verschiedenen Lesarten unter den Text und baut an den erhabenen Park des dichterischen Genius einen kleinen Blumengarten menschlichen Scharfsinns an, in welchem zugleich dafür der Beweis geliefert wird, daß der letzte kritische Kunstgärtner die beste „Varietät“ entweder ausgewählt oder selbst erzeugt hat.

Sollten Sie noch der kindlichen Naivetät huldigen, Madame, von einem Stück zu glauben, daß es von Shakespeare gedichtet sei, weil es in Shakespeare’s Werken steht, so vergessen Sie, daß Shakespeare nicht blos dramatischer Dichter, daß er auch Schauspieldirector war. Wie aber ein moderner Finanzminister das Geld nimmt, wo er es findet, so nimmt ein Theaterdirector die Stoffe, wo er sie findet, und in einer um das geistige Eigenthum nicht so besorgten Zeit, wie die unsrige, konnte er sich allerlei aneignen, was schon selbst eine Kunstform, oft sogar schon eine dramatische trug; er machte solche Stücke zurecht, überarbeitete sie und brachte sie dann auf die Bühne. Auch eigene Jugendwerke goß er im reiferen Alter um. Im Uebrigen nahm er aus Novellen, Gedichten, Stücken nicht blos Motive und Situationen, sondern auch Verse, Bilder, Gedanken, so daß sein Zeitgenosse Robert Greene ihn eine Krähe nennen durfte, die sich mit fremden Federn putzt.

Ihr Scharfblick, Madame, hat bereits erkannt, welche Arena sich damit für die staubaufwühlende Weisheit wetteifernder Kritiker aufthut! Welche Fragen sind da zu beantworten! Ist dies Stück von Shakespeare? Ist es nicht von ihm? Ist es eine Jugendarbeit von ihm, die er später überarbeitet hat? Ist es das Werk eines andern Dichters, das er der Bühne anzupassen suchte?

So lange ein leidliches Einvernehmen unter den Shakespeare-Kritikern herrscht, können auch wir, Madame, uns bei den Resultaten ihrer Untersuchungen beruhigen; aber ach! Madame, wenn der eine Jahrgang des „Shakespeare-Jahrbuchs“ mit dem andern in Streit geräth, was sollen wir da beginnen, nachdem uns einmal die Milch der frommen Denkart durch kritische Zweifel getrübt worden ist? Und solche Zweifel zu erregen, sind die begeisterten Shakespearomanen unermüdlich.

Wir alle lebten lange Zeit in dem süßen Wahne, „Timon von Athen“ sei ein unbestreitbares Eigenthum des Shakespeare’schen Genius. Da tritt zuerst ein englischer Text-Kritiker auf und beweist, daß „Timon von Athen“ nicht von Shakespeare gedichtet, sondern das Werk eines Anonymus sei, welches Shakespeare nur in einzelnen Scenen umgearbeitet habe, namentlich da, wo der Charakter des Timon ihm Gelegenheit gegeben, seine psychologische Meisterschaft zu bewähren.

Delius, der Shakespeare anfangs gegen den Engländer vertheidigt, schließt sich später der Ansicht desselben an, die nun so lange die Parole des Tages ist, bis ein Hallenser Kritiker glücklich wieder das Gegentheil beweist. Nach dieser neuesten Ansicht ist der „Timon“ von Shakespeare, aber durch einen späteren Bearbeiter entstellt und verunstaltet.

Nicht wahr, Madame, Sie fühlen wie der Schüler des Faust ein Mühlrad im Kopfe herumgehen? Ich wasche meine Hände in Unschuld! Ich wollte Ihnen nur an einem recht schlagenden Beispiele zeigen, was es mit der sogenannten Shakespeare-Gelehrsamkeit für eine eigenthümliche Bewandtniß hat. Ich selbst halte nach wie vor den „Timon“ für ein Werk Shakespeare’s; die Ungleichheit des Styls hängt von der Ungleichheit der dichterischen Stimmung ab. Die Schauspieldirectoren haben zu allen Zeiten viel Aergerniß gehabt, und auch der Meister wird zum Stümper, wenn ihm die reine schöpferische Laune getrübt ist. Auch halte ich das Stück nicht für eine Jugendarbeit, sondern für ein Werk der reiferen Jahre und zwar gerade wegen einzelner Schwächen. In der Jugend schafft man mehr aus einem Gusse; später wird man empfindlicher für jede Störung. Ueberhaupt, Madame, welch thörichtes Vorurtheil, dem Alter des Dichters vor seiner Jugend Vorzug zu geben! Für Dichter und Frauen ist die Jugend ein unersetzlicher Schatz, und wer im Vollgenusse desselben schwelgt wie Sie, Madame, der weiß nicht einmal, wie viel solche Jugend voraus hat vor dem sogenannten reiferen Alter, in welchem Alles reifer geworden ist, auch unsere Fehler.

Doch nicht blos diese kritischen Untersuchungen, auch die Charakteristiken der einzelnen Dramen und ihrer Helden sind zu Bibliotheken herangeschwollen. Gervinus, Kreyßig, Rötscher, Ulrici und hundert Andere haben in den einzelnen Stellen die verschiedensten Grundgedanken, in den einzelnen Charakteren die verschiedensten Eigenschaften entdeckt.

Doch das „Shakespeare-Jahrbuch“ enthält neben den überflüssigen Turnieren des kritischen Scharfsinns und den müßigen Spielen des Witzes auch manchen trefflichen Aufsatz, der für das Verständniß des Dichters in der That neue und wichtige Punkte giebt. Da ist namentlich ein Vertreter deutscher Industrie, Director einer großen Gascompagnie, Heinrich Oechelhäuser[WS 1], der durch gesunde und verständige Darlegungen viele Fachgelehrte beschämt und außerdem ein schönes Beispiel giebt, wie in Deutschland praktische Tüchtigkeit mit warmer Begeisterung für die großen Meister der Poesie vereinigt. Wie ich jüngst erfahren, ist man auch des „trockenen Tones“ satt und will in den nächsten Jahrgängen des Jahrbuchs mehr auf Shakespeare’s Bedeutung für die Gegenwart, auf das Verhältniß der Bühnen zu ihm, auf die Darstellung und auf die Darsteller seiner Hauptrollen in Deutschland Rücksicht nehmen.

Sie aber, Madame, können aus diesen Abhandlungen wohl manche Belehrung schöpfen, doch das wahre Verständniß des Dichters ruht in Ihrer eigenen Brust. Wer der Begeisterung des Poeten mit gleicher Begeisterung folgt, der findet von selbst das Rechte und bedarf des Commentars nicht. Ein Strahl erleuchtet ihm das Ganze und alles Einzelne, während die Camera obscura der Kritik nur von einem hier und dort aufleuchtenden Phosphorschimmer erhellt wird.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gemeint ist: Wilhelm Oechelhäuser.