Ländliche Wohlfahrtspflege, ländliche Arbeiterfrage und innere Kolonisation

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Autor: Carl Johannes Fuchs
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Titel: Ländliche Wohlfahrtspflege, ländliche Arbeiterfrage und innere Kolonisation
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Dritter Band: Die Aufgaben der Politik, Dreizehntes Hauptstück: Selbsthilfe und Sozialschutz, 71. Abschnitt, S. 69−77
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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71. Abschnitt.


Ländliche Wohlfahrtspflege, ländliche Arbeiterfrage und innere Kolonisation.
Von
Dr. Carl Johannes Fuchs,
o. Professor der Volkswirtschaftslehre an der Universität Tübingen.


Literatur:

Bearbeiten
Frankenstein, Die Arbeiterfrage in der deutschen Landwirtschaft. Berlin 1893. –
Fuchs, Die Grundprobleme der deutschen Agrarpolitik in der Gegenwart. Dresden 1902, 2. Aufl. Stuttgart 1913. (Hier weitere Literatur.) –
Gerlach, Ansiedlung von Landarbeitern in Norddeutschland. 1909. –
Derselbe, Innere Kolonisation und Landarbeiteransiedelung. Leipzig 1910. –
Metz, Die Zukunft der inneren Kolonisation im östlichen Deutschland, besonders in Pommern. 1910. –
Roth, Ländliche Hygiene, Jena 1908. –
Sering, Arbeiterfrage und Kolonisation in den östlichen Provinzen. 1892. –
Derselbe, Die innere Kolonisation, mit besonderer Berücksichtigung der Moore und der Arbeiteransiedelung auf den Königlichen Domänen. 1909. –
Derselbe, Die Verteilung des Grundbesitzes und die Abwanderung vom Lande. 1910. –
v. Soden, Die praktische Förderung der Wohlfahrtspflege auf dem Lande (Lehrgang Eisenach 1910, Sonderabdruck aus den „Arbeiten der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft“). –
Sohnrey, Die Wohlfahrtspflege auf dem Lande. 2. Ausg. Berlin 1902. –
Derselbe, Wegweiser für die ländliche Wohlfahrts- und Heimatspflege. –
Zwanzig Jahre deutscher Kulturarbeit 1886–1906. Berlin 1907. –
Wygodzinsky, Agrarwesen und Agrarpolitik (Sammlung Göschen 2 B.). –
Derselbe, Die neuere Entwicklung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens. Hannover 1913.

Unter „Wohlfahrtspflege“ im volkswirtschaftlichen Sinne – abweichend von der Verwendung des Ausdrucks in der Verwaltungslehre – verstehen wir die freie, Vereins- und genossenschaftliche Tätigkeit zugunsten einer Klasse von wirtschaftlich Tätigen, wie sie insbesondere von den Angehörigen anderer Klassen betrieben wird, im Gegensatz zum unmittelbaren Eingreifen des Staates, der „Politik“, – und zwar diejenige Tätigkeit, welche sich nicht auf die wirtschaftliche, sondern auf die sonstige Existenz der Betreffenden bezieht. Der Begriff und die Sache haben sich in diesem Sinne im Gewerbe, zugunsten der gewerblichen Arbeiter in der Industrie, entwickelt. Wir verstehen also zunächst darunter die Fürsorge, welche vor allem die Arbeitgeber – aber auch andere Klassen – für die gewerblichen Arbeiter, nicht mit Bezug auf ihre Arbeit selbst, sondern ihre sonstige Existenz entfalten: also die Fürsorge für gute Wohnungen, für Speise- und Erholungsräume, für Unterricht und Belehrung in der freien Zeit, für die Kinder. Das klassische Muster einer solchen industriellen Wohlfahrtspflege der älteren, „patriarchialischen“ Zeit ist das bekannte Arbeiterdorf Saltaire in England, das hervorragendste in neuerer Zeit in Deutschland sind die Wohlfahrtseinrichtungen von Krupp in Essen.

Was aber heisst nun Wohlfahrtspflege auf dem Lande, ländliche Wohlfahrtspflege? Sie besteht keineswegs nur in der entsprechenden Fürsorge für die arbeitenden Klassen auf dem Lande, die unter den bisher festgestellten Begriff natürlich ebenso fallen wie die städtischen, industriellen, sondern hier erweitert sich die Anwendung des Begriffs von der Klasse auf den Stand, sie bedeutet die Fürsorge für einen ganzen Berufsstand, der heute in einer Weise notleidet, dass weder Staats- noch Selbsthilfe für sich allein ausreichen, ihm die „Wohlfahrt“ zu verschaffen, die er früher gehabt hat, und die er im öffentlichen Interesse wieder bekommen muss.

Und zwar ist diese Notlage nicht die der modernen Agrarkrise, so sehr sie auch durch diese verschärft worden ist, sondern die sehr viel grössere der sog. „Landflucht“ d. h. der Verblutung des platten Landes: seit langer Zeit geht nicht nur wie von jeher der Überschuss der ländlichen Bevölkerung in die Städte, sondern sehr viel mehr, sodass auf dem Lande ein zunehmender Mangel [70] an Arbeitskräften eintritt, und nicht nur kein Wachsen der ländlichen Bevölkerung, gemäss der allgemeinen volkswirtschaftlichen Entwicklung, sondern Stillstand und vielfach geradezu Abnahme derselben erfolgt.

Aber auch bei der ländlichen Wohlfahrtspflege handelt es sich ebenso nicht in erster Linie um die wirtschaftliche Arbeit dieses Standes, die Fürsorge dafür, dass sie ihn ernährt, – oder doch jedenfalls nur soweit, als dies Einfluss hat auf die Landflucht (wie z. B. insbesondere die Möglichkeit eines Nebenerwerbs, die ländliche Hausindustrie). Im übrigen ist diese Fürsorge Sache des Staates, der „Agrarpolitik“, und der Selbsthilfe der ländlichen Bevölkerung im Genossenschaftswesen. Beiden kann die Wohlfahrtspflege nur vorarbeiten, die Wege ebnen und Verständnis dafür bereiten – namentlich in bezug auf das letztere, wo sie also „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist.

Vielmehr handelt es sich auch hier um die Not, den Mangel an Wohlfahrt, die dieser Stand und die ganze ländliche Bevölkerung nicht als Arbeiter, nicht in ihrer Produktion, sondern in ihrer sonstigen Existenz, nicht in ihren Arbeits-, sondern in ihren Lebensbedingungen, in kultureller und menschlicher Beziehung erleidet, und die mehr zur Landflucht beitragen als die wirtschaftliche Notlage. Es handelt sich um ihre Beseitigung dadurch, dass der ländlichen Bevölkerung wieder Wohlfahrt“, d. h. eine in jeder Beziehung den heutigen Verhältnissen entsprechende, befriedigende Existenz auf dem Land ermöglicht wird, und dass das Land ihr wieder zur „Heimat“ wird, die man nicht ohne Not verlässt, sondern nur dann, wenn sie ihre Kinder wirklich nicht mehr zu ernähren vermag.

Darum ist die ländliche Wohlfahrtspflege notwendig zugleich auch immer „Heimatpflege“, und sie bedeutet keineswegs Verstädterung und Industrialisierung des Landes, sondern vielmehr die Erhaltung seiner Eigenart in Sitten und Gebräuchen, Trachten und Bauweise, soweit sie der Erhaltung wert sind, und ihre organische Fortbildung gemäss den Bedürfnissen der heutigen Zeit.

An dieser Aufgabe sind nun aber nicht nur alle Angehörigen der anderen Stände auf dem Lande, sondern auch die ganze städtische Bevölkerung auf das stärkste interessiert. Denn der Jungbrunnen, den das Land für die Stadt darstellt, kann es nur bleiben, wenn dort Gesundheit und Wohlfahrt herrschen. Ist der Brunnen selbst vergiftet, wie soll er dann die städtische Kultur verjüngen? Es handelt sich hier also um die ganz grossen allerletzten Probleme unserer modernen Kultur: um die Ausgleichung zwischen Stadt und Land, die richtige Gestaltung ihrer Wechselwirkung die gerade gegenüber der jüngsten kapitalistischen Entwicklung unserer städtischen Kultur von der allergrössten Bedeutung ist.

Die ländliche Wohlfahrtspflege hängt nun aber aufs engste zusammen mit der Agrarverfassung. Wir haben oben (Abschnitt 44) gezeigt, wie ungleichartig heute die Agrarverfassung des Deutschen Reiches ist, und wie diese Unterschiede geschichtlich entstanden sind: es treten uns als Ergebnis dieser geschichtlichen Entwicklung heute vier grosse, ziemlich scharf getrennte Gebiete entgegen – ein Gebiet der vorherrschenden grossen Güter, bewirtschaftet mit besitzlosen Landarbeitern, im Nordosten, ein Gebiet der grossen geschlossenen d. h. ungeteilt vererbenden Bauerngüter im Nordwesten, ein weiteres ähnliches im Südosten, und endlich dazwischen in Mittel- und besonders Südwest-Deutschland vorherrschend kleine, freiteilbare Bauerngüter.

Wir verstehen nun sehr gut, warum die Bewegung für ländliche Wohlfahrtspflege gerade in Berlin mit der Begründung der Zeitschrift „Das Land“ durch Sohnrey im Jahr 1893 und des „Ausschusses für Wohlfahrtspflege auf dem Land“ (jetzt „Deutscher Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege“) als Abteilung der „Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtspflege“ (jetzt „Zentralstelle für Volkswohlfahrt“) im Jahr 1896 begonnen und anfangs wesentlich im Nordosten Anklang gefunden hat, wenn Sohnrey auch die Anregung gerade aus Baden – der Landwirtschaftspflege der Beamten, der umfassenden Tätigkeit des Frauenvereins und der Bewegung für Erhaltung der Trachten –, entnommen hat. Denn im Nordosten ist ja zuerst bei jenen Landarbeitern die „Flucht von Lande“ ausgebrochen, und daher das Bedürfnis nach einer derartigen Tätigkeit am frühesten und stärksten hervorgetreten. Hier ist ihre Hauptaufgabe: Mitwirkung bei der Lösung [71] der ländlichen Arbeiterfrage, Hebung der hier kulturell so ausserordentlich tiefstehenden Landarbeiterklasse und als Hauptmittel dafür: Förderung der inneren Kolonisation.

Dann aber hat die Bewegung für ländliche Wohlfahrtspflege auf den Nordwesten, das Gebiet der Grossbauern, die Heimat Sohnrey’s, hinübergegriffen. Hierdurch ist eine wesentliche Änderung ihrer Aufgaben und Ziele bewirkt worden: ihre Ausdehnung auf die bäuerliche Bevölkerung, das Bestreben, die bäuerliche Eigenart in Tracht, Sitte, Gebräuchen, Festen etc. zu erhalten, – die Entwicklung der ländlichen Wohlfahrtspflege zur Heimatpflege.

Erst neuerdings ist auch ihre Ausdehnung auf den Südwesten erfolgt, als die Flucht vom Lande infolge der jüngsten mächtigen industriellen Entwicklung auch diesen ergriffen hatte, auch hier ein Mangel an Arbeitskräften und die sonstigen unerfreulichen Erscheinungen dieser Entwicklung sich fühlbar machten. So ist 1902 der badische „Verein für ländliche Wohlfahrtspflege“ (jetzt aufgegangen in dem Verein „Badische Heimat“) und 1905 der „Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege in Württemberg und Hohenzollern“ entstanden.

Nun haben wir aber hier in Baden und Württemberg nicht eine, einheitliche Agrarverfassung, vielmehr zwei der oben geschilderten Formen nebeneinander: im grössten Teile des Landes, im ganzen ebenen Baden, insbesondere im Unterland und ebenso in Alt-Württemberg herrscht jene „südwestdeutsche Agrarverfassung“: Kleinbauern und Freiteilbarkeit. Baden ist neben den Rheinlanden geradezu das klassische Land für diese Verfassung, ihre klimatischen Voraussetzungen sind hier ganz besonders gegeben. Daneben steht aber im Südosten und Süden, im grössten Teile des Schwarzwaldes und in Oberschwaben, eine ganz andere Verfassung, die des Südostens: grössere Bauerngüter, – nicht so gross allerdings wie im Nordwesten, sondern meist nur sog. mittelbäuerliche Betriebe, aber wie dort „geschlossen“ d. h. nicht freiteilbar, vielmehr immer nur an einen Erben, und zwar in Baden den jüngsten Sohn, vererbend, die hier sog. „geschlossenen Hofgüter“. Sie sind in Baden in 15 Amtsbezirken, so besonders in den sechs: Gengenbach, Triberg, Waldkirch, Wolfach, Oberkirch und Freiburg, überwiegend und im ganzen gesetzlich festgelegt auf 4943; dazu kommen aber auch noch namentlich im südlichen Schwarzwald Gebiete mit blosser Anerbensitte, ohne solches Anerbenrecht. Ähnlich wie bei letzteren steht es im südlichen Württemberg.

In diesen beiden Gebieten Badens und Württembergs ergeben sich nun sehr verschiedene Aufgaben und Möglichkeiten für die ländliche Wohlfahrtspflege. Diese will ja im ganzen immer ein doppeltes:

1. der Landbevölkerung Anteil geben an der modernen Kultur, ihre Lage heben und verbessern und damit die Landflucht hemmen, so dass nur der wirkliche Überschuss der Bevölkerung des Landes in die Städte wandert; und

2. der Landbevölkerung die Eigenschaften erhalten und stärken, auf denen ihre besondere Bedeutung für den Staat, für die Nation, für die Gesundheit des ganzen Volkes, als „Jungbrunnen“ desselben, beruht. Beides steht durchaus nicht im Widerspruch, aber aus dem zweiten Grunde gilt es allerdings die Auswüchse der modernen Kultur fernzuhalten.

Dies ist nun im ersten Gebiet, im Kleinbauerngebiet, die Hauptaufgabe: hier, wo keine strenge Scheidung zwischen Stadt und Land besteht, kommt die städtische Kultur nur zu leicht und zu rasch auf das Land, auch mit allen ihren Auswüchsen. Hier ist daher das Zurückdämmen der letzteren, die Fürsorge für Verschmelzung der guten alten ländlichen Kultur mit den guten Bestandteilen der neuen städtischen die Aufgabe. Dabei wird natürlich die bäuerliche Eigenart, die hier überhaupt längst nicht mehr so stark ausgesprochen vorhanden ist, wenig mehr zu erhalten sein. Hier geht die ländliche Wohlfahrtspflege ferner zum Teil auf in der Fürsorge für die unteren Klassen der Industriebevölkerung, die auf dem Lande wohnen, besonders in der Wohnungsfrage für diese.

Anders dagegen im zweiten Gebiet, dem der Hofesverfassung: hier ist heute noch diese ganze Eigenart in Tracht und Sitte stark vorhanden, hier haben wir noch wirklich rein bäuerliches Wesen. Hier gilt es nun, dieses, soweit es noch lebensfähig ist, mit allen Mitteln zu erhalten, weil gerade darauf die verjüngende Kraft des Bauernstandes beruht. Hier ist aber ausserdem andererseits dafür zu sorgen, dass dem von der städtischen Kultur und ihren Hilfsmitteln bei Krankheit [72] etc., ebenso wie von ihren Freuden und Vergnügungen oft so weit Entfernten ein Ersatz dafür geboten wird, damit er nicht deswegen der väterlichen Scholle untreu wird. Es gilt also, ihm dies alles zu bringen, was der Bewohner des anderen Gebietes leicht selbst in der Stadt sich holen kann. Hier ist ausserdem besonders wichtig das Problem des Arbeitermangels zur Erntezeit und weiter das der Fürsorge für die weichenden Geschwister. Damit hängt hier auch zum Teil die Frage der ländlichen Hausindustrie zusammen. So haben wir hier also ein besonders grosses Arbeitsfeld für die ländliche Wohlfahrtspflege. Es ist zweifellos im ganzen grösser und lohnender und vor allem eigenartiger als in dem andern Gebiet.

Da sich nun aber die Landflucht, deren Bekämpfung die ländliche Wohlfahrtspflege bezweckt, zuerst und hauptsächlich in den Kreisen der ländlichen Arbeiter entwickelt hat, ist – wie schon betont – die ländliche Arbeiterfrage das erste und wichtigste Problem auch für die ländliche Wohlfahrtspflege. Sie hat ein doppeltes Gesicht, je nachdem wir sie mit den Augen des Arbeitgebers oder des Arbeiters ansehen: für jenen besteht sie im Arbeitermangel, für diesen in den Mängeln des Arbeitsverhältnisses. Heute erstreckt sie sich so ziemlich auf ganz Deutschland, aber ihre Heimat hat sie doch historisch, wie gezeigt, im Gebiet des Nordostens, und hier ist sie in ihrer doppelten Gestalt vorhanden – die erste als eine Folge der zweiten –, während sie in den übrigen Gebieten der deutschen Agrarverfassung in der Hauptsache nur die erste Form aufweist und auch in dieser Beziehung im ganzen geringer als dort und im einzelnen um so geringer ist, je mehr die durchschnittliche Betriebsgrösse der Landwirtschaft in diesen Gebieten gegenüber jenen abnimmt. Für die ländliche Wohlfahrtspflege hat also vor allem die Landarbeiterfrage des Nordostens Bedeutung.

Sie besteht, ähnlich wie bei der modernen gewerblichen Arbeiterfrage der Industrie, darin, dass mit der Entstehung der Grossbetriebe und der Beseitigung ihrer unfreien Arbeitsverfassung durch die Bauernbefreiung eine grosse Klasse von Arbeitern entstanden ist, die ihr Leben lang Arbeiter bleiben müssen und keine Möglichkeit zum sozialen Aufsteigen besitzen. Die Folge war die starke Auswanderung und Abwanderung gerade aus diesen Kreisen trotz gestiegener Löhne und die Notwendigkeit, sie durch ausländische Wanderarbeiter zu ersetzen, welche die Lebenshaltung der einheimischen weiter herabzudrücken drohten und zugleich eine nationale Gefahr für das Deutschtum wurden. Was hat nun die ländliche Wohlfahrtspflege dieser Frage gegenüber zu tun? Wenn Wohlfahrtspflege, wie wir sagten, die Fürsorge anderer Klassen, zunächst die der Arbeitgeber für ihre Arbeiter, bedeutet, so ist diese hier wie in der Industrie von grösster Bedeutung und zwar eben besonders im Nordosten gegenüber den auf den grossen Gütern beschäftigten Gutstaglöhnern, und das erste Gebiet, auf dem sie sich zu betätigen hat, ist auch hier wie in der Industrie, die Wohnungsfrage. Die Wohnungsfrage auf dem Lande unterscheidet sich von der in der Stadt im wesentlichen dadurch, dass dort nur ihre eine Seite – die Wohnungsmängel – vorhanden ist, dagegen die andere, in der Stadt wichtigere, der Wohnungsmangel fehlt. Es handelt sich also vor allem hier um die Beseitigung der früher überwiegend schlechten, zum Teil menschenunwürdigen Katen, in welchen die Gutstaglöhner auf den grossen Gütern des Nordostens wohnten, durch allmähliche Umgestaltung der alten und den Bau von gesundheitlich, sittlich und künstlerisch einwandfreien neuen Wohnungen. Dafür ist im Gegensatz zur Industrie die Selbsthilfe der Arbeiter hier kaum von Bedeutung, weil sie dazu im allgemeinen nicht fähig sind, die Hauptaufgabe obliegt dem Arbeitgeber, auf dessen Grund und Boden die Arbeiter aus Zweckmässigkeitsgründen doch am besten wohnen, und diese Arbeitgebertätigkeit unterliegt hier auch nicht den gleichen Bedenken wie bei der Industrie, da eine gleiche Freizügigkeit praktisch doch nicht besteht. Seitens fortgeschrittener grosser Arbeitgeber ist auf diesen Gebieten neuerdings auch schon Erhebliches geleistet worden. Daneben kommt dann noch die Errichtung von Arbeiterwohnungen durch Behörden, insbesondere durch die Kreise, in Frage, welche sich aber in der Regel mit der noch zu besprechenden Ansässigmachung der Arbeiter auf einem kleinen Gut verbindet. Dagegen ist die Mitwirkung von gemeinnützigen Vereinen zur Förderung des Kleinwohnungswesens und von Behörden durch Unterstützung in technischer und namentlich künstlerischer Beziehung von grosser Wichtigkeit. Ausserdem handelt es sich hier wohl noch erheblich mehr als beim industriellen Arbeiter auch vor allem um Erziehung der Arbeiter selbst zur Schätzung besserer Wohnungen. [73] Hier liegt auch eine grosse Aufgabe der anderen Klassen, der Ärzte, Lehrer usw., überhaupt der Gebildeten auf dem Lande vor.

Nicht eigentlich zur Wohlfahrtspflege nach unserer Definition gehörig sind die verschiedenen Massregeln auf dem Gebiet des Löhnungswesens: Art und Weise der Löhnung, namentlich Aufrechterhaltung und Wiedereinführung der Naturallöhnung, welche hier eine Interessengemeinschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeiter bedeutet, Beteiligung am Reinertrag usw. Dagegen ist die Einrichtung von Konsumanstalten, welche, wie der Sohnrey’sche Wegweiser zeigt, in den verschiedensten Formen versucht worden ist, auch ein wichtiges Mittel der ländlichen Wohlfahrtspflege in der Lösung der ländlichen Arbeiterfrage; ebenso die Förderung der Ziegenhaltung, die Bekämpfung der Trunksucht und die Hebung der Bildung und des geselligen Lebens, auf welch letztere in grösserem Zusammenhang zurückzukommen ist.

Das Hauptmittel für die Lösung der ländlichen Arbeiterfrage im deutschen Nordosten und zugleich für die Hebung der Landflucht ist und bleibt aber die Änderung der Grundbesitzverteilung, die „innere Kolonisation.“ Denn die Abwanderungen sind, wie Sering unanfechtbar nachgewiesen hat, auch im Nordosten selbst wieder am grössten aus den Gebieten, wo der Grossgrundbesitz am meisten vorherrscht, und nur eine einschneidende Änderung der Grundbesitzverteilung kann hier Wandel schaffen.

Eine solche ist vor allem durch die Ansiedlungskommission in den Provinzen Posen und Westpreussen und daneben, aber in weit geringerem Masse, durch die Generalkommissionen in allen östlichen Provinzen Preussens schon in einem gewissen Umfang bewirkt worden. Durch letztere sind bis Ende 1910 im ganzen 16 859 Rentengüter mit 193 386 ha gebildet worden, davon 14 048 mit 172 901 ha in den 6 östlichen Provinzen. Von letzteren sind 11 129 (79,3%) neue Stellen, 2 917 (20,7%) durch Zukäufe spannfähig gemachte. Dazu kommen 18 127 Stellen mit 265 249 ha, welche von der Ansiedelungskommission bis Ende 1910 geschaffen worden sind. So ergibt sich im ganzen eine Vermehrung des Kleingrundbesitzes in den 6 östlichen Provinzen Preussens um 32 175 Stellen und 438 150 ha. Das ist etwa das Vierfache der Fläche, welche die spannfähigen Bauerngüter im freihändigen Verkehr mit dem Grossgrundbesitz nach der Bauernbefreiung von 1816–1859 verloren haben, aber weit weniger als der Gesamtverlust der Bauern in den alten Provinzen Preussens im Laufe des 19. Jahrhunderts, namentlich durch die Bauernbefreiung, der auf 800 000 bis 1 000 000 ha geschätzt wird.

Aber ein sehr grosser Teil auch der unter Vermittlung der Generalkommissionen gebildeten Rentengüter entfällt ebenfalls auf die Ansiedelungsprovinzen Posen und Westpreussen, nämlich 5 543 mit 56 841 ha. Auf diese beiden Provinzen entfallen also von der Gesamtsumme von 32 175 Stellen allein 23 670 mit 322 090 ha, auf den ganzen übrigen Osten dagegen nur 8 505 mit 116 060 ha. Darunter sind nur 6 749 neue Ansiedelungen, davon nur 5 270 mit mehr als 5 ha, während nach der Berufszählung von 1907 dort 10 843 landwirtschaftliche Grossbetriebe (mit mehr als 100 ha) bestehen. Es entfällt also im übrigen Osten, abgesehen von Posen und Westpreussen, auf 2 grosse Güter immer erst 1 neues bäuerliches Rentengut – also wirklich, wie Sering sagt, ein „recht dürftiger Anfang“.

Grösser sind allerdings die Verschiebungen, wenn die Veränderungen durch freihändigen Verkauf dazu genommen werden: es ergibt sich dann von 1895–1907 in den 5 anderen östlichen Provinzen Preussens eine Abnahme der Fläche der Grossbetriebe um 296 000 ha = 7,8% und ihrer Zahl um 342 = 5,1%, in Posen und Westpreussen aber eine Abnahme der Fläche um 321 000 ha = 17,6% und der Zahl um 617 = 12,6%. Nur in Posen und Westpreussen ist also mit Einrechnung der freien Veränderung bis jetzt bereits eine stärkere Einschränkung des Herrschaftsgebietes des Grossgrundbesitzes erfolgt, aber es ist auch hier noch immer sehr bedeutungsvoll. „Jedenfalls ist, wie Sering sagt, das östliche Deutschland noch weit von einer Grundbesitzverteilung entfernt, welche es vor Entvölkerung zu schützen und die deutsche Kultur dauernd zu erhalten vermag.“

Ganz besonders dürftig aber ist bis vor kurzem die Verwendung der inneren Kolonisation zur Lösung der Arbeiterfrage durch Ansässigmachung der Landarbeiter gewesen. Und doch liegt in der Hauptsache in ihr allein die Möglichkeit einer positiven Lösung der ländlichen [74] Arbeiterfrage des Nordostens, und zwar in doppelter Weise: einmal indem durch die Aufteilung grosser Güter in bäuerliche Güter von mittlerem Umfang, welche sich im allgemeinen ohne fremde Arbeitskräfte behelfen können, die Zahl der ersteren, bei denen sie hauptsächlich besteht und damit zugleich der Arbeitermangel vermindert wird; dann aber, indem sie selbst zur Bildung von ganz kleinen Arbeiterrentengütern verwendet wird, um den Arbeiter durch Existenzbedingungen auf dem Lande zurückzuhalten, die er in der Stadt und im allgemeinen auch in der Industrie nicht finden kann, und nach denen doch noch heute sein höchstes Sehnen geht, – den Erwerb einer eigenen Scholle. Erst seit dem Ministerialerlass von 1907 ist die Bildung auch kleinerer Rentengüter bis herab zum Mindestmass von 12,5 ar = ½ Morgen, nicht nur für landwirtschaftliche, sondern auch für industrielle Arbeiter in Fluss gekommen, und sowohl in den Domänen wie durch die Kreise ist die Arbeiteransiedelung verschiedentlich, und zwar jetzt mit direkter Staatsunterstützung für den einzelnen Fall, in Angriff genommen worden. In dem notwendigen grösseren Umfang wird sie aber doch immer nur seitens der Gutsbesitzer selbst erfolgen können, für welche die Schwierigkeit hauptsächlich darin liegt, dass die Arbeiter, denen sie einen Teil ihres Grund und Bodens zum Zweck der Ansiedelung verkaufen, nachher vielleicht doch nicht bei ihnen arbeiten – eine Schwierigkeit, welche indessen durch Anwendung der „Arbeiterpacht“ (namentlich als Übergangsform) und des „Wiederkaufsrechtes“ überwunden werden kann. Natürlich kommt sehr viel auf die richtige Bemessung der Grösse der Arbeiteransiedelungen an, so dass sie im wesentlichen durch die Familienmitglieder bewirtschaftet werden können.

Die Hauptvoraussetzung des Gedeihens solcher Arbeiteransiedelungen ist aber das Vorausgehen einer umfassenden bäuerlichen Kolonisation. Denn nur in Anlehnung an Bauerndörfer oder Vermischung mit solchen vermögen, wie die Erfahrung gezeigt hat, solche Arbeitergüter wirtschaftlich zu gedeihen, nur so ist die Möglichkeit des Emporsteigens gegeben. Es gilt eben die soziale Stufenleiter auf dem Lande auch im Osten wieder herzustellen, in der keine Sprosse fehlt. Noch sind wir von dem einmal von Schmoller aufgestellten Ziele, 1½ Millionen ha durch innere Kolonisation in 60–80 000 Bauern- und 200–300 000 Häuslerstellen aufzulösen, recht weit entfernt. Noch immer gehören dem Grossgrundbesitz in Posen und Westpreussen 1,5 Millionen, im übrigen Osten Preussens 3,5 Millionen ha landwirtschaftlicher Fläche.

Die Unterstützung der inneren Kolonisation bildet daher nach wie vor die wichtigste Aufgabe auch der ländlichen Wohlfahrtspflege. Sie wird durch den Deutschen Verein seit Jahren durch die Einrichtung einer „Auskunftsstelle für bäuerliche Ansiedelungen“ und die Herausgabe der Zeitschrift „Neues Bauernland“ bewirkt. Ausserdem ist aus den Kreisen des Vereins die erste gemeinnützige Ansiedelungsgesellschaft hervorgegangen: die im Jahre 1899 gegründete „Deutsche Ansiedelungsgesellschaft“, welche 1901 ohne Verlust liquidierte. Sie hat den Weg bereitet für die drei grossen gemeinnützigen Ansiedelungsgesellschaften, welche jetzt in den östlichen Provinzen bestehen: die „Pommersche Landgesellschaft“ in Stettin, 1903 von einer Anzahl grösserer Landwirte gegründet, 1910 umgestaltet, die „Ostpreussische Landgesellschaft“ in Königsberg, 1905 gegründet, 1909 umgestaltet, und die Landgesellschaft „Eigene Scholle“ in Frankfurt a. O. Sie sind durchweg Gesellschaften m. b. H., an denen Staat, Provinz (bei den beiden ersten), Genossenschaftsverbände und Kreise, bei der dritten auch Städte, Erwerbsgesellschaften und Private beteiligt sind. Sie sind also „gemischte Gesellschaften“, welche vor den namentlich von agrarischer Seite angestrebten rein staatlichen Anstalten den Vorzug einer freieren Beweglichkeit und einen geschäftsmässigen Zug behufs Erwirtschaftung einer allerdings beschränkten Dividende besitzen. Sie arbeiten Hand in Hand mit den Generalkommissionen, und in ihnen liegt jetzt jedenfalls der Schwerpunkt der bäuerlichen Kolonisation. Ähnliche Gesellschaften sind auch für Hannover und Holstein in Hannover und Kiel 1907 und 1910 gegründet worden, hier besonders für die Moor- und Heidekultur und die Schaffung von Arbeiterstellen.

Ein anderes wirtschaftliches Gebiet von grosser Wichtigkeit, auf welchem die ländliche Wohlfahrtspflege auch nur die Aufgabe der Unterstützung hat, ohne dass es selbst zu ihr gehört, ist das Genossenschaftswesen. Auch hier handelt es sich ja in erster Linie um die Erzielung wirtschaftlicher Vorteile, die Hebung der wirtschaftlichen Lage der ländlichen Bevölkerung. Aber es hat doch auch zugleich einen weitgehenden Einfluss auf das gesamte soziale, geistig-sittliche [75] Leben derselben, auf ihre Wohlfahrt, durch die Förderung des Gemeinsinns, der Sparsamkeit und der Ordnung. Daher wird auch das ländliche Genossenschaftswesen von der ländlichen Wohlfahrtspflege möglichst unterstützt. Trotz der glänzenden Entwicklung, die es gerade in Deutschland in den letzten Jahrzehnten genommen hat, sind von den 2,5 Millionen selbständiger Landwirte doch immer erst 1,2 Millionen genossenschaftlich organisiert. Noch steht also die Hälfte der deutschen Landwirte ausserhalb der Genossenschaften. Daher ist noch viel zu ihrer Ausbreitung zu tun, und es erscheint als Aufgabe der Wohlfahrtspflege, dahin zu wirken, dass jedes Dorf in Deutschland an der Genossenschaftsbewegung beteiligt ist. In diesem Sinne wirken denn auch der Deutsche Verein und seine Landesvereine allenthalben. Wenn sie auch nicht selbst Genossenschaften gründen – das ist Sache der Zentralorgane –, so bereiten sie doch den Boden dafür durch Überwindung der Haupthindernisse: des mangelnden Verständnisses und des Misstrauens. Sie suchen die Bevölkerung genossenschaftlich vorzubilden und stellen vor allem die Persönlichkeiten für die leitenden Ämter. Besonders handelt es sich für sie aber auch um eine Verwendung der Genossenschaftsform zur Förderung und Entwicklung von vernachlässigten Zweigen der Landwirtschaft und von neuem Nebenerwerb. Auf dem ganzen Gebiet der ländlichen Hausindustrie und des Hausfleisses ist sie die Form, welche es ermöglicht, deren sozialpolitische Schäden zu vermeiden oder zu beseitigen. Auf der anderen Seite hat die Organisation des deutschen ländlichen Genossenschaftswesens, insbesondere zuerst der grosse Raiffeisenverband, aber jetzt auch der ganze Reichsverband, selbst die Förderung der ländlichen Wohlfahrtspflege in ihr Programm aufgenommen und sich auf dem 23. deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaftstag zu Münster offiziell auf den Boden der ländlichen Wohlfahrtsarbeit gestellt.

Das eigentliche selbständige Arbeitsgebiet der ländlichen Wohlfahrtspflege aber betrifft die nichtwirtschaftliche Fürsorge für die ländliche Bevölkerung, im Nordosten wiederum die ländlichen Arbeiter, in den übrigen Gebieten auch die bäuerliche Bevölkerung, namentlich die kleinbäuerliche des Südwestens. Hier haben wir zunächst die Hauptgebiete der nichtwirtschaftlichen materiellen Fürsorge zu nennen. Sie sind: 1. Rechtsschutz und Rechtsauskunft, 2. die Fürsorge auf hygienischem Gebiet: sie bezieht sich auf Wasserversorgung, Beseitigung der Abfallstoffe und Abwässer, die hygienischen Massnahmen bei der Milchwirtschaft (hier erhebt sich vor allem das Problem der Gefährdung der Ernährung der Landbevölkerung durch die Molkereigenossenschaften), die Desinfektion, die Bekämpfung der Tuberkulose, die Kontrolle des Schlacht- und Bäckereibetriebs und den Transport infektiöser Kranker. Dazu kommen dann auch noch die Schaffung einer ländlichen Bauordnung, welche auch die hygienische Seite berücksichtigt, die Gesundheitspflege in den Schulen, Nahrungsmittelkontrols- und die Einrichtung von Sanitätskommissionen. Sind für die Ausführung dieser sanitären Massregeln auch in erster Linie die Kreis- und Gemeindebehörden berufen, so vermögen sie doch gerade in der ländlichen Bevölkerung einen Erfolg nur dann zu erzielen, wenn sie auf ein genügendes Verständnis treffen, und dieses durch aufklärende und belehrende Vorträge zu wecken, ist wiederum Aufgabe der ländlichen Wohlfahrtspflege. Von besonderer Bedeutung ist die Schaffung von Badeanstalten in den Schulen oder Gemeindehäusern. 3. Die Krankenpflege; sie hat in den letzten Jahren einen erheblichen Aufschwung hauptsächlich dank den verschiedenen Frauenorganisationen, insbesondere dem Frauenverein vom Roten Kreuz genommen. Es handelt sich hauptsächlich um Einrichtung von Gemeindepflegestationen, Krankenpflegeschränken („Charlottenspende“) und Anstellung von Krankenpflegeschwestern. 4. Kleinkinderbewahranstalten, Waisenpflege und Krüppelfürsorge. 5. Die hauswirtschaftliche Ausbildung der Mädchen und Frauen. Sie wird durch den eingetretenen Wandel in der Ernährung auf dem Lande immer notwendiger, nicht nur für die Arbeiterklassen, sondern auch für die bemittelteren und wohlhabenden Familien der bäuerlichen Bevölkerung, deren Töchter durch Entsendung in ein Pensionat oder Hotel dem Lande entfremdet werden. Der Haushaltungsunterricht muss also allen Klassen zugute kommen und muss wie die Sparkasse ins Dorf selbst gebracht werden. Das durchgreifende Mittel, die notwendige Unterweisung auf diesem Gebiete ins Dorf und zu allen Dorfmädchen zu bringen, sind die Wanderkochkurse. Neben der besseren Erziehung der weiblichen Jugend in der Haushaltung ist hier auch als ein bescheidenes, aber nicht unwirksames Wohlfahrtsmittel die „Kochkiste“ hervorzuheben, welche durch die [76] Haushaltungsschule des Berliner Lettehauses in Deutschland bekannt gemacht und von da besonders in Baden eingeführt wurde.

Vielleicht noch wichtiger aber als diese verschiedenen Arten der nicht wirtschaftlichen materiellen Fürsorge – und die eigentliche Domäne der ländlichen Wohlfahrtspflege – ist die immaterielle Fürsorge. Denn Mangel an Fürsorge, an Wohlfahrt, auf diesem Gebiete der immateriellen Bedürfnisse ist auch und vielleicht am meisten Ursache der Landflucht. Es gilt dem Land und der ländlichen Bevölkerung zu bringen, was die neue Kulturentwickelung in dieser Beziehung darbietet, und zu erhalten, was von der alten noch Gutes vorhanden ist – damit das Land ihr nicht nur eine Stätte der Arbeit, sondern auch der Bildung und Erholung, der Freude sein kann. Diese Aufgabe besteht nach dem früher Gesagten im allgemeinen ausser bei den Landarbeitern im Nordosten vor allem in den rein bäuerlichen Gebieten, also im Nordwesten und Südosten, weniger in den Freiteilbarkeitsgebieten des Südwestens. Die Mittel, welche hier in Frage kommen sind:

1. die Fortbildungsschule; sie „erstrebt den Ausbau und Abschluss der Volksschulbildung im Rahmen beruflicher Heimatkunde, im Dienste der Wohlfahrtsarbeit“ (Sohnrey). Die Kosten müssen Staat, Kreis und Gemeinde tragen, auch hier liegt also eigentlich nicht Wohlfahrtspflege in unserem engen Sinne vor. Wohl aber ist dies der Fall bei den ländlichen Volkshochschulen. Solche haben wir bis jetzt in Deutschland nur drei in Schleswig-Holstein – eine Nachahmung der ländlichen Volkshochschulen in Dänemark, welche sich hier seit mehr als 60 Jahren ausgezeichnet bewährt und eine grosse Hebung und Entwicklung der Landwirtschaft und der ländlichen Bevölkerung bewirkt haben. Ferner ist von Wichtigkeit und halb ideeller, halb materieller Natur:

2. der Handfertigkeitsunterricht. Er ist besonders für die Erhaltung und Neubelebung der Volkskunst von Bedeutung: es gilt die verlorene Handgeschicklichkeit wieder zu beleben. Er ist mit der Volksschule zu verbinden und schon bei den kleinen Kindern im Kindergarten, bei den Schulpflichtigen besonders im Schulgarten zu betreiben.

3. Auch der Bildung und Belehrung, aber zugleich auch der Erholung und dem Vergnügen dienen die Gemeindeabende – ein Hauptgebiet der reinen eigentlichen Wohlfahrtspflege. Ihre Veranstaltung ist vor allem Aufgabe des Geistlichen unter Mitwirkung der anderen Angehörigen der gebildeten Klassen auf dem Lande und in der Stadt. Sollen die im Gemeindeabend empfangenen Anregungen nachwirken, so sind weiter notwendig:

4. Volks- resp. Dorfbibliothek und Lesezimmer, sowie Gemeindezeitungen. Dazu kommen

5. Dorfmuseen, von besonderer Bedeutung für die Erhaltung der guten alten Sachen, des Hausrats der Väter, am Ort. Ferner Kunstausstellungen, bei denen es sich insbesondere um gute Reproduktionen für einen künstlerischen Wandschmuck handelt. Ebenso dient der Bildung und vor allem der Erheiterung

6. das Dorftheater durch Aufführung alter und neuer guter Volksstücke. Es darf aber unter keinen Umständen eine Schaustellung für Fremde, für die städtische Bevölkerung, insbesondere Sommerfrischler, werden.

7. Ein gleiches gilt von den ländlichen Festen (Erntefesten etc.) mit alten Bräuchen. Insbesondere sind sogenannte „Trachtenfeste“ in der Regel etwas Verkehrtes, nicht nur, wenn sie in der Stadt abgehalten werden, sondern auch auf dem Lande. Die ganze Trachtenbewegung, welche durch „Trachtenvereine“ besonders in Baden und Württemberg, aber auch in Bayern, mit einem gewissen Erfolg aufrecht erhalten wird, ist überhaupt nicht unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zu beurteilen, und ihre Erfolge sind auch trotz aller aufgewandten Mühe sehr verschiedenartig.

8. Notwendiger Mittelpunkt für alle diese, teils der Bildung, teils der Erholung und dem Vergnügen dienenden Veranstaltungen ist das Gemeindehaus, das neben alkoholfreiem Versammlungsraum, der zugleich Lesezimmer und Bibliothek sein kann, auch Mittelpunkt der hygienischen und Krankenfürsorge ist, die Kinderkrippe, die Wohnung der Gemeindeschwester und das Dorfbad enthält. Seine Schaffung ist praktisch die Hauptaufgabe der Bewegung und der Vereine für ländliche Wohlfahrtspflege. [77] Und wir haben tatsächlich schon eine Reihe mustergiltiger Beispiele. Eng damit verbunden ist die Frage des Gemeindegasthauses und der Gasthausreform.

Mit den ländlichen Festen und der Trachtenfrage sind wir aber schon mitten in dem Gebiet der „Heimatpflege“, zu der sich, wie eingangs gesagt, die ländliche Wohlfahrtspflege sofort erweitern musste, als sie von dem Nordosten nach dem Westen, von den Kreisen der Landarbeiter in die bäuerlichen übergriff. Mit dieser Heimatpflege hängt aufs engste zusammen der „Heimatschutz“ – diese jüngste, so ausserordentlich rasch zu Ausbreitung und wachsender Bedeutung gelangte Kulturbewegung, die an anderer Stelle behandelt ist (s. Abschnitt (64, II).

Hier sei nur die Frage noch beantwortet: Ist diese Bewegung der Heimatpflege und des Heimatschutzes, bei der es sich, wie dort gezeigt, im letzten Grund darum handelt, dem Kapitalismus Zügel anzulegen, ja auch die der ganzen ländlichen Wohlfahrtspflege, nicht „reaktionär“ und „romantisch“, dem Fortschritt feindlich und darum doch aussichtslos? Die Frage liegt nahe, und man muss, wenn man sie verneinen will, sich allerdings über Prinzipienfragen, und zwar so ziemlich die wichtigsten unserer ganzen Volkswirtschaft und Kultur, klar werden. Es ist die Frage nach der Zukunft unserer Landwirtschaft gegenüber der Entwicklung des industriellen Kapitalismus. Sie kann aus technischen, nationalen und soziologischen Gründen nur dahin beantwortet werden, dass Erhaltung der Landwirtschaft und besonders des Bauernstandes, ja bedeutende Vermehrung des letzteren durch eine umfassende Kolonisation im deutschen Nordosten, eine Notwendigkeit für unser Volk und unsere Volkswirtschaft ist. Deutschland darf immer nur „Agrar“- und „Industriestaat“ sein und bleiben, nie reiner Industriestaat werden. Will man aber die Landwirtschaft und vor allem den Bauernstand nicht nur erhalten, sondern vermehren, dann muss man ländliche Wohlfahrtspflege, Heimatpflege und Heimatschutz wollen und treiben. Denn eben die soziale, richtiger soziologische Bedeutung des Bauernstandes hat dieser nur, solange er wirklich ein besonderer Stand mit besonderer Eigenart bleibt. Er soll darum technisch nicht rückständig sein, er muss gewiss den landwirtschaftlichen Mittel- und Kleinbetrieb ganz modern ausbilden, aber seine besondere Standesart muss er dabei erhalten und mehren. Es handelt sich also bei diesen Fragen wahrlich nicht um romantische Spielerei, sondern um die letzten und grössten Lebensfragen unserer Volkswirtschaft und unseres Volkes. Noch immer „spriesst der Stamm der Riesen“ – d. h. jetzt der Industrie, des Handels und der Städte – „aus Bauernmark hervor“.