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Leben derselben, auf ihre Wohlfahrt, durch die Förderung des Gemeinsinns, der Sparsamkeit und der Ordnung. Daher wird auch das ländliche Genossenschaftswesen von der ländlichen Wohlfahrtspflege möglichst unterstützt. Trotz der glänzenden Entwicklung, die es gerade in Deutschland in den letzten Jahrzehnten genommen hat, sind von den 2,5 Millionen selbständiger Landwirte doch immer erst 1,2 Millionen genossenschaftlich organisiert. Noch steht also die Hälfte der deutschen Landwirte ausserhalb der Genossenschaften. Daher ist noch viel zu ihrer Ausbreitung zu tun, und es erscheint als Aufgabe der Wohlfahrtspflege, dahin zu wirken, dass jedes Dorf in Deutschland an der Genossenschaftsbewegung beteiligt ist. In diesem Sinne wirken denn auch der Deutsche Verein und seine Landesvereine allenthalben. Wenn sie auch nicht selbst Genossenschaften gründen – das ist Sache der Zentralorgane –, so bereiten sie doch den Boden dafür durch Überwindung der Haupthindernisse: des mangelnden Verständnisses und des Misstrauens. Sie suchen die Bevölkerung genossenschaftlich vorzubilden und stellen vor allem die Persönlichkeiten für die leitenden Ämter. Besonders handelt es sich für sie aber auch um eine Verwendung der Genossenschaftsform zur Förderung und Entwicklung von vernachlässigten Zweigen der Landwirtschaft und von neuem Nebenerwerb. Auf dem ganzen Gebiet der ländlichen Hausindustrie und des Hausfleisses ist sie die Form, welche es ermöglicht, deren sozialpolitische Schäden zu vermeiden oder zu beseitigen. Auf der anderen Seite hat die Organisation des deutschen ländlichen Genossenschaftswesens, insbesondere zuerst der grosse Raiffeisenverband, aber jetzt auch der ganze Reichsverband, selbst die Förderung der ländlichen Wohlfahrtspflege in ihr Programm aufgenommen und sich auf dem 23. deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaftstag zu Münster offiziell auf den Boden der ländlichen Wohlfahrtsarbeit gestellt.

Das eigentliche selbständige Arbeitsgebiet der ländlichen Wohlfahrtspflege aber betrifft die nichtwirtschaftliche Fürsorge für die ländliche Bevölkerung, im Nordosten wiederum die ländlichen Arbeiter, in den übrigen Gebieten auch die bäuerliche Bevölkerung, namentlich die kleinbäuerliche des Südwestens. Hier haben wir zunächst die Hauptgebiete der nichtwirtschaftlichen materiellen Fürsorge zu nennen. Sie sind: 1. Rechtsschutz und Rechtsauskunft, 2. die Fürsorge auf hygienischem Gebiet: sie bezieht sich auf Wasserversorgung, Beseitigung der Abfallstoffe und Abwässer, die hygienischen Massnahmen bei der Milchwirtschaft (hier erhebt sich vor allem das Problem der Gefährdung der Ernährung der Landbevölkerung durch die Molkereigenossenschaften), die Desinfektion, die Bekämpfung der Tuberkulose, die Kontrolle des Schlacht- und Bäckereibetriebs und den Transport infektiöser Kranker. Dazu kommen dann auch noch die Schaffung einer ländlichen Bauordnung, welche auch die hygienische Seite berücksichtigt, die Gesundheitspflege in den Schulen, Nahrungsmittelkontrols- und die Einrichtung von Sanitätskommissionen. Sind für die Ausführung dieser sanitären Massregeln auch in erster Linie die Kreis- und Gemeindebehörden berufen, so vermögen sie doch gerade in der ländlichen Bevölkerung einen Erfolg nur dann zu erzielen, wenn sie auf ein genügendes Verständnis treffen, und dieses durch aufklärende und belehrende Vorträge zu wecken, ist wiederum Aufgabe der ländlichen Wohlfahrtspflege. Von besonderer Bedeutung ist die Schaffung von Badeanstalten in den Schulen oder Gemeindehäusern. 3. Die Krankenpflege; sie hat in den letzten Jahren einen erheblichen Aufschwung hauptsächlich dank den verschiedenen Frauenorganisationen, insbesondere dem Frauenverein vom Roten Kreuz genommen. Es handelt sich hauptsächlich um Einrichtung von Gemeindepflegestationen, Krankenpflegeschränken („Charlottenspende“) und Anstellung von Krankenpflegeschwestern. 4. Kleinkinderbewahranstalten, Waisenpflege und Krüppelfürsorge. 5. Die hauswirtschaftliche Ausbildung der Mädchen und Frauen. Sie wird durch den eingetretenen Wandel in der Ernährung auf dem Lande immer notwendiger, nicht nur für die Arbeiterklassen, sondern auch für die bemittelteren und wohlhabenden Familien der bäuerlichen Bevölkerung, deren Töchter durch Entsendung in ein Pensionat oder Hotel dem Lande entfremdet werden. Der Haushaltungsunterricht muss also allen Klassen zugute kommen und muss wie die Sparkasse ins Dorf selbst gebracht werden. Das durchgreifende Mittel, die notwendige Unterweisung auf diesem Gebiete ins Dorf und zu allen Dorfmädchen zu bringen, sind die Wanderkochkurse. Neben der besseren Erziehung der weiblichen Jugend in der Haushaltung ist hier auch als ein bescheidenes, aber nicht unwirksames Wohlfahrtsmittel die „Kochkiste“ hervorzuheben, welche durch die

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/91&oldid=- (Version vom 13.11.2021)