Seite:Handbuch der Politik Band 3.pdf/86

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

an Arbeitskräften eintritt, und nicht nur kein Wachsen der ländlichen Bevölkerung, gemäss der allgemeinen volkswirtschaftlichen Entwicklung, sondern Stillstand und vielfach geradezu Abnahme derselben erfolgt.

Aber auch bei der ländlichen Wohlfahrtspflege handelt es sich ebenso nicht in erster Linie um die wirtschaftliche Arbeit dieses Standes, die Fürsorge dafür, dass sie ihn ernährt, – oder doch jedenfalls nur soweit, als dies Einfluss hat auf die Landflucht (wie z. B. insbesondere die Möglichkeit eines Nebenerwerbs, die ländliche Hausindustrie). Im übrigen ist diese Fürsorge Sache des Staates, der „Agrarpolitik“, und der Selbsthilfe der ländlichen Bevölkerung im Genossenschaftswesen. Beiden kann die Wohlfahrtspflege nur vorarbeiten, die Wege ebnen und Verständnis dafür bereiten – namentlich in bezug auf das letztere, wo sie also „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist.

Vielmehr handelt es sich auch hier um die Not, den Mangel an Wohlfahrt, die dieser Stand und die ganze ländliche Bevölkerung nicht als Arbeiter, nicht in ihrer Produktion, sondern in ihrer sonstigen Existenz, nicht in ihren Arbeits-, sondern in ihren Lebensbedingungen, in kultureller und menschlicher Beziehung erleidet, und die mehr zur Landflucht beitragen als die wirtschaftliche Notlage. Es handelt sich um ihre Beseitigung dadurch, dass der ländlichen Bevölkerung wieder Wohlfahrt“, d. h. eine in jeder Beziehung den heutigen Verhältnissen entsprechende, befriedigende Existenz auf dem Land ermöglicht wird, und dass das Land ihr wieder zur „Heimat“ wird, die man nicht ohne Not verlässt, sondern nur dann, wenn sie ihre Kinder wirklich nicht mehr zu ernähren vermag.

Darum ist die ländliche Wohlfahrtspflege notwendig zugleich auch immer „Heimatpflege“, und sie bedeutet keineswegs Verstädterung und Industrialisierung des Landes, sondern vielmehr die Erhaltung seiner Eigenart in Sitten und Gebräuchen, Trachten und Bauweise, soweit sie der Erhaltung wert sind, und ihre organische Fortbildung gemäss den Bedürfnissen der heutigen Zeit.

An dieser Aufgabe sind nun aber nicht nur alle Angehörigen der anderen Stände auf dem Lande, sondern auch die ganze städtische Bevölkerung auf das stärkste interessiert. Denn der Jungbrunnen, den das Land für die Stadt darstellt, kann es nur bleiben, wenn dort Gesundheit und Wohlfahrt herrschen. Ist der Brunnen selbst vergiftet, wie soll er dann die städtische Kultur verjüngen? Es handelt sich hier also um die ganz grossen allerletzten Probleme unserer modernen Kultur: um die Ausgleichung zwischen Stadt und Land, die richtige Gestaltung ihrer Wechselwirkung die gerade gegenüber der jüngsten kapitalistischen Entwicklung unserer städtischen Kultur von der allergrössten Bedeutung ist.

Die ländliche Wohlfahrtspflege hängt nun aber aufs engste zusammen mit der Agrarverfassung. Wir haben oben (Abschnitt 44) gezeigt, wie ungleichartig heute die Agrarverfassung des Deutschen Reiches ist, und wie diese Unterschiede geschichtlich entstanden sind: es treten uns als Ergebnis dieser geschichtlichen Entwicklung heute vier grosse, ziemlich scharf getrennte Gebiete entgegen – ein Gebiet der vorherrschenden grossen Güter, bewirtschaftet mit besitzlosen Landarbeitern, im Nordosten, ein Gebiet der grossen geschlossenen d. h. ungeteilt vererbenden Bauerngüter im Nordwesten, ein weiteres ähnliches im Südosten, und endlich dazwischen in Mittel- und besonders Südwest-Deutschland vorherrschend kleine, freiteilbare Bauerngüter.

Wir verstehen nun sehr gut, warum die Bewegung für ländliche Wohlfahrtspflege gerade in Berlin mit der Begründung der Zeitschrift „Das Land“ durch Sohnrey im Jahr 1893 und des „Ausschusses für Wohlfahrtspflege auf dem Land“ (jetzt „Deutscher Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege“) als Abteilung der „Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtspflege“ (jetzt „Zentralstelle für Volkswohlfahrt“) im Jahr 1896 begonnen und anfangs wesentlich im Nordosten Anklang gefunden hat, wenn Sohnrey auch die Anregung gerade aus Baden – der Landwirtschaftspflege der Beamten, der umfassenden Tätigkeit des Frauenvereins und der Bewegung für Erhaltung der Trachten –, entnommen hat. Denn im Nordosten ist ja zuerst bei jenen Landarbeitern die „Flucht von Lande“ ausgebrochen, und daher das Bedürfnis nach einer derartigen Tätigkeit am frühesten und stärksten hervorgetreten. Hier ist ihre Hauptaufgabe: Mitwirkung bei der Lösung

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/86&oldid=- (Version vom 13.11.2021)