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Arbeiterfrage des Nordostens, und zwar in doppelter Weise: einmal indem durch die Aufteilung grosser Güter in bäuerliche Güter von mittlerem Umfang, welche sich im allgemeinen ohne fremde Arbeitskräfte behelfen können, die Zahl der ersteren, bei denen sie hauptsächlich besteht und damit zugleich der Arbeitermangel vermindert wird; dann aber, indem sie selbst zur Bildung von ganz kleinen Arbeiterrentengütern verwendet wird, um den Arbeiter durch Existenzbedingungen auf dem Lande zurückzuhalten, die er in der Stadt und im allgemeinen auch in der Industrie nicht finden kann, und nach denen doch noch heute sein höchstes Sehnen geht, – den Erwerb einer eigenen Scholle. Erst seit dem Ministerialerlass von 1907 ist die Bildung auch kleinerer Rentengüter bis herab zum Mindestmass von 12,5 ar = ½ Morgen, nicht nur für landwirtschaftliche, sondern auch für industrielle Arbeiter in Fluss gekommen, und sowohl in den Domänen wie durch die Kreise ist die Arbeiteransiedelung verschiedentlich, und zwar jetzt mit direkter Staatsunterstützung für den einzelnen Fall, in Angriff genommen worden. In dem notwendigen grösseren Umfang wird sie aber doch immer nur seitens der Gutsbesitzer selbst erfolgen können, für welche die Schwierigkeit hauptsächlich darin liegt, dass die Arbeiter, denen sie einen Teil ihres Grund und Bodens zum Zweck der Ansiedelung verkaufen, nachher vielleicht doch nicht bei ihnen arbeiten – eine Schwierigkeit, welche indessen durch Anwendung der „Arbeiterpacht“ (namentlich als Übergangsform) und des „Wiederkaufsrechtes“ überwunden werden kann. Natürlich kommt sehr viel auf die richtige Bemessung der Grösse der Arbeiteransiedelungen an, so dass sie im wesentlichen durch die Familienmitglieder bewirtschaftet werden können.

Die Hauptvoraussetzung des Gedeihens solcher Arbeiteransiedelungen ist aber das Vorausgehen einer umfassenden bäuerlichen Kolonisation. Denn nur in Anlehnung an Bauerndörfer oder Vermischung mit solchen vermögen, wie die Erfahrung gezeigt hat, solche Arbeitergüter wirtschaftlich zu gedeihen, nur so ist die Möglichkeit des Emporsteigens gegeben. Es gilt eben die soziale Stufenleiter auf dem Lande auch im Osten wieder herzustellen, in der keine Sprosse fehlt. Noch sind wir von dem einmal von Schmoller aufgestellten Ziele, 1½ Millionen ha durch innere Kolonisation in 60–80 000 Bauern- und 200–300 000 Häuslerstellen aufzulösen, recht weit entfernt. Noch immer gehören dem Grossgrundbesitz in Posen und Westpreussen 1,5 Millionen, im übrigen Osten Preussens 3,5 Millionen ha landwirtschaftlicher Fläche.

Die Unterstützung der inneren Kolonisation bildet daher nach wie vor die wichtigste Aufgabe auch der ländlichen Wohlfahrtspflege. Sie wird durch den Deutschen Verein seit Jahren durch die Einrichtung einer „Auskunftsstelle für bäuerliche Ansiedelungen“ und die Herausgabe der Zeitschrift „Neues Bauernland“ bewirkt. Ausserdem ist aus den Kreisen des Vereins die erste gemeinnützige Ansiedelungsgesellschaft hervorgegangen: die im Jahre 1899 gegründete „Deutsche Ansiedelungsgesellschaft“, welche 1901 ohne Verlust liquidierte. Sie hat den Weg bereitet für die drei grossen gemeinnützigen Ansiedelungsgesellschaften, welche jetzt in den östlichen Provinzen bestehen: die „Pommersche Landgesellschaft“ in Stettin, 1903 von einer Anzahl grösserer Landwirte gegründet, 1910 umgestaltet, die „Ostpreussische Landgesellschaft“ in Königsberg, 1905 gegründet, 1909 umgestaltet, und die Landgesellschaft „Eigene Scholle“ in Frankfurt a. O. Sie sind durchweg Gesellschaften m. b. H., an denen Staat, Provinz (bei den beiden ersten), Genossenschaftsverbände und Kreise, bei der dritten auch Städte, Erwerbsgesellschaften und Private beteiligt sind. Sie sind also „gemischte Gesellschaften“, welche vor den namentlich von agrarischer Seite angestrebten rein staatlichen Anstalten den Vorzug einer freieren Beweglichkeit und einen geschäftsmässigen Zug behufs Erwirtschaftung einer allerdings beschränkten Dividende besitzen. Sie arbeiten Hand in Hand mit den Generalkommissionen, und in ihnen liegt jetzt jedenfalls der Schwerpunkt der bäuerlichen Kolonisation. Ähnliche Gesellschaften sind auch für Hannover und Holstein in Hannover und Kiel 1907 und 1910 gegründet worden, hier besonders für die Moor- und Heidekultur und die Schaffung von Arbeiterstellen.

Ein anderes wirtschaftliches Gebiet von grosser Wichtigkeit, auf welchem die ländliche Wohlfahrtspflege auch nur die Aufgabe der Unterstützung hat, ohne dass es selbst zu ihr gehört, ist das Genossenschaftswesen. Auch hier handelt es sich ja in erster Linie um die Erzielung wirtschaftlicher Vorteile, die Hebung der wirtschaftlichen Lage der ländlichen Bevölkerung. Aber es hat doch auch zugleich einen weitgehenden Einfluss auf das gesamte soziale, geistig-sittliche

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/90&oldid=- (Version vom 13.11.2021)