Kulturhistorische Kriminal-Prozesse der letzten vierzig Jahre (Band 1)
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11. | Das Dynamit-Attentat bei der Enthüllung des Niederwald-Denkmals vor dem vereinigten zweiten und dritten Strafsenat des Reichsgerichts (Leipzig, Dezember 1884) | 49 |
12. | Die Ermordung des Knaben Onofry Cybulla im Dorfe Skurcz bei Preuß. Stargard vor dem Schwurgericht Danzig (April 1885) | 54 |
13. | Die Ermordung des Polizeirats Dr. Rumpf vor dem Schwurgericht Frankfurt a. Main (Juli 1885) | 57 |
14. | Die Abgeordneten v. Vollmar, Bebel und Genossen wegen Unterhaltung einer geheimen Verbindung vor den Strafkammern zu Chemnitz und Freiberg (November 1885, Juli 1886) | 60 |
15. | Der Doppelmordprozeß Herbst vor dem Schwurgericht Mainz (Dezember 1885) | 64 |
16. | Ein moderner Blaubart vor dem Schwurgericht Stargard (Pommern) (April 1887) | 66 |
17. | Die Menschenfalle vor dem Schwurgericht Berlin I (März 1890) | 69 |
18. | Das Ehepaar Heinze wegen Ermordung des Nachtwächters Braun vor dem Schwurgericht Berlin I (September, Oktober 1891, Juni, Juli 1892) | 72 |
Man sagt, daß das Strafrecht als Hilfsmittel der Staatsgewalt erforderlich sei und daß zugleich hierin seine Rechtfertigung liege. In der Tat zeigt die Entwicklung der Menschheit, daß, soweit die historische Forschung Klarheit darüber verbreitet hat, das Strafrecht alle Phasen der Staatsentwicklung mitgemacht hat, und ein ziemlich getreues Abbild der jeweiligen sittlichen Anschauung eines Volkes sich demjenigen bietet, der aufmerksam in diesem abgelegenen Kämmerchen des ganzen Staatsbaues Umschau hält. Es gibt aber auch keinen bedauernswerten Abweg, auf den sich die Menschheit verirrt hat, den nicht auch das Strafrecht betreten hätte. Die Prozesse gegen Hexen, die hochnotpeinlichen Verhandlungen gegen besessene Tiere stellen die äußersten Ausläufer dar. Da, wo sinnlos fanatisch aufgestachelte Wut aus religiösem Motiv Mitbürger verfolgt hat, wie wir es in China noch jüngst sahen, hat auch selten ein Gericht gefehlt, das nicht angeblich von Rechts wegen die Missetäter, die keine andere Schuld auf sich geladen hatten als diejenige, welche böse, unbegründete Voreingenommenheit ihnen andichtete, verurteilt hätte.
Ebenso schlimm wie diese durch das Strafrecht als Teil der jeweiligen sittlichen Anschauung hervorgebrachten Nachteile sind ferner diejenigen Fälle, in denen, hiervon ganz abgesehen, nur durch die Mangelhaftigkeit des Verfahrens Personen bestraft werden, welche die ihnen im konkreten Falle ohne jede politische und religiöse Nebenströmung zugemuteten Delikte nicht getan haben, aber durch Verkettung unglücklicher Umstände als Opfer der irregeführten Justizpflege verurteilt werden.
Da der Strafprozeß eine menschliche Einrichtung ist, so ist es selbstverständlich, daß Fehlsprüche nicht zu vermeiden sind. Es gibt wenige Worte, die an Frivolität die beiden Aussprüche erreichen, die dahin gehen mit Bezug auf den Wunsch nach Abschaffung der Todesstrafe:
- „Erst mögen die Herren Mörder aufhören zu töten“,
und den anderen:
- „Solange nicht bewiesen sei, daß jemand unschuldig verurteilt sei, werde bestritten, daß ein Justizirrtum überhaupt vorkomme.“
Dem einen Ausspruch gegenüber genügt es, hervorzuheben, daß diejenigen, die für Abschaffung der Todesstrafe sind, dies hauptsächlich deshalb sind, weil sie wissen, wie leicht jede menschliche Einrichtung fehlsam sein kann; sie wollen deshalb unter allen Umständen wenigstens die Todesstrafe, weil irreparabel, abschaffen, damit mit Sicherheit wenigstens hier ein Justizirrtum ausgeschlossen[WS 1] ist. Im anderen Falle aber ist das Verlangen des Nachweises der Unschuld irrig, da er mit denselben Beweismitteln, die eventuell vorher schon versagt haben, ja zu führen wäre, und da die Praxis des Lebens sehr häufig zeigt, daß Irrtümer, wie überall, so auch hier, vorkommen können, nur daß in unserem Falle die Folgen ungleich größer und schwerwiegender sind als bei Irrtümern auf manchem andern Gebiet.
Nach beiden Richtungen nun lernt der, dem eine sachliche Fortentwicklung unserer Einrichtungen am Herzen liegt, niemals besser mitsprechen über das, was nutzt und frommt, als wenn ihm die Fälle aus der bisherigen Praxis anschaulich entgegengebracht werden. Je schlichter und einfacher, je wahrheitsgemäßer und getreuer der Chronist sich auf die Wiedergabe des historisch Gewordenen beschränkt, je größer wird der Nutzen sein, den er der Allgemeinheit zuführt, welche sich an der Hand des Früheren leiten lassen will zum Finden der Grundsätze für Zukünftiges.
Wenn Herr Hugo Friedländer, wie er mitteilt, aus der reichen Fülle seiner Erfahrung, die er in 40jähriger Praxis als angesehener Berichterstatter nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutschland und auch bei manchen interessanten Verhandlungen der Nachbarländer gesammelt hat, einige selbsterlebte, und zwar die interessantesten Fälle wiedergibt, so ist ein solches Unternehmen für den Politiker, Volkswirtschaftler, Juristen, speziell Kriminalisten, Polizeibeamten, Abgeordneten, ja jeden Gebildeten mit Freuden zu begrüßen.
Wenn auch nur einzelne Anregungen aus der gebotenen Fülle des Materials sich ergeben, so wird dieses Werk sich würdig anschließen an frühere, ähnliche Fallsammlungen, die großen Nutzen in bezug auf unsere gegenwärtig geltende Gesetzgebung gebracht haben.
Berlin, den 15. Januar 1908.
Rechtsanwalt.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: ausgesschlossen