Der Neustettiner Synagogenbrand-Prozeß
Der Antisemitismus fand den günstigsten Boden in der Provinz Pommern. In Neustettin und den umliegenden Ortschaften brachen im Sommer 1881 offene Revolten aus. Die Häuser und Läden der Juden wurden teils demoliert und die Juden auf offener Straße gemißhandelt. Die Polizei vermochte nicht Ruhe zu schaffen, es mußte Militär zur Unterdrückung der Revolten herbeigerufen werden. Bereits im Januar 1881 war eines Sonntags der damals sehr bekannte antisemitische Agitator Dr. Ernst Henrici aus Berlin nach Neustettin gekommen und hatte einen antisemitischen Vortrag gehalten.
Am Freitag darauf brannte in Neustettin die Synagoge ab. Die Juden behaupteten, die Synagoge sei von den Antisemiten aus Judenhaß angesteckt worden, die Antisemiten dagegen, die Juden hätten ihre Synagoge selbst in Brand gesteckt, einmal, um das Verbrechen den Christen in die Schuhe zu schieben, und andrerseits, um die ziemlich hohe Versicherungsprämie für das schon alte Gotteshaus zu erhalten und ein neues, schöneres erbauen zu können. Diese Ansicht scheint auch die Staatsanwaltschaft geteilt zu haben.
Im Oktober 1883 wurden fünf Juden teils wegen Beihilfe zur vorsätzlichen Inbrandsetzung eines Gotteshauses, teils wegen Nichtanzeige eines Verbrechens, von dem sie, als die Verhütung noch möglich war, glaubhafte Kenntnis erhalten hatten, angeklagt.[WS 1] Obwohl die Angeklagten mit vollster Entschiedenheit ihre Schuld in Abrede stellten, wurden sie unter lautem Hepp-hepp-Geschrei des Straßenpöbels vom Schwurgericht zu Köslin teils zu längerer Zuchthausstrafe, teils zu Gefängnis verurteilt.
Der Verteidiger, Justizrat Dr. Sello (Berlin), legte Revision ein. Am 4. Januar 1884 kam die Sache vor dem zweiten Strafsenat des Reichsgerichts unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten Drenkmann zur Verhandlung. Justizrat Dr. Sello wies vor dem Reichsgericht darauf hin, daß das Urteil unter dem Hepp-hepp-Geschrei des Straßenpöbels gefällt worden sei, und machte geltend, daß der Zeuge, Restaurateur Engel, ein Vetter des Angeklagten Heidemann jr. und ein Neffe des Angeklagten Heidemann sen., wohl vom Vorsitzenden belehrt worden sei, daß er infolge des nahen Verwandtschaftsverhältnisses das Recht habe, sein Zeugnis zu verweigern, daß der Vorsitzende es aber unterlassen habe, den Zeugen zu belehren, er habe das Recht, den Eid zu verweigern. Dies war ausschlaggebend. Das Reichsgericht hob aus diesem Anlaß das Urteil auf und verwies die Sache zur nochmaligen Verhandlung an das Schwurgericht zu Konitz (Westpreußen), und zwar mit folgender Begründung: „Wenn auch angenommen werden kann, daß der Zeuge Engel zugunsten des Angeklagten Heidemann jr. ausgesagt hat, da er von diesem als Entlastungszeuge vorgeschlagen war, so ist es doch nicht ausgeschlossen, daß er zuungunsten eines anderen Angeklagten etwas bekundet habe, zumal auch der Staatsanwalt eine Frage an ihn gerichtet hat, deren Beantwortung protokollarisch nicht festgestellt ist. Es liegt nun die Möglichkeit vor, daß, wenn der Zeuge darauf aufmerksam gemacht worden wäre, daß er das Recht habe, den Eid zu verweigern, er von diesem Recht Gebrauch gemacht hätte und daß alsdann der Wahrspruch der Geschworenen anders ausgefallen wäre.“ –
Im Februar 1884 wurde vor dem Konitzer Schwurgericht nochmals sieben volle Tage verhandelt und sämtliche Angeklagten freigesprochen. Die Verhandlung in Konitz war reich an interessanten Episoden. Eine Zeugin wollte bestimmt kurz vor Ausbruch des Feuers eine „Judenhand“ innerhalb der Synagoge gesehen haben. Ein anderer Zeuge, der wegen vorsätzlicher Brandstiftung und wissentlichen Meineids zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt war, wurde aus dem Zuchthause vorgeführt. – Vorsitzender Landgerichtsrat Arndt (Danzig): „Sind Sie mit einem der Angeklagten verwandt oder verschwägert?“ Zeuge: „Ich bin Christ.“ – Vors.: „Sie können doch trotzdem mit einem der Angeklagten verwandt oder verschwägert sein?“ Zeuge: „Das ist bei mir ausgeschlossen.“ – Lehrer Pieper (Neustettin), der mit einer Anzahl seiner Schüler den angeklagten früheren Synagogendiener Lessheim, kurz vor Ausbruch des Feuers mit einer Petroleumkanne in der Synagoge gesehen haben wollte, fiel, als ihn der Vorsitzende auf einen Widerspruch in seiner Aussage aufmerksam machte und ihm warnend zurief, er solle sich nicht unglücklich machen, in Ohnmacht. Ein dreizehnjähriger Schüler des Lehrers Pieper, namens Ivers, kaufte sich mit noch einigen anderen Schülern in einer Konitzer Destillation eine Flasche Schnaps. Er erhob die Flasche mit den Worten: „Unter diesem Zeichen werden wir siegen, die Juden müssen unterliegen.“
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vgl. die ausführlichere Darstellung Der Brand der Neustettiner Synagoge vor den Schwurgerichten zu Köslin und Konitz aus Friedländers Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung (Band IX) von 1913 (S. 9–144).