Der Skurczer Knabenmord
Am Morgen des 22. Januar 1884 wurde außerhalb des Weichbildes des Dorfes Skurcz bei Preußisch-Stargard unter einer Brücke die furchtbar zerstückelte, vollständig nackte Leiche des vierzehnjährigen Knaben Onofry Cybulla gefunden. Der Knabe war regelrecht geschlachtet worden. Der Hals war bis auf die Wirbelsäule durchschnitten, auf dem rechten Arm waren sieben tiefe Einschnitte. Die Oberschenkel waren kunstgerecht vom Oberkörper und den Unterschenkeln abgetrennt und, ebenso wie die Kleidung und Wäsche des Knaben, spurlos verschwunden. Der Knabe verdiente sich Geld durch Flaschenspülen und Austragen von Backwaren. Außerdem handelte er mit Ziegenfellen.
Der Mord rief begreiflicherweise in dem zumeist von polnisch redenden Leuten bewohnten Dorfe eine furchtbare Erregung hervor. Da einige Leute gehört haben wollten, daß der Knabe am Abend vorher von dem jüdischen Kaufmann Joseph in den Laden gerufen worden sei, so verbreitete sich sehr bald die Mär, der Knabe sei zu rituellen Zwecken von den Juden geschlachtet worden. Obendrein wurde wahrgenommen, daß in der Mordnacht im Stall bei Joseph es „gespukt“ haben müsse, denn es seien einige Latten umgefallen und auch ein großer Topf mit Blut sei gefunden worden. Das Dienstmädchen von Joseph war in der Mordnacht zum Tanz gewesen. Als es am andern Morgen von dem Morde hörte, lief es eiligst zum Ortsvorsteher und sagte diesem, um keinen Preis der Welt bleibe es länger bei Joseph. Als es gegen 2 Uhr nachts nach Hause gekommen sei, habe es ein furchtbares Gepolter und bald darauf ein schreckliches Heulen gehört. „Buh“ habe es gemacht. Am Abend vor dem Morde seien auch mehrere Juden bei Joseph gewesen und haben vom Schlachten eines Christenkindes gesprochen. Am Morgen nach dem Morde haben bei Joseph mehrere Juden, unter diesen Joseph und seine Frau, an einem Tisch gesessen, auf dem die fehlenden Oberschenkel des Ermordeten lagen. Die Männer haben mit dem Hut auf dem Kopf am Tisch gesessen, die Hände auf die Oberschenkel des Ermordeten gelegt und laut hebräisch gebetet. Höchst wahrscheinlich wollten die Juden, so bemerkte das Dienstmädchen, an den Oberschenkeln ihre Sünden abbeten.“
Diese Angaben des Mädchens fanden im Dorfe vollen Glauben; es kam aus diesem Anlaß zu einer regelrechten Revolte gegen die Juden. Man demolierte die Läden und Wohnungen der Juden. Joseph und der Händler Abraham wurden wegen Verdachts des Mordes in Haft genommen, letzterer, weil er eine Verletzung am Finger hatte. Abraham soll dem Ermordeten einmal gedroht haben, ihn anzuzeigen, daß er mit Ziegenfellen handle, obwohl er keine Gewerbesteuer zahle. Die weitere Untersuchung ergab jedoch keinerlei Anhaltspunkte für die Schuld der Inhaftierten. Abraham konnte sein Alibi nachweisen. Außerdem wurde festgestellt, daß Abraham sich die Verletzung des Fingers bei einem Sturz zugezogen hatte. Das bei Joseph vorgefundene Blut wurde zu dem Gerichtschemiker Dr. Carl Bischoff nach Berlin gesandt. Dieser stellte fest, daß das Blut Ochsenblut war. Joseph konnte auch nachweisen, daß er einige Tage vor dem Morde ein junges Rind hatte schlachten lassen. Joseph und Abraham wurden nach einigen Wochen aus der Untersuchungshaft entlassen.
Dagegen machte sich Fleischermeister Behrend durch Redensarten und verschiedene andere Dinge verdächtig. Der vom Minister des Innern und dem Justizminister nach Skurcz entsandte damalige Kriminalkommissar Höft (Berlin) schritt schließlich zur Verhaftung des Behrend. Letzterer wurde beschuldigt, den Knaben ermordet zu haben, um den Mord den Juden in die Schuhe zu schieben und dadurch eine Judenhetze in die Wege zu leiten.
Behrend hatte sich im April 1885 vor dem Schwurgericht Danzig wegen Mordes zu verantworten. Der Vater des Ermordeten bekundete, sein Sohn habe nicht einen Pfennig Geld bei sich gehabt; wenn der Mörder den Knaben habe berauben wollen, dann könne er es höchstens auf das neue Hemd, das er seinem Sohne einige Tage vorher für zwei Mark gekauft hatte, abgesehen haben. Es wurde außerdem festgestellt, daß ein Mord aus Rache ausgeschlossen sei. Der Ermordete sei sehr gutmütig gewesen und habe niemandem etwas zuleide getan. Die medizinischen Sachverständigen stellten fest, daß auch ein Lustmord nicht vorliege. Das erwähnte Josephsche Dienstmädchen wiederholte vor den Geschworenen seine Bekundungen und ahmte auch das Heulen („Buh“) nach. Es wurde festgestellt, daß wenige Minuten, nachdem das Mädchen nach Hause gekommen war, ein bei Joseph arbeitender Maurer in angetrunkenem Zustande auf dem Boden seine Schlafkammer aufgesucht habe. Bei dieser Gelegenheit sei er einige Stufen hinuntergefallen. Dies war das Gepolter, das das Mädchen gehört hatte. In der Mordnacht hatte außerdem ein außergewöhnlich heftiger Sturmwind getobt. Er blies jedenfalls durch die Bodenfenster und hat das Heulen verursacht. Aber auch gegen Behrend reichte das Belastungsmaterial nicht aus, er wurde nach fünftägiger Verhandlung freigesprochen.
Der Mord ist bis heute unaufgeklärt geblieben.