Hamburg und Deutschland
[652]
Es ist ein Unglück, daß die großen deutschen Männer die kleine deutsche Geschichte nicht kennen. Unter letzterer verstehe ich die Geschichte der einzelnen Staaten und ihrer Regierungen, ihrer Sympathien und ihrer Antipathien, ihrer Pläne und sogar ihrer Phantastereien. Wie lehrreich diese Geschichte auch für die Gegenwart ist, im Hinblick auf die heute viel discutirte Hamburger Freihafen-Frage, will ich an einem Beispiele darthun.
Im Jahre 1820 erschien eine Schrift, betitelt: „Manuscript aus Süddeutschland, herausgegeben von George Erichson, verlegt von James Gryphi in London“. Sie erlebte in kurzer Zeit mehrere Auflagen und wurde massenhaft in dem südwestlichen Deutschland verbreitet, namentlich auch unter den Liberalen. Sie trug ein stolzes Motto aus dem Horatius:
„Was ich selbst, und mein Volk mit mir, zu begehren hat, hör’ jetzt!“
(„Quid ego et populus mecum desideret, audi!“)
Diese Schrift war eine Mystification. Allein sie war noch etwas weit Schlimmeres. Sie war eine rheinbündlerische Agitation, mit großer Schlauheit darauf berechnet, in dem damals in einer gewissen politischen Aufregung befindlichen südwestlichen Deutschland den Samen des Hasses gegen Preußen und gegen das ganze nördliche Deutschland zu säen, den Südwesten als den einzigen Träger des „reinen und unverfälschten Deutschthums“ zu glorificiren und ihn zu einem Rheinbund zusammenzuschweißen – zu einem erneuerten Rheinbund, der auf Nord- und Mitteldeutschland, auf die Nord- und Ostsee verzichtet und sich separat zu einem „alemannischen“ Binnenlande zusammenthut, unter württembergischer Führung, unter Anlehnung an Frankreich, mit einer feindseligen Spitze gegen Oesterreich und Preußen.
Wer heute das liest, der kann es kaum fassen, daß schon einige Jahre nach der Abschüttelung des Joches der Fremdherrschaft, sieben Jahre nach der glorreichen Völkerschlacht bei Leipzig, ein solches Buch möglich war, noch weniger, daß es mit Begierde gelesen und mit Eifer verbreitet wurde, daß es von Hand zu Hand ging, daß ernsthafte Leute seinen Inhalt ernsthaft discutirten, daß man sogar daran ging, seine Projecte auf dem Wege einer Staatsumwälzung zu verwirklichen, und daß die Urheber dieses Planes nicht etwa blos „Burschenschafter und sonstige Studenten“, sondern Männer in reiferen Lebensjahren und in der Stellung von Beamten und Officieren waren, welche den König Wilhelm den Ersten von Württemberg zum „König des reinen Deutschland“ machen wollten.
Ich sagte: die Schrift war eine Mystification. Denn sie war in Stuttgart gedruckt und erschienen, und nicht in London. Einen Drucker oder Verleger Namens James Gryphi gab es damals gar nicht mehr in London. Dies war nur eine literarische Reminiscenz an jene längst vergangenen Zeiten, da die Aldi in Venedig, die Gryphi in London und die Elzevier in Amsterdam als weltberühmte Drucker florirten.
Auch der Name des Verfassers war eine Mystification. Derselbe hieß nicht „George Erichson“, sondern Friedrich Georg Lindner. Geboren 1772 in Mitau, gestorben 1845 in Stuttgart, gehörte Lindner zur Classe jener unstäten politisch-literarischen Abenteurer, zu jenen zwar außerordentlichen, aber höchst ordinären fahrenden Diplomaten, welche sich in dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts in Deutschland als Söldlinge des Auslandes bemerklich machten. Am meisten Aehnlichkeit hatte er mit August von Kotzebue; nur arbeitete dieser in der Regel für Rußland, und Lindner für Frankreich; auch hatte Lindner nicht Kotzebue’s formelle dichterische Begabung. Ihre Wege pflegten sich öfters zu kreuzen.
Bis zum Jahre 1813 war Lindner im Interesse Napoleon’s thätig. In dem genannten Jahre lebte er in Weimar. Als dort die Russen einrückten, wollten sie ihn als französischen Spion aufhängen; seine Rettung verdankte er den Preußen. Er verschwand nun, um im Solde des Fürsten Metternich zu schreiben. Um 1818 kehrte er nach Weimar zurück, wo damals auch Kotzebue lebte und geheime Rapporte an den Kaiser von Rußland erstattete, in welchen er die Professoren Deutschlands als „Demagogen“ und die Hochschulen als „Herde der Revolution“ denuncirte. Der Historiker Luden, Professor in Jena, hatte damals in seiner „Nemesis“ einen Artikel publicirt, der unter Anderem auch an den öffentlichen Zuständen in Rußland eine maßvolle Kritik ausübte. Diesen Artikel machte Kotzebue sofort zum Gegenstande eines Rapportes an den Zaren.
Kotzebue’s Schreiber vertraute das ihm zur Reinschrift übergebene französisch geschrieben Original dem Dr. Lindner an, und dieser lieh es dem Professor Luden, welcher sofort darüber in der „Nemesis“ herfiel. Darob lebhafte Beschwerden Kotzebue’s bei dem Zaren, noch lebhaftere Beschwerden des Zaren bei dem Großherzog von Sachsen-Weimar – Confiscation der „Nemesis“, Confiscation der „Isis“ des Professors Oken und des „Volksfreundes“, den ein Sohn Wieland’s in Weimar herausgab, Maßregelung der Professoren, immer wüthendere Denunciationen Kotzebue’s gegen dieselben etc. – Kotzebue mußte schließlich mißliebigkeitshalber Weimar verlassen und siedelte nach Mannheim über, wo ihn der Dolch des Studenten Sand traf. Er fiel dem Haß der akademischen Jugend zum Opfer, und Lindner konnte sich rühmen, den Hecken-Krieg, aus welchem die verhängnißvolle blutige That erwachsen, zuerst angefacht zu haben.
Lindner war durch diese Hergänge in Weimar gleichfalls unmöglich geworden. Er wandte sich nach Augsburg und Stuttgart, wo er den Rest seiner Tage verbrachte als literarisch-diplomatischer Agent des Königs Wilhelm von Württemberg, von welchem er auch zu dem „Manuscript aus Süddeutschland“ inspirirt ward. Victor Aimé Huber, der mit ihm in Augsburg zusammen war, nennt ihn einen „alten fünfzigjährigen politischen Abenteurer, einen unbedingten Verehrer Napoleon’s, der stets eine zweifelhafte Rolle gespielt, bald der und bald jener Regierung gedient, bald von den Regierungen verfolgt und bald wieder zu diesem oder jenem Zweck von ihnen benutzt ward.“
Dieser Mensch also war es, der damals – vor sechszig Jahren – Deutschland verkündete, was der König (von Württemberg) und mit ihm sein „echt deutsches alemannisches Volk“ begehre. Er construirt sein Rheinbunds-Deutschland, indem er Alles, was nicht dazu paßt, über Bord wirft: vor Allem Preußen und die Hansastädte.
„Dieses unser Deutschland,“ sagt er, „muß ohne diese Territorien sich constituiren. Seine Vereinigung mit Preußen ist eine unnatürliche Verbindung. Preußen kann unter Umständen ein wünschenswerther Bundesgenosse sein; als Bundesglied ist es gefährlich. In gewöhnlichen Zeiten muß (dieses Rheinbunds-)Deutschland für die eigene Erstarkung sorgen, um nöthigenfalls (zu Gunsten Frankreichs?) ein Gewicht gegen Preußen zu bilden. Norddeutschland ist nur ein Küstenland und der Handel seine ausschließliche Bestimmung. Süddeutschland aber ist ein Binnenland, das durch seine Lage und durch die Fruchtbarkeit seines Bodens zum Ackerbau und Gewerbefleiß eingeladen wird. Ackerbau und Industrie sind seine Bestimmung. Sie müssen seinen Wohlstand sichern. Der Handel kann hier nur als Nebenzweck erscheinen. Was sollen uns die deutschen Barbaresken (Raubstaaten), die Hansastädte, deren Interesse als englische Factoreien auf Plünderung des übrigen Deutschland, auf Vernichtung seiner Industrie gerichtet sind? Deutschland darf seinen Handel nicht einer privilegirten Kaste von Kaufleuten anvertrauen, welche durch den Eigennutz an England gebunden sind. Diese Republiken, Hamburg, Bremen und Lübeck, sind in jeder Hinsicht ein Hors-d’oeuvre im deutschen Vaterlande.“
Ich habe hier nur eine der gemäßigtsten Stellen ausgezogen. Zu ihrem besseren Verständnisse muß ich noch bemerken, daß damals im Schooße des deutschen Bundestages eine (natürlich erfolglose) Verhandlung schwebte über die „Seeräubereien der Barbaresken“, das heißt der afrikanischen Raub- und Piratenstaaten Algier, Tunis und Tripolis, welche damals noch ihr Unwesen im Mittelmeer trieben und auch deutsche Schiffe mitten im Frieden wegfingen, um die Mannschaft zu Sclaven zu machen. Mit diesen Barbaresken, mit Algier, Tunis und Tripolis, setzt der Verfasser des „Manuscripts aus Süddeutschland“ die deutschen Hansastädte Hamburg, Bremen und Lübeck in eine Linie.
[653] Es ist die Sprache des Rheinbundes und der napoleonischen Continentalsperre, welche wir in einer etwas veränderten Tonart hier wieder vernehmen. Der Haß gegen den Großhandel, der Neid gegen die Kaufleute, die Verfolgung der Hansastädte wurde in der Zeit von 1806 bis 1812 im Interesse der napoleonischen Universalmonarchie gepredigt, 1820 aber im Interesse des kleinstaatlichen Winkelparticularismus und des gerngroßen Duodez-Sultanismus en miniature.
Ein paar Parallelstellen werden dies deutlich machen.
Am 6. April 1812 erging von Seiten eines der bedeutenderen Rheinbundsfürsten eine Proclamation, in welcher es hieß:
„Der erhabene Protector des Rheinischen Bundes hat das heldenmäßige Bestreben erklärt, dem englischen Handelsdespotismus ein Ende zu machen. Alle Völker des europäischen Continents wissen aus Erfahrung, daß der Seehandel ausschließlich in den Händen einer Nation ist, welche willkürlich alle Preise bestimmt und alle Continentalfabriken lähmt, indem sie die Preise ihrer eigenen Fabrikate herabsetzt. Allgemeine Verarmung aller Continentalländer muß die nothwendige Folge werden, wenn nicht Einhalt geschieht.“
Und als Napoleon die Hansastädte zum Behufe der besseren Vollziehung seines verderblichen handelspolitischen Systems dem französischen Reiche einverleibt hatte, heißt es in einem Berichte, welchen der Minister der auswärtigen Angelegenheiten an den Kaiser erstattet:
„Ihro Majestät bewaffneten Sich mit Ihrer vollen Macht. Nichts konnte Sie von Ihrem Ziele abhalten. Die Hansastädte, die Küstenländer zwischen dem Zuyder-See und dem baltischen Meere mußten mit Frankreich vereinigt, sie mußten derselben Verwaltung, derselben Handelspolitik, derselben Gesetzgebung unterworfen werden. Unmittelbare und unvermeidliche Folge der Maßregeln des englischen Gouvernements! Rücksichten keiner Art konnten bei Eurer Majestät dem wichtigsten Interesse Ihres Reiches entgegenstehen. Höchstdieselben ernten die Früchte dieses wichtigen Beschlusses.“
Das Letztere bewährte sich als vollkommen richtig. Ein Jahr nach Erstattung des Rapports schon war es Jedermann klar, daß die Continentalsperre die Vertheuerung, die Corruption und das Elend hervorgerufen, daß sie, statt England von dem Continent zu verbannen, Frankreich und seine Verbündeten vom Meere ausgeschlossen, daß sie Napoleon gezwungen hatte, gegen alle Länder, welche sich seinem Continentalsystem nicht unterwarfen, Eroberungskriege zu führen, und daß schließlich statt einer Unterwerfung aller unter ihn eine Coalition aller gegen ihn eintrat, der er unterliegen mußte.
In einer anderen Bekanntmachung, durch welche die französische Regierung die Einverleibung zu rechtfertigen versuchte, hieß es: „die Hansastädte seien nur englische Colonien auf dem Festlande, privilegirte Werbeplätze für den Handelsgewinn der Britten, und brächten so die Völker um ihre Baarschaften“.
Es ist immer die nämliche Appellation an die Unwissenheit und an die niedrigste Leidenschaft, nämlich an den Neid. Immer die alte Verwechslung von Geld und Capital. Immer die alte Redensart: „das Geld geht aus dem Land“, während doch das Geld nur den Vermittler spielt, in Wirklichkeit Waare gegen Waare getauscht und die Ausgleichung zwischen Import und Export nicht durch Metallgeld, sondern durch den Wechsel, das Geld der Kaufleute, regulirt wird.
Dem Grund, welcher für die Feindseligkeit gegen den Handel und die Hansastädte angeführt wurde, steht vollständig ebenbürtig die Rechtfertigung der Einverleibung der Niederlande zur Seite. „Dieses Holland,“ sagte Napoleon der Erste, „ist nur eine Anschwemmung von französischen Flüssen, und folglich müssen wir dies angeschwemmte Land, das unseren Flüssen seine Entstehung verdankt, uns wieder nehmen!“
In der Depesche, welche der französische Generalconsul am 20. December 1810 an den Hamburger Senat richtete, und in dem Schreiben des Herzogs von Cadore, des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten, welches dieser Depesche beilag, wird Hamburg damit getröstet, „daß es der Betriebsamkeit seiner Kaufleute gelingen werde, unermeßliche Hülfsquellen in dem innern Handel zu finden, dem sie sich, zum Ersatz für den überseeischen, nunmehr mit völliger Sicherheit überlassen könnten“.
Allein es zeigte sich bald, daß dies ein kahler und inhaltloser Trost war. Der auswärtige Handel wurde ruinirt, und mit dem „innern“ wollte es sich nicht machen. Es erwies sich alsbald, daß da, wo nichts herein darf, auch nichts hinaus kann; daß die Thür entweder auf oder zu ist, und daß sie nicht in einem und dem nämlichen Augenblicke nach innen, zum Hineingehen, geschlossen sein kann, und nach außen zum Hinausgehen, geöffnet.
Hamburg, wo früher keine Zölle, keine lästigen oder chicanösen Controllmaßregeln dem Kornhandel Fesseln anlegten, vertrieb nicht nur für die hannöverschen und holsteinischen Marschgegenden und für einen Theil von Mecklenburg, sondern auch für die Altmark, für das Magdeburgische, für die Saalegegenden und Schlesien große Getreidevorräthe in das Ausland. Schlachtvieh und Fleischvorräthe aus Deutschland vertrieb es nach England und Westindien; Butter nach Portugal, Spanien, England; Wolle nach England, Holland, Frankreich und den Vereinigten Staaten; Leinen vorzugsweise nach den transatlantischen Völkern spanischer Abkunft etc.
Diese Mission Hamburgs, den Vermittler zwischen seinem Hinterlande, dem deutschen Binnenlande, und dem Auslande, namentlich den transatlantischen Staaten, zu machen, hörte auf, sobald Hamburg seine Freihafenstellung durch die Einverleibung in Frankreich und durch die Unterwerfung unter das napoleonische Blocussystem einbüßte, und das Hinterland, das heißt das übrige Deutschland, litt dadurch fast noch schwerer, als Hamburg. Der ausschließlich militärisch-fiscalische Geist der französischen Verwaltung stand mit den Bedürfnissen und den Gepflogenheiten der Hansastadt an sich schon in einem schreienden Widerspruch, welcher noch geschärft wurde durch die Persönlichkeit dessen, den Napoleon an die Spitze des neuen Departements der Elbmündungen gestellt hatte. Es war Davoust, der „Prinz von Eckmühl“, der den unschuldigen Buchhändler Palm hatte erschießen lassen. Den Bürgermeister und die Senatoren setzte er nicht nur ab, sondern erlaubte sich auch daneben mit ihnen die unwürdigsten Scherze. Eines Nachts ließ er sie alle gewaltsam aus dem Bett holen und dann lange auf sich warten; endlich erschien er, um ihnen zu eröffnen, daß heute der erste April sei.
Die ganze Stadt wurde unsicher gemacht durch den Unfug und die Erpressungen des französischen Douanen-Gesindels. Der Tabakshandel und die Tabaksspinnereien wurden durch die französische Regie vernichtet. Alle öffentlichen Fonds wurden für den französischen Fiscus eingezogen. Nicht einmal der Rathskeller, welcher vormals mit dem von Bremen wetteiferte, wurde verschont; anfangs wurde er „für kaiserliche Rechnung“ verwaltet, endlich aber, kurz vor dem russischen Krieg, wurden sämmtliche Vorräthe in öffentlicher Auction versteigert; der Erlös, etwa eine halbe Million Mark, floß in den unersättlichen Schlund des französischen Fiscus. Nachdem man die Stadt ihres Vermögens und deren Bürger eines großen Theils ihres Einkommens beraubt hatte, belud man sie mit unerschwinglichen Abgaben. Zu den directen Steuern, der Grundsteuer, der Personal-, der Mobiliar-, der Thüren- und Fenstersteuer, der Patentsteuer etc., kamen die indirecten Abgaben hinzu, das Enrégistremet, die Stempeltaxen, die Kanzleigebühren, die Droits-Réunis für den Verkauf von Bier, Wein, Branntwein, Tabak, von Fuhrwerk, von den Spielkarten, den Gold- und Silberarbeiten, dazu dann die Blutsteuer, welche die Leute zwang, sich auf allen Schlachtfeldern Europas herumschleppen zu lassen und als Deutsche gegen Deutsche zu kämpfen. Daneben erging endlich noch ein Befehl Napoleon's, in den drei Departements der Elbe, der Weser und der Ober-Ems sofort dreitausend Seeleute auszuheben oder zu pressen. Der Prevòtalgerichtshof und die Douanen-Tribunale belegten Jeden, der sich diesen Lasten zu entziehen suchte, die Steuerhinterzieher, die Schmuggler, mit draconischen Strafen, welche in einer Art standrechtlicher Weise verhängt wurden. Einzelne Schmuggler wurden zum Tode verurtheilt, Viele zu Galeeren, langjährigem Zuchthaus, Brandmarkung und Ausstellung am Pranger. Der bloße Verdacht war zur Verurtheilung schon genügend.
Diese Mißregierung dauerte ungestört fort, bis die Katastrophe von 1812 die Möglichkeit einer Befreiung in Aussicht stellte. Die verfrühte Erhebung Hamburgs gegen die Fremdherrschaft im Frühling 1813, die furchtbare Rache der Franzosen, die Belagerung der Stadt durch die Russen und endlich die definitive Befreiung sind allgemein bekannt. Sie gehören der Weltgeschichte an. Ich will mich an dieser Stelle darauf beschränken, zwei Zeugnisse aus jener Zeit der Befreiung von der Fremdherrschaft [654] anzurufen: das Zeugniß eines patriotischen Dichters und das der damaligen obersten politischen Autorität Deutschlands.
Während in Hamburg die Franzosen mit Feuer und Schwert wütheten, erklärten die aus Hamburg vertriebenen, zu einem Heerhaufen versammelten Hanseaten: „nicht wo ihre Häuser stünden, sondern wo sie sich mit ihren Waffen befänden, da sei ihr Vaterland, sei es auf der See oder auf dem Lande“. Dies veranlaßte Max von Schenkendorf (gestorben als preußischer Regierungsrath am 11. December 1817 in der für Deutschland wieder eroberten Stadt Coblenz) zu der prachtvollen Strophe:
„Ein Hansa-Staat im Meere,
Ein Hansa-Staat im Feld,
Der als Tyrannen-Wehre
Sich kühn entgegenstellt.
Laß Flammen Dich verzehren,
O Hamburg, reich und schön;
Man wird in jungen Ehren
Dich Phönix wiedersehn!“
In einer nur kurze Zeit später von dem Bundestage, der sich doch so selten zu einer enthusiastischen Anerkennung erhob, ausgehenden Denkschrift heißt es wörtlich:
„Die Sache Hamburgs ist Ehrensache für ganz Deutschland geworden. Die Hamburger haben sich mit edler Aufopferung und ruhmwürdigem Muthe auf die Vorposten der guten und gerechten Sache gestellt, und weil sie den Zorn des Tyrannen (Napoleon) auf sich gezogen, müssen sie der Gegenstand der Achtung und Liebe des gesammten deutschen Volkes sein. Hamburg hat für sich allein eine Heerschaar in das Feld gestellt. Hamburgs Bürger, zur Vertheidigung ihrer Vaterstadt bewaffnet, sind nur Verhältnissen gewichen, welchen selbst ganze Völker nicht zu widerstehen vermocht haben würden. Hamburgs Ehre ist Deutschlands Ehre – Hamburgs Wohlfahrt Deutschlands Wohlfahrt. Hamburg hat für ganz Deutschland gelitten. Gemeinsam muß ganz Deutschland sich bemühen, ihm zu vergelten, was es geopfert hat an Gut und Blut für die gemeinsame Sache.“
Hamburg verlangte keine andere Schadloshaltung, als daß man es anerkenne als ein lebendiges Glied des deutschen Gesammtkörpers. Dies ist ihm damals geworden, und es hatte wohl das Recht, zu erwarten oder zu fordern, daß jene französelnden Rheinbundsstimmen, von welchen ich im Eingange aus dem berüchtigten „Manuscripte aus Süddeutschland“ eine Probe mitgetheilt habe, für ewig verstummen würden. Leider genügte der Verlauf weniger Jahre, um sie wieder wachzurufen und ihnen in dem verstimmten, verbitterten und getäuschten Deutschland von 1820, welches noch unklar darüber war, in wem es den Urheber seiner Leiden zu suchen habe, sogar einen gewissen Widerhall zu verschaffen.
Damals, von 1813 ab, war es die befreiende Politik Preußens, welche auch Hamburg befreite – jene Politik Friedrich Wilhelm’s des Dritten, welche sich in einen bewußten und klaren Gegensatz zu der Continentalsperre Napoleon’s setzte und welche inaugurirt wurde durch die berühmte Breslauer Proclamation vom 17. März 1813, worin der edle Dulder über die Vergangenheit sein Verdammungsurtheil aussprach:
„Wir erlagen der Uebermacht Frankreichs. Die Freiheit des Handels ward gehemmt und dadurch die Quelle des Erwerbs und des Wohlstandes verstopft. Das Land war ein Raub der Verarmung. Brandenburger, Preußen, Schlesier, Pommern, Litthauer, Ihr wißt, was Ihr seit sieben Jahren geduldet.“
Man kann keinen besseren Zeugen anrufen, als diesen König, der zugleich mit seinem getreuen Volke den Becher der Leiden bis auf die letzte Hefe leeren mußte, den sein Aufenthalt auf der Flucht, in den Lagern, in den kleinen Städten, in den Dörfern der entlegensten Theile seines Reiches mit den Bauern und den Bürgern in die unmittelbarste Berührung gebracht hatte und der sein ganzes Leben lang unentwegt festhielt an der streng-bürgerlichen Weltanschauung, die er damals gewonnen.
Die von ihm inaugurirte liberale Wirthschaftspolitik und dann Preußens uneigennütziges und rastloses Bestreben, in dem Zollverein die Einheit der Verkehrs-, Handels- und Industrie-Interessen zu verwirklichen, machten Hamburg immer mehr zu dem, wozu es von der Natur bestimmt ist, nämlich zum Hauptfreihafen für Deutschland. Noch in dem Jahresberichte, welchen das preußische Generalconsulat für das Geschäftsjahr 1862 an den Handelsminister erstattete, heißt es wörtlich:
„Die Herausbildung Hamburgs zu einer wirklichen Freihafenstadt ist gewiß für die preußischen Verkehrsinteressen von wesentlicher Bedeutung.“
[676]Gegenwärtig handelt es sich um die Freihafenstellung von Hamburg und zugleich um die Einverleibung von St. Pauli und Altona in die Zolllinie, oder um Verschiebung der Zolllinie nach Cuxhaven und um die Freiheit der Elbschifffahrt.
Hamburg und Altona sind zwar politisch und communal getrennt, aber wirtschaftlich und social bilden sie eine einzige Stadt.
Welche Folgen eine Zolllinie hat und haben muß, die durch eine Stadt schneidet, darüber Betrachtungen anzustellen ist schon deshalb überflüssig, weil uns in dieser Richtung die Vergangenheit bereits zur Genüge praktisch belehrt hat. Unsere Bauern haben ein Sprichwort „Probirt geht über studirt“, und es ist gut, wenn wir uns dessen zuweilen erinnern.
Am 20. December 1810 wurde Hamburg, gleichzeitig mit den beiden anderen Hansastädten, dem französischen Kaiserreich einverleibt. Altona wurde nicht mit demselben vereinigt. Die hierdurch in das Leben gerufene Zolllinie mitten durch das städtische Terrain hat einige Jahre bestanden. Ueber die Erfahrungen, welche man damals gemacht hat, will ich hier eine Aufzeichnung wiedergeben, welche vor mehr als vierzig Jahren gemacht wurde, also lange vor der Erörterung der jetzt schwebenden Fragen, und danach wohl als ein unbefangenes Zeugniß zu betrachten ist. Sie findet sich in Dr. J. G. Gallois’ „Geschichte der Stadt Hamburg“, Band II, Seite 6 u. 7, und lautet wie folgt:
„Nachdem Hamburg eine französische ,bonne ville’ geworden, wurde die Douaneneinrichtung wegen der Nähe Altonas verschärft; starke Pfahlwände an den Thoren gestatteten den Passirenden nur einzeln den Ein- und Ausgang; Männer und Weiber wurden auf die brutalste Weise durchsucht, da man in Altona die Colonialwaaren fünfzig Procent billiger kaufte als hier, weshalb der kleine Schmuggelhandel sehr einträglich war. Altonaer Krämer ließen ihn gegen bestimmten Tagelohn von dem geringen Manne, der nichts zu erwerben wußte, systematisch betreiben. Umhertreiber, Hausknechte, Dienstmädchen, halbwüchsige, der Armenschule entlaufene Buben und Dirnen, selbst kleine Kinder schmuggelten täglich erfindungsreicher und billiger, als sogenannte Kaffeeträger, zwischen beiden Städten, selbst Hunde wurden zu diesem Zwecke besonders abgerichtet. In Strümpfen, Schuhen, Stiefeln, Halsbinden, Kleidern, Hüten, Kappen, Mützen, Haarwülsten verbarg man Tabak, Zucker, Kaffee, Thee, Gewürze und Gewebe, und das Confiscirte wurde den Absendern durch förmliche Assecuranzcompagnien ersetzt. Das glücklich Hereingebrachte nahmen auf dem Walle oder dem Zeughausmarkte dazu Bestellte in Empfang, und die Träger gingen sofort wieder nach Altona, neue Ladungen zu holen. Oft waren die Douanen mit einem Theil des Raubes zufrieden und so bildete sich allmählich ein unmoralischer Handelsverkehr, welcher die nachteiligsten Folgen auf die Sinnesart der unteren Volksclassen ausübte, zumal das Gesindel am Abend das Erworbene in Branntwein- und Bierkneipen zu verprassen pflegte. Im Hafen verfaulten ungenutzt dreihundert Seeschiffe, welche einen Werth von zwölf Millionen repräsentirten.“
Soweit Gallois. Fügen wir hinzu, daß, sobald die Hiobsbotschaften aus Rußland eintrafen, diese Zollgrenze überhaupt nicht mehr aufrecht zu erhalten war.
Wenn nun damals Napoleon der Erste, der doch für allmächtig und unüberwindlich galt und der sich in einem eroberten Lande Manches erlaubte, was eine deutsche Regierung in einer deutschen Stadt sich nicht erlauben kann und nicht erlauben will – wenn die französische Douane, deren eiserne Faust damals beinahe das ganze europäische Festland umkrallte, nicht im Stande war, jene binnenstädtische Zollgrenze aufrecht zu erhalten: dann ist es wohl auch heute noch einem loyalen deutschen Reichsbürger erlaubt, einige bescheidene Zweifel darüber auszusprechen, ob der preußische Finanzminister Bitter in seinen verwandten Bestrebungen größeren Erfolg haben und ob er Lorbeeren ernten wird auf einem Gebiete, auf welchem selbst das Genie eines Napoleon des Ersten und das rücksichtslose Dreinfahren des „Prinzen von Eckmühl“ nur Niederlagen erlitten.
Heute freilich, in dem Augenblicke, da ich dies schreibe, gilt die Ausrichtung der binnenstädischen Zolllinie für eine wenn nicht vollendete, dann doch definitiv feststehende Thatsache. Nicht das „Ob?“ sondern nur noch das „Wann?“ soll einem Zweifel unterliegen. Allein schon der Umstand, daß, nachdem man nun schon so lange über die Sache verhandelt, selbst die obersten staatlichen Autoritäten gänzlich außer Stande sind, den Termin, an welchem die beabsichtigte Maßregel in Kraft tritt, auch nur annäherungsweise zu bestimmen, beweist uns zur Genüge, wie zahlreich die Schwierigkeiten sind, wie groß der erforderliche Aufwand an Zeit und Geld ist, und daß wohl noch mancher Tropfen Wasser elbabwärts rinnt, bevor wir vor einer unanfechtbaren vollendeten Thatsache stehen werden. Ohne Zweifel wird daneben auch noch die Freihafen-Frage im Reichstage und die Altona-Frage (letztere schon als Budgetfrage) im preußischen Landtage einer gründlichen Erörterung unterzogen werden. Wir befinden uns daher noch in dem bekannten Stadium „zwischen Mund und Bechersrand“. Ein gutes Wort wird also wohl immer noch eine gute Stätte finden, und man wird eingedenk sein der Vorschrift der mehr als drei Jahrhunderte alten Gerichtsordnung der berühmten westfälischen Stadt Soest, die vormals auch ein tapferes und erleuchtetes Mitglied der Hansa gewesen, in welcher „Ordnung“ geschrieben steht:
„Der Richter soll, bevor er spricht, die Sache ein-, zwei- und dreimal überlegen und soll gedenken an das strenge Urtheil und das Gericht, so Gott über ihn selber zu richten gedenkt an dem letzten der Tage.“
Nun hört man freilich oft die Redensart: „Wenn und weil eine Zolllinie zwischen Hamburg einerseits und Altona oder [678] St. Pauli andererseits nicht möglich ist, muß gerade deshalb gleich ganz Hamburg herein in die Zolllinie.“
Die Reichsverfassung hat allerdings im Artikel 34 die Möglichkeit vorgesehen, daß die Hansastädte Bremen und Hamburg den Einschluß ihres jetzt außerhalb der gemeinsamen Zollgrenze befindlichen Gebiets oder eines Theiles desselben in die Zollgrenze beantragen, und mancher aufrichtige Anhänger der wirthschaftlichen Freiheit sah schon diesen Zeitpunkt der freien Entschließung von Bremen und Hamburg sich immer mehr nähern, so lange unsere Handelspolitik während der Zeiten des Zollvereins und des Norddeutschen Bundes, nicht weniger aber auch in dem ersten Lustrum des wiederaufgerichteten Deutschen Reichs (1871 bis 1876) consequent und beharrlich auf der Bahn eines maßvollen Fortschritts blieb, welcher durch den Abschluß von Handelsverträgen den internationalen Verkehr förderte, die Schutzzölle allmählich in Finanzzölle verwandelte und so nach und nach die Ursachen beseitigte, welche verhinderten, daß sich im Zollgebiete große Centren des Welthandels bildeten.
Allein diese Möglichkeit ist wieder in weite Ferne gerückt, seitdem wir im Jahre 1879 mit unserer seit den Zeiten eines Stein, eines Hardenberg, eines Schön, eines Motz, Maaßen und Kühne beobachteten Handelspolitik so schroff gebrochen haben. Die Sonne der wirthschaftlichen Freiheit würde den Wanderer veranlaßt haben, den Mantel abzulegen – in der jetzigen Zeit der Stürme, der Ueberraschungen und der Ueberstürzungen unserer sogenannten „Wirthschafts- und Steuerreform“ welche alltäglich Neues und Unerhörtes ausbrütet und über Nacht in Vollzug setzt, muß er sich nur noch fester in denselben einhüllen.
Im gegenwärtigen Augenblick die Freihafenstellung der Hansastädte, und insbesondere die Hamburgs, aufheben, wäre in wirthschaftlicher Beziehung ein großes Unglück, ja ein wahres Verhängniß nicht etwa blos für Hamburg, sondern für ganz Deutschland, und zwar für Industrie wie Handel.
Fassen wir das Ergebniß aller geschichtlichen Erinnerungen, volkswirthschaftlichen Untersuchungen und finanziellen Erwägungen in kurzen Worten zusammen, so besteht es in Folgendem:
Die jetzige Freihafenstellung Hamburgs hat für das gesammte, unter Kaiser und Reich geeinigte Deutschland eine große Bedeutung. Dadurch, daß sie unsere mercantile Kraft unter freier Bewegung concentrirt, gewährt sie Deutschland eine günstigere Position im internationalen Handel. Durch Einbeziehung in die Zolllinie wird der Antheil Deutschlands am internationalen Verkehr geschmälert und verringert. Dieser Antheil ist in dem Laufe der letzten Jahrzehnte gewachsen, wie uns namentlich z. B. die Statistik des Baumwollenverkehrs darthut. Derselbe ist insbesondere auf Kosten Englands gewachsen. Einen beträchtlichen Theil dieser Stellung, welche wir Deutschen uns in dem Welthandel errungen haben, würden wir verlieren in dem Augenblicke, wo das Hamburger Gebiet seine Freihafenstellung einbüßte und einem Zolltarife und einer Zollbehandlung unterworfen würde, welche dem Welthandel nicht günstig sind und nach den Erklärungen ihrer eifrigen Anhänger nicht günstig sein wollen, indem Letztere bekanntlich den Handel überhaupt, und namentlich den internationalen Handel, für „egoistisch“ erklären. Mit dem Welthandel Deutschlands würde gleichzeitig auch die Schifffahrt zurückgehen. Die Handelsmarine aber ist der Vorläufer, die Schwester, die Stütze, die Grundlage der Kriegsmarine. Die eine ist ohne die andere nicht denkbar. Dieser Zusammenhang der Dinge, und namentlich der großen Dinge, wird nur zu leicht übersehen von Denjenigen, welche sich in den engen Kreis von kleinen Sonder-, Classen- und Kasten-Interessen einpferchen und darauf aus sind, alle Machtmittel des Staates für letzteren, und zwar auf Kosten der minder besitzenden Classen, in die Wagschale zu werfen, während sie doch nur für das Gemeinwohl Aller, zum Schutz und zum Nutzen des Ganzen, verwandt werden dürfen.
Was ist denn der Freihafen? Er ist ein großer Lagerplatz unmittelbar vor unserer Hausthür – ein Lagerplatz, auf welchem sich alle Befriedigungs- und Productionsmittel reichlich ansammeln, um uns die Auswahl des Zweckmäßigsten, des Besten und des Wohlfeilsten zu erleichtern. Und wir sind es, welche dabei den Löwenantheil beziehen. Wir haben nicht nur die erste Auswahl, das heißt die Auswahl des Besten, sondern auch die letzte Auswahl, das heißt die Auswahl des Billigsten. Nachdem nämlich wir, die Deutschen, gewählt haben, wählen dort die anderen Nationen, und dann kommen schließlich wir wieder zum zweiten Male und kaufen zu ausnahmsweise billigen Preisen, zu welchen das von Andern weniger Gesuchte nunmehr uns zu Gebote steht, und zwar uns deshalb, weil wir, wie es bei Fritz Reuter heißt, „die Nächsten dazu sind“. Diese billigen Preise aber machen eine industrielle Ausnutzung möglich, welche sonst ausgeschlossen wäre.
Hieraus ergiebt sich denn eine Verbesserung der Lage auch der deutschen Industrie, namentlich der exportirenden Industrie in dem Inlande, deren Exportfähigkeit ja gerade dadurch erhöht wird, sowie ferner die Möglichkeit industrieller Beschäftigung deutscher Arbeitskräfte in Productionszweigen, welche nur im deutschen Küstengebiete möglich sind und die, wenn man sie hier durch Neuerungen oder Umwälzungen unterdrückt oder unmöglich macht, ihren Platz im Auslande suchen werden. Ich habe das an einer anderen Stelle am Bremer Tabakshandel nachgewiesen, dessen Geschichte und Statistik in dieser Beziehung außerordentlich lehrreich ist für Jeden, der des guten Willens ist, etwas zu lernen.
Der Hauptvortheil der Freihafenstellung für Deutschland aber ist die dadurch gegebene Förderung des Exportes für Producte der Landwirthschaft und des Gewerbfleißes, und da unsere Industrie weit mehr producirt, als das Inland zu verbrauchen im Stande ist, so kommt dieser Vortheil in hervorragender Weise dem industriellen deutschen Binnenlande zu gute, und die Angriffe, welche im vermeintlichen Interesse des letzteren von dem Verfasser des „Manuscripts aus Süddeutschland“ (siehe unsern ersten Artikel in der vorigen Nummer der „Gartenlaube“) gegen Hamburg und die übrigen Hansastädte erhoben wurden und selbst heute, sechszig Jahre später, nachdem zwischenzeitig die in jenem „Manuscript“ behandelten Dissonanzen jeden thatsächlichen Anhalt verloren haben, noch hin und wieder ein verspätetes Echo wachrufen – diese Angriffe würden schwer zu begreifen sein, wenn man nicht wüßte, wie zu allen Zeiten an die Unwissenheit und die Leidenschaft appellirt wird, und selten ohne allen Erfolg.
Dagegen verdient eine Ausstellung, welche ein angesehener historisch-politischer Schriftsteller im Juniheft der „Preußischen Jahrbücher“ gemacht hat, eine Erwähnung und Widerlegung. Er meint, „daß die neue auf Begünstigung des Exports gerichtete Handelspolitik dringend wünschen muß, die Bildung von großen Lagern inländischer Fabrikate in den Seeplätzen zu erleichtern, und daß die Hansastädte mit diesem berechtigten Wunsche des deutschen Reiches zu rechnen haben.“ Er feindet die Freihafenstellung an, „weil die trennende Zollschranke jene großen permanenten Ausstellungen der Export-Industrie, wie sie der ausländische Kunde in einem Welthandelsplatze zu finden hoffte, erschweren.“
Diese Worte haben auf den ersten Blick etwas Bestechendes, ja etwas durch ihre Klangfärbung Blendendes. Aber in Wirklichkeit enthalten sie eine Kette von schweren Irrthümern. Zunächst ist es nicht die „neue“ Handelspolitik, welche den Export begünstigt. Im Gegentheil, dies that die alte, welche dem System der westeuropäischen Handelsverträge beigetreten und dadurch den Export deutscher Fabrikate – darüber läßt auch die officielle Statistik keinen Zweifel – mächtig gehoben, indem sie die Nachbarstaaten veranlaßte, ihre Tarifsätze zu ermäßigen, die Differentialzölle zu beseitigen und uns das Recht der meistbegünstigten Nationen einzuräumen. Die neue Handelspolitik dagegen hat durch Erhöhung der Zollschranken den internationalen Austausch erschwert, und zwar nicht nur den Import, sondern folgeweise auch den Export; sie hat die Handelsverträge erlöschen lassen und nicht wieder in ihrem alten Bestande erneuert; sie hat durch ihr Verhalten auch andere Staaten ermuthigt, zu der veralteten Politik der Handelsfeindseligkeit gegen Deutschland zurückzukehren. Man würde der deutschen Reichsregierung schweres Unrecht zufügen, wenn man an der Aufrichtigkeit der von ihr wiederholt kundgegebenen Absicht zweifelte, auch auf volkswirthschaftlichem Gebiete ein engeres und intimeres bleibendes Verhältniß mit der österreichisch-ungarischen Monarchie wieder herzustellen. Allein trotz allen guten Willens ist bei Aufrechterhaltung der „neuen Handelspolitik“ ihr dies gänzlich unmöglich. Es ist die unerbitliche Logik der Thatsachen, die es verhindert. Dies ist der erste Irrthum.
Der zweite Irrthum hat seinen Grund darin, daß der gedachte Gegner der Hamburger Freihafenstellung offenbar nicht weiß, was er freilich, wenn er über einen solchen Gegenstand schreibt, wohl wissen sollte, daß in Hamburg bereits eine seinen Wünschen entsprechende Zollvereinsniederlage existirt, deren [679] Güterverkehr sich im letzten Jahre auf etwa 37 Millionen Kilo belaufen, sodaß sie der Export-Industrie Gelegenheit zu jeder beliebigen, auch zu einer „permanenten“ Ausstellung bietet.
Wenn aber unsere binnenländische Industrie bis jetzt hiervon nicht den „dringend gewünschten“ Gebrauch gemacht hat, so darf man deshalb gegen sie keinen Vorwurf erheben. Vielmehr hat sie für dieses Verhalten ihre triftigen Gründe. Und damit kommen wir an den dritten und auffallendsten Irrthum. Vielleicht hätte man vor länger als einem Menschenalter behaupten können, solche Exportlager oder Ausstellungen seien ein Bedürfniß. Heute sind sie es nicht mehr. Damals kaufte man wohl noch „vom Lager“, heute kauft man „nach Probe“. Früher war der überseeische Verkehr auf Segelschiffe angewiesen, welche von der Jahreszeit, von den Monsun- und Passatwinden abhingen und nur in bestimmten regelmäßigen Intervallen fahren konnten. Jetzt gehen überall und zu jeder Zeit zahlreiche Dampfer, welche die Fahrt in einem Monat zurücklegen, zu der das Segelschiff ein halbes Jahr gebrauchte.
Früher war der Markt im überseeischen Binnenlande mit dem Hafen nicht durch Eisenbahnen, sondern nur durch sehr mangelhafte Transportmittel, durch Wagen, Pferde oder Kameele verbunden; zu diesen Unzulänglichkeiten kamen dann noch in der heißen Jahreszeit der Wassermangel, in der Regenzeit die Unwegsamkeit und tausend andere Hindernisse.
Früher war der Handel auf den gewöhnlichen langsamen Nachrichtenverkehr angewiesen. Jetzt operirt derselbe, statt mit der Thurn- und Taxis’schen Postkutsche, mit dem elektrischen Telegraphen, namentlich auch mit den oceanischen Kabelverbindungen. Früher konnte sich der überseeische Abnehmer alljährlich nur einmal versorgen, und zwar für das ganze Jahr. Jetzt können Bestellungen und Waarensendungen jeden Tag „effectuirt“ werden. Man kann jeder „Nouveauté“ sofort nachrennen.
Früher war das Geschäft ein außerordentlich schwerfälliges und stand vielfach noch auf der primitiven Stufe des Tausches. Es erforderte großes Capital, endlose Creditfristen, war mit großem Risico verbunden etc. Heute sind die Schwierigkeiten von Raum und Zeit durch Dampf und Elektricität in einem solchen Maße überwunden, daß Bestellungen und Sendungen rascher, die Vorräthe kleiner, der Umsatz häufiger, die Zahlungsfristen kürzer, kurz das ganze Geschäft ein anderes geworden. Die Aufträge vollziehen sich immer mehr direct zwischen Abnehmern und Fabrikanten durch Vermittelung von Proben und Mustern. Bei dieser Art des transatlantischen Verkehrs, wie er sich heute gestaltet, haben diese „großen Lager“, diese „permanenten Ausstellungen“ in den Seehäfen weder Sinn noch Bedeutung. Wir finden sie denn auch in Constantinopel, in Odessa, in St. Petersburg, in Marseille, in Bordeaux und in London ebenso wenig, wie in Hamburg und Bremen. In allen diesen großen Seeplätzen sind die Producenten des Binnenlandes nur durch ihre Agenten mit Proben vertreten. Was Deutschland anlangt, so finden wir die großen Lager inländischer Industrie-Erzeugnisse in Berlin und Leipzig, und nicht in Bremen und Hamburg. Das ist so wenig eine Folge der Freihafenstellung, wie daß die Waarencentren für England in Sheffield und Manchester sind, statt in London, daß sie für Frankreich in Paris sind, statt in Havre oder Marseille. Eine Verkümmerung oder Unterdrückung der Freihafenstellung unserer Seeplätze würde allerlei schwerwiegende Folgen haben, aber hieran würde dadurch nicht das Geringste geändert.
Es scheint wirklich in Deutschland noch einige alte stubengelehrte Landratten zu geben, welche glauben, der überseeische Handel mit deutschen Producten mache sich etwa in der Art, wie im „Pariser Leben“, wo der „fesche Brasilianer“ über den Ocean herüber gebummelt kommt, um sich die Waarenlager der „kleinen Handschuhmacherin“ anzuschauen.
In Wirklichkeit aber vollzieht sich die Sache ganz anders. Die Träger des Absatzes deutscher Industrie-Erzeugnisse in überseeischen Ländern sind vorzugsweise die deutschen Handlungshäuser in diesen Märkten. Die Handlungshäuser studiren ebenso sehr die Leistungen des Gewerbfleißes in Deutschland, wie die Bedürfnisse und den Geschmack des fremden Landes, in welchem sie wohnen, und suchen mit Erfolg zwischen diesen und jenen zu vermitteln. Ihnen verdanken wir unseren Absatz. Gerade Hamburg und Bremen sind es, welche ihre Söhne zu diesem Zwecke nach allen Welttheilen schicken, dort Filialen gründen und deren Verbindung mit dem deutschen Vaterlande hegen und pflegen. Dieser Bestand ist aber nur bei wirthschaftlicher Freiheit in den Seeplätzen aufrecht zu erhalten. Wer sich überzeugen will, was auf dieser Grundlage, und nur auf dieser, Bremen und Hamburg für den Export deutscher Waaren leisten, der nehme die mit größter Sorgfalt geführte amtliche Statistik dieser Staaten zur Hand und für die ältere Zeit das bewährte Buch des Professors Dr. Soetbeer „Ueber Hamburgs Handel“ (Hamburg, Hoffmann und Campe, 1840).
Was endlich die finanziellen Interessen des Deutschen Reichs anlangt, so stehen dieselben mit den wirthschaftlichen Interessen der deutschen Reichsbürger glücklicher Weise durchaus nicht im Widerspruch, und wenn etwa das Aversum, welches Hamburg der Reichscasse nach Artikel 38, Absatz 3 der Reichsverfassung, anstatt der Zölle, zu entrichten hat, zu niedrig befunden werden sollte, so liegt nicht das geringste Hinderniß vor, dasselbe den Verbrauchsverhältnissen richtig anzupassen und dem entsprechend zu erhöhen, ohne an der Freihafenstellung das Geringste zu ändern.
Vom finanziellen Standpunkte des Deutschen Reiches also kann die Freihafenstellung nicht angegriffen werden.
Die Gegner derselben sind vielmehr nur zu suchen:
Erstens unter jenen Schutzzollinteressenten, welche zur Zeit ihre Producte dem Auslande billiger verkaufen, als dem Inlande, und welche daher das Gebiet, in welchem sie unter dem Schutze des gegenwärtigen Tarifs die Consumenten besteuern können, erweitert sehen möchten. Sie setzen sich freilich dabei mit sich selbst in einen seltsamen Widerspruch. Denn wenn die alte Zollvereinspolitik des Fortschreitens in gemäßigt-liberalem Sinne sich nach und nach rationell weiter entwickelt hätte, so wäre das Freihafensystem immer entbehrlicher geworden, während die Beseitigung der Freihäfen desto schwieriger und gemeinschädlicher wird, je mehr sich das Schutzzollsystem steigert.
Zweitens sind die Gegner der Freihafenstellung zu suchen unter den mit Bremen und Hamburg concurrirenden Hafenplätzen. Die vernünftigen Concurrenten freilich sind einsichtig genug, zu erkennen, daß die auf der Freihafenstellung beruhende Förderung des Antheils Deutschlands an dem Welthandel auch ihnen zu gute kommt.
Drittens sind es Diejenigen, welche den Zoll als eine Art Selbstzweck betrachten, die ihn gleichsam zu einem „nationalen Dogma“ erhoben haben und ihren Sport damit treiben, wie es z. B. der Befürworter der Surtaxe d’entrepôt thut.
Deutschland aber darf wohl erwarten, daß seine wahren Interessen, wenn auch erst in elfter Stunde, noch Berücksichtigung finden und daß ihm seine maritimen Mittelpunkte des Weltverkehrs erhalten bleiben.
„Fern auf der Rhede ruft der Pilot; es warten die Flotten,
Die in der Fremdlinge Land tragen den heimischen Fleiß.
Andere ziehen frohlockend dort ein mit den Gaben der Ferne,
Hoch vom ragenden Mast wehet der festliche Kranz.
Da gebiert das Glück dem Talente die göttlichen Kinder;
Von der Freiheit gesäugt, wachsen die Künste der Lust.“
Obige Distichen hat nicht irgend ein „egoistischer“ Kaufmann, sondern – Friedrich Schiller, der große Idealist, gedichtet.