Friedrich List (Die Gartenlaube 1889/31)
Friedrich List.
Deutschlands innere Einigung in diesem Jahrhundert hat wie jede große geschichtliche Umwälzung ihre Märtyrer; der größten einer aber ist Friedrich List. Nicht äußere Gewalt hat ihn weggerafft, sondern die innere Zernichtung, die hoffnungslose Enttäuschung, die unsägliche Trostlosigkeit dessen, der auf ein von den höchsten Idealen getragenes, von rastlosen Mühen erfülltes Dasein zurückblickt mit dem bittern Gefühl, daß alles umsonst gewesen, daß das hohe Gut, dem all sein Streben gegolten, verloren, sein Dank nur Mißgunst und Verfolgung, das Endergebniß nur Zerrüttung seiner Arbeitskraft und seiner Familien- und Vermögensverhältnisse sei.
Und doch war sein Wirken nicht umsonst gewesen! Aber des kühnen Mannes glühender Drang nach vorwärts ließ ihn über der Vorstellung des großen Endziels die kleinen Anfänge nicht sehen, ließ ihn, der von dem Bilde köstlicher Früchte erfüllt war, die schüchternen, scheinbar kümmerlichen Ansätze mißachten. Das ist das Tragische in seinem Geschick. So starb er, ein Opfer seiner widerstrebenden Zeit, aber auch ein Opfer seines eigenen allzu stürmischen Charakters.
Am 6. August sind es hundert Jahre, seit Friedrich List als der Sohn eines vermöglichen Weißgerbers zu Reutlingen in Württemberg das Licht der Welt erblickte. Reutlingen war bis zum Jahre 1802, bis zu seiner Einverleibung in Württemberg, eine Freie Reichsstadt, und das ist nicht ohne Bedeutung für die Entwickelung Lists gewesen. „Er sog,“ sagt sein Biograph, Ludwig Häusser (Friedrich Lists gesammelte Schriften I. Stuttgart und Tübingen, Cotta, 1850), „das reichsstädtische Selbstgefühl, die Vorliebe für freie bürgerliche und korporative Verhältnisse, die Abneigung gegen Beamtenthum und Schreiberwesen, man kann sagen mit der Muttermilch ein.“ So konnte denn auch der verzweifelte Versuch Lists, der die Lateinschule seiner Vaterstadt ohne besonderen Glanz besucht und dann kurze Zeit in seinem väterlichen Geschäft widerwillig eine Lehre durchgemacht hatte, der Versuch, im württembergischen Staatsdienste als einer dieser „Schreiber“ sich eine berufliche Existenz zu schaffen, kaum von Erfolg begleitet sein. Eine kurze Zeit, während unter dem Minister Wangenheim die liberalen Ideen im württembergischen Staats- und Gemeindeleben zur Geltung kamen, fand auch List eine ihm zusagende Wirksamkeit, zuerst als Beamter im Ministerium, dann als Professor an der neugegründeten staatswirthschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen, aber mit dem Sieg von Wangenheims reaktionären Gegnern, Ende 1817, war auch seiner Stellung der innere und äußere Halt genommen.
Lists Lösung vom württembergischen Staatsdienst, die unter solchen Umständen kommen mußte, ward schließlich durch ein Vorkommniß herbeigeführt, welches in der Geschichte der wirthschaftlichen Entwickelung Deutschlands einen Markstein bildet. Seit Jahren schon regten sich in dem deutschen Handelsstand die Bestrebungen zur Besserung des wirthschaftlichen Nothstands in den deutschen Ländern. Insbesondere waren es die Binnenzölle, das heißt die Zölle, welche die einzelnen deutschen Staaten an ihren Grenzen gegen einander erhoben, gegen die sich die öffentliche Meinung immer entschiedener auflehnte. Es fehlte nur an einem Manne, der es verstand, diese getheilten, zersplitterten, zum Theil auch noch ganz unsicher tastenden Strebungen mit kräftiger Hand und klarem Geiste zusammenzufassen.
Im Frühjahr 1819 reiste nun List zu wissenschaftlichen Zwecken nach Göttingen. Unterwegs traf er in Frankfurt a. M. mit einer Anzahl von Kaufleuten und Fabrikanten zusammen, welche mit ihm die Noth der Zeit besprachen und ihn schließlich darum angingen, in ihrem Auftrag eine Bittschrift an die Bundesversammlung in Frankfurt zu richten, in welcher um „Aufhebung der Zölle und Mauthen im Innern Deutschlands und um Aufstellung eines allgemeinen deutschen, auf dem Prinzip der Retorsion (das heißt der Wiedervergeltung fremder Eingangszölle durch eigene) beruhenden Zollsystems gegen die angrenzenden Staaten“ ersucht wurde. Freudig ging List darauf ein, ja, er trieb seine Auftraggeber weiter, als sie ursprünglich selbst gewollt hatten, er veranlaßte sie, zur Wahrung ihrer Interessen und zur Verbreitung der in der Eingabe vertretenen Ideen einen Verein zu gründen, der unter dem Namen „Deutscher Handels- und Gewerbeverein“ längere Zeit eine beachtenswerthe Rolle spielte und zu dessen Konsulenten List sich ernennen ließ. Daran knüpfte die württembergische Regierung an, um den ihr unbequemen Beamten abzuschütteln. Sie forderte List zur Rechtfertigung darüber auf, wie er als Beamter ohne eingeholte Erlaubniß eine weitere Stellung habe annehmen können, und List antwortete mit einem Entlassungsgesuch. Es wurde am 21. Mai 1819 genehmigt, und damit war List losgeankert von dem festen Boden einer heimathlichen bürgerlichen Existenz, um fortan rastlos umherzuwandern, nirgends seßhaft, nirgends heimisch, sorgenvoll um sicheren Grund und Boden für seine Familie ringend, und doch selbst für Ruhe und Beharren nicht geschaffen.
Zunächst benutzte List seine Freiheit zu einer umfangreichen Agitation im Dienste des Handelsvereins. Da der deutsche Bundestag zu Frankfurt das eingereichte Bittgesuch und ebenso ein zweites ablehnte und die Bittsteller an die Einzelregierungen verwies, so bereiste List die Höfe von München, Stuttgart, Karlsruhe, Berlin und Wien, bearbeitete fünf Monate lang die in letztgenannter Stadt zum Kongresse versammelten Staatsmänner, war unermüdlich und in allen Formen schriftstellerisch thätig, beschäftigte sich nebenbei mit dem Plane einer deutschen Industrie- und Kunstausstellung, ohne freilich auf irgend einem Felde nennenswerthe Erfolge zu erzielen.
Hatte dieser letztere Umstand schon seine Beziehungen zu den rechnenden Kaufleuten des Handelsvereins gelockert, so wurden sie vollständig gelöst durch ein Ereigniß, welches wohl den dunkelsten Punkt in Lists an trüben Schicksalen wahrhaft überreichem Leben bildet. Von seiner Vaterstadt Reutlingen 1820 wiederholt in die württembergische Ständeversammlung gewählt – eine erste Wahl war wegen „unzureichenden Alters“ für ungültig erklärt worden – verfaßte der eifrige Abgeordnete im Einverständniß mit seinen Wählern eine Bittschrift, welche er an die Kammer einzureichen gedachte und in welcher er alle Schäden des württembergischen Regierungssystems mit rücksichtsloser Offenheit ans Licht zog und in vierzig Punkten seine reformatorischen Forderungen zusammenfaßte.
[522] „Wo man hinsieht, nichts als Räthe, Beamte, Kanzleien, Amtsgehilfen, Schreiber, Registraturen, Aktenkapseln, Amtsuniformen, Wohlleben und Luxus der Angestellten bis zum Diener herab,“ heißt es in der Schrift, „auf der andern Seite Unwerth der Früchte, Stockung der Gewerbe, Fallen der Güterpreise, Klagen über Geldmangel und Abgaben, Steuerpresser, Gantungen, bittere Beschwerden über unredliche Magistrate, gewaltthätige Beamte, geheime Berichte, Mangel an Unparteilichkeit der Obern, Jammer und Noth überall, nirgends Ehre, nirgends Einkommen, nirgends Fröhlichkeit, denn allein in dem Dienstrock.“
Eine solche Sprache war unerhört. „Verleumdung der bestehenden Staatsgewalt und dringenden Verdacht eines begangenen Staatsverbrechens“ fand das Stuttgarter Kriminalamt darin, vergebens protestirten gesinnungstüchtige Männer in der württembergischen Kammer, unter ihnen Uhland, gegen eine gerichtliche Verfolgung des Abgeordneten – genug, nach einer langen Kette der peinlichsten Quälereien – es kam sogar soweit, daß man List mit Stockprügeln drohte – fiel am 6. April 1822 nach fünfvierteljähriger Verhandlung das Urtheil, das List zu zehnmonatiger Festungsstrafe verdammte. Das ertrug er nicht; er verließ seine junge Frau, die Tochter des Tübinger Professors Seybold, mit welcher er sich erst vor wenigen Jahren, 1818, vermählt hatte, und floh aus dem Lande, erst nach Straßburg, dann nach Baden, nach London und Paris, endlich in die Schweiz, hier wie im Elsaß und in Baden verfolgt von dem Hasse der schwerbeleidigten württembergischen Bureaukratie. Endlich kehrte er, wahrscheinlich im Mai 1824, nach Württemberg zurück. Man hatte ihn glauben gemacht, ein Gnadengesuch an den König sichere ihm die beste Aufnahme – aber kaum hatte er die Grenzen des Landes überschritten, da wurde er verhaftet, auf den Asperg gesetzt und erst im Januar 1825 zur „Auswanderung“ begnadigt. List ging nach Amerika, dem Lande, auf welches schon Lafayette in Paris seinen Sinn gelenkt hatte.
Wir haben bei diesen Schicksalen des Mannes länger verweilt, weil ihre Betrachtung geeignet ist, die patriotischen Verdienste Lists in das gebührende Licht zu setzen. Die Verfolgungen seiner württembergischen Feinde hatten damit noch kein Ende; sie hintertrieben seine Verwendung als amerikanischer Konsul in Hamburg, sie untergruben seine Stellung als Generalkonsul in Leipzig – und trotz alledem blieb „der Hintergrund aller seiner Gedanken immer Deutschland“. Weder kleinliche Nörgelei noch peinlicher Druck, weder Undank noch Verleumdung hatten ihn der geliebten Heimath entfremden können.
In Amerika war es, wo seine nationalökonomischen Ideen und Kenntnisse sich vertieften und erweiterten. Hier vollzog sich seine innere Lossagung von dem herrschenden kosmopolitischen Freihandelssystem des berühmten schottischen Nationalökonomen A. Smith, um der Ueberzeugung von dem Werthe der nationalen Schutzzölle, insbesondere von ihrer Nothwendigkeit für Deutschland Platz zu machen. Hier geschah es, daß er von ungefähr auf einem Ausfluge reichhaltige Steinkohlenlager entdeckte und diese Entdeckung ihn – ein Beispiel, wie fruchtbar bei List ein zufälliges Ereigniß seines Lebens wirken konnte – auf Ideen über die möglichst gewinnreiche Verwerthung dieser Kohlen durch Belebung und Erweiterung der Verkehrsmittel führte, – und „mitten in den Wildnissen der blauen Berge träumte er von einem deutschen Eisenbahnsystem“.
Es war ihm klar, daß nur durch ein solches die Handelseinigung Deutschlands, die schon der Kernpunkt seiner ersten öffentlichen Aeußerung gewesen war, in volle Wirksamkeit treten könne. So liefen die Linien seiner Gedanken wieder zusammen in dem einen Punkt – Deutschlands wirthschaftliche Einigung und damit auch Hebung seiner inneren Kraft und seines Einflusses nach außen.
Wir haben schon darauf hingewiesen, daß eine Anstellung Lists als Konsul der Vereinigten Staaten in Hamburg sich zerschlug, und daß List dafür das Generalkonsulat zu Leipzig übertragen erhielt. Im Jahre 1833 ließ er sich in dieser Stadt nieder und eine zeitlang schien es wirklich, als ob sich ihm endlich auch einmal die Bahn des Erfolges, und zwar im nationalen Sinne aufgefaßt öffnen sollte. Lists Flugschrift „Ueber ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems, und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden“ hatte die Wirkung, daß diese Bahn thatsächlich gebaut wurde, freilich nicht ohne daß sich für List persönlich sofort wieder Verkürzungen und Zurücksetzungen angeschlossen hätten; man machte ihm jede Mitwirkung an der Ausführung und jede finanzielle Betheiligung unmöglich und speiste ihn schließlich mit einem „Ehrengeschenk“ von 2000 Thalern ab, eine Enttäuschung, die ihn um so schmerzlicher traf, als ihr eine kurze Periode scheinbar berechtigter Hoffnungen vorausgegangen war. Bald traten neue Sorgen hinzu. Seine Stellung in Leipzig gerieth – wie List annahm, auf württembergisches Betreiben – ins Wanken und gleichzeitig verlor er infolge einer Finanzkrisis in den Vereinigten Staaten einen Theil des Vermögens, das er sich durch seine Kohlenbergwerke dort erworben hatte.
Noch einmal versuchte es List mit Württemberg, und man empfing ihn auch dort bei Freund und Feind mit großer Aufmerksamkeit. Er war, wie er selbst scherzend es ausdrückte, „the great lion“, der Löwe des Tages, und ganz Stuttgart sprach ein paar Tage lang von nichts als von dem Konsul List. Aber als der so Gefeierte um seine bürgerliche Wiederherstellung nachsuchte, da erhielt er den Bescheid, er werde als Ausländer betrachtet, welchem der Aufenthalt im Königreich „auf Wohlverhalten“ gestattet sei.
So kehrte List abermals der Heimath den Rücken. Er wandte sich 1837 über Brüssel nach Paris, unterwegs überall neue Verbindungen anknüpfend, darunter auch mit König Leopold I. Am folgenreichsten war wohl sein Zusammentreffen mit Kolb aus Augsburg, dem Redakteur der „Allgemeinen Zeitung“, mit welchem zusammen List einst auf dem Asperg gesessen hatte und den er jetzt in Ostende wiedersah. Nicht bloß blieb Kolb dem Vielumhergetriebenen ein treuer und aufrichtiger Freund bis zum Tode – Lists letzter, verzweiflungsvoller Brief ist an ihn gerichtet – sondern List erhielt auch in der „Allgemeinen Zeitung“ ein großes mächtiges Organ zur Verbreitung seiner Ideen.
Der Aufenthalt in Paris, welcher bis 1840 währte, gewann für List Bedeutung dadurch, daß er sich während desselben ganz auf geschichtliche und nationalökonomische Studien zurückzog. Der Anlaß dazu war eine von der französischen Akademie gestellte Preisaufgabe, deren Thema etwa lautete: „Wenn eine Nation die Handelsfreiheit einführen oder ihre Zollgesetze abändern will, welche Thatsachen muß sie in Betracht ziehen, um in möglichst gerechter Weise den Vortheil der Produzenten und den der Masse der Konsumenten zu vereinigen?“ List bewältigte in wenig Wochen die Arbeit, erhielt zwar keinen Preis, sondern nur mit zwei andern Bewerbern zusammen anerkennende Erwähnung, aber ein Sammelpunkt für seine Studien war ihm doch geworden, und aus dieser Preisschrift ist später Lists Hauptwerk, das „Nationale System der politischen Oekonomie“ (7. Aufl. 1883, Stuttgart, Cotta) erwachsen.
Als der erste Band dieses Werkes erschien, 1841, befand sich List schon wieder auf deutschem Boden, zuerst in Weimar, dann in Augsburg sich niederlassend. Die außerordentliche Wirkung des Buches „bestärkte List in dem Glauben, daß die Zeit jetzt gekommen sei, eine konsequente Agitation für das Schutzsystem mit Erfolg zu versuchen. Es war nun eine Partei vorhanden, die den Werth des Nationalen Systems anerkannte und sich um das Buch wie um ein Programm vereinigte; Freunde und begeisterte Anhänger regten sich bald ebenso laut wie die Gegner und Verächter, und in diesem raschen, sichtbaren Erfolg, dieser Unruhe und Gährung unter Freund und Feind lag der schlagendste Beweis dafür, daß List eine der mächtigsten Regungen der Zeit berührt hatte.“
Von Neujahr 1843 ab erschien dann ebenfalls bei Cotta das „Zollvereinsblatt“, das fortan den Mittelpunkt von Lists schriftstellerischer und agitatorischer Thätigkeit bildete und das er in der ersten Zeit fast ganz allein schrieb. Da traten sie alle von neuem wieder auf den Plan, die Gedanken, die er da und dort in die Welt geworfen: einheitliches Kanalsystem für Deutschland, einheitliche Post, gemeinsames Maß- und Gewichtswesen, gemeinsame Handels- und Patentgesetze, nationale Organisation der Auswanderung, regelmäßiger Packet- und Dampfbootverkehr, nationale Gewerbe- und Kunstausstellungen etc. Vor allem aber verlangte er die Einsetzung einer parlamentarischen Regierung im Zollverein, ein Zollparlament. Und List durfte mit dem Erfolge zufrieden sein; denn „ohne offizielle Stellung, ohne Zusammenhang mit einer Regierung, war er der Mittelpunkt einer großen Partei geworden.“
[523] Noch einmal ergriff der unruhige Mann den Wanderstab. Wie bekannt, war der seit dem 1. Januar 1834 bestehende „Deutsche Zoll- und Handelsverein“ im wesentlichen unter preußischer Führung zustande gekommen, und List, der sich immer den Zollverein auf der Grundlage des deutschen Bundes, d. h. also mit Einschluß Oesterreichs gedacht und sich auch schwer mit dem selbständigen Vorgehen Preußens ausgesöhnt hatte, war in seinem Zollvereinsblatte unermüdlich für die Annäherung zwischen Oesterreich und dem preußisch-deutschen Zollvereine thätig. Zu diesem Zwecke wollte er – es war dies bei der ungemein praktischen Natur Lists selbstverständlich – Land und Leute im deutschen Osten, besonders aber in Ungarn genau kennen lernen. Sein „Nationales System“ hatte seinen Namen auch zu den führenden Männern Ungarns, den Apponyi, Mailath, Zichy, Kossuth etc., getragen und seine Aufnahme daselbst war eine außerordentlich schmeichelhafte; lange blieb er dort, so daß man in der Heimath bereits von einer festen Anstellung Lists im österreichischen Staatsdienste – mit entgegengesetzten Empfindungen bei Freund und Feind – zu reden anfing. Und als er zurückkehrte, da erhielt er auch in Deutschland vielfache und aufrichtige Beweise der Theilnahme und Anerkennung aus allen Theilen des Vaterlandes.
Aber alle diese Anerkennungen konnten ihn über die Unsicherheit seiner ganzen Lage nicht hinwegtäuschen. Noch kurz vor seiner österreichischen Reise hatte er gehofft, in Bayern eine dauernde Stellung zu finden – vergeblich! Sein einziger Sohn war ihm 1840 gestorben, sein Vermögen war aufgezehrt, seine Verdienste um Deutschlands Handels- und Verkehrswesen trugen ihm wohl manche Ehre, aber keinen oder nur nothdürftigen materiellen Gewinn ein. Und neben dem allem die endlosen Chikanen der Gegner, die selbst seinen ehrlichen Namen nicht schonten. Lange trug er diese Mühseligkeiten mit stolzer Ruhe, ja mit einem gewissen Frohmuth, der oft in seinen Briefen an seine Gattin, an den Freiherrn v. Cotta, an Kolb u. a. einen erquickenden köstlichen Ausdruck findet. Mit Beginn der vierziger Jahre ließ das nach; er erlahmte körperlich und geistig. Eine Verleumdung empörendster Art gab ihm den letzten, man kann sagen tödlichen Stoß: das Werk seines Lebens, der Grundgedanke seines „Nationalen Systems“, wurde in der „Frankfurter Oberpostamtszeitung“ in den letzten Wochen des Jahres 1845 als aus einem Lehrbuch des sonst wenig bedeutsamen Nationalökonomen Schmitthenner entnommen hingestellt, er selbst mithin mit dem Verdachte des Plagiats behaftet. Dazu kam, daß in derselben Zeit in England, bisher dem Musterland des Schutzzolls, eine Schwenkung zu Gunsten des Freihandels sich vollzog, ein Vorgang, der nicht verfehlen konnte, auf Deutschland eine tiefgreifende Rückwirkung auszuüben. List fühlte das Werk seines Lebens unter seinen Händen zusammenschwinden; vergebens erhob er seinen Warnungsruf, vergebens reiste er selbst nach England und wies auf die gänzlich verschieden gearteten Verhältnisse hin, die das britische Beispiel für Deutschland unannehmbar machten – mit gebrochenem Lebensmuthe kehrte er von dort zurück, die körperlichen und geistigen Qualen steigerten sich ins Unerträgliche – da suchte der Gemarterte im freiwilligen Tode die Ruhe, die ihm das Leben vorenthielt. Am 30. November 1846 fand man in der Nähe von Kufstein, wohin er, seiner Aufregung zu entrinnen, noch gereist war, vom frischgefallenen Schnee schonend zugedeckt, seine Leiche.
Das Werk, das List sich vorgesetzt hatte, steht heute vollendet da, nicht ganz in den Formen, auch nicht ganz auf der Stelle, wie er es geplant und ausgedacht hatte, aber das Wesentliche, die völlige nationalökonomische und politische Einheit der Deutschen, ist erreicht, die fruchtbringenden Gedanken im Verkehrswesen sind zur That geworden – und dem großen Patrioten selbst, dem seine Vaterstadt Reutlingen schon im Jahre 1863 ein würdiges Erzstandbild durch den Schüler Rietschels, Gustav Kietz, errichten ließ, windet die Nation an seinem hundertjährigen Geburtstage gern und willig den vollen grünen Lorbeer, den ihm die Mitwelt, für seines Geistes Flüge noch nicht reif, nur widerstrebend und verkümmert zollte. Dr. H. Ellermann.