Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Trinitatis 06
« Trinitatis 05 | Wilhelm Löhe Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe) Register der Sommer-Postille |
Trinitatis 07 » | |||
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
| |||||
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
Am sechsten Sonntage nach Trinitatis.
- 20. Denn ich sage euch: Es sei denn eure Gerechtigkeit beßer, denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. 21. Ihr habt gehöret, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht tödten; wer aber tödtet, der soll des Gerichtes schuldig sein, 22. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha, der ist des Raths schuldig; wer aber sagt: Du Narr, der ist des höllischen Feuers schuldig. 23. Darum wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, und wirst allda eindenken, daß dein Bruder etwas wider dich habe; 24. So laß allda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfere deine Gabe, 25. Sei willfertig deinem Widersacher bald, dieweil du noch bei ihm auf dem Wege bist, auf daß dich der Widersacher nicht dermaleinst überantworte dem Richter, und der Richter überantworte dich dem Diener, und werdest in den Kerker geworfen. 26. Ich sage dir, wahrlich, du wirst nicht von dannen herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlest.
DAs heutige Evangelium handelt nicht von der Gerechtigkeit des Glaubens, sondern von der wahren Lebensgerechtigkeit. Um es zu verstehen, wollen wir uns vornherein mit wenig Worten deutlich machen,| was diese Gerechtigkeit sei. Wir können kurzweg sagen: Gerechtigkeit ist der Zustand, in welchem der Mensch in seinem Thun und Laßen Gott recht und wohlgefällig ist. Wer also Gott gefällt, hat erreicht, was er soll, denn es ist kein Wohlgefallen über Gottes Wohlgefallen. Wer Gott gefällt, darf aller Creaturen Tadel wagen, denn Gott ist heilig und dem heiligen Gotte gefällt nichts Unheiliges; wer Ihm gefällt, ist heilig. Heiligkeit und die echte Gerechtigkeit des Lebens fallen deshalb zusammen. Die Gerechtigkeit des Glaubens, wie sie St. Paulus vor allen andern Aposteln klar und deutlich lehrt, ist mit der Gerechtigkeit des Lebens, welche aus ihr folgt, durchaus nicht zu verwechseln, so wenig als Ursache und Wirkung, Mutter und Tochter. Dennoch verleugnet auch sie nicht diesen innigen Zusammenhang der Gerechtigkeit und Heiligkeit. Denn warum ist der heilige und gerechte Gott geneigt, den gläubigen Sündern um des heiligen Christus willen, an Den er glaubt, zu rechtfertigen und wie einen Gerechten aufzunehmen, als weil der Sünder, indem er zu Christo flieht, in sich das Böse und sich selbst als böse verdammt, in Christo aber einen strahlenden Gerechten anerkennt, aus Deßen vollkommener Gerechtigkeit und Heiligkeit für die ganze sündige Welt Ueberfluß an Gerechtigkeit und Heiligkeit kommen kann? Würde Gott um eines ungerechten Christus willen Sünde vergeben und rechtfertigen? Würde ein Sünder glauben können, Vergebung und Rechtfertigung um eines Heilandes willen zu erlangen, der selbst nicht gerecht und heilig wäre? Wird nicht auch bei der Rechtfertigung die Ungerechtigkeit von der Gerechtigkeit verschlungen, die Gerechtigkeit und Heiligkeit erhöht, Eines Gerechtigkeit und Heiligkeit über die Sünde und Ungerechtigkeit der ganzen Welt erhoben? Ist also nicht durch Vergebung aller Sünden um Eines Gerechten willen die Gerechtigkeit und Heiligkeit selbst in einer Weise zu Ehren gekommen, wie es der Teufel bei Einführung der Sünde gar nicht für möglich gehalten hätte? Gar nicht zu gedenken, wie unausbleiblich die Gerechtigkeit des Glaubens ihrer Natur nach zur Lebensgerechtigkeit und Heiligung überleiten muß. Ist es doch unmöglich, daß sich der Mensch an Christum im Glauben hänge, ohne Ihm mehr und mehr ähnlich zu werden! Ist doch das gläubige Hangen des armen Sünders an Christo an und für sich selbst ein Anfang tiefinnerer Aenderung und die Bürgschaft der Heiligung und des Endes derselben, der Heiligkeit selbst! Laßen wir deshalb getrost den Satz stehen: Lebensgerechtigkeit ist nichts anderes, als der Zustand, in welchem der Mensch dem heiligen Gotte in seinem Thun und Laßen gefällt, der Zustand der Heiligung, der beginnenden und sich immer mehr vollendenden Heiligkeit. − Nachdem wir im Allgemeinen dieß in unser Gedächtnis gerufen haben, gehen wir in unsern Text ein, der von der wahren Gerechtigkeit die falsche scheidet, von der Gerechtigkeit, die Christus lehrt und Gott gefällig ist, die pharisäische Gerechtigkeit, welche nur ein Schatten von jener ist und von dem HErrn nichts anderes als ein Verdammungsurtheil davon tragen kann.
Je nachdem einer einen Begriff von dem hat, was nöthig sei, Gotte zu gefallen, je nachdem wird die Gerechtigkeit, welche er preist und der er nachstrebt, beßerer oder geringerer Art sein. Das wird jedermann zugeben, der zugibt, was wir vorausgesagt haben. Eben so wahr ist der Satz: je nachdem einer das Gesetz versteht, auslegt und auf sich anwendet, je nachdem ist seine Gerechtigkeit beschaffen. Denn das Gesetz ist nichts anderes als eine Offenbarung des göttlichen Wohlgefallens; und wie der Mensch die Offenbarung Gottes von dem, was wohlgefällig sei, versteht, auslegt und auf sich anwendet, so zeichnet er sich und andern die Bahn der Gerechtigkeit vor. Auf der Verschiedenheit der Gesetzesauslegung beruht deshalb die ganze Verschiedenheit, welche zwischen der Gerechtigkeit der Pharisäer und Christi ist.
Die Pharisäer glaubten die strengste, dem geschriebenen Worte des alten Testamentes getreuste Secte im Judentum zu sein, und gegenüber den übrigen Secten, welche sich zur Zeit Christi breit und bemerklich machten, mochten sie es auch sein. Sie waren stolz auf ihre Schriftmäßigkeit in den Glaubenslehren und in den Lebensregeln. Nichts desto weniger machten sie es sich, was die letzteren anlangt, ziemlich leicht. Ihre Auslegung der zehn Gebote Gottes war eine pur äußerliche und buchstäbliche, die es gar nicht genau mit der Erforschung des tief- und weitgreifenden Sinnes der göttlichen Worte nahm. Da sie das erste Gebot nur auf den förmlichen Götzendienst, auf die öffentliche Anbetung von Creaturen und Bildern deuteten, so konnten sie ihm leicht genügen. Da sie das Wesen des zweiten Gebotes nur| in einem Verbote des Misbrauchs sahen, welcher mit dem Namen Jehovah gemacht werden konnte, so durften sie, um dies Gebot zu halten, nur den Namen aller Namen gar nicht gebrauchen, und die Sünde wider das zweite Gebot war nicht bloß ausgerottet, sondern fast unmöglich gemacht. Da sie alle Gebote auf eine so äußerliche Weise auslegten, so bekamen sie einen geringen Begriff von dem Wohlgefallen Gottes und der Gerechtigkeit. Sie machten das Maß klein, mit welchem Gott meßen sollte, und so hatten sies leicht demselben gerecht zu werden. Sie brachten es allenfalls zu einem Grade von äußerer Ehrbarkeit, bei welcher aber das Herz ungeändert und selbst in einem heftigen Gegensatze gegen alles Gute sein konnte. Ja je nachdem einer sich beherrschen und seinen äußeren Wandel selbstsüchtigen Zwecken zuliebe dem Gesetze unterthänig machen konnte, mochte auch jene ganze äußere Ehrbarkeit, welche den Pharisäern für Gerechtigkeit galt, ein pures Truggewebe und eitel Heuchelei werden. Im besten Falle war die pharisäische Gerechtigkeit ein armer Selbstbetrug, fern vom Ziele göttlichen Wohlgefallens, da sie eine bloße Decke über das verderbte, unreine Herz, nichts weniger als heilig und Gott gerecht war. Im andern Falle, wenn sie ein heuchlerisches Truggewebe war, unter welchem man unbemerkt bewußter Weise Böses that, war sie um nichts beßer, sondern viel schlimmer noch, als die eingebildete, blinde Selbstgefälligkeit und Gerechtigkeit des lasterhaften Gutgenug, der in allen seinen Freveln dennoch Gott zu gefallen wähnt.Ganz anders ist es mit der beßeren Gerechtigkeit, welche Christus lehrt. Gleichwie die pharisäische Gerechtigkeit auf einer bloß äußerlichen, buchstäblichen Schriftauslegung beruht; so ist die Gerechtigkeit, die Christus lehrt, die Frucht jener nicht minder wortgetreuen, aber die tiefste Bedeutung der Worte erfaßenden Schriftauslegung, die in Niemandes Macht so stand, wie in der Macht des Sohnes vom Vater, der mit dem Vater eins war und am besten sagen konnte, was dem Vater wohlgefiel. Gleichwie die pharisäische Schriftauslegung, weil sie nur eine äußerliche war, auch nur das Aeußere des Menschen zu regeln oder zu ändern vermochte; so vermochte im Gegentheil die Schriftauslegung Christi, weil sie des Wortes vollen, tiefen, reichen Sinn erfaßte, auch den ganzen Menschen, sein Inneres und Aeußeres, zu ergreifen, zu ändern, schriftmäßig und Gott wohlgefällig zu machen, wenn sie nemlich durch Kraft des heiligen Geistes und Glaubens in einer Seele Macht gewann. Von dieser Schriftauslegung Christi, so wie von der Gerechtigkeit, welche Christus lehrt, gibt uns die ganze Bergpredigt, gibt uns auch dasjenige Stück derselben, welches heute unsern Text ausmacht, Proben genug. Es ist eine vollkommene Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit Christi, wer kann sie genug rühmen, wer hungert und dürstet nicht nach ihr? Sie schlägt im Innern den Thron auf und läutert den Abgrund des Herzens, darum bietet und vertreibt sie auch z. B. in unserm Evangelium allen Zorn. Sie bemächtigt sich aber auch von innen heraus des Aeußern, darum verbannt sie aus dem Munde das zürnende, scheltende, grimmige, verachtende Wort, − darum verwehrt sie der Hand, das Böse zu vollbringen. Sie macht einen Unterschied zwischen innerer und äußerer Sünde, setzt nicht alle Sünden einander gleich, weil sie alle gleichweit von Gott abstehen, sondern erkennt für größer die Sünde, welche den Menschen mehr und völliger beherrscht, für kleiner diejenige, welche erst begonnen hat, ihn zu faßen. Der Haß im Innern ist weniger verdammlich, als wenn er sich in Scheltworten ergießt; und wenn er sich in zürnendem Schelten ergießt, welches die Ehre abschneidet, ist es weniger verdammlich, als wenn er von solchen Worten übersprudelt, die dem Nächsten das Vorrecht aller Menschen, Verstand und Vernunft absprechen. So unterscheidet die Gerechtigkeit, die JEsus lehrt, zwischen Sünde und Sünde je nach dem Grade der Verschuldung, − ist eben damit sehr gerecht und doch dabei so gelind und milde, als es nur immer möglich ist. Dennoch ist sie strenger als alles pharisäische Urtheil; denn was der Pharisäer der äußern That als Strafe zutheilt, das erkennt sie schon den innern Anfängen der Sünde zu. Weil sie näher bei Gott ist, ist ihr Licht heller und weißer und die Sünde in ihrem Lichte dunkler und schwärzer, − und wie sie selbst vollkommener ist, so ist ihre Anforderung und ihr Urtheil heiliger, vollkommener und strenger.
Mit alle dem haben wir nun allerdings auf die besonderen Beispiele von Gerechtigkeit, welche sich in unserm Texte finden, noch wenig Rücksicht genommen. Wir dürfen es aber wohl, auch wenn wir uns ganz nur mit Betrachtungen der Gerechtigkeit im Allgemeinen| befaßen. Denn es ist keineswegs gleichgiltig oder zufällig, daß gerade diese Beispiele von dem HErrn unmittelbar nach dem Ruhme der beßeren Gerechtigkeit gebraucht werden, daß Er mit ihnen Seine längere Belehrung von den besondern Erweisungen der Gerechtigkeit beginnt. Es könnten nicht eben so wohl andere Beispiele den ersten Platz in der Reihe Seiner heiligen Befehle einnehmen. Die Lehre von der Gerechtigkeit Christi des HErrn, von der wahren Lebensgerechtigkeit wird von keinem gefaßt, als von dem, welcher, durch Buße erweicht, durch Christi Versöhnung und Vergebung gedemüthigt und befriedigt, in eine Fortpflanzung und Erweisung der gründlich guten Mildigkeit, welche Er erfuhr, die Krone des äußern Lebens und Wandels setzt, Versöhnlichkeit, Milde, Duldsamkeit und Sanftmuth zu Seiner Lebensaufgabe, Verzeihen zu Seinem Beruf in allen Beleidigungen macht. Das findet sich, daß ein Mensch zuweilen ein Mal geben, zuweilen ein Mal vergeben will; auch den Weltmenschen wandelt zuweilen eine Lust an, Gutes zu thun; aber diese Lust verraucht schnell, die alte Natur behauptet sich, läßt sich das Zepter nicht entwenden. Von diesen guten Einfällen, Launen und Anfällen des Menschen, in denen sich eine Ahnung deßen offenbart, was er sein soll, ist hier keine Rede. Wir reden von dem dauernden, stehenden, herrschenden, immer gewaltiger sich erweisenden Entschluß heiliger Mildigkeit und Versöhnlichkeit, und in ihm erkennen wir den Anfang der wahren Gerechtigkeit, die Christus lehrt, und behaupten kühnlich, daß der von allen auf unsern Text folgenden Erweisungen wahrer Gerechtigkeit keine wird aufzeigen können, der nicht vor allem aus der Verzeihung, die er erfuhr, Verzeihung für seine Brüder lernt und aus Gottes Milde, die ihm selbst offenbart wird, Mildigkeit für seinen Nächsten. Christus ist ein Versöhner; Seine Religion ist Versöhnung; der Anfang und der Grundton aller Seiner Siege in Seinen Heiligen, Anfang und Grundton aller Gerechtigkeit, die Er schenkt, ist mildes Verzeihen, verzeihende Mildigkeit. Wenn wir dabei erröthen, wenn uns diese Worte traurig machen: wahr sind und bleiben sie doch − und unsre Schaam und Traurigkeit sei gesegnet, wenn sie sich irgend findet, denn sie ist nichts anderes als Dämmerung und Morgenroth der Gerechtigkeit, die wir nicht haben, nach der wir aber begehren.Nachdem wir nun den Unterschied der pharisäischen und wahren Gerechtigkeit kennen gelernt haben, wollen wir ins Auge faßen, was unser Text von der Strafe jener und vom Segen dieser sagt. Die pharisäische Gerechtigkeit ist viel zu äußerlich und oberflächlich, als daß es einem, der sie sucht, lobt und hält, wohl bei ihr sein könnte. Es kann kein Mensch so ganz und gar alle tieferen Regungen in sich ersticken, daß nicht, selbst bei dem größten Leichtsinn und bei aller Seichtigkeit, zuweilen aus dem Abgrund der Seele ein Seufzer hervorbrechen sollte, der nach vollkommener Befriedigung ringt. Sei einer ein Gleißner oder Heuchler, ziehe er die Decke einer bloß äußerlichen Gerechtigkeit über sich in der aufrichtigen Meinung, daß sie vor Gottes Augen wirklich decken und das Herz erwärmen könne, oder in der bewußten Absicht, andere zu täuschen: es schläft und ruht sich nicht gut unter dieser Decke: die Seele läßt sich so nicht stillen und Gottes Auge fällt dabei zu beunruhigend in das Gewißen. Bei der pharisäischen Gerechtigkeit ist immer ein geheimes Hin- und Herwogen, eine Unruhe, die sich selbst nicht versteht, nicht verstehen will, aus Furcht, zu erkennen, daß es nichts mit ihr sei. Dieses unbefriedigte, unruhige Wesen hat ein Streben nach Anerkennung und ein außerordentlich scharfes Auge für jede, auch nur leise Verweigerung derselben. Man wird im Innersten aufgereizt, wenn man sich nicht erkannt, miskannt, verachtet wähnt; man ist untröstlich und die ganze Lebensaufgabe scheint verfehlt, wenn einmal sich wirklich unverkennbar herausstellt, daß man nicht so hoch gehalten wird, als man es gerne sähe, um den Schrei des eigenen unbefriedigten Herzens übertäuben zu können. Und aus diesem immerwährenden Wogen der Leidenschaft und des gereizten Wesens hilft auch keine Zeit: je länger man lebt, desto weniger kann man glücklich sein: man wird je länger je mehr ein sehr unglücklicher Pharisäer, voll Ansprüche an andere, voll Mistrauen, voll Scheu, und doch voll zurückgezogenen, eigensinnigen Stolzes. Da braucht es gar keine Beleidigungen, um unversöhnlich zu zürnen; man zürnt den Freunden, welche die Wahrheit sagen und die Schritte zum Frieden lenken wollen, man zürnt ohne Ursach, man wird unerträglich in Launen − und das alles im Grunde nur darum, weil man gerne recht vortrefflich wäre und es immer nicht dahin bringen kann, vor sich und andern es zu sein. Da| kann dann auch gar keine Rede davon sein, heilige Mildigkeit zur Lebensaufgabe zu machen: man hat Gottes Mildigkeit nicht erfahren, also auch nicht aus dem Brunnen getrunken, der mild und versöhnlich macht. Solche Menschen lieben die, von denen sie glauben geliebt zu werden; alles ist persönlich und nur in Beziehung auf die eigene Person wird die ganze Welt genommen. Glaubst du, daß Menschen dieser Art ohne Beleidigung bleiben? Sie bilden sich tausend Mal ein verletzt zu werden; aber sie werden es auch wirklich, sie fordern ihre Nebenmenschen dazu heraus, es kann niemand mit so stolzen Heiligen in Verbindung bleiben und im Frieden. Drum haben sie immer Ursache zu zürnen, zu grollen, zu schelten − und ihr „Racha“ und „du Narr“ quillt unermüdlich aus ihrem Munde. Ist das Glück? Das Glück kann jeder entbehren, und es ist keinem zu gönnen! Es ist das Glück des Pharisäers, der seine äußerliche Gerechtigkeit aufzurichten trachtet − und seine Zeit, sein Leben an die Behauptung wagt, daß sie hinreiche, Gottes und der Menschen Wohlgefallen zu erringen. Es ist ein Glück, bei deßen Betrachtung man sich wünscht den Trost zu haben, daß es sich nur selten finden möchte. Es ist aber nicht selten, und wir haben es nicht zu sehr ins Schwarze gemalt. Seine Qual ist viel reicher und manchfaltiger und wer Augen hat, zu sehen, kann es auf allen Gaßen finden. Warlich, dies Glück ist eine schwere Strafe und zugleich ein überaus sündiges Uebel, von dem billig geschrieben steht, daß es nicht ins Himmelreich komme, sondern in den ewigen Kerker geworfen werde, aus dem keine Erlösung ist.
Ob ich bei diesem Evangelium den Sinn meines HErrn getroffen habe, indem ich von der Lebensgerechtigkeit der Christen im Allgemeinen sprach, die einzelnen Beispiele mehr zur Seite ließ? − Ich glaubte es wenigstens hoffen zu dürfen, als ich mir vornahm, so und nicht anders zu reden. Aber ich will euch doch gestehen, das ich von dem Einzelnen, was dieser Text enthält, mir eines aufgehoben habe, das ich euch noch sagen muß, das ich weder verschweigen will, noch kann. Es ist das Wort vom Vergeben. Ich habe erst vor ein paar Wochen Gelegenheit gehabt, es auszusprechen, und ich achte es für recht und gut, es hier zu wiederholen: nicht jede Vergebung ist recht und zu loben. Ein Christ vergibt denen, welchen Gott vergibt, und weiß, daß seine Vergebung, wenn sie nicht mit Gottes Vergebung zusammentrifft, nutzlos, und wofern sie derjenige schätzt, dem sie gesprochen wird, sogar verführerisch sein kann. Wir wißen alle, daß nur Gottes Vergebung die Schuld des Sünders aufhebt, unsre Vergebung aber weiter nichts ist, als ein Zeugnis, daß wir nicht zürnen, nicht von Leidenschaft beherrscht sind. So gewis und wahr aber auch das ist, so gering der Werth unsrer Vergebung in Fällen für unsre Brüder sein mag: um unser selbst willen, um des brüderlichen, segensreichen Friedens willen und zur Vermeidung der grauenhaften Folgen des Gegentheils ist es nöthig, daß wir uns Versöhnlichkeit hoch stellen, einander zum Vergeben hoch und ernst vermahnen, einander mit heiligem Beispiel darin vorangehen, und daß sich keiner die Unversöhnlichkeit vergebe, sondern vielmehr der Anfechtung und Versuchung dazu sich mit all der Macht entschlage und entwinde, die ein Christenmensch aus der Fülle Christi für alle seine guten Werke bekommt. Es ist eine gewisse und unumstößliche Wahrheit, daß die Pflicht zu vergeben, wo sie erfüllt ist, den Bergen Hermon gleicht, von denen Segen auf die Berge Zion herniederthaut, und daß gar nichts Gutes gedeiht, wo sie nicht tagtäglich in ihrer Heiligkeit anerkannt und mit allem treuen Gehorsam geehrt wird. Ich kann mir die Mühe ersparen, auf all das Unglück hinzuweisen, das aus einem unversöhnlichen Herzen kommt, zumal ich Einschlägiges schon gesprochen habe. Es ist eine anerkannte Sache, daß es Gottlose sind, die keinen Frieden haben, − daß es schön, lieblich und gesegnet ist, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen. Sind wir aber darin einig, meine Brüder, so sei uns auch der Spruch wichtig: „Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eindenken, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und geh zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfere deine Gabe.“ Der Spruch treibe einen jeden, der bis jetzt gezögert hat, zu eilender Friedfertigkeit! Hast du deinen Nächsten beleidigt, so leite eilends die Versöhnung ein; hast du ihn nicht beleidigt, du weißt aber, daß er etwas wider dich habe, so laß dir die Freude doch nicht nehmen, der erste im Gehorsam gegen Christi Friedensgebot zu sein. Eile, eile und sei willfertig deinem Widersacher bald. Sei es allezeit, sei es insonderheit, wenn du zum Opfer gehst.
Auch du gehst ja zum Opfer? Gehst du denn allein ins Haus des HErrn, um zu hören? Singst du nicht, betest du nicht, dankst du nicht mit der Gemeine, lobst du nicht den HErrn? Und bringst du Ihm nicht auch dein Almosen dar? Legst du nicht auch auf den Altar, in die aufgestellten Schüßeln der Barmherzigkeit zu Gottes Ehren, zum Nutz und Frommen des Nächsten deine zeitlichen Gaben nieder? Versöhnopfer sind es nicht, denn Christus hat mit Einem Opfer in Ewigkeit alle vollendet, die geheiligt werden. Aber Opfer sind es doch eben so gut, als ein Farr, der Hörner und Klauen hat. Die Apostel nennen sie auch so − und es ist drum keine Gleichnisrede, es ist völlige, nüchterne Wahrheit, daß wir dem HErrn in diesem Hause zwar unblutige, aber die wahrhaftigen, geistlichen Opfer des neuen Testamentes darbringen. So gewis nun und wahr das ist, so gewis erleidet der Spruch, den wir aus dem Texte anführten: „Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst“ seine wirkliche Anwendung auf dich: du sollst nicht zum gemeinschaftlichen Opfer der Gemeinde, nicht zu Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung ins Haus des HErrn kommen, bevor du dich versöhnt hast! Du sollst deinen Groschen nicht in die aufgestellte Schüßel, deine Gabe nicht auf den Altar legen, bevor du dein Herz und deine Hand von Zorn und Feindschaft gereinigt hast! Es mag dir neu sein, daß ich den Spruch so wirklich auf dich anwende; aber ich fordere dich auf zu prüfen, ob es nicht| wirklich apostolische Lehre ist, daß wir mit unseren Gebeten und Lobsängen und Almosen Gott opfern. Achte nur beim Lesen der apostolischen Briefe darauf, du wirst es finden, wirst mir aber dann auch recht geben, daß der angeführte Textesspruch für dich und alle Christen hoch verbindlich sei. Schon an deinem Hausaltar solltest du ohne ein versöhntes Herz nicht opfern; geschweige am Versammlungsort der Gemeine, wo alle zu denselben Opfern sich vereinigen. Es sollte dich jedes Vaterunser, jedes Gebet der fünften Bitte zur Versöhnung treiben. Gar nichts zu sagen von dem heiligen Mahle, wo wir nicht allein opfern, sondern wo wir zu einem Opfermahle des Lammes Gottes vereint sind, wo wir Opfergaben empfangen und eßen und trinken, wo wir das Fleisch und Blut, das am Kreuze aufgeopfert und im Himmel dargebracht, durch welches aller Welt Friede bereitet und der Gesang der Engel über der Krippe: „Friede auf Erden“ erfüllt ist, zur Besiegelung der göttlichen Vergebung und des himmlischen Friedens dahinnehmen. Ach, meine Freunde, wir können nicht beten: „Vergib uns unsre Schuld“ ohne hinzuzusetzen: „wie wir vergeben unsern Schuldigern“; − und wir wagens, zu zürnen, und doch die fünfte Bitte zu beten? Wir hören aus JEsu Munde: „So ihr euern Brüdern nicht vergebet ihre Fehle, wird euch Mein himmlischer Vater auch nicht vergeben“: und wir können die Absolution und Vergebung unsrer Sünden fordern, ohne daß wir uns zur Versöhnung mit unsern Freunden und Nachbarn getrieben fühlen? Das Abendmahl ist ein Mahl der göttlichen Versöhnung, was wir da eßen und trinken, sind Friedensopfergaben, Leib und Blut des Friedefürsten, der sich selbst geopfert hat am Holze, auf daß wir alles Zornes ledig würden: und wir können kommen, ohne unsern Groll und Grimm und Zorn wegzuwerfen, ohne Gott und Menschen abzubitten? Es ist unbegreiflich, es ist schauderhaft, wie viel der Mensch, der Staub, der Sünder gegen Gott wagt, wie er seine Seele und Seligkeit aufs Spiel setzt, wie er ohne Furcht und Glauben an den Opfern der Gemeine und am Sacramente Theil nimmt! Glaubte er wirklich, daß Gott sei, er würde so nicht freveln. Fürchtete er Gott, er würde Seinen Zorn nicht wagen!Ach, es werde doch einmal anders unter uns! Auf was harren wir noch? Es will Abend werden und der Tag neigt sich. Das Leben verraucht. Jeder Tag führt näher zum Richterthrone. Noch bist du mit deinem Widersacher auf dem Wege. Wenn er vor dir stürbe und dich bei Gott verklagte, Unversöhnlicher! Wenn du vor ihm hingerißen würdest und Gottes Gerechtigkeit dich selbst anklagte? Es ist nicht Zeit zu zaudern. Hörst du nicht, wie JEsus dich drängt: „Sei willfertig deinem Widersacher bald!“? Würde er drängen, wenn es Zeit hätte? Eile und errette deine Seele, ehe dich der Widersacher dem Richter, der Richter dem Diener übergibt und du in den Kerker geworfen wirst, aus dem du nicht entrinnen wirst, weil du nicht den ersten, geschweige den letzten Heller deiner Sündenschuld abtragen kannst in Ewigkeit!
Meine Freunde! Ich erachte mich nicht für einen Redner, sondern für einen Prediger. Ich rede was mir befohlen ist und habe es nicht auf eure bloße Unterhaltung abgesehen. Es ist mein Amt, daß ich rede. Ihr habt das heutige Evangelium vernommen; es ist klar und deutlich. Ihr habt vernommen: was ich armer Mensch zu dem Worte hinzugesetzt habe, um euch Ohr und Herz für die göttliche Gewalt der Stimme JEsu zu öffnen. Ich warne euch vor Leichtsinn, ehe ich von der Kanzel gehe: es ist mit dem heutigen Evangelium nicht Spiel noch Spaß zu treiben; es ist hoher Ernst. So ihr Solches wißet, selig seid ihr, so ihrs thut. Ja, selig seid ihr in eurer That, wenn ihr mit dem Entschluße von hinnen geht, Frieden zu stiften. Gesegnet seien die Füße, welche den Pfad des Friedens betreten! Gesegnet die Hände, welche die Hände der Feinde ergreifen, um Hand in Hand mit heiliger Treue zu fügen! Gesegnet, dreimal gesegnet seien, die Frieden schließen, allen Zorn abschließen und ihm niemals wieder Pforte und Eingang öffnen! Amen.
« Trinitatis 05 | Wilhelm Löhe Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe) |
Trinitatis 07 » | |||
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|