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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

befaßen. Denn es ist keineswegs gleichgiltig oder zufällig, daß gerade diese Beispiele von dem HErrn unmittelbar nach dem Ruhme der beßeren Gerechtigkeit gebraucht werden, daß Er mit ihnen Seine längere Belehrung von den besondern Erweisungen der Gerechtigkeit beginnt. Es könnten nicht eben so wohl andere Beispiele den ersten Platz in der Reihe Seiner heiligen Befehle einnehmen. Die Lehre von der Gerechtigkeit Christi des HErrn, von der wahren Lebensgerechtigkeit wird von keinem gefaßt, als von dem, welcher, durch Buße erweicht, durch Christi Versöhnung und Vergebung gedemüthigt und befriedigt, in eine Fortpflanzung und Erweisung der gründlich guten Mildigkeit, welche Er erfuhr, die Krone des äußern Lebens und Wandels setzt, Versöhnlichkeit, Milde, Duldsamkeit und Sanftmuth zu Seiner Lebensaufgabe, Verzeihen zu Seinem Beruf in allen Beleidigungen macht. Das findet sich, daß ein Mensch zuweilen ein Mal geben, zuweilen ein Mal vergeben will; auch den Weltmenschen wandelt zuweilen eine Lust an, Gutes zu thun; aber diese Lust verraucht schnell, die alte Natur behauptet sich, läßt sich das Zepter nicht entwenden. Von diesen guten Einfällen, Launen und Anfällen des Menschen, in denen sich eine Ahnung deßen offenbart, was er sein soll, ist hier keine Rede. Wir reden von dem dauernden, stehenden, herrschenden, immer gewaltiger sich erweisenden Entschluß heiliger Mildigkeit und Versöhnlichkeit, und in ihm erkennen wir den Anfang der wahren Gerechtigkeit, die Christus lehrt, und behaupten kühnlich, daß der von allen auf unsern Text folgenden Erweisungen wahrer Gerechtigkeit keine wird aufzeigen können, der nicht vor allem aus der Verzeihung, die er erfuhr, Verzeihung für seine Brüder lernt und aus Gottes Milde, die ihm selbst offenbart wird, Mildigkeit für seinen Nächsten. Christus ist ein Versöhner; Seine Religion ist Versöhnung; der Anfang und der Grundton aller Seiner Siege in Seinen Heiligen, Anfang und Grundton aller Gerechtigkeit, die Er schenkt, ist mildes Verzeihen, verzeihende Mildigkeit. Wenn wir dabei erröthen, wenn uns diese Worte traurig machen: wahr sind und bleiben sie doch − und unsre Schaam und Traurigkeit sei gesegnet, wenn sie sich irgend findet, denn sie ist nichts anderes als Dämmerung und Morgenroth der Gerechtigkeit, die wir nicht haben, nach der wir aber begehren.


 Nachdem wir nun den Unterschied der pharisäischen und wahren Gerechtigkeit kennen gelernt haben, wollen wir ins Auge faßen, was unser Text von der Strafe jener und vom Segen dieser sagt. Die pharisäische Gerechtigkeit ist viel zu äußerlich und oberflächlich, als daß es einem, der sie sucht, lobt und hält, wohl bei ihr sein könnte. Es kann kein Mensch so ganz und gar alle tieferen Regungen in sich ersticken, daß nicht, selbst bei dem größten Leichtsinn und bei aller Seichtigkeit, zuweilen aus dem Abgrund der Seele ein Seufzer hervorbrechen sollte, der nach vollkommener Befriedigung ringt. Sei einer ein Gleißner oder Heuchler, ziehe er die Decke einer bloß äußerlichen Gerechtigkeit über sich in der aufrichtigen Meinung, daß sie vor Gottes Augen wirklich decken und das Herz erwärmen könne, oder in der bewußten Absicht, andere zu täuschen: es schläft und ruht sich nicht gut unter dieser Decke: die Seele läßt sich so nicht stillen und Gottes Auge fällt dabei zu beunruhigend in das Gewißen. Bei der pharisäischen Gerechtigkeit ist immer ein geheimes Hin- und Herwogen, eine Unruhe, die sich selbst nicht versteht, nicht verstehen will, aus Furcht, zu erkennen, daß es nichts mit ihr sei. Dieses unbefriedigte, unruhige Wesen hat ein Streben nach Anerkennung und ein außerordentlich scharfes Auge für jede, auch nur leise Verweigerung derselben. Man wird im Innersten aufgereizt, wenn man sich nicht erkannt, miskannt, verachtet wähnt; man ist untröstlich und die ganze Lebensaufgabe scheint verfehlt, wenn einmal sich wirklich unverkennbar herausstellt, daß man nicht so hoch gehalten wird, als man es gerne sähe, um den Schrei des eigenen unbefriedigten Herzens übertäuben zu können. Und aus diesem immerwährenden Wogen der Leidenschaft und des gereizten Wesens hilft auch keine Zeit: je länger man lebt, desto weniger kann man glücklich sein: man wird je länger je mehr ein sehr unglücklicher Pharisäer, voll Ansprüche an andere, voll Mistrauen, voll Scheu, und doch voll zurückgezogenen, eigensinnigen Stolzes. Da braucht es gar keine Beleidigungen, um unversöhnlich zu zürnen; man zürnt den Freunden, welche die Wahrheit sagen und die Schritte zum Frieden lenken wollen, man zürnt ohne Ursach, man wird unerträglich in Launen − und das alles im Grunde nur darum, weil man gerne recht vortrefflich wäre und es immer nicht dahin bringen kann, vor sich und andern es zu sein. Da

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 042. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/381&oldid=- (Version vom 5.7.2016)