Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Misericordias Domini

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Am Sonntage Misericordias Domini.

Evang. Joh. 10, 12–16.
12. Ich bin ein guter Hirte. Ein guter Hirte läßt sein Leben für die Schafe. Ein Miethling aber, der nicht Hirte ist, des die Schafe nicht eigen sind, sieht den Wolf kommen und verläßt die Schafe und fleucht; und der Wolf erhascht und zerstreut die Schafe. 13. Der Miethling aber fleucht, denn er ist ein Miethling und achtet der Schafe nicht. 14. Ich bin ein guter Hirte und erkenne die Meinen und bin bekannt den| Meinen; 15. Wie Mich Mein Vater kennt und Ich kenne den Vater. Und Ich laße Mein Leben für die Schafe. 16. Und Ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle. Und dieselbigen muß Ich herführen, und sie werden Meine Stimme hören und wird Eine Heerde und Ein Hirte werden.

 IN diesem Evangelio ist von Schafen die Rede, nicht von Schafen eines gewöhnlichen menschlichen Hirten, sondern die Schafe sind Menschen und der Hirte dieser Schafe ist nicht von dannen. Unter den Schafen selber wird ein Unterschied gemacht je nach dem Stalle, in welchem sie sich befinden. „Ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle,“ spricht der HErr. Dieser Stall ist eine Bezeichnung für das Volk der Juden, die Schafe nicht aus diesem Stalle sind die andern Völker, welche über die Erde hin ihre zerstreuten Wohnungen haben. Es wird uns also in dem Evangelium die ganze Menschheit als eine in verschiedene Ställe vertheilte Heerde, oder vielmehr als eine Anzahl verschiedener, von einander getrennter Heerden vorgestellt. Wir sehen die verschiedenen Geschlechter der Menschen in ihren Trennungen uns vorgeführt, wie jedes seine eigenen Wohn- und Weideplätze einnimmt, seine eigene Straße zieht, seine eigene Zunge und Sprache und Sitte hat. Aber es ist auch im Texte ausdrücklich gesagt, daß diese Trennungen sich nicht immer mehren, die Zerstreuung der Schafe nicht immer zunehmen soll. Es ist nicht der Wille des HErrn, daß ein Volk und Stamm um die andern unbekümmert seine eigene Wege gehe. Wohl spricht der Prophet: „Wir waren wie die irrenden Schafe, ein jegliches sah auf seinen Weg.“ Aber es ist auch ein Wort des HErrn, das nicht minder wahr ist: „Es soll eine Heerde werden.“ Es sollen also die Trennungen der Völker aufhören, und aus allen Völkern soll Ein Volk, Eine Heerde werden. Es soll Friede werden auf Erden und, wie wir im Catechismus beten, „Eine Gemeinde der Heiligen“ soll versammelt werden. Durch die Sünde kam alle Trennung in die Welt, die Frucht der Sünde ist es, daß die Völker einander nicht verstehen, nicht an Sprache, nicht an Sinn, daß Adams Kinder einander fremd geworden sind. Aber die gnädige Absicht des HErrn ist, daß die Frucht der Sünde aufhöre und aus aller Welt Zungen versammelt werde ein einmüthig und einhellig Volk, daß trotz der Sünde die Absicht des seligen Schöpfers mit der Menschheit erreicht werde. Es wird erfüllt werden das Gebet der heiligen Kirche, die da spricht:

 „Komm, heiliger Geist, erfülle die Herzen Deiner Gläubigen und entzünd in ihnen das Feuer Deiner göttlichen Liebe, der Du durch Mannigfaltigkeit der Zungen die Völker der ganzen Welt versammelt hast in Einigkeit des Glaubens, Halleluja! Halleluja!“

 Das ist der Wille des HErrn; aber freilich, es lebt einer, dem das nicht gefällt, der ein solches Glück der Menschheit nicht gönnt, der mit seinen Heerschaaren auch nicht eingestimmt hat, als die himmlischen Heerschaaren sangen: „Friede auf Erden, den Menschen ein Wohlgefallen.“ Der HErr nennt ihn im Gleichnis einen Wolf, den Wolf, und wir wißen, daß es der Teufel ist, sammt seinem Reiche. Er und seine Engel kennen das unaussprechliche Glück der himmlischen Gemeine, zu welcher die Menschen versammelt werden sollen. Sie wißen aus Erfahrung, was für eine selige Wonne es ist, zur Gemeine der Heiligen zu gehören, denn sie gehörten einst dazu. Aber sie haben ihr Fürstentum verlaßen und sind aller Seligkeit verlustig worden, sie haben keinen Frieden ewiglich und keine Liebe verbindet sie. Darum haben sie ja von Anfang dem Menschen sein Glück nicht vergönnt, und durch des Teufels Neid ist es geworden, wie es ist, − diese Trennungen unter den menschlichen Geschlechtern, dieser Unfriede unter den Kindern Adams, woher stammen sie, als aus des Teufels Herzen? Was sind sie, wenn nicht ein Anfang desselben hoffnungslosen Zustandes, in welchem die Hölle und ihr Fürst sich befindet? Und was ist denn die Bemühung des Teufels und seine Absicht, als das angefangene Werk zu vollenden, Gottes Absicht mit der Menschheit zu vereiteln, sie nicht zu Gott versammeln und vereinigen zu laßen, sondern in seine eigene Verdammnis hinabzuziehen? Darum sagt der HErr: „Der Wolf kommt − erhascht − zerstreut die Schafe.“ Erhaschen − zerstreuen − eine doppelte| Gefahr, welche sich alle Schafe unvergeßlich einprägen und wohl beachten sollten! Erhascht werden vom Satan, − das will gewis keiner von euch: der geht ewig verloren, der vom Satan erhascht wird, das seht ihr alle mit Grauen ein und betet desto flehentlicher die siebente Bitte. Aber die andere Gefahr wird so oft zu gering angeschlagen, vor der Zerstreuung fürchtet man sich nicht genug. Lernet, Brüder, von dem HErrn anders und beßer urtheilen und laßt euch vermahnen zum Wachen und Beten. Der HErr sieht es keineswegs allein als einen Schaden der Heerde an, wenn einzelne Schafe erhascht und vom Wolfe zerrißen werden. Er spricht „der Wolf erhascht und zerstreut die Schafe.“ Neben dem Erhaschtwerden findet Er die Zerstreuung der Erwähnung ganz werth. Es ist also nach Seinem vollkommenen Urtheil nicht bloß ein großes Unglück, wenn Seelen von dem HErrn losgerißen und vom Satan erhascht werden; es ist eben so ein großes Unglück, wenn die Gemeinschaft der Heerde aufgelöst, zerrißen wird, wenn die Einigkeit aller aufhört oder unmöglich gemacht wird, wenn Zerstreuung und Vereinzelung kommt. „Wer nicht mit Mir sammelt, der zerstreuet,“ spricht der HErr. Zerstreuen ist teufelisch, sammeln ist göttlich. Zerstreute Schafe gehen desto eher zu Grunde, werden vom Wolfe desto eher gewisser bezwungen und verschlungen. Auf einsamen Irrwegen, ohne Trost und Ermunterung der Vereinigung und Gemeinschaft, erreicht man nur schwer, vielleicht gar nicht das Ziel des Lebens, selig und in die ewige Gemeinde der Auserwählten aufgenommen zu werden. Die Gemeinschaft der heiligen Kirche und das Leben in ihr ist dem Menschen, dem einzelnen, so nöthig, so segensvoll! Wir wollen es dankbar erkennen − und erkennen die Größe der Gefahr, welche in der Zerstreuung der Heerde liegt.
 Wie ist die Menschheit, so lange sie hie auf Erden wallet, in einem wichtigen, folgenreichen Zustand. Gott streckt Seine Hände nach ihr aus und der Satan nicht minder. Zwischen Himmel und Hölle mitten inne lebt und schwebt sie. Einerseits winkt ihr eine selige Hoffnung, andererseits droht ihr ewiges Verderben. So selig, wahrlich so selig ist die Hoffnung, und der Mensch wird doch nicht genug von ihr gezogen! So schrecklich ist der Blick ins ewige Verderben, und so selten wird einer durch ihn geschreckt! Der Mensch ist dem Bösen zugeneigt von Natur, und unlustig zum Guten, − und eben darin liegt eine so große Mehrung der Gefahr, ach und es ist so sehr zu fürchten, daß er in seinem blinden Unverstande, bei aller Sehnsucht nach ewiger Genüge in des Satans Hände gerathe. Bei aller Sehnsucht nach ewiger Genüge verloren gehen durch den Zug, den überwiegenden Hang zum Bösen, wie entsetzlich! Verloren gehen, der Sünde und Verdammnis ewig anheimfallen − und doch voll Sehnsucht nach ewigem Leben sein: ein Widerspruch, der doch so wahr ist! Denn es ist kein Geschöpf zur Verdammnis geschaffen, drum kann sich auch ewig keines in die Verdammnis ergeben; auch der Verruchteste vermag nicht in sich die Sehnsucht nach dem Heile zu vertilgen. Deshalb bleibt auch ewig bedauernswürdig die verlorene Seele, denn sie fühlt ihren Fluch, und einen Unglücklichen sehen, der sein Unglück fühlt, erregt Erbarmen, auch wenn das Unglück nur aus eigener Schuld entsprang. Und dieß Erbarmen − es treibt um so mehr an, dem Kampfe Himmels und der Hölle um die arme Menschheit ein glückliches Ende zu wünschen. Wer aber wird ihn glücklich beenden und durch wen wird dem Himmel und damit den armen Schafen selber ein gewisser Sieg zugewendet werden? Wer wird denn das Gericht hinausführen zum Siege? Das ist die große Frage, ohne deren befriedigende Lösung der Menschheit Verzweiflung, rathlose Verzweiflung zu Theil werden würde. − Gott Lob, es gibt eine Lösung unserer Frage, die nichts zu wünschen übrig läßt, − und ihr wißet die Lösung, ehe ich sie nenne. Ich veruntreue und verkümmere euch nichts, wenn ich, in völliger Gewisheit der gewonnenen seligen Entscheidung, vor der Antwort eine Warnung ergehen laße, welche ja der HErr selber in unserem Evangelium allen den Seinigen gibt. Der HErr redet nemlich von Leuten, denen die Schafe nicht eigen sind, die sich aber dennoch einer Sorge für die Heerde unterziehen, die weniger für die Heerde, als von der Heerde leben wollen, nicht aus Liebe, die das Ihre nicht sucht, sondern aus Gründen der Selbstsucht die Schafe weiden. Er nennt sie Miethlinge, und sagt, daß sie den Schafen nur so lange dienen, als es keine Aufopferung gilt, als nicht die Rede ist, sie von dem| Wolfe zu erretten, dem sie nicht gewachsen sind, zu deßen Ueberwindung ihnen die Kräfte fehlen und mit der Kraft zugleich der Wille. Der Miethling sieht den Wolf kommen und fleucht, er achtet der Schafe nicht, verläßt die Schafe und fleucht, denn er ist ein Miethling. Es klingt wie eine Entschuldigung, wenn der HErr dazusetzt: „Denn er ist ein Miethling.“ Es klingt, als wollte der HErr sagen: „Was kann man denn anders von einem Miethling erwarten? Er ist ein Miethling und handelt wie ein Miethling. Kann einer mehr sein, als er ist, und richtet auch einer mehr aus als er vermag?“ Für den Miethling ist damit allerdings der Vorwurf gemindert, aber der Heerde ist damit nicht geholfen. Miethlinge helfen ihr nicht. Je mehr man die Größe des Kampfes erkennt, je mehr man einsieht, daß es gilt, Gottes selige Absichten gegenüber und trotz des Teufels Wüthen hinauszuführen, daß es gilt, den Satan zu besiegen, die Menschen zu Gott zu bringen und zu Einer Heerde zu vereinigen, desto unnützer erscheinen alle Miethlinge, eine desto beßere Aufnahme sollte sich der HErr für Seine Warnung von den Miethlingen versprechen dürfen.

 Und doch sind die Schafe so versuchlich und Miethlinge finden so leicht Glauben und Anhang! Es ist so unklug, so ein unseliges Ding, sich Miethlingen hinzugeben: und doch ist nichts gewöhnlicher als das. Wo hätten die armen, irrenden Schafe nicht schon Rettung vor dem Wolfe und Heil gesucht! Die Weisheit dieser Welt tritt ihnen in immer neuen Truggestalten, mit der alten Verheißung, zum Ziel zu helfen, in den Weg. Wann hätte sie Wort gehalten? Wie oft ist sie als eine Lügnerin erfunden worden! Wann war das Seelenverderben, wann die Zerstreuung der Schafe mehr zu beklagen, als wenn Gedanken weltlicher Weisheit in die Massen drangen und die Menschen von ihnen Heil und Leben erwarteten! Ach, die weltliche Weisheit hat die Schafe nicht eigen, ist ohne Den, welchen wir meinen, selbst ein irrend Schaf und eine betrogene Betrügerin: was will sie denn dem armen Volke bieten, die arme Bettlerin, die erst selber genesen muß an der schönen Thür des Tempels, ehe sie vor andern herlaufen und Gottes Wege den irrenden Schafen zeigen kann? Sie hilft nicht vom Wolf, sie kanns nicht: ach, daß sie sich nicht mit trügerischen Verheißungen die Vermuthung erweckte, eher eine Miethlingin des Wolfes, als des HErrn zu sein! − Ich will nicht mehr viel von der Miethlingin, von ihrem falschen Weg, von ihren falschen Wegen reden: meine Seele leidets nicht, und die Liebe dringt mich zu anderem. Es hilft kein Miethling, es hilft allein der Hirte, den wir längst schon meinten und von dem ich reden will, seitdem ich heute rede.


 Es ist in keinem andern das Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, darin sie können selig werden, als allein der Name unsers HErrn JEsu Christi: Der ist der gute Hirte. Ich sage nicht: Der ist ein guter Hirte, sondern ich sage: Der gute Hirte, weil es sonst keinen gibt als den einzigen. Es soll Eine Heerde sein, so kann auch nur Ein Hirte sein. Ob man aber auch zweifeln möchte, es wird doch aller Zweifel durch das eigene Wort des HErrn zerstört, da ER spricht: Es wird Eine Heerde und Ein Hirte werden. Er sagt es und drum ist es so, und es kann auch nicht anders sein, weil es in der Welt sonst keinen gibt, der thun kann, was unser HErr JEsus Christus gethan hat und noch thut: denn ER allein hat den Wolf überwunden, ER allein bewahrt die Heerde vor Zerstreuung. Das laßt uns genauer bedenken. „Der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe,“ sagt Er selber. Auf wen in aller Welt paßt das, als allein auf Ihn? Es ist eine durchaus unerhörte Sache, daß ein Hirte sein Leben für die Schafe läßt. Denken wir uns einen Hirten, wie sie im Morgenlande oftmals sind, − einen Hirten, deßen ganzer Lebensberuf ist, Schafe weiden, der sie weidet und sein Geschäft mit ganzer Seele betreibt, seine Schafe lieb hat. Denken wir uns den allerliebevollsten Hirten, den Gottes Auge in Arabiens Wüsten oder sonst wo findet: läßt er denn das Leben für die Schafe, wenn sie gleich sein sind? Und ob ers thäte, was wärs? Wär es Tugend und nicht vielmehr Thorheit? Das Leben von Hunderttausenden von Schafen ist gering an Werth gegen ein einziges Menschenleben. Welcher Mensch wird sein Leben für das Leben von Schafen laßen: was für ein Todestrost soll es sein, daß Schafe sicher über unserm Grabe weiden! Ich weiß, daß hier nicht von gewöhnlichen Schafen die Rede ist, sondern von Menschen, aber ich weiß auch, daß unter dem Hirten| Christus zu verstehen ist. Ich weiß, daß Christus, der Hirte, Seinen Schafen gleich ein Mensch ist und es scheint drum zwischen Ihm und Seinen Schafen der Abstand nicht zu sein, wie zwischen einem gewöhnlichen Hirten und seinen Schafen. Aber es ist doch ein Abstand und das kein kleiner, auch am Ende kein kleinerer, wie zwischen gewöhnlichen Hirten und Schafen. Der Hirte Christus ist gut, ist heilig, Engel besingen Ihn, des ewigen Vaters eigener Mund preist Ihn zu dreien Malen als den Sohn des Wohlgefallens, − wir hingegen sind arme, elende, verdammte Sünder. Ist das kein Abstand? Er ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben − und was sind wir? Ist da kein Abstand? Wenn ein gewöhnlicher Mensch für einen andern von seines Gleichen das Leben läßt, so ist das schön, aber nicht zu verwundern, denn die Gleichen tragen Liebe zu einander. Dagegen aber der Hohe und Erhabene − und wir, Er für uns im Tode! Was ist das für eine wunderbare, göttliche Liebe, die den Heiligen zu den Sündern und endlich gar in ihren Tod hinunterzieht? Und nun erst die Absicht, in welcher, die Frucht, zu welcher Er es thut, und die Art und Weise des Todes, die Er erwählt! Der Teufel, den Er selber den Wolf nennt, hatte des Todes Gewalt und sollte sie an allen Menschen üben um der Sünde willen, bis einer käme, der keine Sünde hätte, bis an den sich der Satan wagete, bis er an ihm sein Recht misbrauchete und verlöre und so auf den Heiligen und Unschuldigen, den er erwürgen würde, des Todes Gewalt übergienge, um nicht mehr in feindlichen, sondern in frommen, menschenfreundlichen, leutseligen Händen zu sein. Hier ist nun der Heilige, der nicht sterben muß, aber für die Menschen, Seine Schafe, sterben will; der einen Sold des Todes bezahlt, den er nicht schuldig ist, auf daß die frei ausgehen, welche des Todes schuldig sind. Habt ihr nicht die Worte gelesen: „Ich will den Hirten schlagen, und die Schafe der Heerde sollen sich zerstreuen?“ Wißt ihr nicht die Nacht, in welcher sie erfüllt worden sind? Als das Kind des Verderbens mit der Schaar in den Garten Gethsemane kam, was sprach der Hirte der Schafe: „Suchet ihr Mich, so laßet diese gehen.“ So entläßt Er die Schafe und geht allein in den Tod, in den bittern Tod, in den Tod, der andern Toden gleich, nichts desto weniger von allen Toden weit unterschieden ist, nicht allein um der Person willen, welche ihn leidet, nicht allein um der Absicht willen, sondern auch um der Bitterkeit willen, deren er voll ist. Denn es ist nicht bloß zeitliche Strafe, welche der HErr erduldet, sondern auch Höllenstrafe. Es ist der Tod, wie ihn der Sünder verdient, das Urtheil Gottes zugesprochen, der Satan auszuüben hatte. Des ganzen Todes ganze Last und ganzen Schmerz erduldet der gute Hirte für die Schafe. So beugt sich keine Mutter über das Kind, um die Pfeile des Bösewichtes aufzufangen, mit ihrem Leibe die Pfeile aufzufangen, welche dem Kinde vermeint sind, wie sich die unaussprechliche Liebe des guten Hirten über die Schafe hinbeugte und die Klauen und den Rachen des Wolfes aufnahm, die den Schafen vermeint waren! Ob mehr die Liebe, mehr das Leiden anzustaunen sei, wer kann das sagen, wer wählen? Wohl singt hier die heilige Kirche:

Ich kanns mit meinen Sinnen nicht erreichen,
Mit was doch Dein Erbarmung zu vergleichen.
Wie kann ich Dir denn Deine Liebesthaten
Im Werk erstatten?


 Indes, wenn nun gleich Christus sterbend den Satan überwand, wer hätte es gewußt, wer wäre es inne worden, wenn Er im Tode geblieben wäre, wenn Er bloß für die Schafe gestorben und weiter nichts geschehen wäre? Seine Schafe waren zerstreut, die er schon versammelt hatte, und wären auch zerstreut geblieben, und von allen den Millionen, die herbeigeführt werden sollten zu Ihm und Seinem Zion, wäre nicht eine Seele herzugekommen. Die Macht, welche dem Satan abgenommen war, zu tödten, wäre nicht zum Segen der zerstreuten Menschengeschlechter angewendet worden. Obgleich in JEsu Händen, hätte sie doch den Menschen keine Hilfe gebracht, und diese wären doch Kinder des Todes und Verderbens geblieben nach wie vor. Aber es wurde anders. Der HErr ist auferstanden und ist in die Höhe gefahren und erfüllte mit Seiner gottmenschlichen, seligmachenden Gegenwart alle Lande. Und wohin Er unsichtbar gieng, da giengen mit Ihm sichtbar Seine heiligen Knechte, keine Miethlinge, sondern selbst errettete Schafe, welche durch Seine Liebe lieben und sterben gelernt hatten. Es begann die große, selige, letzte Stunde, in der wir jetzt noch leben, die Stunde, in welcher die Schafe herbeigerufen und zusammengeführt| werden von allen Enden der Erde zu Einer heiligen Kirche. Nun ist Ziel und Ende der Zerstreuung gesetzt, nun sammelt sichs, − nun fallen die Zäune, und was getrennt war, reicht sich die Hand, und die Menschheit lernt es begreifen und verstehen, erfaßen und behalten, daß sie eine heilige Familie Gottes sein und werden soll; die Wahrheit, daß sie von einem Blute stammen und durch ein Blut ewig erlöst und Erben des Himmels geworden seien, macht sich Bahn in alle Herzen. Die Absicht des HErrn, die Schafe zu sammeln, geht hinaus − und die Welt geht ihrem sichern Ziel und Ende entgegen. Denn sie wird ja nur erhalten, bis das letzte Kind geboren ist, welches durch das heilige Sacrament, bis der letzte Mensch gestorben ist, welcher durch die Leuchte des Wortes zum ewigen Leben gerettet, bis die letzte Seele gewonnen ist, die Gott versehen hat in Christo JEsu. Wenn sie alle gesammelt und zusammengeführt sind, die Er die Seinen nennt, dann verlischt das Auge dieser Welt, die Sonne, und eine neue Welt beginnt, der neue Himmel und die neue Erde, auf der nicht mehr ein Gemisch von Guten und Bösen, sondern alleine Gottes Kirche wohnt.
 Welch einen Blick aufs Ende hin haben wir hier, meine Freunde! Wie selig ist das Ende, wie würdig, ein Anfang der Ewigkeit genannt zu werden! Aber wollen wir auch nicht vergeßen, daß das Licht immer Schatten wirft, und daß je heller das Licht, desto greller der Schatten ist! Es ist die sich sammelnde Kirche ein hehrer, lichter Weg durch eine finstere Welt. Je näher das Ende, desto mehr im Lichte des ewigen Lebens leuchtet der Weg des HErrn, aber desto finsterer wird es auch um ihn her; und wo das Licht am reinsten und vollsten, in der Ewigkeit, da wohnt auch gegenüber greifbare, ewige Finsternis. Es ist wohl nur Ein Hirte und nur Eine Heerde, und die Eine Heerde ist aus allen Geschlechtern und Zungen und Sprachen zusammengeführt; aber − nicht alle Schafe sind und werden Seine Schafe − der HErr redet zu deutlich und ausdrücklich, als daß wir nicht erkennen sollten, daß Er Seine Schafe von den andern scheidet, welche niemals die Seinigen werden. Ach, nicht Alle werden die Seinigen, − und unser Ach und Weh steigert sich, nicht viele werden die Seinigen. Wem klingt nicht mit hellem Ton im Ohre die Stimme des Wahrhaftigen: „Die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis abführet, und ihrer sind viel, die darauf wandeln. Und die Pforte ist enge und der Weg ist schmal, der zum Leben führet, und wenig ist ihrer, die ihn finden?“ So selig die Aussicht aufs Ende ist, so fröhlich des HErrn Thun im neuen Testamente und Seiner Kirche: man kann doch immer noch verloren gehen, man geht auch verloren, in Massen geht man verloren, und es ist drum von der allergrößten Wichtigkeit, daß ein Mensch wiße und inne halte, wie er JEsu Schaf werden und bleiben könne, wie er, nachdem er erkauft ist, auch gesammelt werde zu der Einen Heerde, die ewige Verheißungen hat. Und diese Frage beantwortet der HErr so schön, so freundlich, so liebreich, daß man bei aller Erkenntnis der Trägheit und Unlust menschlichen Herzens zum Guten doch kaum begreifen kann, warum nicht alle Menschen Seine Schafe werden, warum nach des HErrn Wort der Weg des Verderbens bis ans Ende so breit und so voll bleibt. „Ich muß Meine Schafe herführen, spricht Er, und sie werden Meine Stimme hören, und wird Eine Heerde und Ein Hirte werden.“ Wie wird also Eine Heerde, wie führt Er zu den schon gewonnenen Schafen die andern herzu, wie werden sie sein, wie werden sie Eins und Eine Heerde? Sie werden Seine Stimme hören. Also läßt Er Seine Stimme hören und Seine Stimme, die Stimme Seiner Ehre, damit Seine Ehre selbst, erfüllet die Lande! Also vernimmt man allerwärts, was Er gethan hat, wie Er Sein Leben für die Schafe gelaßen, wie Er den Wolf überwunden, wie Er den Tod getödtet, wie Er Unsterblichkeit und ewiges Leben ans Licht gebracht, wie Er für Seine Schafe das ewige Leben und den Himmel eingenommen hat, wie Er dort oben regiert und hier unten Seine Schafe führt! Das vernimmt man überall. Seine Knechte, die dieß Wort reden, sterben, aber das Wort bleibt unsterblich und schallet immer fort, Seine Stimme wird fort und fort gehört. Und die sie hören, die leben, − und die ihr Ohr nicht verschließen, die hören sie und leben. Vom Hören hängt ab das Leben. Wer hört, dem wird alle Fülle gegeben. Er will durch Seine heilige mächtige Stimme alles thun, und verlangt vom Menschen nur hören. Berufend, erleuchtend, bekehrend, rechtfertigend, heiligend, vollendend und| seligmachend wirkt Sein heiliges Wort auf alle, welche nur kein unnatürlich Widerstreben ihm entgegenstellen; denn das natürliche Widerstreben überwindet das Wort bei treuen Hörern. Ist doch der Weg des Lebens so leicht! Wie Schafe dem Hirten nach Weide und frische Waßer, so finden die Menschen ihrem Hirten nach, im Gehorsam Seines heiligen Wortes vollkommene Genüge. Ist es schön oder nicht, Christo und dem Zuruf Seines Wortes nachzuwandeln und vollkommenes Leben mühelos, unter Seiner Leitung zu finden? Das Böse macht Mühe, wem hätte jemals das Gute Mühe gemacht? Der es übt, dem ists leicht: was schwer ist, ist nur die Ueberwindung des Widerstandes. Ach, daß man sich Seiner Stimme, Seiner Leitung übergäbe und also hinzugezählt würde zu Seiner Heerde!

 In unserm Texte steht, meine Brüder, noch ein Wort, ich habe es bisher nicht berührt. Ich achte, ich könne nur wenig davon reden, denn es beschreibt uns die höchste Seligkeit der Heerde und zwar in einem Gleichnis von unaussprechlicher Herrlichkeit. „Ich bin ein guter Hirte, sagt Er, und erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen, wie Mich Mein Vater kennet und Ich kenne den Vater.“ Welche Worte! Sie erinnern an jenes Gebet des ewigen Hohenpriesters, das Er in der Nacht gesprochen hat, da Er verrathen ward: Ich in ihnen und Du in Mir, auf daß sie vollkommen seien in eins und die Welt erkenne, daß Du Mich gesandt hast, und liebst sie, gleichwie Du Mich liebest“ (Joh. 17, 23.). Wenn ich Eingangs sagte, daß der HErr alle Zerstreuung und alle Trennung auf Erden aufheben wolle, so war schon das eine Freudenbotschaft, wenn ich hernach von dem Hirten sagte, welcher den Feind des Friedens überwältigte, die Menschheit erlöste und Seine Schafe zu einer Heerde zusammenführte, auch das war, ja gewis das war ein seliges Evangelium. Aber wer hätte gedacht, daß das Werk des HErrn bis zu einer solchen Seligkeit der Menschen ausschlagen sollte, daß sie nicht allein miteinander, sondern mit dem Hirten selber und mit Gott im Himmel vereinigt und sogar Eins werden sollten? Himmel und Erde wird vereinigt, Gott nimmt Seine erlöste Creatur an Seine Brust in Christo JEsu, dem Hirten! Durch Christum wird alle Trennung aufgehoben, auch Gottes und der Sünder, − und eine selige Einigkeit, da Gott ist alles in allen, nimmt zu unter dem Hirtenstabe des Hochgelobten! Und zu einem solchen seligen Wesen zu kommen sollte man versäumen? Man kann es erreichen, wenn man die Stimme des Hirten hört, und man sollte nicht hören?!


 Brüder! eine Seele nach der andern verschließt ihr Ohr vor der Stimme der Miethlinge und öffnet es der Stimme des guten Hirten. Wer von uns fehlt noch bei der gehorsamen Heerde, deren ganze Tugend in dem seligen Hören und Gehorchen gegen den hochgelobten Hirten besteht? − Eine nach der andern vernimmt den seligen Zuruf des heiligen Apostels: „Ihr waret wie die irrenden Schafe, aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen“ (1. Petr. 2, 25.). Gilt sie denn nicht bald auch uns allen, die wir hier in diesem Hause miteinander den Namen anrufen, der aller Welt Heil verspricht? − Eine nach der andern hört wonniglich den Ruf des Hirten: „Ich erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen;“ und beantwortet sie mit seliger Zuversicht nach den Worten des Liebesliedes aus dem Himmel: „Mein Freund ist mein und ich bin sein.“ Wann werden auch wir Zuversicht und gut Gewißen haben, ohne Anmaßung, in tiefer Demuth JEsu Wort von der Bekanntschaft mit den Seinigen zu hören und es mit der Stimme der Braut zu beantworten? − Die Kirche wird immer vollzähliger, es sammelt sich dicht um den Thron des Lammes, des guten Hirten. Wie lange wirds dauern, so fehlt von den tausend mal Tausenden, die St. Johannes gesehen hat, keiner mehr und die Zahl der Auserwählten wird voll sein: werden wir dann fehlen? werden wir ausgeschloßen sein? werden wir dem überwundenen Feinde Christi hingegeben sein − und das Angesicht des Hirten ewig nicht schauen dürfen, der auch für uns gestorben ist? Ach, das sei doch ferne. Das sei eine Befürchtung, die da lüge, die da Platz mache dem Frieden, der Zuversicht, der Freude der Gläubigen und der Seligkeit der Schafe, die da Sein sind! Ach HErr, barmherziger, gnädiger Heiland, der Du gesagt hast: „Ihr habt Mich nicht erwählet, sondern Ich habe euch erwählet,“ bekehre Du uns, so werden wir bekehret, heile Du uns, so sind wir geheilet, − hilf Du uns, so ist uns geholfen! Amen.




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