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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Gefahr, welche sich alle Schafe unvergeßlich einprägen und wohl beachten sollten! Erhascht werden vom Satan, − das will gewis keiner von euch: der geht ewig verloren, der vom Satan erhascht wird, das seht ihr alle mit Grauen ein und betet desto flehentlicher die siebente Bitte. Aber die andere Gefahr wird so oft zu gering angeschlagen, vor der Zerstreuung fürchtet man sich nicht genug. Lernet, Brüder, von dem HErrn anders und beßer urtheilen und laßt euch vermahnen zum Wachen und Beten. Der HErr sieht es keineswegs allein als einen Schaden der Heerde an, wenn einzelne Schafe erhascht und vom Wolfe zerrißen werden. Er spricht „der Wolf erhascht und zerstreut die Schafe.“ Neben dem Erhaschtwerden findet Er die Zerstreuung der Erwähnung ganz werth. Es ist also nach Seinem vollkommenen Urtheil nicht bloß ein großes Unglück, wenn Seelen von dem HErrn losgerißen und vom Satan erhascht werden; es ist eben so ein großes Unglück, wenn die Gemeinschaft der Heerde aufgelöst, zerrißen wird, wenn die Einigkeit aller aufhört oder unmöglich gemacht wird, wenn Zerstreuung und Vereinzelung kommt. „Wer nicht mit Mir sammelt, der zerstreuet,“ spricht der HErr. Zerstreuen ist teufelisch, sammeln ist göttlich. Zerstreute Schafe gehen desto eher zu Grunde, werden vom Wolfe desto eher gewisser bezwungen und verschlungen. Auf einsamen Irrwegen, ohne Trost und Ermunterung der Vereinigung und Gemeinschaft, erreicht man nur schwer, vielleicht gar nicht das Ziel des Lebens, selig und in die ewige Gemeinde der Auserwählten aufgenommen zu werden. Die Gemeinschaft der heiligen Kirche und das Leben in ihr ist dem Menschen, dem einzelnen, so nöthig, so segensvoll! Wir wollen es dankbar erkennen − und erkennen die Größe der Gefahr, welche in der Zerstreuung der Heerde liegt.


 Wie ist die Menschheit, so lange sie hie auf Erden wallet, in einem wichtigen, folgenreichen Zustand. Gott streckt Seine Hände nach ihr aus und der Satan nicht minder. Zwischen Himmel und Hölle mitten inne lebt und schwebt sie. Einerseits winkt ihr eine selige Hoffnung, andererseits droht ihr ewiges Verderben. So selig, wahrlich so selig ist die Hoffnung, und der Mensch wird doch nicht genug von ihr gezogen! So schrecklich ist der Blick ins ewige Verderben, und so selten wird einer durch ihn geschreckt! Der Mensch ist dem Bösen zugeneigt von Natur, und unlustig zum Guten, − und eben darin liegt eine so große Mehrung der Gefahr, ach und es ist so sehr zu fürchten, daß er in seinem blinden Unverstande, bei aller Sehnsucht nach ewiger Genüge in des Satans Hände gerathe. Bei aller Sehnsucht nach ewiger Genüge verloren gehen durch den Zug, den überwiegenden Hang zum Bösen, wie entsetzlich! Verloren gehen, der Sünde und Verdammnis ewig anheimfallen − und doch voll Sehnsucht nach ewigem Leben sein: ein Widerspruch, der doch so wahr ist! Denn es ist kein Geschöpf zur Verdammnis geschaffen, drum kann sich auch ewig keines in die Verdammnis ergeben; auch der Verruchteste vermag nicht in sich die Sehnsucht nach dem Heile zu vertilgen. Deshalb bleibt auch ewig bedauernswürdig die verlorene Seele, denn sie fühlt ihren Fluch, und einen Unglücklichen sehen, der sein Unglück fühlt, erregt Erbarmen, auch wenn das Unglück nur aus eigener Schuld entsprang. Und dieß Erbarmen − es treibt um so mehr an, dem Kampfe Himmels und der Hölle um die arme Menschheit ein glückliches Ende zu wünschen. Wer aber wird ihn glücklich beenden und durch wen wird dem Himmel und damit den armen Schafen selber ein gewisser Sieg zugewendet werden? Wer wird denn das Gericht hinausführen zum Siege? Das ist die große Frage, ohne deren befriedigende Lösung der Menschheit Verzweiflung, rathlose Verzweiflung zu Theil werden würde. − Gott Lob, es gibt eine Lösung unserer Frage, die nichts zu wünschen übrig läßt, − und ihr wißet die Lösung, ehe ich sie nenne. Ich veruntreue und verkümmere euch nichts, wenn ich, in völliger Gewisheit der gewonnenen seligen Entscheidung, vor der Antwort eine Warnung ergehen laße, welche ja der HErr selber in unserem Evangelium allen den Seinigen gibt. Der HErr redet nemlich von Leuten, denen die Schafe nicht eigen sind, die sich aber dennoch einer Sorge für die Heerde unterziehen, die weniger für die Heerde, als von der Heerde leben wollen, nicht aus Liebe, die das Ihre nicht sucht, sondern aus Gründen der Selbstsucht die Schafe weiden. Er nennt sie Miethlinge, und sagt, daß sie den Schafen nur so lange dienen, als es keine Aufopferung gilt, als nicht die Rede ist, sie von dem

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/208&oldid=- (Version vom 4.9.2016)