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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Meinen; 15. Wie Mich Mein Vater kennt und Ich kenne den Vater. Und Ich laße Mein Leben für die Schafe. 16. Und Ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle. Und dieselbigen muß Ich herführen, und sie werden Meine Stimme hören und wird Eine Heerde und Ein Hirte werden.


 IN diesem Evangelio ist von Schafen die Rede, nicht von Schafen eines gewöhnlichen menschlichen Hirten, sondern die Schafe sind Menschen und der Hirte dieser Schafe ist nicht von dannen. Unter den Schafen selber wird ein Unterschied gemacht je nach dem Stalle, in welchem sie sich befinden. „Ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle,“ spricht der HErr. Dieser Stall ist eine Bezeichnung für das Volk der Juden, die Schafe nicht aus diesem Stalle sind die andern Völker, welche über die Erde hin ihre zerstreuten Wohnungen haben. Es wird uns also in dem Evangelium die ganze Menschheit als eine in verschiedene Ställe vertheilte Heerde, oder vielmehr als eine Anzahl verschiedener, von einander getrennter Heerden vorgestellt. Wir sehen die verschiedenen Geschlechter der Menschen in ihren Trennungen uns vorgeführt, wie jedes seine eigenen Wohn- und Weideplätze einnimmt, seine eigene Straße zieht, seine eigene Zunge und Sprache und Sitte hat. Aber es ist auch im Texte ausdrücklich gesagt, daß diese Trennungen sich nicht immer mehren, die Zerstreuung der Schafe nicht immer zunehmen soll. Es ist nicht der Wille des HErrn, daß ein Volk und Stamm um die andern unbekümmert seine eigene Wege gehe. Wohl spricht der Prophet: „Wir waren wie die irrenden Schafe, ein jegliches sah auf seinen Weg.“ Aber es ist auch ein Wort des HErrn, das nicht minder wahr ist: „Es soll eine Heerde werden.“ Es sollen also die Trennungen der Völker aufhören, und aus allen Völkern soll Ein Volk, Eine Heerde werden. Es soll Friede werden auf Erden und, wie wir im Catechismus beten, „Eine Gemeinde der Heiligen“ soll versammelt werden. Durch die Sünde kam alle Trennung in die Welt, die Frucht der Sünde ist es, daß die Völker einander nicht verstehen, nicht an Sprache, nicht an Sinn, daß Adams Kinder einander fremd geworden sind. Aber die gnädige Absicht des HErrn ist, daß die Frucht der Sünde aufhöre und aus aller Welt Zungen versammelt werde ein einmüthig und einhellig Volk, daß trotz der Sünde die Absicht des seligen Schöpfers mit der Menschheit erreicht werde. Es wird erfüllt werden das Gebet der heiligen Kirche, die da spricht:

 „Komm, heiliger Geist, erfülle die Herzen Deiner Gläubigen und entzünd in ihnen das Feuer Deiner göttlichen Liebe, der Du durch Mannigfaltigkeit der Zungen die Völker der ganzen Welt versammelt hast in Einigkeit des Glaubens, Halleluja! Halleluja!“

 Das ist der Wille des HErrn; aber freilich, es lebt einer, dem das nicht gefällt, der ein solches Glück der Menschheit nicht gönnt, der mit seinen Heerschaaren auch nicht eingestimmt hat, als die himmlischen Heerschaaren sangen: „Friede auf Erden, den Menschen ein Wohlgefallen.“ Der HErr nennt ihn im Gleichnis einen Wolf, den Wolf, und wir wißen, daß es der Teufel ist, sammt seinem Reiche. Er und seine Engel kennen das unaussprechliche Glück der himmlischen Gemeine, zu welcher die Menschen versammelt werden sollen. Sie wißen aus Erfahrung, was für eine selige Wonne es ist, zur Gemeine der Heiligen zu gehören, denn sie gehörten einst dazu. Aber sie haben ihr Fürstentum verlaßen und sind aller Seligkeit verlustig worden, sie haben keinen Frieden ewiglich und keine Liebe verbindet sie. Darum haben sie ja von Anfang dem Menschen sein Glück nicht vergönnt, und durch des Teufels Neid ist es geworden, wie es ist, − diese Trennungen unter den menschlichen Geschlechtern, dieser Unfriede unter den Kindern Adams, woher stammen sie, als aus des Teufels Herzen? Was sind sie, wenn nicht ein Anfang desselben hoffnungslosen Zustandes, in welchem die Hölle und ihr Fürst sich befindet? Und was ist denn die Bemühung des Teufels und seine Absicht, als das angefangene Werk zu vollenden, Gottes Absicht mit der Menschheit zu vereiteln, sie nicht zu Gott versammeln und vereinigen zu laßen, sondern in seine eigene Verdammnis hinabzuziehen? Darum sagt der HErr: „Der Wolf kommt − erhascht − zerstreut die Schafe.“ Erhaschen − zerstreuen − eine doppelte

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/207&oldid=- (Version vom 4.9.2016)