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Am Sonntage Jubilate.

Evang. Joh. 16, 16–23.
16. Ueber ein Kleines, so werdet ihr Mich nicht sehen, und aber über ein Kleines, so werdet ihr Mich sehen, denn Ich gehe zum Vater. 17. Da sprachen etliche unter Seinen Jüngern unter einander: Was ist das, das Er sage zu uns: „Ueber ein kleines, so werdet ihr Mich nicht sehen, und aber über ein Kleines, so werdet ihr Mich sehen, und daß Ich zum Vater gehe?“ 18. Da sprachen sie: Was ist das, das Er sagt: „Ueber ein Kleines?“ Wir wißen nicht, was Er redet. 19. Da merkte JEsus, daß sie Ihn fragen wollten und sprach zu ihnen: Davon fragt ihr unter einander, daß Ich gesagt habe: Ueber ein kleines, so werdet ihr Mich nicht sehen, und aber über ein Kleines, so werdet ihr Mich sehen. 20. Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch: Ihr werdet weinen und heulen, aber die Welt wird sich freuen; ihr aber werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verkehret werden. 21. Ein Weib, wenn sie gebiert, so hat sie Traurigkeit, denn ihre Stunde ist kommen; wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst, um der Freude willen, daß der Mensch zur Welt geboren ist. 22. Und ihr habt auch nun Traurigkeit; aber Ich will euch wieder sehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. 23. Und an demselbigen Tage werdet ihr Mich nichts fragen.

 DIeser Text versetzt uns aus der Pfingstzeit, in der wir leben, zurück in die ernsten heiligen Stunden jener Nacht, da der HErr Seine letzten Reden an Seine Jünger hielt und da Er verrathen ward. Was wir in den letzten Wochen feierlich begangen und innerlich wieder durchlebt haben, das Leiden und Sterben und Auferstehen des HErrn, zeigt uns dieser Text noch einmal, wie im Rückblick, und zugleich nimmt er Licht von dem Feste der Himmelfahrt, welches noch vor uns liegt, und läßt uns die schon vollbrachten Feste in diesem Lichte, im herrlichen Zusammenhang mit dem Heimgang JEsu zu Seinem Vater schauen. Gott verleih uns Gnade, die stille Pracht unsers Textes miteinander zu beschauen und davon die richtige Anwendung auf uns selbst zu machen.

 Der Text wird eingeleitet durch die Worte Christi: „Ueber ein Kleines, so werdet ihr Mich nicht sehen, und aber über ein Kleines, so werdet ihr Mich sehen, denn Ich gehe zum Vater.“ Diese Worte des HErrn sind nicht bloß Eingang, sondern zugleich Thema des Textes, um sie und ihr Verständnis dreht sich alles. Die Jünger, welche noch das ganze Leiden, Sterben, Auferstehen sammt der Himmelfahrt Christi vor sich hatten, begriffen den Sinn der Worte nicht, wie denn überhaupt die Weißagung nur an der Erfüllung klar wird. Sie fanden in den Worten Christi ein dreifaches Räthsel. Erstens verstanden sie nicht das Wort: „Ueber ein Kleines, so werdet ihr Mich nicht sehen.“ Zweitens verstanden sie nicht das Wort: „Und aber über ein Kleines, so werdet ihr Mich sehen.“ Endlich drittens verstanden sie nicht, was im Munde Christi das hieße: „Ich gehe zum Vater.“ Sie redeten unter einander davon und befragten sich darüber. Der HErr aber, der ihnen ja nur deshalb so räthselhaft zugesprochen hatte, weil Er sie zum Nachdenken und Fragen reizen und ihnen den Sinn Seiner Worte für die kommenden traurigen Stunden als einen Trost in die Seele prägen wollte, kam ihnen zuvor und beantwortete ihre Fragen. Freilich hatte auch Seine Antwort noch Räthselhaftes genug für Geister, welche in ganz andern Gedanken lebten und sich, so viel auf sie angekommen wäre, eine ganz andere Zukunft heraufgeführt hätten.

 „Ueber ein Kleines, spricht der HErr, so werdet ihr Mich nicht sehen.“ Denn es war nur noch ein| Kleines, nur noch eine kleine Zeit, bis Er mit ihnen hinausgieng in Gethsemane, bis Er Sich von ihnen riß und den blutigen Kampf, den heißen Todeskampf durchkämpfte, bis Er sie entließ und Sich in die Hände der Sünder übergab. Da flohen die Jünger und sahen Ihn nicht mehr. Zwar sahen sie Ihn hernach doch noch am Kreuze hangen, aber das war ein Sehen, fast betrübter als das Nichtsehen, ein Sehen, an dem sie jeden Falls deutlich merken konnten, daß sie Ihn nun bald gar nicht mehr sehen würden. Und dann starb Er, und es kamen Nikodemus und Joseph und legten Ihn in das Grab, und man versiegelte den Stein, der vor des Grabes Thür lag. Da war nun geschehen, was der HErr gesprochen hatte: „Ueber ein Kleines, so werdet ihr Mich nicht sehen.“ Wie kurz war die Zeit von dem Donnerstagabend, an welchem Er die Worte sprach, bis zum Freitag Abend, wo Er hinter dem Grabstein schlief und Ihn die Jünger nicht mehr sahen?

 Da war nun zugleich erfüllt, was der HErr von der Zeit gesagt hatte, da sie Ihn nicht mehr sehen würden: „Ihr werdet weinen und heulen, aber die Welt wird sich freuen, ihr aber werdet traurig sein.“ Die Welt freute sich. Haben wirs nicht gelesen, wie die Feinde Christi, die Juden, die argen Kinder der Welt, triumphirend am Kreuze vorüberstolzierten, wie sie die Häupter schüttelten, wie sie Ihn höhnten, verspotteten und lästerten, wie da die vornehmen, hochgestellten Hohenpriester und die Schriftgelehrten und die Aeltesten Israels mit den mitgekreuzigten Schächern Eins wurden im bösen Muthwillen und auf das Unwürdigste ihre Freude kund gaben, daß Er nun ferner weder andern, noch Sich Selber helfen konnte? Ja, die Welt freute sich, − und als nun der Tod gewis erfolgt, die heilige Seite durchbohrt, der Leichnam abgenommen und hinter versiegelter Pforte ins Grab gelegt war: wie süß werden da beim Abendeßen die süßen Brote den verzweifelten Bösewichtern geschmeckt haben! Wie wird sich Hannas gefreut haben und Caiphas fröhlich gewesen sein! Dagegen weinte die heilige Gottesmutter, und die Jünger weinten und heulten und alle, die IHN lieb hatten, waren traurig, daß es nun, wie es schien, so ganz aus war mit Ihm und mit ihrer Hoffnung von Ihm. Wißt ihr noch, lieben Brüder, was einst der HErr den Johannisjüngern zur Antwort gegeben hatte, da sie Seine Jünger wegen zu wenigen Fastens angegriffen hatten? „Wie können die Hochzeitleute Leid tragen, sagte Er, so lange der Bräutigam bei ihnen ist? Es wird aber die Zeit kommen, daß der Bräutigam von ihnen genommen wird, alsdann werden sie fasten?“ Das war nun eingetroffen. Der Bräutigam war nicht mehr da, nun kam Leidtragen, Weinen und Heulen von selber.

 Indes dauerte noch das Weinen, Heulen und Traurigsein auch nicht lange. Es war auch nur ein Kleines. Es dauerte kaum vierzig Stunden − von der dritten Nachmittagsstunde des Charfreitags bis zur sechsten Morgenstunde des Sonntags. Da sahen die Jünger den HErrn wieder, wie Er gesagt hatte: „Ueber ein Kleines, so werdet ihr Mich sehen.“ Und wie sie Ihn wiedersahen nach Seiner Auferstehung, da hieß es: „Eure Traurigkeit wird in Freude verwandelt werden,“ und: „Ich will euch wieder sehen und euer Herz soll sich freuen.“ Warum waren denn die Jünger traurig gewesen? Weil der Bräutigam von ihnen genommen war. Wenn nun der Bräutigam wieder mitten unter sie trat − und dazu so licht und hehr, wie es geschehen, − da fiel alle Ursache der Traurigkeit weg, mit Ihm Selber kam die Freude wieder. Das ists ja eben, wovon uns noch die Ohren klingen! Oder nicht? Ist nicht das Osterhalleluja noch in unsern Ohren, ja noch auf den Lippen? „Der HErr ist auferstanden! Halleluja. Er ist wahrhaftig auferstanden! Halleluja!“ Da gabs Freude! Die Zeit der Traurigkeit war wirklich nur ein Kleines, nur eine kurze Zwischenzeit, nur eine kleine Kluft zwischen Freude und Freude, zwischen der kleinen Freude und der großen.

 Mit einem herzlichen Wohlgefallen verweilt der HErr bei diesem Wechsel zwischen Traurigkeit und Freude der Seinen. Wie wenn es Ihm Selber in der Nähe Seiner schweren Leidensarbeit ein Trost wäre, redet Er mehr davon, als eigentlich die Frage der Jünger nöthig gemacht zu haben scheint. Er vergleicht das Kirchlein, die kleine Versammlung der Seinigen, einem Weibe, Sich Selbst einem Kindlein, welches durch die Auferstehung gewissermaßen geboren wird, und die vierzig Stunden, da Ihn die Seinigen nicht sehen sammt der Traurigkeit, welche die vierzig Stunden lang die Seinigen belastete, der Geburtsstunde eines Weibes. Wie ein Weib, das einen Sohn gebiert, Schmerzen und traurige Angst empfindet, bis sie ihr Söhnlein hat; so| haben die Jünger und die heiligen Frauen Schmerz und Angst, bis ihnen in der Auferstehung der Sohn aufs neue gegeben, das Kind aufs neue geboren ist, welches die Freude Himmels und der Erde ist. Wie die Traurigkeit einer Gebärerin nicht eine in den Tod versinkende, sondern eine lebengebende, mit ängstlicher Hast zu einem herrlichen Ziele fortschreitende zu sein pflegt; so war die Traurigkeit der Jünger, so schwer sie auch von ihnen empfunden wurde, doch in der Wahrheit und nach dem Worte des HErrn eine solche, die nicht im Tode endigen sollte, Ahnung und Hoffnung sollte durch des HErrn Wort, welches Er von dem gebärenden Weibe sprach, in sie gebracht werden. Und wie der Schmerz einer Gebärerin alsbald in Freude verwandelt wird, so bald sie den fröhlichen Anblick ihres Kindes hat, wie da plötzlich, fast ohne Uebergang Traurigkeit und Freude wechseln; so sollte sich der Jünger Angst und Traurigkeit schnell, plötzlich, herrlich in Freude verkehren, sobald sie den aus dem Tode neugeborenen Christus wieder hatten. Die Osterfreude brach aus dem Grabe des Auferstandenen mit unverhoffter Kraft hervor und sättigte die trauernde Gemeinde Christi mit Wollust wie mit einem Strom.

 Und diese Lust und Osterfreude hat vom HErrn eine Verheißung, daß sie unvergänglich und unsterblich sein soll. „Eure Freude soll niemand von euch nehmen,“ spricht Er. Von den Freuden der Welt sagt ein Heiliger Gottes, sie glichen einem Lichte etwa von Wachs oder Talg, das nur lebt, indem es sich verzehrt, und endlich mit üblem Dampf verlischt. Und wie wahr ist das! Aber so ist die Osterfreude nicht, sie verbraucht sich nicht und verdampft nicht, sie ist eine bleibende und unaufhörliche. Die Osterfreude kam durch das Wiedersehen JEsu und man konnte drum denken, sie könne auch nur durch das Sehen JEsu erhalten werden, sie müße aufhören, wenn Sich Christus durch Seinen Gang zum Vater, d. i. durch Seine Himmelfahrt den Augen der Seinen entziehen wird. Aber so zu denken hieße falsch denken. Die Osterfreude hieng freilich mit dem Sehen JEsu zusammen, weil im Sehen der Beweis lag, daß Er lebe, aber sie war keine Freude, die im Sehen bestand; sie bestand in der Gewisheit des Lebens Christi. Als der HErr nicht mehr gesehen werden konnte, weil Er im Grabe lag, waren die Jünger freilich traurig, denn der HErr war todt. Aber als Er vor ihren Augen gen Himmel fuhr und eine Wolke Ihn vor ihren Augen wegnahm, war Er ja nicht todt, im Gegentheil bestieg Er den Thron des ewigen Lebens und wie ganz lebendig Er war, wie Ihm der Vater alle Macht und Gewalt gegeben hatte im Himmel und auf Erden, wie Er, obschon unsichtbar, mitten unter ihnen blieb und wirkte, wie Er Himmel und Erde mit Seiner heiligen und mächtigen Gegenwart erfüllte, das erfuhren sie je länger, je mehr. Er lebte − und was ihnen entzogen wurde, war nur das Schauen, und das nicht auf immer, da ja heilige Engel gleich nach Seiner Himmelfahrt von Seiner sichtbaren Wiederkunft predigten. Darum hebt die Himmelfahrt des HErrn die Osterfreude mit nichten auf. Die Freude blieb und zwar um so reger, lebendiger und schäftiger, als man die sichtbare Gegenwart des HErrn zu erwarten hatte und nun das ganze Leben der Jünger und aller Seiner Heiligen eine festliche Bereitung für den Tag Seiner sichtbaren Wiederkunft geworden war. Voll der Gewisheit Seines Lebens, voller Freude über die Beweise Seines Lebens, voll Sehnsucht, Ihn wiederzusehen, − voll bräutlichen, seligen Wartens wurden die Jünger durch die Auffahrt und den Hingang des HErrn.

 Und da gieng denn auch das Wort in Erfüllung: „An demselbigen Tage werdet ihr Mich nichts fragen.“ Als der HErr in der Nacht, da Er verrathen ward, jene Worte sprach, welche am Eingang unsers Textes stehen und den Jüngern so räthselhaft klangen, waren sie, wie wir gesehen haben, voll Fragens. Am Tage Seiner Auferstehung und Seiner Himmelfahrt verstummten alle diese Fragen, es wurde ihnen klar „das Kleine“ der Trauer, das Kleine vor der Trauer und der Hingang zum Vater. Sie fragten nun darüber nichts mehr. Ihr eigenes Leben und das des HErrn, Seine Zwecke und was sie in der Welt zu schaffen und zu thun hätten, das war ihnen nun alles im Licht. Die Osterfreude brachte ihnen Licht und Klarheit, − und dieß Licht, diese Klarheit nahm in dem Maße zu, als sie immer näher zum heiligen Pfingsten giengen, wo sie den Geist empfiengen, der sie in alle Wahrheit leiten sollte und ihnen auch die Fragen beantworten, die sie an den HErrn nicht gethan und von denen Er auch in Seinen Worten: „ihr werdet Mich nichts fragen“ nicht geredet| hatte. Denn diese Worte gehen auf die Fragen, welche wir aus der Jünger Mund und Herzen in unserm Texteseingang lesen.

 Wenn wir nun, geliebte Brüder, die Frage aufwerfen: wohin gehört unsre Lebenszeit, in die kleine Frist, während welcher der Bräutigam Seiner Kirche genommen ist und die Hochzeitleute trauern, oder in die österliche Zeit der Freuden, da die Jünger den HErrn sahen und Sein Leben, Seine Auferstehung priesen? so ist die Antwort kinderleicht. Die Zeit der Trauer ist längst vorüber, aber noch immer währet die herrliche Zeit, zu deren Kindern der HErr spricht: „Eure Freude wird niemand von euch nehmen.“ Der HErr ist ja nicht abermals nach Gethsemane gegangen oder ans Kreuz gestiegen; Er ist ja noch erhöhet auf Gottes Thron und des HErrn Werk geht noch jetzt wie vor achtzehen hundert Jahren durch Seine Hand fort. Noch währet die selige Oster- und Pfingstzeit, wo man, Seines Lebens gewis, auf das Ende und Seine sichtbare Erscheinung wartet, wo Er die Seinigen Sich nach zu ewigen Freuden erheben wird. Zwar haben wir den HErrn nicht im unsterblichen Leibe gesehen, wie die Jünger, wir haben Ihn überhaupt nicht gesehen, und damit fehlt uns allerdings etwas, − etwas, das gar nicht gering anzuschlagen ist, denn das Schauen JEsu ist ja das Glück der Seligen. Aber auch die Jünger entbehrten ja das nach der Auffahrt des HErrn, und ihr Entbehren war gewis nicht geringer, als das unserige: denn es scheint schwerer, das Anschauen JEsu zu entbehren, wenn man es einmal hatte, als wenn man es niemals hatte. Und dann haben wir ja doch dieselbe Gewisheit des Lebens JEsu, wie die Jünger, dieselbe Hoffnung, wie sie, Ihn ewig zu schauen, und denselbigen Trost während unsrer Wallfahrt, durch welchen es uns leicht wird, unsrer Hoffnung zu harren. Oder können wir nicht des Lebens Christi gewis sein, wenn zwar nicht unsre eigenen Augen, aber dafür schärfere, treuere, verläßigere Ihn gesehen haben, gesehen in der Auferstehung, gesehen bei Seiner Auffahrt zum ewigen Thron der Ehre? Ist uns nicht das apostolische Augenzeugnis mehr werth, als unser eigenes? Und naht sich denn nicht täglich, stündlich mehr die Zeit unsrer Hoffnung? Wie lang wirds denn noch währen, bis wir die Hütte ablegen und unser Seelenauge Ihn in der himmlischen Stadt schauen wird im neuen Leibe der Auferstehung? Und wie bald wird Er kommen und auch unsere Leiber auferwecken und wiederherstellen die verweseten Augen, damit sich dann Leib und Seele Seines Anschauens freuen? Sind wir doch wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung JEsu Christi von den Todten, und die Kraft dieser lebendigen Hoffnung erfüllt uns mit österlichen Freuden! Und ob wir schon Seinen Leib hier nicht schauen, er wird uns ja doch zu eigen gegeben im heiligen Mahle. Was die seligen Seelen schauen und mit freudetrunkenem Blicke besingen, das empfangen wir hienieden mit unsern Lippen, auf daß vollkommen wahr werden die Worte: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ Gewis, so lange der Apostel Zeugnis gilt, so lange unsre lebendige und unverwelkliche Hoffnung besteht, so lange wir des HErrn Leib genießen und Sein theures Blut, so lange bleibt wahr, daß wir in der Zeit der seligen Ostern, deren Freude niemand von uns nehmen kann, leben, daß unsre Zeit eine fröhliche Oster- und Pfingstzeit ist. Ja, bis der HErr kommen wird, währt die fröhliche Zeit der Ostern und Pfingsten. Von Anfang des ersten Ostertages bis zum Ende der Welt ist immer einerlei Freudenzeit. Gottes Freuden vom Himmel strömen auf alle Völker, und Licht, das alle Fragen stillt und alle Zweifel löst, ergießt sich auf alle. Es ist seit Christi Auferstehung Eine Zeit zunehmender, allgemeiner werdender Freude − und am Abend der Welt wird die Freude vollkommen werden.

 Unsere Zeit eine Freudenzeit! Ich weiß, meine Brüder, daß diese Behauptung einseitig klingt. Vielleicht denkt mancher von euch bei sich selber: heute nennt er die Zeit eine Freudenzeit; wer weiß, morgen nennt er sie eine Leidens- und Trauerzeit. Ich fürchte diesen Gedanken, diese Entgegnung nicht. Ich scheue mich auch nicht, sie ganz richtig zu nennen. Ja, ich will noch mehr thun, ich will jetzt gleich dieselbe Zeit, die ich eben eine Freudenzeit genannt habe, eine Leidenszeit nennen. Ich hoffe, beide Male recht geredet zu haben. Es kann niemand leugnen, daß die Worte Christi von der unaustilgbaren Freude für uns und unsre Zeit gehören. Aber freilich, es laßen sich auch die Seufzer und Thränen nicht wegleugnen, welche aus Brust und Auge selbst des Christen aufsteigen,| es laßen sich die Schmerzen und die Noth des Lebens nicht wegleugnen, welche so schwer auf Millionen, ja auf allen Menschen liegen. Wer kanns verneinen, was die Kirche in der Auslegung der siebenten Bitte sagt, daß dies Leben ein Jammerthal sei? Aber es fragt sich nur, ob das Leid oder die Freude den Grundton im Christenleben anzugeben haben, und ob also das Leben mehr eine Leidens- oder mehr eine Freudenzeit des Christen genannt werden müße. Da wird denn doch bei genauer Erwägung die Freude einen gerechteren und mächtigeren Anspruch haben, der Lebenszeit des Christen den Titel zu geben, als das Leid. Das Leid ist da, aber nur als Ueberrest der Sünden und Sündenzeit, die Christus versöhnt hat; die Freude aber ist da als Vorschmack des Himmels, dem wir entgegen gehen. Das Leid ist das Vergängliche, das sich von Tag zu Tage mehr verzehrt; die Freude hingegen ist die Lust der Ewigkeit, die uns immer voller entgegenströmt, je mehr wir ihr entgegen gehen. Es ist das ganze Leid nur auf die arme, kleine Spanne dieser Lebenszeit ausgedehnt − und über ein Kleines ist sie nicht mehr da! Unser äußerlicher Mensch verwest je länger je mehr, unser innerlicher wird von Tag zu Tag verneuert. Unser Heil ist näher, als da wir anfiengen, es zu glauben, − und am Abend, da wirds Licht werden, wenn sich die Aussicht auf den nahen Himmel und auf die kommende Auferstehung öffnet!
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 Und dann, meine Brüder, das wollen wir nicht vergeßen! Was ist, schon während wir hier wallen, das stärkere, Leid oder Freude? Ist nicht die Freude von oben und das Leid von unten? Ist nicht stärker, was von oben kommt, als was von unten kommt? Was kann, was wird, was soll geschehen: soll das Leid die Freude vergällen oder die Freude das Leid versüßen? Ohne Zaudern und Zagen sag ichs, und ich schwärme nicht, wenn ichs sage. Ich bin nüchtern und der ists nicht, der mir darin widerspricht: „Die Freude ist Meister!“ Es würden mir alle beistimmen, wenn sie mehr ihr Leben begriffen in der Aehnlichkeit des Lebens Christi, wenn sies mehr, als es geschieht, erkenneten und führeten als einen Hingang zum Vater und zum Sohne. Wenn man, meine Freunde, das Leben nur nach dem Gelingen des irdischen Berufs, je nach dem Besitz vergänglicher Ehren, Freuden oder Güter beurtheilt, wenn man irdisch gesinnt ist, es mit einem Worte zu nennen, dann herrscht Kummer und Betrübnis vor. Wenn man aber Ziel und Zweck des Lebens auf Erden gar nicht findet, wenn man seine Anker hinter dem Vorhang, der die Ewigkeit verhüllt, eingeschlagen hat, wenn man ewigen Freuden entgegen lebt und strebt; dann bekommt das Leben eine ganz andere Gestalt: es wird zur Fremde, zur Pilgrimschaft, zur Wallfahrt, das Leid des Lebens wird zu einer Anfechtung, welche die Sehnsucht nach dem Ewigen desto kräftiger erweckt, und der Fleiß, hineinzukommen zur ewigen Ruhe der Heiligen, ja nicht dahinten zu bleiben, erhält das fröhliche, frische Streben bis zum Grabe. Es liegt alles daran, daß wir vorwärts leben, und unser Glück im unsterblichen Leben sehen, daß wir erkennen, zum HErrn zu kommen, Ihn zu schauen, gleich Ihm verklärt, von Ihm beherrscht zu werden und mit Ihm zu herrschen, − dazu seien wir geboren, dazu leben, dazu sterben wir. Manch alternder Mensch hat seine ganze Freude rückwärts; wenn er sich ergötzen will, muß er die Erinnerung vergangener Tage heraufrufen: da freut er sich einen Augenblick an den Schattenbildern seiner Jugend und kehrt dann trauernd auf den Dornenpfad seiner Wirklichkeit zurück. Ganz anders der Christ. Der streckt sich nach dem, das da vornen ist, nicht nach dem, das da hinten ist. Jenseits ist sein HErr. Den lernt er kennen aus Seinem Worte. Den sieht er durchs Leiden des Todes zur Herrlichkeit dringen. Von Seiner Auferstehung, von Seiner Himmelfahrt, von Seiner Glorie, wie die Offenbarung Johannis sie beschreibt, liest er. Und das alles mit dem seligen, hoffnungsvollen Bewußtsein, daß er Ihm gleich werden soll, daß er auch durchs Leiden des Todes ins Paradies, zum Sieg der Seele, zur Auferstehung, zur Himmelfahrt, zum unaussprechlichen Glück der Ewigkeit, zur Vereinigung mit allen Gottesheiligen kommen soll. Da wird er, je älter er wird, desto jünger, desto fröhlicher, weil er ja dem Ziele näher kommt, − und wenn er kranket und leidet, da wird es ihm festlich zu Muthe, denn es winkt ja die Möglichkeit stärker heran, aufgelöst zu werden, außer dem Leibe zu wallen und heim zu kommen zum HErrn. Seht in die ersten Jahrhunderte der Christenheit, meine Brüder, leset, wie die heiligen Märtyrer so fröhlich, so todesmuthig und todeslustig gewesen sind; wie sie Feuer und Mordstahl segnen, wie sie den Tod| begrüßen und überwinden konnten! Warum waren sie so freudig in der größten Traurigkeit, welche die Welt kennt, warum war ihnen solche Macht über den Tod gegeben, woher hatten sie die Stärke? Weil sie den Himmel offen, weil sie die Seligkeit, weil sie Lohn und Krone der Ewigkeit sahen, weil sie die Kräfte jener Welt schon aufgenommen hatten, darum waren sie voll Freudigkeit, voll Lust mitten im bittern Tode! Lernet von ihnen, das Ziel vorwärts haben, vorwärts leben, für die Ewigkeit und von der Hoffnung der Ewigkeit leben, dann werdet auch ihr erfahren, was ihr bisher nicht erfuhret, daß die Freude das Ueberwiegende im Christenleben ist, daß die Freude alles Leides Meister und Tod ist. Es liegt alleine darin, daß wir nicht vorwärts, nicht für die ewige Bestimmung leben, wenn uns das Leid der Welt gefangen nimmt, gefangen hält.

 Darum vermahne ich euch in dem Namen des HErrn JEsus Christus, des Auferstandenen, daß ihr euch erkennet. Ihr seid getauft und habet Christum angezogen, Sein heiliges Wort wohnt unter euch und weidet euch, ihr seid gespeist und getränket mit Seinem Leib und Blute. So seid ihr denn nicht von dannen, so habt ihr vor euch das Kleinod, welches euch vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo JEsu! Was buhlt ihr mit der Welt, ihr Erlöseten JEsu Christi? Wißt ihr nicht, daß ihre Freude in Traurigkeit verwandelt wird, daß sich ihre Kinder auf einen Schlachttag weiden, daß ihr Glück nur eine Stille ist vor ewigen Stürmen? Was täuschet ihr euch mit weltlichen Gedanken, Lüsten und Begierden? Soll euch die Ewigkeit enttäuschen, soll euch der Tod überfallen und euch in die tiefe Hölle betten, weil ihr eure Erstgeburt so gar miskanntet, weil ihr nicht erkanntet, was ihr durch Wort und Sakramente hattet? Sehet auf, jenseits ist eure Heimath! Wer wird in der Fremde Hütten bauen und mit Midian buhlen statt nach Kanaan zu ziehen! Euer Leben ist ein Hingang zum Vater und zum Sohne, euer Leid ist ein Kleines, eure Freude, wenn ihr sie recht gefaßt, ist ewig. Diese Gedanken laßt in euch lebendig werden. Diese Gedanken laßet euch durchdringen, euch beleben. In ihnen und ihnen gemäß leben ist seliges Leben und vorwärts dringen zum Heile. Wer in ihnen lebt, lebt kein todtes Leben, lebt nicht der Sünde, läßt nicht von eitler Sünde seinen Frieden hier und seine Hoffnung verzehren. – – Ach, daß ich euch vermahnen könnte! Ach, daß ihr den Ruf vernähmet, für die Ewigkeit zu leben! Ach, daß ihr dem heiligen Geist, der, wenn ich ausgeredet, in euch die Vermahnung fortsetzt, nicht widerstrebtet! Daß Er euch lehren und leiten könnte zur Gemeinschaft aller Heiligen, zur Stadt Gottes, zu Christo, zum Vater! Wer spricht, wer betet, wer flehet mit mir das Amen?




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