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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

hatte. Denn diese Worte gehen auf die Fragen, welche wir aus der Jünger Mund und Herzen in unserm Texteseingang lesen.


 Wenn wir nun, geliebte Brüder, die Frage aufwerfen: wohin gehört unsre Lebenszeit, in die kleine Frist, während welcher der Bräutigam Seiner Kirche genommen ist und die Hochzeitleute trauern, oder in die österliche Zeit der Freuden, da die Jünger den HErrn sahen und Sein Leben, Seine Auferstehung priesen? so ist die Antwort kinderleicht. Die Zeit der Trauer ist längst vorüber, aber noch immer währet die herrliche Zeit, zu deren Kindern der HErr spricht: „Eure Freude wird niemand von euch nehmen.“ Der HErr ist ja nicht abermals nach Gethsemane gegangen oder ans Kreuz gestiegen; Er ist ja noch erhöhet auf Gottes Thron und des HErrn Werk geht noch jetzt wie vor achtzehen hundert Jahren durch Seine Hand fort. Noch währet die selige Oster- und Pfingstzeit, wo man, Seines Lebens gewis, auf das Ende und Seine sichtbare Erscheinung wartet, wo Er die Seinigen Sich nach zu ewigen Freuden erheben wird. Zwar haben wir den HErrn nicht im unsterblichen Leibe gesehen, wie die Jünger, wir haben Ihn überhaupt nicht gesehen, und damit fehlt uns allerdings etwas, − etwas, das gar nicht gering anzuschlagen ist, denn das Schauen JEsu ist ja das Glück der Seligen. Aber auch die Jünger entbehrten ja das nach der Auffahrt des HErrn, und ihr Entbehren war gewis nicht geringer, als das unserige: denn es scheint schwerer, das Anschauen JEsu zu entbehren, wenn man es einmal hatte, als wenn man es niemals hatte. Und dann haben wir ja doch dieselbe Gewisheit des Lebens JEsu, wie die Jünger, dieselbe Hoffnung, wie sie, Ihn ewig zu schauen, und denselbigen Trost während unsrer Wallfahrt, durch welchen es uns leicht wird, unsrer Hoffnung zu harren. Oder können wir nicht des Lebens Christi gewis sein, wenn zwar nicht unsre eigenen Augen, aber dafür schärfere, treuere, verläßigere Ihn gesehen haben, gesehen in der Auferstehung, gesehen bei Seiner Auffahrt zum ewigen Thron der Ehre? Ist uns nicht das apostolische Augenzeugnis mehr werth, als unser eigenes? Und naht sich denn nicht täglich, stündlich mehr die Zeit unsrer Hoffnung? Wie lang wirds denn noch währen, bis wir die Hütte ablegen und unser Seelenauge Ihn in der himmlischen Stadt schauen wird im neuen Leibe der Auferstehung? Und wie bald wird Er kommen und auch unsere Leiber auferwecken und wiederherstellen die verweseten Augen, damit sich dann Leib und Seele Seines Anschauens freuen? Sind wir doch wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung JEsu Christi von den Todten, und die Kraft dieser lebendigen Hoffnung erfüllt uns mit österlichen Freuden! Und ob wir schon Seinen Leib hier nicht schauen, er wird uns ja doch zu eigen gegeben im heiligen Mahle. Was die seligen Seelen schauen und mit freudetrunkenem Blicke besingen, das empfangen wir hienieden mit unsern Lippen, auf daß vollkommen wahr werden die Worte: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ Gewis, so lange der Apostel Zeugnis gilt, so lange unsre lebendige und unverwelkliche Hoffnung besteht, so lange wir des HErrn Leib genießen und Sein theures Blut, so lange bleibt wahr, daß wir in der Zeit der seligen Ostern, deren Freude niemand von uns nehmen kann, leben, daß unsre Zeit eine fröhliche Oster- und Pfingstzeit ist. Ja, bis der HErr kommen wird, währt die fröhliche Zeit der Ostern und Pfingsten. Von Anfang des ersten Ostertages bis zum Ende der Welt ist immer einerlei Freudenzeit. Gottes Freuden vom Himmel strömen auf alle Völker, und Licht, das alle Fragen stillt und alle Zweifel löst, ergießt sich auf alle. Es ist seit Christi Auferstehung Eine Zeit zunehmender, allgemeiner werdender Freude − und am Abend der Welt wird die Freude vollkommen werden.

 Unsere Zeit eine Freudenzeit! Ich weiß, meine Brüder, daß diese Behauptung einseitig klingt. Vielleicht denkt mancher von euch bei sich selber: heute nennt er die Zeit eine Freudenzeit; wer weiß, morgen nennt er sie eine Leidens- und Trauerzeit. Ich fürchte diesen Gedanken, diese Entgegnung nicht. Ich scheue mich auch nicht, sie ganz richtig zu nennen. Ja, ich will noch mehr thun, ich will jetzt gleich dieselbe Zeit, die ich eben eine Freudenzeit genannt habe, eine Leidenszeit nennen. Ich hoffe, beide Male recht geredet zu haben. Es kann niemand leugnen, daß die Worte Christi von der unaustilgbaren Freude für uns und unsre Zeit gehören. Aber freilich, es laßen sich auch die Seufzer und Thränen nicht wegleugnen, welche aus Brust und Auge selbst des Christen aufsteigen,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/216&oldid=- (Version vom 4.9.2016)