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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Kleines, nur noch eine kleine Zeit, bis Er mit ihnen hinausgieng in Gethsemane, bis Er Sich von ihnen riß und den blutigen Kampf, den heißen Todeskampf durchkämpfte, bis Er sie entließ und Sich in die Hände der Sünder übergab. Da flohen die Jünger und sahen Ihn nicht mehr. Zwar sahen sie Ihn hernach doch noch am Kreuze hangen, aber das war ein Sehen, fast betrübter als das Nichtsehen, ein Sehen, an dem sie jeden Falls deutlich merken konnten, daß sie Ihn nun bald gar nicht mehr sehen würden. Und dann starb Er, und es kamen Nikodemus und Joseph und legten Ihn in das Grab, und man versiegelte den Stein, der vor des Grabes Thür lag. Da war nun geschehen, was der HErr gesprochen hatte: „Ueber ein Kleines, so werdet ihr Mich nicht sehen.“ Wie kurz war die Zeit von dem Donnerstagabend, an welchem Er die Worte sprach, bis zum Freitag Abend, wo Er hinter dem Grabstein schlief und Ihn die Jünger nicht mehr sahen?

 Da war nun zugleich erfüllt, was der HErr von der Zeit gesagt hatte, da sie Ihn nicht mehr sehen würden: „Ihr werdet weinen und heulen, aber die Welt wird sich freuen, ihr aber werdet traurig sein.“ Die Welt freute sich. Haben wirs nicht gelesen, wie die Feinde Christi, die Juden, die argen Kinder der Welt, triumphirend am Kreuze vorüberstolzierten, wie sie die Häupter schüttelten, wie sie Ihn höhnten, verspotteten und lästerten, wie da die vornehmen, hochgestellten Hohenpriester und die Schriftgelehrten und die Aeltesten Israels mit den mitgekreuzigten Schächern Eins wurden im bösen Muthwillen und auf das Unwürdigste ihre Freude kund gaben, daß Er nun ferner weder andern, noch Sich Selber helfen konnte? Ja, die Welt freute sich, − und als nun der Tod gewis erfolgt, die heilige Seite durchbohrt, der Leichnam abgenommen und hinter versiegelter Pforte ins Grab gelegt war: wie süß werden da beim Abendeßen die süßen Brote den verzweifelten Bösewichtern geschmeckt haben! Wie wird sich Hannas gefreut haben und Caiphas fröhlich gewesen sein! Dagegen weinte die heilige Gottesmutter, und die Jünger weinten und heulten und alle, die IHN lieb hatten, waren traurig, daß es nun, wie es schien, so ganz aus war mit Ihm und mit ihrer Hoffnung von Ihm. Wißt ihr noch, lieben Brüder, was einst der HErr den Johannisjüngern zur Antwort gegeben hatte, da sie Seine Jünger wegen zu wenigen Fastens angegriffen hatten? „Wie können die Hochzeitleute Leid tragen, sagte Er, so lange der Bräutigam bei ihnen ist? Es wird aber die Zeit kommen, daß der Bräutigam von ihnen genommen wird, alsdann werden sie fasten?“ Das war nun eingetroffen. Der Bräutigam war nicht mehr da, nun kam Leidtragen, Weinen und Heulen von selber.

 Indes dauerte noch das Weinen, Heulen und Traurigsein auch nicht lange. Es war auch nur ein Kleines. Es dauerte kaum vierzig Stunden − von der dritten Nachmittagsstunde des Charfreitags bis zur sechsten Morgenstunde des Sonntags. Da sahen die Jünger den HErrn wieder, wie Er gesagt hatte: „Ueber ein Kleines, so werdet ihr Mich sehen.“ Und wie sie Ihn wiedersahen nach Seiner Auferstehung, da hieß es: „Eure Traurigkeit wird in Freude verwandelt werden,“ und: „Ich will euch wieder sehen und euer Herz soll sich freuen.“ Warum waren denn die Jünger traurig gewesen? Weil der Bräutigam von ihnen genommen war. Wenn nun der Bräutigam wieder mitten unter sie trat − und dazu so licht und hehr, wie es geschehen, − da fiel alle Ursache der Traurigkeit weg, mit Ihm Selber kam die Freude wieder. Das ists ja eben, wovon uns noch die Ohren klingen! Oder nicht? Ist nicht das Osterhalleluja noch in unsern Ohren, ja noch auf den Lippen? „Der HErr ist auferstanden! Halleluja. Er ist wahrhaftig auferstanden! Halleluja!“ Da gabs Freude! Die Zeit der Traurigkeit war wirklich nur ein Kleines, nur eine kurze Zwischenzeit, nur eine kleine Kluft zwischen Freude und Freude, zwischen der kleinen Freude und der großen.

 Mit einem herzlichen Wohlgefallen verweilt der HErr bei diesem Wechsel zwischen Traurigkeit und Freude der Seinen. Wie wenn es Ihm Selber in der Nähe Seiner schweren Leidensarbeit ein Trost wäre, redet Er mehr davon, als eigentlich die Frage der Jünger nöthig gemacht zu haben scheint. Er vergleicht das Kirchlein, die kleine Versammlung der Seinigen, einem Weibe, Sich Selbst einem Kindlein, welches durch die Auferstehung gewissermaßen geboren wird, und die vierzig Stunden, da Ihn die Seinigen nicht sehen sammt der Traurigkeit, welche die vierzig Stunden lang die Seinigen belastete, der Geburtsstunde eines Weibes. Wie ein Weib, das einen Sohn gebiert, Schmerzen und traurige Angst empfindet, bis sie ihr Söhnlein hat; so

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/214&oldid=- (Version vom 4.9.2016)