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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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Am neunzehnten Sonntage nach Trinitatis.

Ephes. 4, 22–28.
22. So leget nun von euch ab, nach dem vorigen Wandel, den alten Menschen, der durch Lüste in Irrtum sich verderbet. 23. Erneuert euch aber im Geist eures Gemüths; 24. Und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit. 25. Darum leget die Lügen ab, und redet die Wahrheit, ein jeglicher mit seinem Nächsten, sintemal wir unter einander Glieder sind. 26. Zürnet und sündiget nicht; laßet die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen. 27. Gebet auch nicht Raum dem Lästerer. 28. Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr; sondern arbeite und schaffe mit den Händen etwas Gutes, auf daß er habe zu geben dem Dürftigen.

 IM Evangelium wird uns die Heilung des Gichtbrüchigen vorgelegt, welchem der HErr zuerst die Sünde, dann aber die schmerzliche Ohnmacht seiner Glieder wegräumt. So wie in dem Evangelium von dem Aussätzigen der Aussatz ein Bild unserer geistlichen Unreinigkeit ist, so faßt die Kirche bei ihrer heutigen Textwahl den ohnmächtigen und dabei schmerzlichen Zustand des Gichtbrüchigen als leibliches Bild unserer geistlichen Ohnmacht. Der alte Mensch, von welchem in der Epistel die Rede ist, umgibt den neuen, und dieser, eingeengt von jenem, erscheint gehindert, gichtbrüchig und gelähmt, so daß er wie auf Hilfe warten muß, um seine schmerzlich gebundenen Glieder zu strecken und zu bewegen. Wie aber der leiblich Gichtbrüchige eine Hilfe bei Dem fand, der ihm die Sünde vergab, so findet auch unser geistlich gebundener neuer Mensch bei demselben Manne Hilfe und in derselben Weise. Das erste und nöthigste ist die Ruhe der Seele in der Vergebung der Sünden; darnach aber führt und leitet der heilige Geist unverweilt und unaufhaltsam in die Erneuerung ein und verschafft dem seufzenden neuen Menschen, daß seine Füße auf weiten Raum kommen, und seine Arme mit Kraft gestählt werden, Gottes heilige Werke zu wirken. Es findet also eine sinnvolle Beziehung der beiden Texte auf einander statt, welche sich der Seele leicht einprägt, so daß man einen Text mit dem andern wohl merken kann. Unser Auge ruht heute auf der Epistel und sie ist es, die wir genauer betrachten. Sie hat zwei Theile, von welchen der| erste im Allgemeinen von der Erneuerung handelt, während der zweite drei herrliche Früchte des neuen Menschen in uns darlegt. In derselben Ordnung wie der Text ergeht sich diesmal auch dieser Vortrag. Laßt uns einen Theil desselben nach dem andern betrachten.

 In dem ersten Theile wird zuvor der alte Mensch, den jeder Christ in sich trägt, von dem neuen unterschieden, welchen gleichfalls jeder Christ in sich hat. Nachdem sie unterschieden sind, wird ihr Verhältnis zu einander gezeigt, wie es ist und wie es sich gestalten soll.

 Was „alter Mensch“ heiße, ist euch allen bekannt. Es ist darunter jener Zustand gemeint, der mit uns geboren wird, deßen wir auch von Natur nicht los werden können, jener nicht anerschaffene aber uns angeborene, mit all seinem Hang, mit aller seiner Neigung und Abneigung, seiner Lust und Unlust. Mag man sich die äußere Gestalt und Ausprägung des alten Menschen denken, wie man will, dazu auch seine Macht und Gewalt noch so groß, immerhin ist er dazu verurtheilt aufzuhören, und so wie der Mensch ins Christentum eintritt, geht es mit der Herrschaft dieses Zustandes zu Ende, der alte Mensch kommt ins Abwesen, so zäh er sei, so schwer er sich entschließe zu sterben, und der ihm gemäße Wandel heißt von dem Eintritt ins Christentum an der vorige, denn seine Herrschaft ist vorüber, nun herrscht ein anderer. In diesem Zustande des alten Menschen gehorcht der Mensch den Lüsten, diese locken ihn, ja sie zwingen ihn; wie ein Thier in die Falle geht, so folgt er den Lockungen, und wie ein Ochse zur Schlachtbank gezogen wird ohne seine Kraft gegen den Zug nur zu gebrauchen, so läßt sich unser natürlicher Mensch dahin ziehen zur Büßung der schnöden Lust; ja wie ein Schiff vom scharfen Winde dahingerißen und vom Sturme hin und her geworfen wird, so wird das arme Herz im natürlichen Zustande oftmals vom Winde seiner Lust beherrscht. Man sagt wohl oft, ein Mensch solle nach Grundsätzen leben, und schon in früher Jugend lernt man das Sprüchlein: „Ein Thier folgt Trieben der Natur, ein Mensch dem Licht der Seelen“; aber es wird damit nur gesagt, was der Mensch soll, nicht was er thut; in der Wirklichkeit verhält sichs ganz anders, der Mensch folgt Trieben der Natur und nicht dem Licht der Seelen. Wenn zuweilen einmal irgend ein heidnischer Tugendheld eine Ausnahme zu machen scheint, so scheint es eben nur, und so viel das Gewißen und die Vernunft unter dem Einfluße des natürlichen Lichtes auch leisten mögen, es ist doch alles mit einander nur eine mühsam abgerungene Scheinfrucht und nur ein Vorbild deßen, was kommen soll, ein Stück vom alten Menschen und seines vorigen Wandels. – Von diesen Lüsten, die den alten Menschen beherrschen, sagt der Apostel in unserem Texte, sie seien Lüste des Betrugs. Sie gewähren nicht, was sie versprechen. Vor ihnen her geht eine Fahne des Glückes, hinter ihnen aber kommt der heulende Schmerz bitterer Enttäuschung. Man braucht nicht lange gelebt zu haben, um die Wahrheit des apostolischen Ausdrucks zu erkennen. Die Lust der Lüste, an der sich die Natur aller andern am kenntlichsten zeigt, ist die Jugendlust wider das sechste Gebot, die Geschlechtslust. Sie verheißt den Menschen goldene Berge und ein Paradies der Freuden, und was gibt sie? Selbst in der Ehe meistens nur einen bittersüßen Trank, ein Glück, das keine, edlere oder bewußte Seele zufrieden stellt, dazu eine ganze Welt voll Sorge und Mühsal und Schmerz im Leben, das in einem andern Lichte, als in dem natürlichen angeschaut sein muß, um gepriesen werden zu können. Auf außerehelichen Wegen aber bringt diese Lust entweder schamlose Entartung und Verhärtung bei niederträchtiger Gemeinheit, oder Wehe und Leid, Jammer und Noth, Hilflosigkeit, Krankheit, auch allzufrühen Tod. So geschieht es denn, daß die Lust den Menschen nicht bloß täuscht, sondern wie St. Paulus nach dem Wortlaut unseres ersten Verses sagt, daß der alte Mensch verdirbt, untergehen muß in Noth und Jammer, nach den Lüsten des Betrugs, nach den betrüglichen Lüsten. Das ist sein Ende, das er auf seinem eigenen selbsterwählten Wege findet. Er betrügt sich mit Lüsten, denn er geht dem Verderben entgegen, gerade auf seinem eigenen Wege unaufhaltsam entgegen, auf dem Wege jeder Lust entgegen, welcher Art sie sei. Denn das ist das Urtheil des Allmächtigen und Heiligen, daß sich der alte Mensch durch Lüste in Irrtum verderbt und verderben muß.

 Gegenüber dem alten Menschen erscheint in unserem Texte sein Gegentheil, der neue Mensch. Niemand kann sagen, daß der alte Mensch eine Creatur| Gottes sei, vielmehr ist er die Verderbnis der göttlichen Creatur, durch des Teufels Neid, List und Kraft in unsere Natur eingedrungen, auf daß der Schöpfer in seinem Geschöpfe zu Schanden werden möchte. Der aber überbietet in seiner göttlichen Weisheit und Allmacht den Satan in seiner Macht und Klugheit und beginnt mitten in der alten Verderbnis eine neue Schöpfung, schafft einen neuen Menschen, von welchem in unserem Texte geschrieben steht, er sei nach Gott geschaffen. Da ist denn also Gottes Bild mitten im Wust der Verderbnis wieder hergestellt, und wenn gleich diese neue Schöpfung anfangs nur ein sehr schwaches und kleines Kindlein ist, dem mehr als ein Herodes das Licht des Lebens nehmen will, so weiß es der Schöpfer dennoch zu erhalten und groß zu ziehen, zu beschirmen, zu behüten, zu bewahren. Wie in der alten Natur betrügliche Lüste hausen, so beherrscht den neuen Menschen, wie Luther übersetzt, rechtschaffene Gerechtigkeit und Heiligkeit, oder, um genau am Wort zu bleiben, Gerechtigkeit und Unschuld der Wahrheit. Aus der göttlichen Wahrheit, der Predigt des Evangeliums gezeugt und geboren ist der neue Mensch; die Wahrheit ist seine Mutter und Amme, die ihn mit ihrer Milch und ihrem Lebenssafte nährt, und aus dieser Geburt und Nahrung kommt gegenüber den Menschen eine heilige Gerechtigkeit, ein Wohlverhalten, wie es einem Kinde Gottes ziemt, Gott aber gegenüber ein reines keusches Wesen des Geistes, eine Unschuld, wie man sie mitten unter den Versuchungen der Welt und der Teufel nicht vermuthen sollte.
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 Der alte und der neue Mensch sind aber wie zwei Naturen in einer Person, und zwar Naturen, die nichts mit einander gemein haben, von einander durchaus verschieden sind, einander widerstreiten, eine die andere aufzuheben und auszutilgen suchen. Zwischen den beiden Naturen und Trieben steht nun der Geist des Menschen. Hat Gott in einem Menschen die neue Creatur noch nicht geschaffen, so wird sie durch keine Sehnsucht hergestellt, auch wenn sich die Macht der ganzen Hölle oder auch des Himmels mit ihr verbände. Ist aber im Menschen einmal durch Gottes Gnaden eine neue Creatur, so vermag sie der Geist des Menschen zwar nicht zu erhalten, denn das ist Gottes Sache, wohl aber ihr Raum zu laßen oder nicht; der Geist eines Wiedergeborenen kann die Schleusen der neuen Creatur aufziehen, daß sich die heiligen fruchtbaren Waßer in alle Theile des inneren Lebens ergießen, er kann die Waßer, die er nicht schaffen kann, strömen laßen, oder er kann auch, wenn sie strömen wollen, die Schleusen zuziehen und den Erguß verhindern. Der Apostel gebraucht ein anderes viel treffenderes Bild, das aber noch stärker als das von mir gebrauchte die Macht und Kraft des wiedergeborenen Geistes betont. Er vergleicht den neuen Menschen wie den alten einem Kleide: der Wiedergeborene hat einen alten und neuen Menschen, ein altes und neues Kleid; jenes soll und kann er ausziehen, dieses soll er anziehen und darinnen einhergehen, ruhen und rasten, ohne jemals es wieder abzulegen. Beides kann und soll er nicht aus natürlicher Kraft und Macht, sondern nach der Kraft, die ihm der HErr in seiner Erneuerung darreicht, nach der göttlichen Kraft, die in uns wirket. Dieses doppelte Geschäft des Ausziehens und Anziehens, welches nicht ein einmaliges, sondern ein wiederkehrendes, tägliches und stündliches ist, da wir den neuen Menschen leicht verlieren können, wie ein Kleid, bezeichnet die innerste Tiefe der christlichen Heiligung, und wer es redlich übt, der opfert geistliche Opfer im Heiligtum. Wer auf sich selbst Acht gegeben hat, wenn irgend eine Wahl zwischen gut oder bös an ihn kam, irgend eine Versuchung, den rechten oder falschen Weg zu gehen, der kann es wißen, wie da der Geist hin und her wogt und es ein Ausziehen und Anziehen gilt, ein Verläugnen der Versuchung, eine immer neue Ergreifung des ewigen Lebens, von dem man selbst ergriffen ist. Hie läßt sich mit roher Hand, mit rohem Urtheil nichts erreichen, sondern wir sind hier in einer still verborgenen innern Werkstatt des Geistes von geheimnisvollem Leben. Wie wird man hie Meister und wie wird das Gericht hinausgeführt zum Siege? Der Apostel gibt Rechenschaft, indem er Vers 23. von der Erneuerung des Geistes unseres Gemüthes redet. Er unterscheidet also Geist und, wie Luther übersetzt, Gemüth, und nennt das, was in unserem Gemüthe regiert, die oberste von vielen unter uns kaum je belauschte Kraft, den Geist. Diese oberste innerste Kraft soll täglich erneuert werden, damit sie alsdann vermöge, den alten Menschen aus, den neuen anzuziehen. Ich muß es euch gestehen, meine lieben Brüder, daß wir hier mit einander von einem inneren| Vorgang reden, für den und deßen Geschäfte ich kaum die Worte zu finden weiß; denn es liegt etwas Erstaunliches in der Sache. Der Mensch, von Natur des Guten unfähig, wird durch die Wiedergeburt des Guten fähig, so daß er nicht bloß seine alte Natur ausziehen kann und seine neue anziehen, wie ein Kleid, sondern sich auch erneuern im Geiste des Gemüthes. Könnte er es nicht, so riefe ihm der Apostel nicht zu: „Erneuert euch im Geiste eures Gemüthes.“ Erstaunliche Verantwortung, die also der Christ in Betreff seines inneren Lebens hat! Er hat eine Verantwortung, während ich armer Mensch, der ich andere lehren soll, mich kaum getraue, meine Meinung darüber zu sagen, wie sich jemand im Geiste seines Gemüthes erneuern solle und könne. Wenn ich auch sage, ich sei in der Taufe zum ersten Mal neu geworden, und müße in Kraft des mir dort geschenkten Lebens mich wieder erneuen können, so ist mir über das Wie der täglichen Erneuerung doch noch keine Unterweisung gegeben. Richtet sich auch der Befehl an die neue Creatur in mir, so bleibt mir ja doch am Ende nichts übrig, als die Annahme, die mich selbst in Erstaunen versetzt, ich soll mich kraft der mir beigegebenen göttlichen Macht erneuen: da muß also mein erneuter Wille immer wieder hervortreten, sich gläubig in die Fluth der mir beigelegten Kräfte der Taufe niedertauchen und wieder herauskommen ein täglich neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Heiligkeit vor Gott ewiglich lebe. Zu dieser wunderbaren Tätigkeit unseres Willens beruft uns der HErr durch das apostolische Wort, und wenn wir dem Rufe gehorsam wären, so müßten wir namentlich in den Stunden unserer stillen Andacht das Geschäft der Erneuerung vollziehen und unser immer erneuter Geist müßte dann beim Ausgang aus dem Kämmerlein, wo wir beten, und beim Eintritt in den Beruf des täglichen Lebens das weitere Geschäft vollbringen, den alten Menschen aus, den neuen anzuziehen. Die tägliche Uebung müßte uns Meister machen. Und je länger, je mehr müßte uns unsere Erneuerung und eben dadurch auch die tägliche Ergreifung und Anziehung des neuen Menschen gelingen. Wahrlich, meine lieben Brüder, solche Stellen der heiligen Schrift, wie die, an der wir uns beschäftigen, können uns zeigen, was für ein Unterschied zwischen der elenden Moral ist, die viele predigen, und zwischen dem inneren Leben, zu welchem wir durch den Mund der alten Apostel aufgeboten werden. Die zu so Großem berufen sind, mögen sich in Demuth beugen, ihre Aufgabe schätzen lernen, ihr inneres Leben beachten und den HErrn anrufen, daß es ihnen niemals am kräftigen Zuruf des Wortes und niemals am reichen Zufluß des heiligen Geistes mangele, im großen Geschäfte der Erneuerung vorwärts zu gehen.
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 Wir stehen bei dem zweiten Theile unseres Textes, in welchem die allgemeine Ermahnung zur Erneuerung ihre besondere Wendung nimmt. Diese besondere Wendung hält übrigens doch auch die Art und Weise der allgemeinen Ermahnung ein. Diese redet nemlich von einem Ablegen des alten Menschen, und einem Anziehen des neuen. Ebenso finden wir es nun auch bei den besonderen Handlungen und Erweisungen des neuen Menschen, welche der Apostel vorbringt. Auch hier steht sich ein Ablegen und Anziehen, wenn nicht in den drei besonderen Erweisungen des neuen Menschen, so doch in zweien gegenüber, obschon, wer da wollte, den Gegensatz zwischen Ablegen und Anziehen bei allen durchführen könnte. Laster werden abgelegt, Tugenden werden angenommen; neben dem, was abzulegen ist, wird auch gleich gezeigt, welche Tugend entsprechend anzulegen sei, da ja ohne Zweifel jedem Laster seine Tugend, jedem bösen Werke seine gute Frucht des heiligen Geistes zur Seite und gegenüber gestellt werden kann. So ermahnt denn der Apostel: „Leget die Lügen ab“ und dem gegenüber: „redet die Wahrheit, ein jeglicher mit seinem Nächsten, sintemal wir unter einander Glieder sind.“ Er ermahnt ferner: „Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr,“ und dem entsprechend: „er arbeite und schaffe mit den Händen etwas Gutes auf daß er habe zu geben dem Dürftigen.“ Da stehen sich also Lüge und Wahrhaftigkeit, Stehlen und mildthätiger Fleiß wie Nacht und Tag, wie Schatten und Licht einander gegenüber. Ebenso kann man auch aus dem mittleren Gliede den Gegensatz leicht herausfinden, wenn auch der Apostel nicht im gleichen Maße, wie bei dem ersten und dritten Gliede, in der Form des Gegensatzes spricht. Neben dem zornmüthigen Wesen, welches erwähnt wird, erscheint in ihrem milden Glanze die friedfertige verzeihende Liebe. „Zürnet und sündiget nicht,“ vermahnt der Apostel und| wenn man daraus auch entnehmen könnte, daß es also auch einen Zorn gebe, der nicht Sünde ist, so ist es doch die nächste Absicht Pauli, den unzähligen Versündigungen durch Zornmuth ein Ziel zu stecken; Zornmüthigkeit soll abgelegt werden. „Laßet die Sonne nicht untergehen über eurem Zorne, gebt auch nicht Raum dem Lästerer,“ ruft er. Damit treibt er ja zu friedfertiger Versöhnlichkeit. Daß in einem Menschen, auch wenn er Christ ist, ein Zorn entbrenne, eine Bitterkeit sich rege, ist leicht möglich und wahrscheinlich obendrein: aber bleiben soll keine Verbitterung; ehe man sich niederlegt zum Schlafe, soll das Herz wieder in Ruhe und Liebe sein, dem Teufel und seinen Genoßen, die sich freuen, wenn der Zorn einheimisch wird, mit all den misgestaltigen Ungeheuern seines Geschlechtes soll keine Zeit noch Raum gelaßen werden; ehe sie beikommen und sich der Sache bemächtigen können, soll der wankende Friede wieder aufgerichtet, die brüderliche Stimmung gegen die Beleidiger, geschweige gegen den Beleidigten wieder vorhanden sein.

 Merkwürdig ist es, daß der Apostel in diesem Brief an die Ephesier an die allgemeine Vermahnung, den alten Menschen aus, den neuen anzuziehen, zunächst diese drei besonderen Ermahnungen anschließt, wie wenn sie vor allen zu erwähnen wären, wie wenn das Bild Gottes durch nichts mehr entstellt würde, als durch die drei Laster: Lüge, Zorn und Diebstahl; wie wenn es durch nichts glänzender hervorträte, als durch Wahrhaftigkeit, Versöhnlichkeit und milden Fleiß. Man könnte die Frage aufwerfen, ob denn diese drei Erweisungen der innerlichen Erneuerung bei allen Gemeinden und allen Menschen die ersten seien, auf welche zu dringen sei? Man könnte eine verneinende Antwort versuchen, aber so wie man sie versuchen würde, würde man auf der Stelle inne werden, mit welchem sicheren praktischen Blicke der Apostel die Gemeinden vermahnt. Wenigstens wird ein Kenner der hiesigen Gemeinde sein Verfahren völlig richtig finden. Es war bei den Ephesiern, wie bei uns, es ist bei uns wie bei den Ephesiern: nichts ist gewöhnlicher als Lüge, Zorn und Diebstahl, nichts erbaut mehr und ist segensreicher, als Wahrhaftigkeit, friedfertige Versöhnlichkeit, mildthätiger Fleiß. Es wird daher allerdings nicht mit Unrecht allen Gemeinden und allen Christen zugemuthet werden dürfen, daß sie ihre Erneuerung zu allernächst in den drei vorgelegten Stücken beweisen und offenbaren mögen.

 Ich darf es dabei, meine lieben Brüder, nicht unterlaßen, euch auf etliche Einzelheiten aufmerksam zu machen, die wir in den Sündervermahnungen des heiligen Apostels, wie sie in unserem Texte vorliegen, bemerken. Bei der Ermahnung zur Wahrhaftigkeit, bei der Warnung vor der Lüge begründet er seine Rede durch die Worte: „Wir sind untereinander Glieder,“ Glieder Eines Leibes, nemlich der heiligen Kirche. Was liegt darinnen anderes ausgesprochen, als daß die Lüge eine arge Sünde gegen die kirchliche Gemeinschaft sei, daß die Bruderliebe vor allen Dingen wahrhaftig machen müße. Was kann denn die Lüge unter denen für einen Zweck haben, die in Zeit und Ewigkeit alles gemein haben, die durch göttliche Wahrheit und Offenbarung von oben nicht bloß erkannt haben, daß die Lüge dem Reiche Gottes in den höheren und niedrigeren Regionen des Lebens widerstrebt, sondern auch, daß das eigne Herz durch jede Lüge mit einer neuen Last und mit neuer Finsternis belegt wird? Was kann überhaupt die Lüge für einen Zweck haben für denjenigen, der nichts sucht, als das Heil seiner armen Seele? Dient sie auch zuweilen, uns vor Menschen in einem schöneren Lichte erscheinen zu laßen, als wir vor Gott stehen, so kommt ja doch die Enttäuschung und die unerbittliche Wahrheit mit jedem Tage mehr herzu; jenseits des Grabes gilt ja kein Schein mehr. Wenn man auch sagen wollte, daß durch ein wahrhaftiges Benehmen in allen Stücken oftmals mehr Aergernis gegeben werde, weil mehr Sünde ans Licht tritt, so wird doch die Gemeinde der Brüder durch die Buße, die sich in der wahren Darlegung aller Dinge aussprechen muß, weit mehr im Guten gestärkt, als durch den Heuchelschein der Lüge, der nun einmal doch nicht auch die Kraft eines gesegneten wahrhaftigen Beispiels borgen kann. Die Wahrhaftigkeit in allen ihren Gestaltungen, namentlich in der der Buße ist wie ein frischer Lebenswind, der alles befruchtet, während die Lüge in allen Fällen ein giftiger Nebel ist, der alles Kraut verdirbt. Daher kann man für diesen wie für alle Fälle behaupten, daß Wahrhaftigkeit die rechte Hand der Bruderliebe sei, und daß, wer lieb hat, sich vor allem der Wahrheit zu befleißen habe.

 An der zweiten Stelle warnt der Apostel vor| dem Zorn, und ihr dürftet dabei wohl die drei Stufen unterscheiden, welche er uns vom Zorne vorlegt. Die erste ist die zornmüthige Erregung, für welche M. Luther in seiner Uebersetzung kein eigenes Wort wählt, sondern sie mit dem allgemeinen Worte „Zorn“ übersetzt. „Laßet die Sonne nicht über eurem Zorne untergehen“ übersetzt er; es heißt aber eigentlich: die Sonne soll nicht untergehen über eurer zornmüthigen Aufwallung oder Erregung. Diese Aufwallung ist die erste Stufe, der Beginn des Zorns; die zweite könnte man in den Worten finden: „Gebt nicht Raum dem Lästerer, dem Teufel.“ Wirst du ja von einer zornmüthigen Aufwallung überfallen, so sei es dir heiliges Gesetz, dich von dem bitteren Rausche schnell befreien und dem armen Herzen wieder Ruhe schaffen zu laßen. Eile mit deiner Aufregung und deiner taumelnden Trunkenheit zu Ende zu kommen, ehe die Sonne untergeht, sonst sorgt ein anderer, der Lästerer, der Teufel dafür, daß sich dein Handel immer mehr verwirrt und dein Herz immer mehr umstrickt wird von den Banden deines Grimms. Wirst du nicht gehorchen, deine Zornesfluthen nicht schnell beschwichtigen, dem Zorne Raum laßen; so wird aus dem, was zuerst nur eine Wallung und ein leichtes verzeihliches Aufbrausen gewesen ist, sich die dritte Stufe erheben: einfach der Zorn genannt, der Zustand des Zorns, in welchem der Mensch alle seine Kräfte dem Dämon des Zornes übergibt und er alsdann von diesem zu allen Dingen getrieben wird, die vor Gott nicht recht sind, denn wie die Schrift sagt: „des Menschen Zorn thut nicht, was vor Gott recht ist.“ O es wäre kein geringer, kein unwichtiger, vielleicht auch kein erfolgloser Entschluß, wenn ihr, meine Theuren, heute das Gotteshaus verließet, um den Zorn in euch niemals mehr Zustand werden zu laßen, sondern ihn in der ersten Regung zu tödten und keine Sonne mehr über eurem aufbrausenden Herzen untergehen zu laßen.
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 Noch eine Bemerkung, meine lieben Brüder, zu der dritten Erweisung, welche der heilige Apostel von unserm neuen Menschen fordert. „Der da stiehlt, stehle nicht mehr, vielmehr aber mühe er sich ab, indem er was gut ist, mit seinen Händen wirkt, auf daß er habe mitzutheilen den Dürftigen.“ Indem der Apostel nicht sagt: „Wer gestohlen hat,“ sondern: „wer da stiehlt“, deutet er nicht auf die Sünde, sondern auf das Laster des Diebstahls. Es ist ein Unterschied zwischen Sünde und Laster. Jeder Diebstahl ist Sünde, aber nicht ein jeder ist Laster; zum Laster wird die Sünde, wenn sie Gewohnheit wird. Wer den Diebstahl in Uebung und zur Fertigkeit bringt, zu einer Erwerbsquelle macht, wie das nicht bloß bei den Griechen in Pauli Zeit der Fall war, sondern auch unter uns noch so vielfältig der Fall ist, der hat nicht bloß die Sünde, sondern das Laster des Diebstahls, und dieses muß den Einflüßen des Christentums weichen. Wer ein Christ glaubt sein zu können, und dabei stehlen zu dürfen: was er auch stehle, ob Speise oder Streu oder Holz oder was es sei, der verläugnet ohne Unterlaß den Glauben, der macht sich zum unwürdigen Abendmahlsgenoßen, der wird schuldig des Gerichts und je länger je mehr auch der Verdammnis. Dem heillosen Thun des Diebes gegenüber steht nun in unserem Texte das Verhalten des bußfertigen Christen beschrieben. Der stiehlt nicht, sondern er müht sich ab in seiner täglichen Arbeit und wirkt mit seinen Händen etwas Gutes. Bemerket, meine lieben Brüder, daß die Berufsarbeit in unserem Verse „das Gute“ heißt. Es ist nicht eine geringe Ehre für denjenigen, der in der täglichen Last körperlicher Arbeit dahingeht, aus dem Munde eines Apostels zu hören, diese Arbeit sei etwas Gutes. Da gibt man sich desto williger daran und wird lustiger, sie zu treiben, nimmt auch die Ermahnung des Apostels, sich abzuarbeiten und abzumühen im täglichen Berufe, desto lieber hin. Es ist dem Menschen oft sein blutsaures Tagewerk so gar beschwerlich; der abgearbeitete, müde Tagelöhner hält die Nothwendigkeit auszuharren, und täglich wieder ans Werk zu gehen, für eine schwere Noth des Lebens, für ein Unglück. Er sehe aber, um den Muth und die müden Glieder zu stärken, in das Wort Gottes, wirke das Gute seines Berufes und arbeite sich ab, und freue sich, wenn er nur auf diesem Wege dem Diebstahl entgeht. Es ist beßer arbeiten als sündigen, und wer durch Arbeit Sünde vermeiden kann, der ist glücklich zu preisen. Der HErr legt aber dem rastlosen Arbeiter in unserm Texte auch eine Verheißung bei: „Er soll haben mitzutheilen dem Dürftigen.“ Geben ist seliger als Nehmen, und wer nicht geben kann, der entbehrt etwas Süßes und Seliges. Menschen, die alles was| sie erringen, für sich brauchen, bekommen im Allgemeinen harte Formen und entgehen dem Geize schwer. Es soll doch ja keiner zufrieden sein, so lange er es nicht dahin gebracht hat, auch geben zu können. Geben ist nöthiger, als erübrigen; nicht blos kommt dadurch das zeitliche Gut zu seinem rechten Zwecke, sondern der Mensch, der sich darin übt, bewahrt sein Herz vor Härtigkeit. Viele Menschen gibt es, die es rein für unmöglich halten, etwas zu entbehren; vor jedem Armen, vor jeder Collectenschüßel, jedem Klingelbeutel, jeder Gelegenheit zu opfern und Gutes zu thun, gehen sie vorüber, als wären sie selbst die armen Leute, denen jederman geben sollte, statt daß sie gäben. Die Einbildung, der Wahn verfolgt sie, als hätten sie nichts übrig, und indem der Wahn in ihnen fix wird, ist es auch so; während sie scharren und geizen, haben sie zum Lohne das Gefühl der größten Armuth; niemand gibt ihnen, so sehr sie es wünschen und niemand dankt ihnen, weil sie niemand geben; der Fluch liegt auf ihnen, weil sie nicht erforschen, noch sehen mögen, daß am Ende jeder noch etwas hat, oder etwas erarbeiten kann, um es zu geben. Dem frommen Fleiße folgt der Segen, daß er kann, was er soll, und soll, was er kann, und wer, sei es auch in bittrer Armuth, sich dem Worte des Apostels untergibt, von dem wir reden, dem wird gegeben, auf daß er selbst habe und seliglich geben könne.

 Lieben Brüder, wie unser Dorf und unsere Pfarrei durch Lüge, Zorn und Diebstahl verwüstet ist, das wißet ihr alle. Ihr könnt aber auch alle schließen, was für ein Paradies und Schauplatz aller Engel eure Häuser, dies Dorf und unsere Parochie werden würde, wenn nur fürs erste einmal diese Ausgeburten des alten Menschen, Lüge, Zorn und Diebstahl abgelegt, und dafür angelegt würden Wahrhaftigkeit, friedfertige Versöhnlichkeit und frommer Fleiß. Jammernd sehe ich auf den breiten Weg, auf dem sich eure Menge in Lüge, Zorn und Diebstahl drängt. Sehnsüchtig sehe ich auf zu den Bergen, von welchen die Hilfe kommt, und rufe und schreie um gnädigen Erfolg des Wortes, daß der neue Mensch, der in euch seit eurer Taufe geschaffen und noch nicht ertödtet ist, stark werden möge, abzulegen die Werke der Finsternis, anzulegen die Waffen des Lichtes. O großes Glück aller, die sich täglich erneuern laßen im Geiste, auf daß sie Gottes Werke wirken. O Wonne und Freude, wenn mehrere unter euch, wenn viele einig würden unter einander, sich zu erneuen, die heiligen Wege der Wahrhaftigkeit, der Friedfertigkeit, des frommen Fleißes zu gehen. Wie schön wäre es bei uns, ja wie schön wäre es im Eise des Nordens und in der Gluth des Südens, wenn die Christen einig würden, den alten Menschen aus, den neuen anzuziehen! Und das gienge so leicht, denn den Willigen hilfst Du, o HErr mein Gott, an Deßen Brust ich mich bergen und mit Dem ich mich trösten muß, wenn nicht geschieht, wozu Du und Deine heiligen Apostel mahnen. O HErr, sei gnädig uns armen Sündern. Amen.




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