Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)/Trinitatis 20
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Am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
- 15. So sehet nun zu, wie ihr vorsichtiglich wandelt, nicht als die Unweisen, sondern als die Weisen. 16. Und schicket euch in die Zeit; denn es ist böse Zeit. 17. Darum werdet nicht unverständig, sondern verständig, was da sei des HErrn Wille. 18. Und saufet euch nicht voll Weins, daraus ein unordentlich Wesen folgt; sondern werdet voll Geistes, 19. Und redet unter einander von Psalmen und Lobgesängen und geistlichen| Liedern; singet und spielet dem HErrn in eurem Herzen; 20. Und saget Dank allezeit für alles, GOtt und dem Vater, in dem Namen unsers HErrn JEsu Christi; 21. Und seid unter einander unterthan in der Furcht GOttes.
IN dem heutigen evangelischen Texte sehen wir den Vorhof des ewigen Hochzeitsaales, die Kirche auf Erden, in ihrer Misgestalt, und wie endlich der ewige Bräutigam erscheint und eine Scheidung macht zwischen den geladenen Gästen, je nachdem er an ihnen Sein hochzeitliches Kleid findet oder nicht. Neben diesem großartigen gewaltigen Texte geht der epistolische Text her, in dem allerdings nicht von dem hochzeitlichen Kleide die Rede ist, wohl aber von den herrlichen Folgen desselben, wo es ist, und von den schrecklichen Folgen seiner Abwesenheit. Da sieht man die Einen, die das hochzeitliche Kleid an sich tragen, vorsichtiglich, wie Luther übersetzt, oder genau, streng genau wandeln, dazu auch voll Psalmen und Hymnen und Oden der Ankunft des himmlischen Bräutigams entgegen harren, während die Andern, welche der Mangel der heiligen Gerechtigkeit JEsu nicht ruhen läßt, einen unordigen Wandel führen und sich allen Lüsten ergeben, welche wider die Seele streiten. Es wird also in den beiden Texten ein doppelter Blick eröffnet in ein und dasselbe große Lebensgebiet, in die streitende Kirche auf Erden, und recht harmonisch und vollkommen alle Nothdurft und aller Mangel derselben den Gemeinden vorgelegt.
Was nun den epistolischen Text anlangt, so hat er mit dem des vorigen Sonntags in so fern etwas gemein, als auch er einen allgemeinen und einen speziellen Theil hat. Wie in der vorigen Epistel der gedoppelte Wandel des alten und neuen Menschen, dann aber einzelne Früchte beider betrachtet und abgehandelt werden, so redet der heutige Text zuerst in den drei Versen vom 15. bis zum 17. von dem genauen Wandel der Christen, und bringt dann vom 18. bis zum 21. Vers Einzelheiten vor, in denen sich beides, der genaue und der ungenaue Wandel des christlichen Volkes gezeichnet findet.
„So sehet nun zu, spricht der Apostel, wie ihr vorsichtiglich (oder genau) wandelt, nicht als die Unweisen, sondern als die Weisen.“ Damit ist also ausgesprochen, daß ein genauer Wandel den Weisen geziemet, ein ungenauer aber sich bei den Unweisen findet. Der Weise und der Unweise können beide einerlei Sinn und Meinung im Allgemeinen haben, dazu auch einerlei Lebenszweck und Ziel. So findet man ja auch bei allen, die sich zu der christlichen Schaar rechnen laßen, als Ziel das ewige Leben: alle wollen selig werden, am Ende auch alle durch JEsum Christum; die einen aber nehmen sich in Acht, daß sie das Ziel nicht aus dem Auge, den Weg nicht unter den Füßen verlieren, sie geben Acht, sie nehmen es genau mit ihrem Wandel; die andern aber gehen dahin in den Tag hinein und halten ihren Glauben mehr in fleischlichen als in geistlichen Händen; in der Meinung, daß es ihnen nicht fehlen werde, wenn es zum letzten Abdruck kommt, sind sie leichtsinnig in ihrem Christenwandel und machen mit ihrer Heiligung keinen Ernst. Es ist offenbar, daß die ersteren um ihres Eifers willen in der Heiligung durchaus nicht nöthig haben, ihr Vertrauen ihren Werken zuzukehren und von dem einigen Grunde ihres Lebens, von Christo und Seinem Leiden abzuwenden; der streng genaue Wandel der Heiligen ist nichts als Weisheit, damit nicht das ewige Gut, welches Christus JEsus erworben hat, durch unheilige Hände verloren werde. Umgekehrt ist es nichts weniger als Weisheit, mit dem Bekenntnis der Seligkeit allein aus Gnaden ein unheiliges leichtsinniges Leben zu verbinden; da will man wohl selig werden, aber auf diese Weise wird man es eben doch nicht; was der Sohn Gottes mühevoll erworben hat, das fällt durch einen unheiligen Wandel schändlich dahin und die Verdammnis derer, welche dem Sohne Gottes trotz aller dargebotenen Gnadenkräfte in dieser Welt Schande machen, ist ganz recht. Wer also weise handeln will und sein Ziel erreichen, der erwähle sich unter dem Paniere der Seligkeit allein aus Gnaden zum täglichen Berufe einen strenggenauen Wandel und ruhe und raste nicht, bis er sein gesammtes Leben und alle Beziehungen desselben dem HErrn Christo unterthänig gemacht hat.
In das Gebiet dieser Ermahnungen zu einem streng genauen Wandel gehört alles das, was der 16. und 17. Vers in sich faßt, ebenso wohl was Luther mit den Worten ausdrückt: „Schicket euch| in die Zeit“; als was der 17. Vers von dem Aufmerken auf den göttlichen Willen enthält. Luthers Uebersetzung: Schicket euch in die Zeit, ist wie so oft keine wörtliche Uebersetzung und soll es auch nicht sein, sondern Luther gibt den Sinn des Ausdrucks, wie er ihn verstanden hat, treulich wieder und verdient auch hier das Lob, welches ihm unsere lutherischen Väter so oftmals gegeben haben, wenn sie behaupteten, seine Uebersetzung vertrete zugleich einen Commentar der Bibel und gebe seine Auslegung derselben an. Es liegt in diesem Lobe ein großer Vorzug der lutherischen Uebersetzung angegeben, möglicherweise aber auch der dunkle Fleck, wie denn überhaupt dicht neben der höchsten Gabe eines Menschen seine Schwachheit einherzugehen pflegt. In dem besonderen Falle, von dem wir reden, heißen die Worte der Schrift eigentlich so: „Sehet zu, wie ihr einen genauen Wandel führet, nicht als die Unweisen, sondern als die Weisen, die den Zeitpunkt auskaufen oder ausnützen, denn die Tage sind bös.“ Da sieht man also, daß der Apostel wirklich und im eigentlichsten Sinne die Benützung der Zeit oder des Zeitpunktes zu dem genauen Wandel rechnet. Der Apostel nimmt die Tage für bös, d. h. er ist der Meinung, daß sie im Allgemeinen wenig Gelegenheit bieten, dazu auch wenig Unterstützung und Erleichterung, Gutes zu thun; daß die Umstände und Verhältnisse einen heiligen Gang des Menschen durch die Zeit erschweren, daß sie der Heiligung ungünstig sind und das Gute aufhalten. Dies allgemeine Urtheil über die Zeit aber hindert ihn gar nicht, sondern im Gegentheil, es reizt ihn an, den einzelnen günstigeren Zeitpunkt von der Zeit im Allgemeinen zu scheiden, die Ephesier, in ihnen aber alle Christen zu der gleichen Unterscheidung anzuleiten und sie zur möglichsten Benützung und Ausbeutung jeder sich darbietenden Gelegenheit, Gutes zu thun und vorwärts zu kommen, zu ermahnen. Wohl wißend, daß der HErr den Seinen mitten in der unwirthbaren und unfruchtbaren Welt doch noch immer den Triumph gönnt und verschafft, gute Thaten auszusäen, sollen sie auf die Stunden achten und mit feinem Sinne eine jede prüfen, was in ihr zum heiligen Vorwärts geschehen kann. Und wie sie die Zeit richtig verstehen sollen, so sollen sie dann auch in der gelegenen Zeit gerade das rechte, den Willen Gottes, vollbringen, zu jeder Zeit das für sie paßende Werk, bei jeder Gelegenheit das beste, was geschehen kann, unermüdlich dem Wink und Willen Gottes folgend. Der Apostel unterscheidet die Erkenntnis der rechten Zeit von der Erwählung der rechten That; er weiß wohl, wie oft es geschieht, daß eine Stunde als günstig zu guten Werken erkannt, dabei aber das verkannt wird, was geschehen soll. Ob er aber gleich den Unterschied macht, der sich in der That auch so oft findet, so ist es doch nicht seine Meinung, daß bei den Christen getrennt und unterschieden sein soll, was zwar besondere Gabe ist, doch aber nur zusammen ausgeübt werden soll und nach Gottes heiligem Willen verbunden werden muß. Wer die günstige Zeit erkennt und dann doch versäumt, sie richtig zu benützen, der kauft den Zeitpunkt nicht aus, ist weder verständig noch weise, sondern im Gegentheil, er fällt in ein schweres Gericht des HErrn, weil er seine Frucht nicht brachte zu seiner Zeit, sondern dem Feigenbaum ähnlich, welcher dem suchenden Schöpfer und Erlöser Blätter ohne Früchte darbot. Darum sagt eben der Apostel im 17. Verse: „Werdet nicht unverständig, sondern verständig, was da sei des HErrn Wille.“ Zur Weisheit gehört der rechte Verstand und das rechte Aufmerken auf jeden Schritt und Tritt, der zu jeder Zeit geschehen soll. Im Auge das Ziel, unter dem Fuße den rechten Weg zum Ziele, in der einen Hand die Uhr, Zeit und Gelegenheit zu beachten, während die Rechte bereit liegt, auf dem Wege zur ewigen Heimat Gottes heiligen Willen in allen einzelnen Dingen zu vollbringen, so sehen wir den Christen St. Pauli in unserem Texte, den Gläubigen von genauem Wandel, gegen welchen die Christen, wie sie jetzt sind, in ihrer selbstzufriedenen Trägheit gewaltig abstechen. So wie der Mensch von gemeinem Schrot und Korn als nächstes Ziel seines irdischen Lebens ein behagliches und glückliches Dasein wählt und spießbürgerlich all sein Thun und Laßen darauf hinrichtet, sich auf Erden anzubauen und in seinen Hütten friedlich und gemächlich zu wohnen: so hofft der Christ der gewöhnlichen Art von seinem Christentum selbst ruhigen Lebensgenuß, und sein geistliches Leben muß sich seinem Hang und Verlangen nach zeitlichem Guthaben fügen. Ein genauer Wandel ist ihm zu unbequem; alles aufs Ewige hinauszurechnen ist ihm zu anstrengend und zu störend; ein| Leben, da man immerdar auf seiner Hut ist, immer auf dem Wege, da man nur immer auf günstige Zeitpunkte lauschen und die besten Werke in Obacht nehmen muß, – ein solches Leben däucht nicht Lust, sondern Last. Wem’s gefallen soll, der bedarf eine Anregung, ein Licht und eine Kraft von oben und obendrein guten Muth, es zu ertragen, wenn sein grader Gang, sein waches Auge, sein vorsichtiger Fuß, seine behende und starke Hand im Lande der Faulen, der Trägen, der Blinden, der Lahmen nur Unwillen und Anstoß und Misgunst erweckt. Wohl aber denen, denen es gegeben wird, daß sie es wagen, genau zu wandeln, und damit anzuhalten bis ans Ende!Als an jenem großen Erstlingsfesttage der Kirche Gottes, am ersten Pfingsttage, die Apostel des Geistes voll waren, da riefen die thörichten Spötter: „Sie sind voll süßen Weines“. Und doch ist die Wirkung des heiligen Geistes auf die Apostel das grade Gegentheil von der Wirkung des Getränkes gewesen; und doch kann man den Rausch der unmäßigen Trinker nur ein satanisches Widerspiel und eine abscheuliche Nachäffung jenes heiligen Zustandes nennen, in welchem die Apostel waren, wenn man überhaupt nur eine Vergleichung zwischen beiden Zuständen anstellen mag: denn es ist vornherein eine widerwärtige ungeziemende Vergleichung, eine Vergleichung, die im Gegensatz endet, und die fromme Menschen zum Gegensatz treiben sollte, nemlich eben dazu, daß sie sich füllen laßen mit dem heiligen Geiste, wozu der Text selbst die beste Anleitung gibt.
Wohl mag es sein, daß der oder jener, der allerdings nicht geneigt ist, einen Zustand, wie er an den Aposteln an Pfingsten zu sehen war, mit einem Weinrausche zu vergleichen, es doch auch wieder nicht recht wahrscheinlich findet, daß jener begeisterte Zustand sich mit einem genauen Leben zusammenreimen laße, wie es unser heutiger Text predigt. Wenn er zumal den 19ten und 20ten Vers mit dem begeisterten Zustande der Apostel und ersten Christen zusammen nimmt, das Singen und Spielen im Herzen, das gegenseitige Zusprechen und Singen von Psalmen und Hymnen und Oden, das allenthalben und aller Orten eintretende Danksagen als natürlichen und unaufhaltsamen Erguß jenes hohen geistlichen Lebens faßt: wie leicht ist es da, das Gegentheil von jener heiligen Nüchternheit warzunehmen, die zu einem genauen Wandel gehört. Und doch ist es in der That und Wahrheit so, daß zwar der Weinrausch die Nüchternheit aufhebt, die Fülle des Geistes aber alle Hindernisse derselben wegschafft und sie selbst herstellt. Wer ist nüchterner: jene Juden, welche die Fülle des Geistes als Weinrausch faßen, oder der hohe Kephas, der sie, selbst unwiderleglich, widerlegt, der, obwohl des Geistes voll, alle Verhältnisse und Umstände mit der größten Schärfe und Wahrheit beobachtet und auffaßt und aus dem Mittelpunkt seines geistlich gehobenen Lebens heraus ein vollkommenes Urtheil über alle Dinge abgibt? Das ist eben der Wahn, welcher manchen Menschen plagt, daß der Geist Gottes den Menschen ihren richtigen Blick in diese Welt herein wegnehmen könnte: ein Wahn und Mistrauen, das keinen guten Grund hat, aus keinem nüchternen, keinem frommen Herzen fließt! Weil zuweilen ein Mensch, der Psalmen und Hymnen und Oden singt, Gott allewege Dank sagt und des Geistes voll scheint, der Nüchternheit ermangelt, so sieht man den Mangel geradezu als Frucht und Wirkung des geistlichen Lebens an, aus welchem der Dank und Lobgesang stammt, und anstatt sich für so eine verkehrte Meinung strafen und züchtigen zu laßen, hält man sie oftmals desto hartnäckiger fest. Wir aber wißen aus des Apostels Munde, glauben, bekennen und behaupten frei, daß ein genauer Wandel durch nichts mehr gefördert wird, als durch ein Leben im Geist und durch die heiligen Uebungen, von welchen St. Paulus spricht. Wir dämpfen den Geist nicht, wo er sich regt: im Gegentheil, wir wünschten, daß alle Welt seine Regungen reichlich und mächtig erführe, und wir empfehlen geradezu die heiligen Uebungen, die unser Text enthält, allen denen, welche die Gabe des in ihnen vorhandenen heiligen Geistes erwecken und pflegen und die Schleusen seiner Waßer| und Schätze ziehen wollen. Ja wir sagen, wer nüchtern werden wolle, der müße des Geistes voll werden, der allein das rechte Licht und Urtheil über alle Dinge zu geben vermag. Wir wollen auch diese geistlichen Uebungen der Psalmen und Hymnen und Oden, des Gesanges und Psalterspiels und der Danksagung keineswegs bloß in die öffentlichen Gottesdienste verlegen laßen, wir legen unseren Finger auf das „allezeit“ des 20. Verses und wollen mit dem Apostel, daß das ganze Leben erfüllt werde mit Dank und Psalm und Lied und Lob. Wäre es nur also, drängen nur diese Grundsätze hindurch, so wäre es aus mit der niederträchtigen Rohheit und Gemeinheit, die unter euch nichts Gutes, nichts Edles, nichts Schönes aufkommen läßt, und zu Ende mit der angeerbten väterlichen Sitte eines bloß im Niedrigen sich bewegenden Gewohnheitslebens. Hört nur ein einziges Mal mit nüchternem Ohre in eure gewöhnlichen Unterhaltungen hinein: wovon sprecht ihr, welche Worte braucht ihr? Ich meine, die meisten heben Worte und Gedanken vom schmutzigen Weg auf und wandeln innerlich kothigere Straßen, als ihr Fuß äußerlich betritt. Schämen sich doch die meisten edlerer Gefühle und Reden und einer heiligen Bildung, halten für Hochmuth ein Leben, das nicht im hergebrachten Schmutze lungert, und erröthen, wenn sie auch sonst keine Schamröthe kennen, so bald sie ein edleres Gefühl durchbebt, und sie der Geist einlädt zu einem himmlischen Leben. Ach wie wird man des Dinges und Lebens so müde, wenn man es Jahrzehnte lang seine schmutzigen Kreise um sich hat weben und ziehen sehen! Wie wünscht man diesem Vorhof der Hölle, dieser niederträchtigen Gemeinheit Tod und Ende, und den Beginn eines neuen heiligen Lebens!Zum Folgen, zum Gehorsam gegen das göttliche Wort ermahnten euch meine letzten Worte. Mit ihnen breche ich billig ab und gehe über zum Schluß der heiligen Epistel, die ja auch vom Folgen und vom Gehorsam redet. Wenn wir Ermahnungen zusammen zu reihen hätten, welche bestimmt wären, einen genauen Wandel bis in seine Einzelheiten zu zeigen, ich zweifle, daß wir die Ermahnungen, die unser Text enthielt, zusammenreihen würden und zweifle ebenso, daß wir die nun folgende letzte Ermahnung zum Gehorsam für diesen Zweck wählen würden. Der Apostel sagt nemlich: „Seid unter einander unterthan in der Furcht Gottes.“ Indem er spricht: „unter einander“, faßt er die verschiedensten Menschen und ihre verschiedensten Lebensverhältnisse zusammen, voran ohne Zweifel die Abhängigkeitsverhältnisse, aber auch die der Ueberordnung und der Gleichstellung, und will, daß die Untergeordneten, die Uebergeordneten, die Beigeordneten, daß alle sich gegenseitig unterordnen, und das in der Furcht des HErrn. Allerdings sieht das gar nicht so aus, als ob es zu einem genauen Wandel nöthig wäre; aber es ist nöthig und wer nur ein wenig nachdenken will, der wird es finden, wie viel darauf ankommt, daß alle in der ganzen Kirche von einem heiligen Eifer der gegenseitigen freiwilligen Unterordnung durchdrungen seien. Wer nach allen Seiten hin sich allen unterordnet, gleichviel, ob sie seine Vorgesetzten oder seine Untergebenen seien, der gewinnt nicht bloß alle, sondern er trägt dieselbige Gesinnung auf andere über oder legt ihnen wenigstens die kräftigste Ermahnung dazu ins Herz. Wenn man sich eine größere Anzahl Menschen von diesem seligen und gegenseitigen Eifer durchdrungen denkt, so bekommt man das lieblichste Bild eines heiligen Zusammenlebens, das ganze Leben erscheint im festlichen Frühlingsglanz der Liebe. Der Gedanke schon von einem solchen Zusammenleben könnte uns zu jeglicher Bemühung für dasselbige aufrufen. Es kann und darf aber auch nicht geleugnet werden, daß gerade die Uebung einer allseitigen demüthigen Rücksicht und Unterordnung keine Sache der bloßen Gabe und Anlage ist, sondern andauernden Fleiß und treue Bemühung fordert. Gehorsam nach allen Seiten hin ist Tugend und heilige Fertigkeit im Guten; ich möchte diese Tugend die schönste Blüthe eines genauen Wandels nennen und glaube, daß der Apostel seine Ermahnungen zu diesem genauen Wandel nicht beßer krönen und schließen konnte, als gerade auf diese Weise. Wenn ein trunkenes Leben, das er voraus verbot, die widerwärtigste Frucht der Rohheit und Rücksichtslosigkeit genannt werden kann, so ist im Gegentheil die freie Unterordnung, von der er spricht, die lieblichste Erscheinung und Frucht jener christlichen Bildung, die er als genauen Wandel bezeichnet. Wenn in der Nüchternheit die würdigste Erweisung der Vernunft, in einem Leben voll Lobgesang und Dank die größte Seligkeit des genauen Wandels beschrieben wird, so erscheint in der allseitigen Unterthänigkeit der feinste Takt desselben Lebens: zum nüchternen hellen Geiste, zum brennenden Herzen kommt so die edelste Begränzung des ganzen Lebens und die reinste rücksichtsvollste Schonung aller Verhältnisse. Daher ich auch in der That gerade bei der letzten Ermahnung Pauli das Gefühl der Vollkommenheit seiner Rede am meisten habe, zumal, wenn ich bedenke, daß die Unterthänigkeit, welche er fordert, in der Furcht Gottes geschehen soll, daß also jede andere Rücksicht der puren Höflichkeit oder was man sonst im Auge haben kann, zurücktritt und rein der Wille des Allerhöchsten und die Verantwortung vor dem heiligsten Vater im Himmel diejenigen beherrschen soll, welche dem apostolischen Worte gehorsam sind.
Solche Anfänger in dem genauen Wandel seid ihr, meine lieben Brüder, daß ich mich bei der Warnung vor Trunkenheit am meisten als euer Prediger und Pfarrer fühlte, während ich im Verlaufe der| anderen Ermahnungen das Gefühl in meinem Herzen trug, für euch gewissermaßen unpraktisch zu reden, weil mirs als ein so gar fernes Ziel für euch erschien, mir eure Herzen in brennender Flamme einer immerwährenden Andacht und im treuen Eifer gegenseitiger Unterordnung zu denken. Wenn nur auch in euch ein lebhaftes Gefühl eurer Verschuldung und eures Mangels, eures fernen Zurückbleibens hinter dem Ziele erweckt worden wäre, welches euch der heilige Apostel vorhält. Der Anfang aller Beßerung ist die Buße, und wer nie fühlt, wie viel ihm fehlt, der wird auch nie einen Trieb bekommen können, seinen Mangel zu erstatten. Möchte euch Gott wenigstens von der Gleichgiltigkeit erretten, die alles hören kann und sich dabei um gar nichts kümmert, selbstzufrieden in großen Sünden verharrt und auch nicht einen Augenblick zu einer Sehnsucht nach dem Beßeren zu erwecken ist, auch wenn ihr alles Heilige und Herrliche gezeigt wird, das sie nicht besitzt. Gottes ewiges Erbarmen verherrliche sich an euch, und wirke in euch heiligen Eifer bei tiefer Buße, verleihe euch seliges Gelingen zu einem eifrigen Bemühen. Amen.
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