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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

dem Zorn, und ihr dürftet dabei wohl die drei Stufen unterscheiden, welche er uns vom Zorne vorlegt. Die erste ist die zornmüthige Erregung, für welche M. Luther in seiner Uebersetzung kein eigenes Wort wählt, sondern sie mit dem allgemeinen Worte „Zorn“ übersetzt. „Laßet die Sonne nicht über eurem Zorne untergehen“ übersetzt er; es heißt aber eigentlich: die Sonne soll nicht untergehen über eurer zornmüthigen Aufwallung oder Erregung. Diese Aufwallung ist die erste Stufe, der Beginn des Zorns; die zweite könnte man in den Worten finden: „Gebt nicht Raum dem Lästerer, dem Teufel.“ Wirst du ja von einer zornmüthigen Aufwallung überfallen, so sei es dir heiliges Gesetz, dich von dem bitteren Rausche schnell befreien und dem armen Herzen wieder Ruhe schaffen zu laßen. Eile mit deiner Aufregung und deiner taumelnden Trunkenheit zu Ende zu kommen, ehe die Sonne untergeht, sonst sorgt ein anderer, der Lästerer, der Teufel dafür, daß sich dein Handel immer mehr verwirrt und dein Herz immer mehr umstrickt wird von den Banden deines Grimms. Wirst du nicht gehorchen, deine Zornesfluthen nicht schnell beschwichtigen, dem Zorne Raum laßen; so wird aus dem, was zuerst nur eine Wallung und ein leichtes verzeihliches Aufbrausen gewesen ist, sich die dritte Stufe erheben: einfach der Zorn genannt, der Zustand des Zorns, in welchem der Mensch alle seine Kräfte dem Dämon des Zornes übergibt und er alsdann von diesem zu allen Dingen getrieben wird, die vor Gott nicht recht sind, denn wie die Schrift sagt: „des Menschen Zorn thut nicht, was vor Gott recht ist.“ O es wäre kein geringer, kein unwichtiger, vielleicht auch kein erfolgloser Entschluß, wenn ihr, meine Theuren, heute das Gotteshaus verließet, um den Zorn in euch niemals mehr Zustand werden zu laßen, sondern ihn in der ersten Regung zu tödten und keine Sonne mehr über eurem aufbrausenden Herzen untergehen zu laßen.

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 Noch eine Bemerkung, meine lieben Brüder, zu der dritten Erweisung, welche der heilige Apostel von unserm neuen Menschen fordert. „Der da stiehlt, stehle nicht mehr, vielmehr aber mühe er sich ab, indem er was gut ist, mit seinen Händen wirkt, auf daß er habe mitzutheilen den Dürftigen.“ Indem der Apostel nicht sagt: „Wer gestohlen hat,“ sondern: „wer da stiehlt“, deutet er nicht auf die Sünde, sondern auf das Laster des Diebstahls. Es ist ein Unterschied zwischen Sünde und Laster. Jeder Diebstahl ist Sünde, aber nicht ein jeder ist Laster; zum Laster wird die Sünde, wenn sie Gewohnheit wird. Wer den Diebstahl in Uebung und zur Fertigkeit bringt, zu einer Erwerbsquelle macht, wie das nicht bloß bei den Griechen in Pauli Zeit der Fall war, sondern auch unter uns noch so vielfältig der Fall ist, der hat nicht bloß die Sünde, sondern das Laster des Diebstahls, und dieses muß den Einflüßen des Christentums weichen. Wer ein Christ glaubt sein zu können, und dabei stehlen zu dürfen: was er auch stehle, ob Speise oder Streu oder Holz oder was es sei, der verläugnet ohne Unterlaß den Glauben, der macht sich zum unwürdigen Abendmahlsgenoßen, der wird schuldig des Gerichts und je länger je mehr auch der Verdammnis. Dem heillosen Thun des Diebes gegenüber steht nun in unserem Texte das Verhalten des bußfertigen Christen beschrieben. Der stiehlt nicht, sondern er müht sich ab in seiner täglichen Arbeit und wirkt mit seinen Händen etwas Gutes. Bemerket, meine lieben Brüder, daß die Berufsarbeit in unserem Verse „das Gute“ heißt. Es ist nicht eine geringe Ehre für denjenigen, der in der täglichen Last körperlicher Arbeit dahingeht, aus dem Munde eines Apostels zu hören, diese Arbeit sei etwas Gutes. Da gibt man sich desto williger daran und wird lustiger, sie zu treiben, nimmt auch die Ermahnung des Apostels, sich abzuarbeiten und abzumühen im täglichen Berufe, desto lieber hin. Es ist dem Menschen oft sein blutsaures Tagewerk so gar beschwerlich; der abgearbeitete, müde Tagelöhner hält die Nothwendigkeit auszuharren, und täglich wieder ans Werk zu gehen, für eine schwere Noth des Lebens, für ein Unglück. Er sehe aber, um den Muth und die müden Glieder zu stärken, in das Wort Gottes, wirke das Gute seines Berufes und arbeite sich ab, und freue sich, wenn er nur auf diesem Wege dem Diebstahl entgeht. Es ist beßer arbeiten als sündigen, und wer durch Arbeit Sünde vermeiden kann, der ist glücklich zu preisen. Der HErr legt aber dem rastlosen Arbeiter in unserm Texte auch eine Verheißung bei: „Er soll haben mitzutheilen dem Dürftigen.“ Geben ist seliger als Nehmen, und wer nicht geben kann, der entbehrt etwas Süßes und Seliges. Menschen, die alles was

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/509&oldid=- (Version vom 1.8.2018)