Englischer Nationalstolz und englisches Vorurtheil

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Titel: Englischer Nationalstolz und englisches Vorurtheil
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 403–404
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Englischer Nationalstolz und englisches Vorurtheil.[1]


Ich glaube nicht, daß jemals ein Fremder London besucht hat, an den nicht zwanzig Mal die Frage gerichtet worden wäre: „Wie gefällt Ihnen England?“ Mich erinnerte diese Frage immer an die stereotypen Worte der Zollbeamten: „Haben Sie nichts Verzollbares bei sich?“ Wehe dem Fremden, der nicht seine unbedingte Bewunderung für englische Zustände und englisches Leben an den Tag legt! Englische Gastfreundschaft duldet Alles eher, als die Contrebande der leisesten Kritik.

Welche Zugeständnisse man auch immer dem nationalen Bewußtsein eines Volkes machen mag, – dieses nationale Bewußtsein muß doch immer gewisse Grenzen einhalten, wenn es nicht Gefahr laufen soll, lächerlich zu werden. Die Engländer – ich sage es unumwunden – treiben den Nationalstolz bis an die äußerste Grenze, sie sind Carricaturen des Nationalbewußtseins; ihre Unwissenheit rücksichtlich der continentalen Zustände, ihre durch nichts begründete systematische Geringschätzung für alles Nichtenglische muß sie in den Augen jedes Fremden, der ein unabhängiges Urtheil mit sich führt, lächerlich erscheinen lassen. Als ich vor etwa zwanzig Jahren Paris besuchte, richtete ein Mann, welcher der besseren Gesellschaft angehörte, die sonderbare Frage an mich: „Haben Sie viele Wölfe und Bären in den Umgebungen Wiens?“ Ich hatte alle Mühe, den Mann zu überzeugen, daß Wien südlicher liege als Paris. Er hatte sich nun einmal ein bestimmtes Bild von der Hauptstadt Oesterreichs gemacht, und die „Barbaren des Nordens“ waren bei ihm zur fixen Idee geworden. Die Römer nannten alle Nichtrömer „Barbaren“. Die Engländer nennen jeden Fremden „Frenchman.“[WS 1]

In einem der fashionablen Pensionate für junge Mädchen wurde durch eine der Lehrerinnen an meine Tochter die Frage gerichtet: „Tragen denn die Frauen in Deutschland auch Hüte?“ und ein englischer Reisender, dessen Reisebeschreibung ich kürzlich las, behauptete, von Deutschland und der Schweiz sprechend: Jeder Engländer, welcher Deutschland bereise, möge sich ja gewiß mit Seife versehen, da dieser Gegenstand dort nirgends zu finden sei. Vom Rheinwein sprechend, sagte derselbe englische Semilasso, es sei dieses Getränk ungefähr dasselbe, wie der englische Cider. Es ist eine Thatsache, daß in einem der anständigsten Stadttheile Londons ein Deutscher von der ganzen Nachbarschaft für verrückt gehalten wurde, weil er, wie man sagte, einen eigenen Menschen gemiethet hätte, der täglich seine Kleider durchprügeln müsse. Erst in der neuesten Zeit, etwa seit der großen Industrieausstellung, haben sich die Engländer mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß es auch ganz anständige Leute geben könne, die nicht das Glück haben, Briten zu sein.

Ein Pröbchen von der an Wahnsinn grenzenden englischen Arroganz mag die nachfolgende Stelle liefern, welche ich aus dem Leitartikel eines der einflußreichsten und verbreitetsten englischen Organe hiermit wörtlich ausziehe:

„Was die continentalen Regierungen immer gewinnen oder verlieren mögen, das kann unsere nationale Wohlfahrt in keiner Weise berühren. Die Unterthanen jener Regierungen sind zu arm und zu unwissend, zu unterdrückt und zu elend (miserable), um von den Schöpfungen unserer Industrie erheblichen Nutzen zu ziehen. Innerhalb der engen Umzäunung ihres Monopolsystems sind sie auf den Verbrauch der plumpen Erzeugnisse ihrer verstandlosen Arbeit angewiesen. Die englischen Fabrikate sind viel zu prachtvoll und kostspielig, als daß sie selbst den reichen Classen des Continentes zugänglich sein könnten, während unsere wohlfeileren Erzeugnisse, Dank sei es der Unwissenheit continentaler Staatsökonomen, zu einem Preise bei ihnen verbreitet werden mögen, welcher augenblicklich all’ ihre Mühlen und Factoreien zum Stillstande bringen würde.“

Die deutschen Industriellen, die in London factische Siege errungen haben, mögen aus diesem Pröbchen ersehen, welche Schätzung deutscher Industrie in England zu Theil wird, und die Deutschen überhaupt mögen endlich einsehen lernen, daß der maßlosen Selbstüberschätzung der Engländer gegenüber deutsche Bescheidenheit und immerbereite mundaufsperrende Bewunderung alles Ausländischen keine andere Folge haben kann, als wohlverdiente Geringschätzung von Seiten eines hochnäsigen Volkes, dessen Hauptverdienst, in der Nähe betrachtet, hauptsächlich nur in der Beherrschung des Geldmarktes liegt.

Ich will diese Anschauungsweise durch ein Beispiel illustriren. Der Eisenmanufactur steht eine große Umwälzung bevor, und es ist nicht unmöglich, daß wir vielleicht in wenigen Jahren nicht mehr auf Eisenschienen, sondern auf Stahlschienen reisen werden. Die directe Production von Stahl aus Roheisen ist nämlich in England der Gegenstand verschiedener Patente geworden, und in diesem Augenblicke sind zwei der größten Eisenmanufacturgeschäfte Englands, nämlich „The Mersey Steel and Iron Company in Liverpool“ und „Thomas Firth und Sons in Sheffield“, in einem erbitterten Kampfe begriffen. Jedes dieser Etablissements arbeitet auf ein anderes Patent hin – aber sie beschuldigen sich gegenseitig der Verletzung ihrer Patente und processiren. Ist diese Reform einst erfolgreich und herrschend in die Eisenmanufactur gebracht, so wird sich die englische Nase wieder hoch erheben und, wie in dem eben angeführten Auszuge, von den prachtvollen englischen Fabrikaten und von den plumpen Erzeugnissen verstandloser continentaler Industrie sprechen, und Niemand wird widersprechen und der bewundernde deutsche Anglomane wird wieder den Mund weit aufsperren, niedergeschmettert von englischer Größe, und wird ausrufen: „Herrliche Nation!“ Wer sich aber näher erkundigt, der kann erfahren, daß das große Eisenetablissement in Liverpool auf das Patent eines Deutschen hin arbeitet, Namens Riepe, und daß die große Firma in Sheffield sich auf das Patent eines Erfinders stützt, der zufällig wieder ein Deutscher ist, Namens Krupp. Außer diesen beiden Patenten soll, wie ich höre, noch ein drittes vorhanden sein, das sich in der Stahlerzeugung mit 50% Ersparniß bewährt, und dieses dritte Patent gehört zufällig wieder einem Deutschen, Namens Bessemer. Die plumpen und [404] verstandlosen deutschen Industriellen haben also, wie es scheint, Ideen, welche der englische Säckel zur Ehre und zum Gedeihen des „glorious England“ auszubeuten weiß. Ich hatte das Vergnügen, einige der Repräsentanten deutscher Journalistik im Jahre der großen Industrieausstellung in London zu sehen, und ich muß bekennen, daß ihre maßlose Bewunderung für alles Englische mich mit Erstaunen erfüllte. Ich konnte den Muth und die Andacht, mit welcher diese an bessere Kost gewöhnten deutschen Michel die halbrohen englisch-karaibischen Steaks verschluckten, nicht genug bewundern, und hörte mit Erstaunen, wie sich diese Herren „Reporter“ nannten, und wie ihr drittes Wort „Gentleman“ und „ladylike“ war. Einer dieser Herren rief auf einmal in meiner Gegenwart begeistert aus: „Und der herrliche Thee, den man in London trinkt!“ – und als ich ihm die Versicherung ertheilte, daß man in London bekanntlich den schlechtesten Thee trinke, da die systematische Wholesale-Verfälschung desselben sprüchwörtlich sei, – beschuldigte mich dieser würdige Freund einer an Wahnsinn grenzenden nervösen Gereiztheit und stärkte sich selbst und seine Begeisterung mit einer Flasche jenes verrufenen Höllengebräues, das man in London „Cape-wine“ oder „South african“ nennt, und dessen Wirkung mich hoffentlich an dem unverbesserlichen Anglomanen gerächt haben wird. Diese von mir mit Zuversicht vorausgesehenen Folgen des herrlichen südafrikanischen Weines waren aber nicht überzeugend genug für einen begeisterten Deutschen, und ich hatte gar bald Gelegenheit, mich hiervon zu überzeugen.

Als ich denselben „German Reporter“ später bei einer damals in der italienischen Oper gastirenden deutschen Sängerin wieder fand, hatte ich Gelegenheit, die deutsche Manie des Verblüfftseins in noch weit lächerlicherer Weise dargelegt zu sehen. Die erwähnte Sängerin hatte gleich nach ihrer Ankunft in London für’s Erste eine jener halbcomfortablen meublirten Wohnungen gemiethet, wie man sie im Westende zu Hunderten bereitstehend findet, um die Zeit zu gewinnen, sich nach einer wirklich anständigen Behausung umzuthun. Der Vermiether jenes Absteigequartieres war der Besitzer eines Schuh- und Stiefellagers in der Regent Street, der sowohl en gros als auch im Detail mit dieser Waare Handel trieb und wohl schon manche Schiffsladung nach Australien oder Ostindien geschickt hatte. Mein deutscher „Reporter“ hob voll Begeisterung ein Ende des Tischteppichs vom Rundtische, auf welchem der Thee servirt war, und rief mit Emphase: „Welch’ ein Land! Ein Schuster besitzt Meubles von Mahagoni!“ – So lange die Deutschen sich in solcher Weise im Auslande lächerlich machen, kann man nicht verwundert darüber sein, daß das civilisirteste Volk der Welt über die Achseln angesehen wird. Die Deutschen haben es durch ihren Mangel an Würde und Nationalbewußtsein schon so weit gebracht, daß das Land der Quäker und Unitarier und Wiedertäufer und Methodisten es wagt, sich über deutsches Wissen und deutsche Philosophie lustig zu machen. So fand ich neulich in einem Leitartikel die nachfolgende Stelle:

„Europa hat von Deutschland nichts gelernt, als einen groben Materialismus, umgeben von Bierschaum und Meerschaumpfeifenrauch. Die deutsche Philosophie ist nichts, als eine ungeheuere Olla-Potrida von englischem und schottischem Sensualismus, französischem Skepticismus, orientalischem Mysticismus und mittelalterlichem Dogmatismus.“

Das war mir denn doch ein bischen zu arg, und obgleich ich mich bisher von allen journalistischen Controversen in England fern gehalten hatte, glaubte ich doch, in diesem Falle für mein deutsches Vaterland eine Lanze brechen zu müssen, – um so mehr, als jener alberne Leitartikel sich in einem der verbreitetsten und accreditirtesten Tagesblätter befand. Ich wählte ein vielgelesenes englisches Witzblatt und ließ folgende Erklärungen einrücken:

„Einer der geistreichen Leitartikel des „Daily Telegraph“ sagt:

„Europa hat von Deutschland nichts gelernt, als einen u. s. w.

(folgt die obige Stelle.)
„Die unterzeichneten deutschen Philosophen benutzen die gastlichen Spalten des „Town Talk“, um hiermit im Namen sämmtlicher Philosophen Deutschlands zu erklären, daß sie nie in englischem oder schottischem Sensualismus gemacht haben und daß ihnen dieser Artikel gänzlich unbekannt ist.

„Im Namen jener deutschen Schriftsteller, welche mehr oder weniger mit Philosophie zu thun hatten.

Erklärung.

„Wenn der Unterzeichnete hätte ahnen können, daß seine Erfindung dazu mißbraucht werden könnte, sein Vaterland zu verleumden, so würde er sich mit einem Patente versehen haben.

Johannes Guttenberg, 
Unpatentirter Erfinder der Buchdruckerkunst.“     
Erklärung.
„Ja, der grobe Materialismus mit Rauch, der den Engländern in Indien eben jetzt so gute Dienste geleistet hat, ist eine deutsche Erfindung.
Berthold Schwarz, 
Unpatentirter Erfinder des Schießpulvers.“     
Erklärung.

„Ich kann nur für meine deutsche Uebersetzung einstehen.

Dr. Martin Luther, deutscher Reformator.“     

„O! Wenn ich das Pericranium dieses englischen Leitartikelschreibers nur für eine halbe Stunde besitzen könnte!

Dr. Gall, Erfinder der Phrenologie.“     

„Die Gesichtszüge dieses Mannes müssen höchst merkwürdig sein!

Lavater.“     

Das englische Witzblatt nahm meine Einsendung mit Dank auf, ich hatte die Lacher auf meiner Seite, und jener hochweise Verächter deutschen Wissens und deutscher Philosophie gab kein weiteres Lebenszeichen von sich.

Im Savage-Club, der nur von Schriftstellern und Künstlern gebildet ist, hörte ich einst den mit Recht populär gewordenen Humoristen Georges Augustus Sala behaupten: Die Deutschen besäßen Humor, aber Geist und Witz fehle ihnen gänzlich, wenn man etwa Goethe ausnehmen wolle. Als ich kurz darauf von Börne sprach, bemerkte ich zu meinem nicht geringen Erstaunen, daß unter allen anwesenden englischen Schriftstellern auch nicht Einer war, der diesen Namen jemals gehört hatte. Ich nahm mir die Freiheit, dem geistreichen Herrn Georges Augustus Sala zu bemerken: Daß man es billiger Weise der deutschen Literatur nicht zur Last legen könne, wenn sie den Engländern unbekannt sei.

Es versteht sich wohl von selbst, daß meine Bemerkungen über die Einseitigkeit und Hochnäsigkeit englischer Anschauung dem Continente und insbesondere Deutschland gegenüber sich nur auf die Allgemeinheit beziehen und Ausnahmen nicht ausschließen. So ist es z. B. nicht zu leugnen, daß namentlich in den höheren Ständen vorurtheilsfreie Würdigung der Vorzüge deutscher Bildung und deutschen Wissens nicht eben zu den Seltenheiten gehört; aber im Allgemeinen leben die Engländer unstreitig in jener glückseligen Selbstüberschätzung, die unseren Weltkörper zum Paradiese der Dummköpfe macht. Ein nicht zu übersehender Umstand ist es, daß Englands hervorragende Geister häufig das Thema, das ich eben berührt, mit furchtloser Offenheit besprochen haben, wie z. B. Dr. Johnson, Lord Byron und in neuerer Zeit Bulwer. Aber die große Phalanx der englischen Schriftsteller, besonders der neueren, scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, den Nationalvorurtheilen und der Eitelkeit der Massen zu schmeicheln. Mag man einen Roman oder ein Zeitungsblatt zur Hand nehmen, mag man ein Gedicht lesen oder ein Drama ansehen, – überall findet man das „England for ever“, überall findet man das „Rule Britannia“. – Was würde ich darum geben, könnte ich den zehnten Theil des Ueberschusses an Nationalbewußtsein, der die Engländer zu Carricaturen macht, an mein deutsches Vaterland übertragen, das durch diesen Bruchtheil zum Selbstbewußtsein befördert würde!

Nichts kann bezeichnender und zugleich lächerlicher sein, als der Umschwung, der neuerlich in dem Tone stattgefunden hat, welchen die englischen Zeitungen, Deutschland betreffend, angeschlagen haben. Noch vor Kurzem las man von dem machtlosen, von allen Seiten bedrohten, armen, zersplitterten, gewichtlosen Deutschland und von seinen lächerlichen Armeen, aus drei Generalen und zwanzig Mann bestehend, von den liliputanischen Duodezstaaten und dergleichen. Nun aber Deutschland in preiswürdiger Uebereinstimmung sein mächtiges Gewicht in die europäische Wagschale legt und dem gekrönten Abenteurer über den Alpen die Zähne zeigt, ist plötzlich Alles anders, und die Exchange-Politiker des stolzen England fangen an, die runden Zahlen, welche Deutschland in’s Feld zu stellen vermag, mit Wohlgefallen zu betrachten. Und was sagt das englische Orakel, das Idol der modernen Römer, die papiergewordene englische Unfehlbarkeit – die Times? Sie sagt, daß England von seinem erhabenen Standpunkte aus in Ruhe zusehen solle, wie sich zu seinem Wohle und Gedeihen Frankreich und Oesterreich gegenseitig aufzehren gleich jenen beiden Wölfen, von welchen nichts übrig blieb, als zwei Schwänze. Wer die Moral einer solchen politischen Anschauung erwägt, muß von der maßlosen Bewunderung englischer Größe geheilt werden, und wäre er selbst ein deutscher „Reporter“!



  1. Nicht von unserm bekannten permanenten Londoner Mitarbeiter.   D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Tranchman