Ein westphälischer Dichter
Ein westphälischer Dichter.
Fünf Stunden von der alten ehrwürdigen Bischofsstadt Münster, eine Stunde von dem freundlichen Warendorf, liegt das weitausgestreute Dorf Sassenberg. Die einzelnen Gehöfte strecken sich behaglich nebeneinander; die alten und doch solid erbauten Häuser, umgeben von reinlichen Höfen und kunstlosen Gärten, zeugen von dem Grundzug des nordwestphälischen Charakters, der zäh und mit Liebe am Alten hängt, kräftig und fest sich in allen Aeußerungen giebt. Weite Haiden, und sandige Steppen dehnen sich ringsum aus; hier und da steht einsam ein Baum. Gelb säumt der Ginsterstrauch die braune Scholle; fernab zieht sich die bewaldete Hügelkette, in dunkle Bläue getaucht. Alle Natur mahnt an düstre Elegie; die schwere Ruhe der Landschaft drängt alle Gefühle des Menschen in sein Innerstes zurück, erfüllt das Herz mit stillem Weh und sanfter Lust.
Hier, inmitten des westphälischen Haidelandes, etwas abseits von den Gehöften des Dorfes, liegt das kleine Schlößchen Sassenberg. Die grüne Parkoase, in die es gebettet ist, stimmt wunderbar in ihrer elegischen Färbung mit der ganzen Umgebung. Man merkt, Park und Schloß sind aus diesem heimischen Boden emporgewachsen, nicht durch Laune darauf geklebt. Die Goldgluth der weit hinten am Horizont untersinkenden Sonne wirft eine rothe Feuerpracht auf die Scheiben, durchbrochen vom Schatten alter, hoher Platanen, die den großen stillen Hof dunkeln. Ueber ein Jahrhundert alt muß Bau und Anlage sein – ein Herrenhaus von Vater auf Sohn vererbt. Die Steine sprechen auch. Die Simse, die geschwungenen Linien an der Front des Hauses im Rococostyl, die hohen Essen, welche über das große Dach emporragen: das ist ein Bau aus alter guter Zeit. Und überall ist dieser Charakter wiederzufinden; nirgends hat moderne, leichte Zierlichkeit den gediegenen Grundzug der Anlage störend überwuchert. Der weite Garten um das Schloß zeigt noch die Blumenparterres auf, welche im vorigen Jahrhundert angelegt wurden; alter, kräftiger Buchsbaum umzäunt die regelrechten Beete; hier stehen alte Sandsteinfiguren, dort sind Sonnenuhren als Schmuck; hinter dem Garten dehnt sich ein duftiger Wald in die Haide hinein.
Und im Innern des Hauses stimmt das Meiste der Einrichtung damit zusammen. Da sind breite, luftige Stiegen, große Thüren, weite Zimmer mit Gesims und schwerem Fries. Ueberall noch die Kamine der alten Zeit; an den Wänden große, gedunkelte Fürstenbilder, Bischöfe von Münster, Familienportraits. So ist es noch immer ein Haus der Patrizierzeit des geistlichen Fürstenthums Münster, welches durch die Napoleonischen Stürme zerstückt und in einzelnen abgerissenen Theilen anderen Staaten einverleibt wurde. Hier hat sonst eines der ersten Geschlechter des Landes residirt, und das jetzt kleine, zerzauste Gut war groß und reich, eine stattliche Herrschaft. Es waren die Schücking’s, deren Vorfahren als Schucking, Scukking und Scukke bis in’s 10. Jahrhundert ragen, ein ritterbürtiges Geschlecht, welches in einer Linie von Kaiser Franz I. 1757 auch in den Reichsadelstand erhoben wurde und viele als Geistliche, Diplomaten und Gelehrte im Münsterschen Lande hervorragende Männer geliefert hat.
Jetzt wohnt auf Sassenberg der Nachkomme dieses Geschlechts, Christoph Bernhard Levin Anton Matthias Schücking, weitbekannt als einer der sinnigsten deutschen Dichter, als einer der liebenswürdigsten Erzähler. In dieser einsamen Stille inmitten westphälischer Landschaftselegie spinnt eine zartbesaitete Natur rastlos kunstvolle Gewebe aus den Stoffen der heimischen Geschichte, der Gegenwart, der versunkenen Zeiten. Die Liebe zum Heimathsland der „rothen Erde“ nährt die Seele des Dichters; ein echtes, lauteres, positives Nationalgefühl, ein Patriotismus urwüchsiger Volkskraft, das Erfassen großer socialer und geschichtlicher Begebenheiten in ihrem eigentlichen Wesen giebt all den Erzählungen Levin Schücking’s, wiewohl sie durchaus nur Dinge der Wirklichkeit behandeln, eine höhere Bedeutung, eine weitere sittliche Wirkung. Es soll das hohe Ziel eines Romandichters bilden, in erzählender, anmuthiger Form ein Lehrer des Volks zu sein; Schücking ist einer der Wenigen, welche es erreicht haben. Und gerade seine echt westphälische Natur kommt ihm hierbei zu Gute. Er hat die Liebe zum Gegenwärtigen aus der Anhänglichkeit für das Alte gesogen; er hat die stille, behagliche Poesie, die Leidenschaftslosigkeit, die sittliche Strenge, die Schlichtheit und Einfachheit seines Stammes und doch auch jene tiefe Innerlichkeit, welche die Herzen erwärmt, und jenen echten Humor, welcher mehr als alle Dialektik den Verstand gewinnt und die Ueberzeugung der Wahrheit aufruft. Westphalen mit seinen Haidesteppen und dem schweren Geblüt seiner Kinder ist sonst keine Wiege für Dichter und Künstler, welche in sonniger Heiterkeit so üppig gedeihen. Aus dem kleinen Lippeschen Ländchen sind zwar zwei echte Dichternaturen, Freiligrath und Grabbe, hervorgegangen; im Uebrigen aber ist der Name Levin Schücking’s der einzige, den Westphalen der modernen Literatur zugeführt hat, neben dem der stolz-einsamen, träumerischen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff.
Levin Schücking wurde am 6. September 1814 im nördlichsten Westphalen, zu Clemenswerth, geboren. Clemenswerth, bei Meppen, ist ein Lust-und Jagdschloß der ehemaligen Fürstbischöfe des Landes, auf dem der Vater als herzogl. Arembergischer Amtmann die Residenz seines Jurisdictionsbezirks aufgeschlagen hatte. Sein Alter beschloß der Vater in Bremen, wo er still, wie so viele der Schücking’s, den Wissenschaften lebte und auch manche historische wie theologische Schriften, meist Pseudonym, erscheinen ließ. Die Mutter Levin’s starb früh, schon 1831. Sie war zu ihrer Zeit eine viel gefeierte sinnige Dichterin, deren Jugenderinnerungen in die Zeiten des berühmten Ministers Fürstenberg fielen und die als Mädchen in den geistig angeregten Kreisen verkehrte, welche der Einfluß der Fürstin Gallitzin, Hamann’s, Stollberg’s und seiner Genossenschaft – Jacobi, Claudius, Perthes etc. – belebte und welche Münster in jener Zeit zu einer norddeutschen Republik der Geister machten, ähnlich, wie kurz zuvor Weimar und Jena, dann Berlin es waren. Der Einfluß dieser Mutter mußte natürlich früh Levin’s Geistesanlagen und den künstlerischen Schaffenstrieb wecken, um so mehr, als nach dem Tode derselben eine Natur, wie die Annette’s von Droste, eine Freundin der Schücking’schen Familie, sich des Jünglings mütterlich annahm.
Im Jahre 1830 – 16 Jahr alt – kam Levin auf das Gymnasium zu Münster und lernte zuerst Annette von Droste-Hülshoff kennen. In seiner trefflichen, vor Kurzem (bei Rümpler) erschienenen Charakteristik dieser eigenthümlichen Dichterin erzählt er die näheren Umstände dieser ersten Begegnung. Die Droste, eine zarte, elfenartige Gestalt mit breiter, hoher Stirn, blauen Augen, blonden Haaren, wohnte mit ihrer Mutter und ihrer Schwester auf ihrem Edelsitz Ruschhaus, welcher ganz den bäuerlichen Typus besaß, den sich die westphälischen Herrenschlösser meist alle erhalten haben. Hier hauste die Annette, erzählte den Bauern Geschichten, suchte Steine und Pflanzen, dichtete; hier verlebte später Levin mit ihr lange Stunden im Disput, im Austausch der Gedanken, in Dichterharmonie.
Nach dem weiteren Besuch des Gymnasiums zu Osnabrück bezog Schücking 1833 die Hochschule zu München, um die Rechte zu studiren und beendete seine akademische Laufbahn in Heidelberg und Göttingen. Im Jahre 1837 kam er nach Münster zurück – ein fertiger Jurist, dem nur noch die Amtscarriere fehlte. Aber allerlei Umstände traten jetzt hinzu, um den aufgestellten Lebensplan zu durchkreuzen. Dank den deutschen Zuständen, hatte Levin mehrere Vaterländer, ohne ein einziges richtiges zu haben. Der Münsterländer war preußisch geworden, aber die preußische Regierung wollte ihn als „Ausländer“ nicht in den Tempel der Themis aufnehmen. Für Hannover mochte sich der junge Jurist angesichts des Göttinger Professorenexils auch nicht entscheiden – so quittirte er denn die Juristerei gänzlich, um so lieber, als sein Bündniß mit ihr „nie über die Grenzen einer gewissen kühlen Hochachtung hinausgegangen war, wie bei jungen Leuten, die man zu früh miteinander verlobt hat.“ (Annette von Droste. Ein Lebensbild von L. Schücking. S. 105.)
Seine mütterliche Freundin von Droste billigte zwar nicht [316] dieses Aufgeben der juristischen Carrière und die Verzettelung des kostbar angesammelten Schatzes von Pandektenstellen in literarische Erstlingsarbeiten; aber sie nahm gleichwohl selber ernsten Antheil an diesen Versuchen. Schücking ward auch sogleich von der Literaturbewegung erfaßt. Die Elemente des jungen Deutschlands wirkten mächtig auf ihn; Gutzkow gewann ihn zum fleißigen Mitarbeiter an seinem Journal „der Telegraph“; eine erste Berührung mit seinem Landsmann Freiligrath entzündete noch mehr den jugendlichen Drang nach literarischem Schaffen. Damals entstand nun das Buch Schücking’s: „Das malerische und romantische Westphalen“, welches der Liebe zur engeren Heimath, sowie dem eingesogenen romantischen Geist der Zeit ein erstes Denkmal setzte. Eine Broschüre folgte darauf: „Der Dom zu Köln und seine Vollendung“, zu welcher die Droste auch eine Ballade: „Meister Gerhard“ beisteuerte. Das hübsche Gedicht Schücking’s: „Der Bettler am Rhein“, in dem er für den Kölner Dombau Tribut verlangte, verdankt seine Entstehung derselben Anregung.
Im Herbst 1841 verließ der junge Schriftsteller Münster, um in Folge einer Vermittelung der Droste die Bibliothek ihres Schwagers, des Freiherrn von Laßberg, auf der Meersburg am Bodensee zu ordnen. Annette selbst wohnte den Winter über auf dieser alten, noch aus den Merovingischen Zeiten stammenden Burg. Hier soll König Dagobert den Thurm erbaut, Carl Martell gehaust haben. Hier thronten die Bischöfe von Constanz, dann die Hohenstaufen, bis Conradin, den Letzten des Heldengeschlechts. Die mächtige Ruine kaufte später der als Gelehrter, gastfreier Mäcen der Schwabendichter und Sonderling bekannte Freiherr v. Laßberg, um hier seine kostbare Bibliothek und seine Sammlung von deutschen Handschriften aufzustapeln. Der Reiz der Umgebung, die romantischen Traditionen der Burg begeisterten Schücking zu dem Gedicht „die Meersburg“. Der Freiherr von Laßberg selbst war damals schon ein alter Herr, eine ritterliche, sich strack aufrecht haltende Gestalt mit langem, weißem Bart, dessen Haupt weder die Jahre, noch die stupende Gelehrsamkeit niederdrückten. Seine kostbare Bibliothek war ein Wallfahrtsort für die Gelehrten und Dichter Süddeutschlands geworden. Was die großen Sammlungen nicht zur Ausbeute gaben, das fanden die Suchenden in dem reichen Wissen des Burgherrn selbst, der, wie Schücking erzählt, in der vaterländischen Vergangenheit in einer an’s Mirakelhafte streifenden Weise bewandert war.
Das äußere Leben Schücking’s wurde von jetzt an etwas wechselvoller. Im April 1842 begab er sich nach Ellingen in Franken, der Residenz des Fürsten Wrede, der ihm die Erziehung seiner Söhne anvertraut hatte; dann mit dem Fürsten selbst auf dessen Schlösser in Oberösterreich, im romantischen Salzkammergut, von wo aus Abstecher nach Wien und anderen Theilen Oesterreichs gemacht wurden. Während des Aufenthaltes im herrlich gelegenen Mondsee, der fürstlichen Sommerresidenz, entstand sein erster Roman: „Ein Schloß am Meere“. Auch zwei Verbindungen knüpften sich hier an, welche in Schücking’s Lebensgang eingreifende Veränderungen hervorbringen sollten. Er lernte Louise Freiin von Gall kennen, eine feine poetische Natur, welche die deutsche Literatur mit mehreren künstlerisch vollendeten Novellen und hoch empfundenen Dichtungen bereichert hat. Bereits im October 1843 vermählte er sich mit ihr und fand durch sie ein sehr glückliches, die Wirklichkeit verschönerndes Familienleben, bis vor einigen Jahren (1855) der Tod die Gattin abberief. Schücking setzte ihr 1856 ein würdiges Denkmal durch die Herausgabe des Buches: „Frauenleben. Von Louise von Gall“.
Die andere Verbindung, welche sich damals einleitete, war die mit der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“, die ihn zur Theilnahme an der Redaction einlud. Schücking übersiedelte in Folge dessen mit seiner Gemahlin nach Augsburg und blieb dort anderthalb Jahr. Außer seiner Thätigkeit an der Allgemeinen Zeitung schrieb er hier den in vieler Hinsicht trefflichen Roman „Die Ritterbürtigen“, in dem die romantischen Einflüsse bereits der realistischen Auffassung gewichen sind. Schücking war durch diesen Roman vollends in die Republik der Schriftsteller getreten, und sein Name klang bereits weit über die Kreise hinaus, in denen die erste literarische Thätigkeit ihre Anerkennung gefunden. Eine Badereise nach Ostende im Sommer 1845, worauf ein Aufenthalt am Rhein folgte, gab die Gelegenheit zu einer Verbindung mit der „Kölnischen Zeitung“, deren Redaction damals neu organisirt wurde. Schücking übernahm die Leitung des Feuilleton und verlegte deshalb seinen Wohnsitz nach Köln.
Etwa um dieselbe Zeit – 1846 – erschienen die Gedichte von Levin Schücking (bei Cotta). Sie sind als die Aeußerungen einer durchaus poetischen Natur zu bezeichnen, welche einen liebevollen Scheideblick auf ihre von allerhand Einflüssen bewegte Jugend wirft und den Blick frei und fest bereits auf ein nach langen Umwegen gefundenes Ziel richtet. Hier schlägt die romantische Cither ihre Liebesklagen; die Träume, die Phantasieen der Jugend umgaukeln noch einmal den Dichtersinn; aber dazwischen klingen schon die sonoren Töne, abgelockt dem gediegenen Metall des Realen. Zeitbilder, wie „O’Connell“, werfen ihr prächtiges Colorit durch den feinen Schleier der romantischen Poesie; echt komische Gedichte, wie die allerliebsten „Landsknechts-Lieder“, mischen sich mit den Gesängen, in denen ein volles Herz seine lyrischen Empfindungen austönt.
Dieses Gewinnen eines festen Zieles, eines eigenen Bodens, den sich der ringende Schaffenstrieb mühsam nach vielem Irren erobert, kennzeichnet sich von nun an in den Romanen Schücking’s, die eine Specialität unter denen der deutschen Literatur bilden. Ein Uebergang zu dieser bestimmten poetischen Aeußerung, zu dieser mit dem ganzen Wesen der inneren Anlagen und Neigungen harmonirenden Thätigkeit wird durch einige Schriften gebildet, welche vornehmlich dem Wirklichen das Ideelle abzulocken suchen, aber es in der Form noch nicht zu einer Bestimmtheit und richtigen Klärung zu bringen wissen. Dahin sind die kleinen 1846 erschienenen Novellen zu rechnen, das anziehende Werk „Die Römerfahrt“ (1849), sowie auch die durch die Zeitereignisse entstandene treffliche Charakteristik Heinrich’s von Gagern (1849); ferner gehören dazu die dramatischen Arbeiten Schücking’s: der durch sprachliche Schönheit sich auszeichnende „Redekampf zu Florenz“ (1854), das Lustspiel „Maria Theresia“, die gut angelegten, oft aufgeführten „Prätorianer“ und das erst kürzlich mit vielem Glück dargestellte Lustspiel „Die Novizen“, nach einer Novelle des Dichters dramatisirt. Fügen wir hier noch der Abrundung wegen die geistvollen „geneanomischen Briefe“ Schücking’s bei, welche durch Humboldt’s Vermittlung auch Friedrich Wilhelm IV. sehr interessirt haben, so mag man daraus die Vielseitigkeit der Thätigkeit dieses Schriftstellers erkennen, der in ernsten, wissenschaftlichen Arbeiten seine Erholung sucht.
Aber die eigentliche Blüthe dieser Thätigkeit besteht doch in den Romanen, welche im letzten Jahrzehnt die Muse Schücking’s geschaffen. Bis zum Jahre 1852, unterbrochen nur durch eine größere Reise nach Italien, lebte Schücking in Köln; die Stellung an der „Kölnischen Zeitung“ rief eine immer wachsende Unruhe des Lebens hervor, welche einer so stillumfriedeten Natur zuletzt lästig werden mußte. So gab Schücking denn diese Stellung auf und floh, durch den Wirbel des Lebens von dem Werth des eigenen Selbst überzeugt, mit der Ursprünglichkeit seines Wesens vertraut geworden, in die stille Einsamkeit des Sassenberger Hofes, inmitten der nordwestphälischen Landschaftselegie. Hier war sein so unendlich geliebtes Heimathland, die Erde, die sein eigen war, das Haus, der Garten, der Wald, in dem seine Vorfahren gewaltet; hier blühte durch ein theures Weib, durch geliebte Kinder ein stilles Glück, welches das Herz dieser Dichternatur am entsprechendsten ausfüllte. Und hier endlich war es, wo er für seine dichterische Thätigkeit aus der Berührung mit dem mütterlichen Boden der Heimatherde wie Antäus neue Kräfte schöpfte.
Die Schücking’schen Romane sind durchgehends cultur- und sittengeschichtliche, die in der anmuthigen Form der Erzählung über vieles Thatsächliche, dem Leben, speciell auch dem Westphalenlande Entnommene belehren und zwischendurch kunstvoll die eigentliche Fabel, das Dichterische, enthalten. Fabel und positive Wirklichkeit sind wie Kunst und Natur in Harmonie gebracht worden, und darin liegt die Größe des Talents und die hohe Bedeutung echter Volksromane. Schon in den Romanen „der Bauernfürst“ und „die Königin der Nacht“ ist diese Aufgabe auf’s Glücklichste gelöst worden; aber noch präciser in der Reihe der folgenden Werke, von denen nur die bedeutendsten angeführt sein mögen. Der Roman „ein Staatsgeheimniß“ (1854) dreht sich um die Schicksale des bekannten Uhrmachers Naundorff, der als Sohn Ludwig’s XVI. auftrat. Wiewohl der Dichter auf sein Recht nicht verzichtete, bringt er doch in dem Werke eine Reihe von Actenstücken, welche fast jeden Zweifel beheben, als sei Naundorff ein falscher Dauphin
[317]gewesen. In den Besitz derselben war er durch einen alten französischen Grafen Gruau de la Barre gekommen, der sein ganzes Leben an die Vertheidigung der Rechte Naundorff’s als Ludwig’s XVII. gesetzt, sein treuer Begleiter gewesen war und später den Kindern des Prätendenten ein redlicher Freund blieb. Der Roman ist also in dieser Beziehung als eine historische Quelle zu betrachten. – In „Paul Bronckhorst oder die neuen Herren“ (1858) hat sich das Talent Schücking’s unstreitig am höchsten erhoben. Mehr noch als im „Staatsgeheimniß“ durchgeistigen Dichtung und Realität sich hier gegenseitig. Die Erzählung behandelt die Zerstückelung des Münster’schen Fürstenthums in Folge des Reichsdeputationsbeschlusses und die vorübergehende Herrschaft der Familie Auglure über einen Theil desselben. Die Zeichnung der herzoglichen Familie, welche aus den Niederlanden durch die Franzosen vertrieben war und nun im armen Deutschland mit einer kleinen Souverainetät entschädigt wurde, ist ein Cabinetsstück. Die Gegensätze dieser französisch angestrichenen Herrschaft zu dem derben, zähen, westphälischen Charakter sind von dem Dichter sichtlich mit außerordentlicher Vorliebe aufgestellt worden und geben zu den interessantesten Schilderungen und Conflicten Anlaß. – „Die Marketenderin von Köln“ (1861) ist ein komischer Sittenroman, der auf dem bunten Grunde des Kölner Lebens zu Ende des vorigen Jahrhunderts spielt. Im Rahmen der Neuzeit gespannt sind „die Geschwornen und ihr Richter“ (1861), zugleich mit einer trefflichen Schilderung der deutschen Gerichtszustände und speciell der Moral in dem Wesen der Schwurgerichte.
Leider müssen wir uns wegen räumlicher Rücksichten auf diese Andeutungen über den Charakter der Schücking’schen Romane beschränken. Sie bieten in volksthümlichen Sittenschilderungen, welche selbst mit Hülfe archivalischer Details gegeben werden, das Beste, was wir in dieser Art besitzen. Die ruhige Behaglichkeit der Erzählung, welche an Walter Scott mahnt, die Natürlichkeit der Conflicte und ihrer Auflösungen, die vielfach locale Färbung des Dialogs, der anmuthige Herzenshumor, der oft aus dem Dichter spricht – alle diese Eigenschaften erhöhen in den Romanen Levin Schücking’s die harmonische Grundstimmung. Die Phrase, die Raffinerie der Erfindungen, die künstliche Mache der Mode ist in ihnen nicht vertreten, wohl aber die feine Sinnigkeit, das frische Talent, deutscher Geist und deutsche Herzlichkeit, welche aus der Geschichte des echten, charaktervollen Volkslebens unseres Vaterlandes kostbare Gemälde zu schaffen wissen.