Ein Besuch bei Ferdinand Freiligrath

Textdaten
<<< >>>
Autor: M. N.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein Besuch bei Ferdinand Freiligrath
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 636
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[636] Ein Besuch bei Ferdinand Freiligrath.[1] Die ungeheuere Steinmasse, welche London genannt wird, hat während des letzten Jahrhunderts noch eine Stadt, noch einen Flecken und noch dreiundvierzig Dörfer in ihr Weichbild aufgenommen und fährt fort, täglich Vorstädte und ein grünes Feld nach dem andern zu verschlingen, und Häuser erstehen unter der geschäftigen Hand der Bauleute, wo vor Kurzem noch Obst, Gartenfrüchte und Blumen von kunstfleißigen Gärtnern gezogen wurden. Gleich den tausend Wurzeln eines alten, gigantischen Baumes streckt diese größte aller Städte ihre Straßen und Lebensadern weit nach allen Seiten hin aus und wenn auch vor fünf Jahren ein Parlamentsbeschluß festsetzte, bis hierhin und nicht weiter solle London gehen, so wird doch im nächsten Jahrzehent eine abermalige Acte erlassen werden müssen, welche wieder andere neu erstandene Flecken und Dörfer in die Metropolis aufnimmt. Innerhalb dieser parlamentarischen Grenzen umschließt sie gegenwärtig vier jener Reiche, welche vor tausend Jahren die sächsische Heptarchie bildeten, und der Lauf der Themse umfaßt in seiner schlangenartigen Windung von einem Ende bis zum andern – von Hammersmith bis Woolwich – zwanzig englische Meilen – zwanzig Meilen, an denen sich Haus an Haus reiht und deren Masse sich unabsehbar weit zu beiden Seiten hin ausdehnt.

Eines jener „Dörfer“, welches schon zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts London einverleibt wurde, ist Hackney, welches eine Einwohnerzahl von wenigstens hunderttausend Menschen umschließt. Wir steigen hinauf zum North-Western-Railway (nordwestliche Eisenbahn), denn bekanntlich erklimmt man Treppen, als ginge es zu einem Thurme hinauf, um die Eisenbahnen zu erreichen, welche nicht durch die Stadt, sondern über diese hinweggehen. Auf manchen Stellen hat man unter ihnen die Häuser weggerissen und riesige Bogen, so unerschütterlich festgemauert wie die römischen Wasserleitungen, welche noch jetzt nach Jahrtausenden das Staunen des nachgebornen Geschlechts erwecken, an deren Stelle zum Stützpunkt des hoch oben fortgehenden Schienenweges gesetzt. Die englischen Bahnzüge pflegen noch einmal so schnell, wie die deutschen zu gehen; wir fliegen also über ein Meer von Dächern und Schornsteinen hinweg, sehen Thürme an unsern Seiten aus ihm hervorragen, wie Fingerzeige nach oben – und tief unter uns Straßen, in denen Menschen pygmäenartig sich herumtreiben und Fuhrwerke jeder Gattung sich uns darstellen, als seien sie für Liliput bestimmt – und steigen endlich in Hackney am einen Ende der Stadt aus, wo uns gegen das lärmende Treiben im Mittelpunkt eine vergleichungsweise Stille umgibt. Wir langen bei einem der vielen im Innern Londons sich befindenden Kirchhöfe an, wandern durch eine grün beschattete Fläche, auf welcher sich Grabsteine, Sarkophage und sonstige nicht sehr geschmackvolle Denkmale ausbreiten, meistens von Gittern umgeben. Diese Grüfte lassen wir hinter uns, gehen noch einige Minuten und langen zuletzt am Ende einer modern gebauten Häuserreihe vor einer Wohnung an, in welcher eins der edelsten Reiser unseres deutschen Dichtergartens ein Asyl auf fremder Erde gefunden hat.

Eine Schaar muntrer, wohlgebildeter Kinder spielte im Garten. Nach englischer Weise bewohnte auch diese Familie ein ganzes Haus, da man sich jenseits des Canals nicht gern – wie so oft bei uns in den Hauptstädten – nur auf eine Etage beschränkt. Ich fragte das auf mich zukommende, zehnjährige Mädchen nach Herrn Freiligrath, übergab ihr den Brief, der mir von Freundeshand für den fern wohnenden Landsmann mitgegeben war, und trat in das zunächst gelegene Wohnzimmer, wo ich für einige Minuten Zeit hatte, mich in dessen Häuslichkeiten umzusehen. Auf dem Tische in der Mitte des Gemaches lagen Albums und sonstige Bücher, welche in England niemals in den Zimmern fehlen, in welchen man Besuche annimmt. Aus der Nebenstube sah mir über dem Kamin ein Bildniß entgegen, welches dasjenige des verbannten Dichters sein mußte. Es war von seinem Freunde Hasenclever in treuester Lebenswahrheit aufgefaßt und erinnerte in der Manier etwas an die Rembrandt’sche Weise. Mehrere Medaillons, von der fertigen Hand von Kraß gearbeitet, der auch im Sydenhamer Krystallpalast seinen Kunstfleiß zeigt, hingen unter dem Portrait. Das eine links wieder Freiligrath, rechts seine Gattin, zwischen ihnen ihre Kinder, wie ich später erfuhr. Auch ein paar Kupferstiche von Raphael schmückten nebst anderen deutschen Erinnerungen die Wände.

Jetzt trat der Hausherr ein. Eine hohe, kräftige Gestalt mit einem etwas blassen Gesicht, vielleicht etwas vor der Zeit gealtert, aus dem aber die ewige Jugend des Genius, Güte und edle Freundlichkeit sprach, so wie in den dunkeln Augen noch immer jene Welt der Gedanken leuchtete, welche in der schwungvollen Sprache – wie sie nur Freiligrath eigen ist – so viele tausend Herzen entzückt hat. In das dunkle, glattgestrichene Haar, welches von der hohen, gewölbten Stirn fiel, mischte sich leichtes Grau: Herzensbewegung und Sorge bleichen oft das Haar, wenn auch der Lauf der Jahre es noch mit seinem Reife verschont haben würde und auch der löwenartigste Charakter wird durch den Groll des Schicksals gebändigt. Er bewillkommnete mich mit einem treuen, deutschen Händedruck und sprach seine Freude aus, durch mich einmal wieder etwas Ausführliches von den Freunden in der Heimath zu hören. Bald trat auch seine Gattin ein, Frau Ida, eine hohe, wohlgebildete Gestalt mit einem feinen, regelmäßigen Gesichte, welches jedoch einen leidenden Ausdruck wie dasjenige ihres Gatten trug. Als ich zwischen ihnen saß, begann das gegenseitige Fragen und Erzählen, wie es die liebe Gewohnheit unter Gemüthern ist, welche, wenn auch nicht durch längeren persönlichen Umgang vertraut, sich dennoch geistig nahe stehen. Er sagte mir, daß er mit den übrigen in London lebenden Deutschen wenig Verkehr habe. „Es bleibe ihm nicht viele Zeit zu geselligen Freuden, denn in London müsse man arbeiten, wenn man vorwärts wolle.“ Doch empfinge er Abends gern Bekannte, wenn die Beschäftigung des Tages geschehen sei. Dem kaufmännischen Geschäfte gewidmet, sei er gegenwärtig durch eine Verkettung widriger Umstände ohne Anstellung. Diese erhielt er jedoch bald darauf, indem er Director der schweizer Bank wurde, ein Posten, welcher seinen Mann nährt, wie mir von kundiger Seite gesagt wurde, und welcher also den Dichter in den Stand setzt, die Stunden seiner Muße sorgenfrei seiner Muse widmen zu können, deren reicher Quell noch immer frisch sprudelt und uns die Beweise gibt, daß seine reiche Begabung sich in immer neueren Schöpfungen ausspricht. Fünf muntere Kinder erschienen nach und nach, von dem ältesten, zehnjährigen Käthchen bis zu dem Jüngsten, das noch auf dem Arme getragen wurde, lauter Ebenbilder des Vaters, Deutsch und Englisch mit gleicher Fertigkeit plaudernd.

Trotz meiner Weigerung ruhte Frau Ida in der echt gastlichen Weise unsers großen Vaterlandes nicht, bis ich von dem angebotenen Frühstück einige Bissen und einen Trunk genossen hatte, welcher letztere in der Wärme des Sommertages und nach der langen, von mir zurückgelegten Strecke Weges allerdings sehr erfrischend war. Dann führte mich Freiligrath in seine Studirstube, wo mich Alles traulich und heimisch ansprach als ein Bild des gemüthlichsten Stilllebens. Bücher, Gemälde ringsum, der Schreibtisch der Mittelpunkt; vor diesem der mit Saffian bezogene Lehnstuhl. Die beiden weit herunter gehenden, mit Balcongitter versehenen Fenster boten die Aussicht auf die einsame Straße. Er brachte eine Mappe herbei, in welcher er Photographien aufbewahrte, die er auf seiner letzten Reise nach Schottland erworben. Das Wohnhaus von Robert Burns, von dessen Liedern er uns so manche im Deutschen wiedergegeben hat, und die diesem nahe gelegene Kirche, Beides düster und hart gehalten, sind mir am lebendigsten in der Erinnerung geblieben. Burns’ mehr als achtzigjährige Schwester lebt noch in Ersterem.

Endlich schlug die Stunde des Abschieds. Freiligrath geleitete mich über den Kirchhof bis zu dem Punkte, wo der Omnibus vorüber kommt, um seine Fahrt in die Stadt hinein fortzusetzen. Ich ließ seinen Arm los; noch ein warmer Händedruck, noch ein freundlicher Gruß an Frau Ida und alle lieben Kleinen – und fort rollte ich, hinein in den Schwall des Londoner Lebens, in welchem mich die Erinnerung an die edle Persönlichkeit des wackern Dichters, an seine traute Häuslichkeit und an das friedvolle Bild des ihn umgebenden Stilllebens noch lange wohlthuend umfing, und mich bis nach Deutschland hinüber geleitet hat. Charles Dickens erzählt uns in seinen Household Words eine Geschichte von einem Maler, deren Moral darauf hinausgeht: Es ist besser ein ehrlicher Mann zu sein, als ein Genie. – Hier aber hatte ich ein Genie gefunden, welches zugleich ein ehrlicher Mann ist und aus dessen Munde ich das trauervolle Wort gehört hatte:

„Besser ein schöner Tod für das Vaterland, als das Leben eines Verbannten auf fremder, kalter Erde!“ –
M. N.



  1. Nicht von unserem gewöhnlichen Londoner Correspondenten.