Ein ungarisches Magnatenschloß

Textdaten
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Titel: Ein ungarisches Magnatenschloß
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aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 629–631
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Bilder aus der Slowakei.

1. Ein ungarisches Magnatenschloß.

Slowakei? Verlohnt sich’s wohl der Mühe, daß ein Schriftsteller Bilder aus einem Landstriche bringt, der mit der Cultur nichts mehr gemein hat, und wenn er’s doch thut, daß der Leser sie eines Blickes würdigt? Was kann’s aus solchem Barbarenlande Bildliches zu berichten geben? – So wird mancher Leser fragen. Es ist etwas an der Sache, aber sie ist bei weitem nicht so schlimm, als man sie sich vorstellt, so lange man das in Rede stehende Land noch nicht kennt. Freilich, Land und Leute gehören immer zusammen, und die Reize einer Gegend werden abgeschwächt durch die Rohheit ihrer Bewohner. Inzwischen lassen sich auch den Slowaken gute Seiten abgewinnen, wenn man nur den redlichen Willen und nicht Vorurtheile mitbringt. Ich wenigstens habe in der Slowakei viel mehr gefunden, als ich erwartet hatte.

Daß derjenige Theil von Oberungarn, welchen die Slowaken bewohnen, gerade den reizendsten Theil des schönen Kronlandes ausmacht, weiß Jeder, der Ungarn überhaupt kennt, und daß er noch nicht von Touristenschwärmen durchzogen wird, liegt wohl an den unwirthlichen Einrichtungen, allerdings nicht geeignet, Reisende, die den Comfort lieben, anzuziehen.

Einer der prächtigsten Punkte Oberungarns, auf welchem ich mich längere Zeit aufhielt, ist der Markt Freistadtl an der Waag mit seinem hohen freundlichen Bergschlosse gleichen Namens. Der slowakische Name des Orts und Schlosses ist Freystak, der magyarische Galgocz, und der letztere ist der officielle Name. Es ist in Deutschland wenig bekannt, daß bei weitem die meisten Orte in Oberungarn drei verschiedene Namen führen, einen deutschen, einen magyarischen und einen slavischen.

Schloß Freistadtl oder Galgocz.

Wenn die Waag, diesen ungezogene Kind der hohen Karpathen, ein eigenthümlich grotesker und capriciöser Fluß, der den Römern den bezeichnenden Namen des „Herumschweifers“ (vagus) verdankt, aus der hohen und engen Bergwelt mit ihren köstlichen Wundern herausgetreten ist und das letzte derselben, die pittoresken ungeheuern Ruinen des ehemaligen Königsschlosses Trentschin begrüßt hat, durchströmt sie bald das Gebiet der alten und reichen Grafen Erdödy, eines Magyarengeschlechts. Es ist ein recht artiges Stück Land, ein kleines Fürstenthum, das diese Familie besitzt, und es ist reich an fruchtbarem Ackerland und holztragenden Bergen, an fetten Viehtriften und üppigen Weinbergen, an Schlössern, Parken und Naturschönheiten aller Art. Man braucht nur an das niedliche wundernette Schloß Bohußlavitz mit seinem köstlichen Park, dem die unten vorbeirennende Waag manchen begehrlichen Gruß zuwirft – ein wahres Cabinetsstück von Landsitz, vom Grafen Anton Erdödy, General und Günstling der Kaiserin Maria Theresia, geschaffen – zu erinnern, man braucht nur von den heißen Quellen von Pösteny (Pöstyén, Pischtyan) zu sprechen, um sich des Reichthums und der Schönheit der Erdödy’schen Besitzungen bewußt zu werden.

Auch wenn die Waag aus dem Hochgebirg der Karpathen heraus ist, wird sie doch zu beiden Seiten von Bergzügen begleitet. Der zur Rechten entfernt sich weit und weiter von ihr, bis er sich zuletzt ganz von ihr abwendet und nach Preßburg im Westen hinüberzieht. Es sind die kleinen Karpathen, auch die „weißen Berge“ (vom Sand, aus welchem sie bestehen) genannt. Der Bergzug zur Linken bleibt dem Flusse treuer, obgleich er den Namen oft wechselt. Aber auch diese Sandsteinberge werden kleiner und kleiner, bis sie sich in der Ebene verflachen, durch welche die Waag langsam der Donau zuschleicht.

Einige Meilen vorher, ehe diese Berge aufhören, liegt auf der untersten Stufe einer dieser mäßigen, mit Wein und Feldfrüchten bepflanzten Höhen malerisch hingegossen der große Markt, dessen drei Namen ich bereits angegeben. Vom rechten Ufer des Flusses, wo in der Entfernung von einer halben Postmeile, Freistadtl gegenüber, die kleine, jetzt zum Zucht- und Strafhaus eingerichtete Festung Leopoldstadt liegt, und von der schiefen Ebene, [630] die sich sanft nach den kleinen Karpathen zu erhebt, nimmt sich der Ort mit seiner hohen alten, in ziemlich reinem byzantischen Style gehaltenen Pfarrkirche, seiner stattlichen Synagoge, mit einigen gut gebauten und mehreren weißangestrichenen Häusern, so wie mit seinem großen Franciskanerkloster am nördlichen Ende freundlich und vielversprechend aus. Ihre Perle und die der ganzen Umgegend viele Meilen weit und breit ist aber das eine Viertelstunde südlich auf einer zweiten Stufe des Berges thronende umfangreiche wohlgehaltene weiße Schloß, das einen sehr großen Halbkreis, vorzüglich nach Süden und Westen hin beherrscht. Freistadtl hat gegen 6000 Einwohner, aber eine Ausdehnung, die in Deutschland wenigstens drei Mal mehr bedingen würde. So ist z. B. das Areal von Gotha merklich kleiner, als das von Freistadtl. Der Ort hat ein Stuhlrichter- und ein Steueramt, eine Erdödy’sche Präfectur mit einer nicht geringen Anzahl von Beamten, eine Dechanei, eine Postexpedition, eine Apotheke, drei Aerzte, starke Vieh- und Getreidemärkte, täglichen namhaften Marktverkehr, beträchtlichen Handel, vorzüglich Holzhandel; die allgemein gebräuchliche Sprache ist die deutsche – und man spricht sie besser, als ich erwartet hatte – nur ausnahmsweise wird ungarisch (magyarisch) und nur in den untern Schichten slowakisch gesprochen.

Nach all’ diesem sollte man meinen, es müsse unter dieser Menge kaiserlich-königlichen und gräflich-Erdödy’schen Beamten, Geistlichen, Kaufleuten etc. doch auch ein geistiger Verkehr bestehen. In der That, ich habe sehr viele Damen und Herren nach dem neuesten Pariser und Wiener Modejournal gekleidet gesehen, aber etwas, das wie eine Bibliothek ausgesehen hätte, Leih- oder Privatbibliothek, habe ich nirgend wahrgenommen und auch nichts davon gehört. Und doch gibt es eine große reiche prächtige Bibliothek in Freistadtl, von der ich nachher reden werde, die aber erst recht den Beweis der Geistesarmuth in dem Orte liefert. Ich war an diese Armuth bald so gewöhnt, daß ich eines Tages erstaunt war, Lenau’s Gedichte bei einer Kaufmannsfrau zu finden.

So besteht denn die Bevölkerung nur aus echten Leuten vom neuen und aus echten Leuten vom alten Testament, d. h. die größere Hälfte sind gute katholische Christen, die kleinere strenggläubige Juden. Jede Partei klammert sich mit Fanatismus an ihren Gott; die Ausnahmen sind zumeist bei den vornehmen Christen zu suchen. Die Einen machen Geschäfte und die andern lassen Geschäfte mit sich machen; die Einen schenken Wein, Branntwein und Bier, und die Andern trinken Wein, Branntwein und Bier. In der That, das fünfte Haus ist eine kleine schmutzige Schenke, in der ein Jude sitzt. Uebrigens haben die Juden fast allen Handel und alle Gewerbe in Händen. Auch der starke Holzhandel aus den nördlichen Comitaten hierher liegt als Monopol in den Händen einer jüdischen Familie, Gebrüder Seßler, die, rührig und intelligent, damit in kurzer Zeit viel gewonnen hat. In dieser liebenswürdigen Familie habe ich die schönsten Tage meines dortigen Aufenthaltes verlebt.

Wenn man auf den für den Deutschen befremdend breiten Straßen des Städtchens geht, begegnet man immer zehn Juden, ehe man einen Christen sieht, und doch wurde mir officiell gesagt, Freistadtl habe nur tausend israelitische Einwohner. Ich glaube, die Hälfte ist jüdisch, wie überhaupt die Anzahl der Juden in der Slowakei eine weit größere ist, als die officiellen Angaben besagen. Der Grund dieser Täuschung läßt sich errathen.

Der Weg von dem Markte nach dem Schlosse führt durch den Park und man kommt da zuerst zum anständigen Gärtnerhause, dann zu dem grandiosen Orangeriehause, einem wahrhaft fürstlichen Gebäude, mit einer Orangerie, wie man sie nur in den größeren deutschen Residenzen zu sehen gewöhnt ist. Man wird sich in diesen Gewächshäusern nie umsonst nach einer exotischen Pflanze von Bedeutung umsehen. Ueberraschung gewähren vier Orangenbäume von einer Größe, Dicke und einem Alter (es wurde auf dreihundert Jahre angegeben), wie man in andern Gewächshäusern schwerlich findet. Zur Erhöhung der Theilnahme an diesen stolzen Bäumen hatte sich eine hübsche romantische Geschichte an sie geheftet, eine kleine Novelle, welche die Unbeständigkeit der irdischen Güter drastisch vor Augen führt. Vielleicht theil’ ich sie in einem besonderen Aufsatze mit.

Der gräfliche Obergärtner war ein liebenswürdiger, gebildeter und, wie mir schien, in seinem Fache ausgezeichneter junger Mann, der mich, so oft ich kam, mit wahrer Freude empfing. Diese wurde mir erklärlich, als ich erfuhr, daß er mit seinen herrlichen Bäumen, Gewächsen, Pflanzen, Blumen wie ein verzauberter, gleichsam unnahbarer Prinz da oben auf seinem Berge sitze. Niemand besucht sein duftendes, blühendes, grünes Reich, keine Seele wird von Sehnsucht nach den stillen Blumengeistern aus allen Ländern der Erde hierher gezogen. Das Schloß steht fast das ganze Jahr verödet; Graf Franz Xaver Erdödy, der jetzige Besitzer, ein Herr von noch nicht dreißig Jahren, lebt mit seiner noch jüngeren Gattin meistens in Wien; Fremde kommen wenig hierher und werfen auch dann meist nur einen Blick aus der Ferne auf das stolze Gewächshaus und der Freistadtler beau monde scheint in Actenstaub, Handel und Wandel, Essen und Trinken den Sinn für Naturschönheiten verloren zu haben, wenn er überhaupt jemals einen solchen besessen hat. Nun wohnt doch jedem Künstler der natürliche Trieb inne, sein Kunstwerk den Verständigen vorzuführen, damit sie sich daran erfreuen und erheben, und darin seinen schönsten Lohn zu finden. Daher der wehmüthige Zug in dem geistreichen Gesichte des jungen Obergärtners und seine Freude, als ein Mensch kam, der Interesse an den herrlichen Kindern der ausländischen Flora zeigte und dem er ein Verständniß zutrauen durfte.

Hat man durch Bosquets und Bowlinggreens die Höhe der Bergstufe erreicht (der Fahrweg ist eine geradlinige Allee), auf welcher das Schloß mit seinen Nebengebäuden emporragt, und tritt man auf den dicht an die nordwestliche Ecke des Schlosses angebauten geräumigen und mit eiserner Brustwehr versehenen Altan, so fühlt man die Seele weit werden von der eigenthümlich reizenden Aussicht südlich in die weite Donauebene hinab, deren letzte Linien mit dem Horizonte zusammenfließen, westlich nach Preßburg, dessen Schloßruine man mit bewaffnetem, und nach Tyrnau, dessen zahlreiche Thürme man mit bloßem Auge erblickt; dann rollt sich von Westen bis Norden die ganze malerisch geformte Gebirgskette der kleinen Karpathen auf, und in der mehrere Meilen breiten nach den Bergen aufsteigenden Ebene stellen sich eine Menge Dörfer und Schlösser dar, viel stärker gekennzeichnet, als in Deutschland, durch die vorherrschende Liebhaberei der Slowaken zur weißen Farbe, womit sie sich und ihre Häuser bekleiden, so daß man ihre Dörfer aus großer Entfernung wie Perlen in grünem Meere schimmern sieht. Nördlich erheben die höheren Karpathen und nordöstlich einige Spitzen des Tatragebirges ihre stolzen kühnen Häupter in blauen Tinten. Es ist einer der schönsten und fruchtbarsten Landstriche des gesegneten Ungarreichs, welchen man von dieser Terrasse und aus den nach Westen sich öffnenden Fenstern des Schlosses übersieht. Wir zählten mit dem Fernrohre dreizehn Schlösser und Schloßruinen in den Karpathen drüben, von welchen die noch bewohnte gräflich Palffy’sche Stammfeste Biberspurg oder Rothenstein das bemerkenswertheste, besonders interessant, weil sie der schönen Ungarkönigin Maria, der Gemahlin jenes unreifen Ludwig II., der 1526 im Sumpf bei Mohacs auf der Flucht aus der Türkenschlacht erstickte, und der Lieblingsschwester Kaiser Karl V., der sie hernach zur Statthalterin der Niederlande erhob, zum romantisch einsamen Aufenthalte mit dem ihr nicht gleichgültigen, wohlgebildeten Markgrafen von Anspach-Culmbach diente, der am ungarischen Königshofe wie zu Hause eine gleich merkwürdige Rolle spielte.

Wir treten in das Schloß Freistadtl. Es bildet ein unregelmäßiges Viereck, welches einen kleinen Hof einschließt, und hat drei Stockwerke. Eine breite sehr bequeme steinerne Treppe führt uns in die obern Partien, durch helle reinliche, mit jenen weißen Kalksteinplatten, die man in dieser Gegend in allen vornehmen Häusern findet, belegte Corridore in die hohen geräumigen Zimmer. Es ist alles fürstlich und doch einfach. Ueberall tritt uns die Schöpfung eines edlen Geschmacks entgegen. Alles ist modern, nichts erinnert mehr an das Mittelalter. Der Styl der Decoration ist jene Nachahmung des hellenischen, wie sie zu Anfang unseres Jahrhunderts Mode war. Und doch ist das uralte königliche Schloß Galgocz, dessen Erbauungszeit man gar nicht kennt, nicht zerstört, sondern nur allmählich umgebaut worden. Die jeweiligen Besitzer haben das Ritterhaus stets den Geschmacksforderungen ihrer Zeit angepaßt. Wäre man mit allen Bauten des menschlichen Geistes so vernünftig verfahren, es hätte nie Revolutionen gegeben.

Die interessanteste Partie des Schlosses war für mich der große Bibliotheksaal, mit wohlthuender einfacher Pracht ausgestattet. Und welch ein Bücherreichthum! Der geschriebene Katalog [631] füllte allein einen mäßigen Folianten. Ja und was für Bücher! Wie man sie nur in fürstlichen Bibliotheken zu finden pflegt. Die ausgezeichnetsten Ausgaben und Prachtwerke, die bis zum ersten Viertel unsers Jahrhunderts in den vorzüglichsten Werkstätten der europäischen Literatur erschienen. Von bedeutenden Kupferwerken der egyptischen, griechischen und römischen Alterthumskunde fehlt schwerlich eins. Ueberhaupt viel classische Literatur. Dann der französische Atheismus sehr stark vertreten (z. B. die große Encyklopädie von Diderot und d’Alembert, die bekanntlich Taufpathin der sämmtlichen Repräsentanten dieser Richtung und moderne Bibel ihres Cultus), allein eine Menge Schriften über Voltaire. Aber auch eine Masse der schlechtesten deutschen Romane aus dem Ende des vorigen und dem Anfange dieses Jahrhunderts. Wahrscheinlich war mit dem letzteren Literaturzweige für die geistigen Bedürfnisse der Dienerschaft gesorgt. Mit der Bibliothek ist ein Kunst-, Antiken- und Naturaliencabinet vereinigt, das ebenfalls einen bedeutenden Rang einnimmt. Mit Bewunderung sah ich hier Antiken von carrarischem Marmor von hohem Werth, z. B. einen Antinous- und einen Sokrateskopf.

Ferner eine große Anzahl in der Umgegend ausgegrabener slavischer Antiquitäten von Erz; Kunstwerke verschiedener Art aus neuerer Zeit, eine Bilderreihe sämmtlicher Ungarkönige, Familienportraits der Erdödy und verwandter Magnatenhäuser, Alles wohlerhalten und mit Geschmack placirt. Unter den Bildern erregte ein großes in Felder eingetheiltes Tableau mit den Portraits des Erdödy’schen Hauses (auch einige Frauen waren dabei) von alter Zeit (ich glaube, der erste war aus dem dreizehnten Jahrhundert) bis auf den vorletzten Grafen herab meine Aufmerksamkeit wegen des psychologischen Interesses, welches diese Köpfe gewährten. Diese Reihenfolge enthielt nämlich nicht nur die gemalte Geschichte der Grafen Erdödy, sondern die des ganzen Ungarreichs, ja gewissermassen die Weltgeschichte selbst. Zuerst diese trotzigen kühn blickenden Heldengestalten in Stahl und Eisen, die Hand am Schwertknauf, bärtig, sonnverbrannt, wahre Eisenfresser, aber ohne Geist und Seele in den Zügen; das waren die Abkömmlinge der asiatischen Horden, welche sich in Besitz des schönen Landes setzten; dann die Türkenschlächter und Grenzwächter der sich unter ihrem unwillkürlichen Schutze entwickelnden europäischen Cultur. Hernach kommt eine Reihe, in deren Zügen der erwachende Geist aufblitzt; die ungarischen Magnaten des 16. Jahrhunderts wurden fast alle von der „Blässe des Gedankens angekränkelt“; in keinem Lande machte die Kirchenreformation in allen Schichten der Gesellschaft größere Fortschritte. Nun zeigen sich die galanten glatt rasirten Generalsgesichter in rother Uniform aus der Zeit der letzten Habsburger und der ersten Lothringer, und die feinen, abgestandenen Prälatengesichter mit erlöschenden Augen im violetten Kleide. Zuletzt die überfeinerten blasirten toupirten und gepuderten Diplomatenköpfe mit den wirrgekräuselten Zügen um den Mund, im schwer mit Gold gestickten Hofkleide. Da ist nun alle Kraft fort, alle Originalität, alle Nationalität. Dieser Graf Josef Erdödy, 1824 als ein hoher Siebziger oder angehender Achtziger gestorben, einst der mächtige Hof- und Reichskanzler von Ungarn, und als solcher der Regent des Königreichs, ein in vieler Hinsicht sehr merkwürdiger Mann, sieht ganz aus wie ein französisch bourbonischer Minister. Auch seine zweite Gemahlin ist auf dem Bilde (die Dame lebt heute noch in hohem Alter), Elisabeth, geborne Mayer, die Tochter eines Wiener Fiacre’s. Die Geschichte des Grafen Josef und der Gräfin Elisabeth ist so originell und ein so treuer Sittenspiegel des österreichisch-ungarischen Adels zu Anfang dieses Jahrhunderts, daß sie wohl eine kurze Darstellung verdient. Doch kann sie in dieser Zeitschrift nicht gegeben werden.

Sodann das Archiv der Grafen Erdödy mit höchst merkwürdigen Actenstücken. Das Interessanteste davon gedenke ich später in Auszug mitzutheilen. Der Archivar, Herr Franz von Zmertych, erwies mir viel Freundschaft. Vergebens fragte ich aber nach einem Bibliothekar und Aufseher des Kunst- und Antiquitätencabinets. „Wozu ein Bibliothekar?“ war die Antwort. „Niemand benutzt die Bibliothek.“ – „Nicht die Grafen Erdödy?“ fragte ich verwundert. – „Niemand.“ – „Nicht die gebildete Einwohnerschaft von Freistadtl und Umgegend?“ – „Niemand.“ – „Man verweigert wohl das Ausleihen der Bücher?“ – „Im Gegentheil, man würde sie mit der größten Liberalität zum Lesen verabfolgen lassen.“ – Heiliger Apollo und alle neun Musen! Da stand die kostbare, große, ausgezeichnete Bibliothek schlafend wie Dornröschen im Märchen oder wie der Rothbart im Kyffhäuser. Keine Menschenseele machte von diesem herrlichen Schatze Gebrauch, und mir blutete das Herz. „Es ist halt die Slowakei unserer Tage!“ sagte mir ein verständiger Mann seufzend.

Unter den Nebengebäuden des Schlosses sind der ungeheure Pferdestall, die eben so großartige Reitbahn und das kleine allerliebste Theater – alle drei grauenhaft verödet, wie das Schloß selbst, – zu erwähnen. Und wie belebt waren vor vierzig bis siebzig Jahren diese Gebäude! In diesem Stalle war eine Elite von ungarischen, spanischen und arabischen Pferden – mehre Hunderte – zu finden; in dieser Reitbahn hielt die Blüthe des ungarischen und österreichischen Adels ihre Reitübungen; in diesem Theater saßen höchste und hohe Herrschaften, die Frauen und Töchter der zur französischen Cultur durchgedrungenen Magnaten und hörten die Lustspiele französischer Dichter und die Operetten französischer Componisten in der Ursprache. Auf dieser Bühne entfaltete der Atheismus sein buntes Panier, in diesen Corridors drängten seine Anhänger, in diesen Sälen und Zimmern debauchirte seine Tochter, die Frivolität, in dieser Bibliothek suchte sein Enkel, die Blasirtheit, nach neuer Nahrung.

Nun erzählt ein ungarischer Schriftsteller, Stephan von Sándor (sprich: Schahndor, zu deutsch: Alexander), der in derselben Gegend an der Waag geboren und aufgewachsen, ein artiges Schloß, Luka, nur wenige Meilen oberhalb Freistadtl besaß, in einem seiner Bücher „Sokféle“ (Allerhand) 1808, wie er in seinem Knabenalter, welches in das letzte Viertel des vorigen Jahrhunderts und mit dem Beginn der Glanzperiode auf dem hohen Grafenschlosse zusammen fiel, eine eigenthümliche Execution mit angesehen habe. Die anhaltende Dürre eines Sommers schrieben die slowakischen Bauern des sonst so fruchtbaren Waagthals den Hexen in ihren Dörfern zu, und fingen mit Vorwissen der Dorfrichter, des Stuhlrichters und des Plebans alle armen alten Weiber ein, schleppten sie an die Waag, wo sie ins Wasser getaucht wurden, und erklärten diejenigen, welche nicht sogleich untersanken, als der Hexerei und der Ursache des Regenmangels schuldig.

Ins Comitatgefängniß gesperrt, und mit Hunger und Peitschenhieben zum Geständniß gezwungen, wurde die arme Hexe auf einen Holzstoß gesetzt und jämmerlich verbrannt.

Merkwürdiger Weise, schreibt Sándor, fing man nur die armen alten Weiber ein; die Frauen und Mütter vermöglicher Bauern ließ man ungeschoren. Nun gehörten die Dörfer in dieser Waaggegend den Herren Grafen von Erdödy.

Ist es nicht ein pikantes Bild: oben auf dem prächtigen mit aller Eleganz und allen Culturmitteln ausgestatteten Magnatenschlosse steil über der Waag das fröhliche Treiben der vornehmsten Gesellschaft, deren geistiges Leben und Glauben nach den Grundsätzen und Lehren Voltaire’s und der Encyklopädisten gemodelt ist, französisches Theater und jener frivole Lebensgenuß der haute volée, die in der ersten französischen Revolution in zweifacher Bedeutung die Köpfe verlor, Leute jener praktischen Philosophie, welche die Grundlage der Gesellschaft wie ätzende Säuren zersetzte – und unten an der Waag Hexenschwimmen und Hexenverbrennen wegen Wettermacherei!

Wo wäre ein zweiter schneidender Contrast wie dieser? Aber was wird man erst sagen, wenn ich beibringe, daß der weise Ungarkönig Coloman im Jahre 1100, sage Eintausend Einhundert nach Christi Geburt, ein Reichsdecret erließ, worin es wörtlich heißt, „daß über Hexen keine Untersuchung stattfinden solle, weil es überhaupt gar keine Hexen gäbe.“ Was mußte mit einem Lande geschehen sein, wo fast siebenhundert Jahre später unter der Herrschaft eines so aufgeklärten und feingebildeten Herrn, wie der Reichskanzler Graf Josef Erdödy, noch Hexen verbrannt wurden?