Die zehn Gebote (Hermann von Bezzel)/Viertes Gebot I

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Viertes Gebot I.
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!

 Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen; sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben.

 Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn; denn das ist billig. Ehre Vater und Mutter, das ist das erste Gebot, das Verheißung hat: auf daß dir’s wohlgehe und lange lebest auf Erden. Eph. 6. 1, 2.


 Wenn wir die Reihenfolge der Gebote zu ordnen hätten, so würden wir jetzt wahrscheinlich das sechste Gebot an die Spitze der Gebote und Vorschriften stellen, welche von den rein zu Gott weisenden Beziehungen hernieder zu den Beziehungen führen, die wir den Menschen gegenüber haben. Denn die Ehe ist die Grundlage der Familie, der Gemeinde, des Staatslebens, der Kirche, der gesamten sozialen Betätigung. Aber der, der die Gebote gefügt hat, weiß wohl, warum Er sie gerade so ordnet, wie wir sie hier haben und finden.

 Zum Ersten: warum sollst du Vater und Mutter ehren? Man hört die Rede: aus natürlichen Gründen: Vater und Mutter sind die Urheber unseres Lebens. Gerade dieser Grund ist in unseren Tagen für die allermeisten ein Beweis, aus dem heraus sie die Eltern nicht ehren. In jener Zeitschrift, die jetzt unter Schülern und Schülerinnen, unter Studenten und Studentinnen erscheint, und die den Titel führt „Der Anfang“ – wahrscheinlich, weil mit dieser| Zeitung eine neue Zeit beginnen soll – ist ganz einfach gesagt: Was habe ich an meinen Eltern und was haben sie an mir? Und damit ja das vierte Gebot recht verhöhnt ist, schreibt ein unreifer Junge, daß man die Eltern erziehen muß, damit sie möglichst wenig von den Kindern erwarten. Und ein Mädchen fällt alsbald in diesen Ton und schreibt, es habe sich den langen Sonntagnachmittag in der Umgebung seiner Eltern „vergreist“, wie es sich ausdrückt, es sei alt geworden in der Umgebung der Eltern, die so gar nicht auf die Stellung und den Standpunkt der heranwachsenden Tochter eingehen wollten. – Also, Kind, erziehe deine Eltern, damit sie möglichst wenig von dir erwarten und beizeiten erfahren, daß die Emanzipation von den Eltern das eigentliche Jugendglück und darum die eigentliche Aufgabe der heranwachsenden Jugend ist. Was diese Jugend freilich einmal zu erwarten und zu fordern gedenkt, wenn sie im Stande der Eltern ist und Elternwürde besitzt, das sagt dieses schauerliche Blatt nicht.

 Also, wenn deswegen Vater und Mutter geehrt werden sollen, weil sie die Urheber unseres Lebens sind, so wäre das eine vollkommen falsche, auch unbiblische und unchristliche Auffassung; denn sie sind doch nur die Werkzeuge in der Hand eines Höheren, der Eltern Kindersegen geben oder versagen kann; sie sind nur Mittel in der Hand dessen, der Leben und volles Genüge schenkt. Im Gegenteil, diese rein natürliche Anschauung der Dinge hebt das vierte Gebot geradezu auf.

 Oder sollen wir deswegen Vater und Mutter ehren, weil sie so viel an uns getan haben? Die schlaflosen Nächte der Mütter, deren jede ihr Leben an das Kind und an das Leben des Kindes gewagt und gesetzt hat, die schweren, harten Stunden, welche dem neuen Menschenleben vorangegangen und welche es begleiten; die Sorgen des Vaters, die rechnende, zählende, fürsorgende Art seiner Treue –| sind das Gründe, weswegen wir Vater und Mutter ehren sollen? Es scheint an dem. In Wahrheit aber ist diese rein natürliche Empfindung doch nicht vorhaltend. Denn nichts vergißt sich leichter, als die Wohltaten, die man in einer Zeit empfing, da man sie nicht mit Bewußtsein genoß. All das, was wir in den frühen Tagen unserer Kindheit von mütterlicher Güte und väterlicher Treue erfuhren, ist allmählich in unserer Erinnerung verblichen, ja verschwunden und wir können nicht auf diese, uns kaum zum Bewußtsein gelangten Empfindungen ganz bestimmte Leistungen und sittliche Betätigung aufbauen und folgern.
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 Warum also, frage ich, steht das vierte Gebot in dieser Eigenart? Weil Gott der Herr – das ist das Erste – in dem Vatertum und der Mutterart seine Eigenart vorgebildet sieht: Er ist das Urbild aller väterlichen Treue und das erste Bild alles mütterlichen Trostes. Er ist wie ein Vater gegen Kinder und erbarmt sich gegen sie wie sich ein Vater gegen Kinder erbarmt. Und weil Er weiß, daß wir Staub sind und daran denkt, daß unser Leben enteilt und verwelkt, das Leben, in das Er so viel Anfänge, Keime und Blüten eingesenkt hat, darum erbarmt Er sich unser mit Vatertreue und Vaterhuld. Er sorgt für uns, Er zählt die Tage, Er mißt und wägt die Lasten, Er stärkt die Schulter, damit sie der Last gewachsen sei, Er mindert die Last, damit sie nicht zu schwer drücke, Er sucht für jedes – nach dem jetzt so viel gerühmten Individuellen und Individualisieren – gerade, ja eigens, den Weg aus, den es gehen kann. Er mutet niemand etwas zu, zu dessen Tragung Er nicht die Vorbedingungen gegeben hätte und weist niemand einen Weg an, zu dessen Gang Er nicht den Fuß stärkte und das Auge geschärft hätte. Seht, das ist väterliche Fürsorge, daß Er ganz genau Last und Liebe, Leid und Freude, den frohen Tag und die harte Stunde gegenseitig abwägt und abmißt, daß Er einen jeden| Menschen erzieht, nicht wie der es will, sondern wie er es braucht. Du sagst: ich bin ein melancholisches Temperament, darum brauche ich viel Sonne, aber Gott weiß es anders. Du scheinst melancholisch und bist es nicht. Darum gibt Er dir nicht zu viel Sonne; mehr Sonne als du hast, würde dich übermütig machen und die Treue dich vergessen lassen. Und du sagst: ich bedarf langsamer Führung; denn ich bin phlegmatischer Veranlagung – bekanntlich schätzen sich die Leute immer falsch ein. Aber dein Gott treibt dich und heißt dich dahin gehen, wo du nicht wolltest und fordert dich auf, schneller auszuschreiten, weil du einen langen Weg vor dir hast. Führt dieser nicht, wie du willst, so führt er dich doch, wie es gut ist.

 Und du sagst: warum hat Er mir so viele Aufgaben gestellt und so viele Erwartungen in die Seele gesenkt und ich kann weder die Aufgaben lösen, noch die Erwartungen erfüllen? Weil Er eben dein Leben auf eine weitere Bahn angelegt hat als diese Erde und weil Er dir noch eine ganze Ewigkeit bestimmte, in der dein Naturell zu seinem Recht und dein individuelles Bedürfnis zur Entwicklung kommen kann. Wenn du glaubst, in diesem Leben fertig zu werden, so leugnest du seine väterliche Treue; denn dieses Leben ist nur der Anfang und die Vorbildung und der Anlauf, während das ewige Leben Vollendung, Ausführung und wirklicher Weg ist. Es wird niemand fertig in dieser Welt, wohl dem, der in dieser Welt fertig werden möchte!

 Sieh, darum also nennt Er sich Vater, weil Er so auf alle Einzelheiten deines Wesens eingeht, auf dein Temperament, deine Stimmungen, auf deine Umgebung, weil Er dir eben soviel Sonne gönnt, als du brauchst, und soviel Sturm dir schickt, als dir vonnöten ist.

 Wenn du durch einen großen, reichen Garten gehst, wunderst du dich, weil manchmal der Gärtner eine Pflanze| so gar abseits stellt, vielleicht unter Felsstücken oder Moos verborgen, kaum von einem Strahl der Sonne berührt; doch herrlich grünt und wächst die Pflanze. Und eine andere steht mitten in der Sonne Glut, im heißesten Brand und du siehst, wie ihre Blüte sich erhebt und ihr Blatt sich färbt. Und wiederum bemerkst du, wie in schattiger Verborgenheit die Wurzeln tiefer greifen und die einzelnen Geäder der Pflanze sich seltsamer und herrlicher entwickeln. Und wir loben den Gärtner und wir preisen den Vater.

 Aber nicht bloß von der Vatersorge redet Er, daß es uns ins Herz greift: Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten. Es bricht mir das Herz über dir! – sondern mit mütterlicher Güte, mit der Zartheit, die eben nur des Weibes Wesen aufbringen und erweisen kann, spricht Er durch den Proph. Jes. 66: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet! Die tröstliche Art der Mutter liegt nicht in dem, was sie sagt, sondern in dem, was sie ist. Nur ihre Erscheinung bringt dem weinenden Kinde Frieden; wenn sie nur durch das Zimmer geht, fühlt sich das Kind schon wohl behütet und recht verstanden. Unter all den Augen, die auf des Kindes Antlitz schauen und auf ihm ruhen, wird keines so vom Kinde tiefinnerlich erschaut und erfaßt, wie das tröstliche Auge der Mutter. In diesem Auge liegt für das Kind ein Meer des Trostes, jeder Blick dieses Auges ist ihm Zusprache, tiefinnerliches Verständnis, herzlichste Zugetanheit; und was die Mutter am Kinde nicht versteht, denn jede Mutter erlebt im Kinde ein neues Rätsel göttlicher Gnade, das ahnt, das glaubt, das hofft und das erliebt sie.

 Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet! Welch ein Aufwand erfindsamer Liebe, die alles glaubt und trägt und hofft und duldet, nur damit ein armes, wundes Menschenleben getröstet wird! Welch eine Bemühung erfindsamer| Gnade, sinnender Sorge, in die Einzelheiten sich liebend versenkende Treue, wenn Gott einen Menschen tröstet! Ach ja, wie manchesmal hast Du mit süßen Worten mir aufgetan die Pforten zum güldnen Freudensaal! Wunderbare Tröstungen Gottes! Ein Lied fällt dir ein und jede Strophe scheint dein Leid zu atmen und zu kennen und jeder Vers bringt gerade das Wort, das du brauchst. Ein Mensch begegnet dir auf dem Lebenswege, in einer Stunde, da du es am wenigsten glaubtest und am meisten brauchtest, und dieser Mensch tröstet dich. Es ist ein altbekanntes Wort, das er dir sagt, aber die Klangfarbe, mit der er’s spricht, und der Ton, mit dem er sich zu dir wendet, der Blick, der das Wort begleitet, sind eine Fülle von Tröstungen. Wie haben alle viel zu großzügige Vorstellung von Gottes Wirksamkeit; wir glauben, daß Gott der Herr ins Große arbeitet, daß Er die Welt regiert, die Völkergeschicke lenkt, in die Geschichte und ihre Entwicklung eingreift mit gewaltiger Hand, seine Fäden gar machtvoll durchs Gewebe der Menschenwerke und des Menschenwillens zieht; aber wir vergessen viel zu häufig, daß die ganze Größe Gottes in der Filigranarbeit persönlicher Tröstung und persönlicher Sorge ruht und daß Gott nirgends größer ist, als in den Scheidemünzen, die Er in verschwenderischer Treue auf den Weg ausstreut und in all den Kleinigkeiten, mit denen Er all deine Kleinlichkeiten hebt und heilt, wendet und endet. „Wie einen seine Mutter tröstet.“ Vielleicht wie dort die weinende Witwe ihrem wiedergeschenkten Sohne begegnet und wie wiederum das Weib weinte, als ihr Kind ihm genommen ward. Seht, darum also steht das vierte Gebot so an der Schwelle des Menschentums, so an der Pforte deiner Menschenpflichten, weil in väterlichem Tun und mütterlicher Treue Gott seines Tuns Abbild sieht. Das ist der eine Grund. Und der andere ist: weil Gott in ganz unbegreiflicher Weise in Vater| und Mutter seine Stellvertreter bestellte. Er, der nicht von Engeln und Heiligen, sondern von Armen und Sündern dargestellt sein will, wie Er ja in einem Menschen Gestalt nahm und gewann, hat in dem Verhältnis von Mann und Weib, in den Beziehungen von Vater und Mutter sein ganz bestimmtes Geheiß gegeben, daß man in ihnen seinen Befehl ehre. Es liegt auf Vater und Mutter, nicht auf dem frommen Vater und der gottseligen Mutter allein, sondern auf Vater und Mutter ein Abglanz des göttlichen Segens. Und darum also sollen Vater und Mutter geehrt werden; nicht wie sie sind und wie sie sich geben, sondern weil sie sind von Gott gewürdigt und bevollmächtigt.

 Laßt mich nun bei dieser sehr schweren, im praktischen Leben so eingreifenden Frage eines und das andere betrachten.

 Zuerst: warum heißt es denn nicht: du sollst deine Eltern ehren? Weil Gott der Herr in der Ehe keine Überordnung oder Unterordnung nach der Richtung kennt, daß man den Vater vielleicht mehr ehre als die Mutter oder die Mutter mehr liebe als den Vater. Unsere moderne Erziehung besteht eigentlich in einem Unrechten Wetteifer der Eltern um die Liebe des Kindes. Die Mutter muß frühzeitig das Kind verwöhnen, damit das Kind immer der Mutter anhängt. Das erscheint in unsern Tagen als Krone der Erziehung, daß die Mutter das Kind nicht weinen sehen will und ihm darum alle kindlichen Anschläge erfüllt und alle kindischen Wünsche befriedigt. Es ist ein Jammer, wie die Mütter ihre Kinder nicht bloß verziehen, sondern betören und anlügen. So lange die Kinder klein sind, wird ihnen jeder kleine Wunsch erfüllt; mit der wachsenden Begierde sucht die Mutter auch die wachsenden Wünsche zu befriedigen, damit das Kind seiner Mutter nie gram wird. Und wenn nun der Vater merkt, wie die Mutter das Herz des Kindes einnimmt, sucht er mit größeren Gaben| und größeren Versprechungen das Kind an sich zu ziehen und das Pfand, das Gott beiden, damit sie einig werden und bleiben, geschenkt hat, wird zum Streitgegenstand und die meisten Ehen werden durch die Erziehung der Kinder zertrümmert. Es ist etwas sehr Törichtes, wenn die Mutter dem Kinde den Wunsch nicht versagen und der Vater den Willen nicht brechen kann. Es ist aber noch gefährlicher, wenn die Mutter das Kind vor dem Vater verbirgt. Unsere Väter wollen meistens, wenn sie müde von der Tagesarbeit, von der Tageszerstreuung heimkehren, nichts Unangenehmes mehr vernehmen. Und da die Mütter meistens Leute sind, die dem Unangenehmen aus dem Wege gehen und das kleine Wölklein gerne vermeiden, damit um so schwerere, mächtigere Wolken später aufsteigen, so verschweigen sie die Unarten der Kinder, statt daß Vater und Mutter gemeinsam über die Unarten weinen und zueinander sagen: Meister, hast du nicht guten Samen auf dies Ackerfeld gestreut? Woher hat er denn das Unkraut? Statt dessen wird das Unkraut mit törichter Hand verdeckt, mit oberflächlicher Hand obenher ausgerissen, damit keine unangenehme Szene erfolgt. Und das Kind weiß das, weiß, daß es das Objekt der Heimlichkeit ist und lernt, von der Mutter belogen, die Mutter belügen. Das Kind merkt, daß die Mutter verschweigt und zudeckt um des Friedens willen und über ein kleines bedarf es die Mutter nicht mehr zum Verschweigen, sondern es verschweigt selbst und die erste Heimlichkeit, die die Mutter vor dem Kinde oder durch das Kind vor dem Vater hatte, wird der Anfang einer ganzen Kette von Verheimlichungen. Das Kind merkt, daß Vater und Mutter nicht miteinander arbeiten, noch für einander stehen, sondern nebeneinander bleiben und daß die Ehe nichts anderes ist, als eine Gelegenheit sich möglichst viel Annehmlichkeiten und möglichst viel Rechte zuzusprechen und sich recht wenig Pflichten und Entsagungen aufzuerlegen.| Seht, und wenn das Kind nun älter wird, so wendet es sich gegen die Mutter und wendet sich, gleichsam um eine neue Probe auf sein Existenzrecht zu erheben, dem Vater zu. Es ist auffallend, daß in den meisten Ehen das heranwachsende Kind der Mutter entfremdet wird. Es ist der Mutter, die es verwöhnte, überdrüssig geworden und versucht es nun bei dem Vater. Wie viele Mütter haben schon geklagt: seit mein Kind konfirmiert ist, kennt es mich nicht mehr. Ich habe ihm nichts mehr zu sagen, ich kann ihm nichts mehr bieten, es weicht mir aus, es entfremdet sich mir und wird mir fremd und hängt an meinem Mann. Das ist deiner Torheit Schuld, daß du so gestäupet wirst und daß dein Liebstes deine Last wird. Das ist deines Fehlers Rache, daß das abgöttisch geliebte und verzogene Kind, dein Abgott, nun zum Ballast für dich wird, der dich herunterzieht und dir den Tag, da du das Kind begrüßtest, zum schwersten macht. Und nun wirbt der Vater um die Liebe des Kindes und erfüllt auch seine Forderungen und steckt ihm heimlich allerlei zu und läßt es gewähren. Und das Kind kennt bald die schwachen Seiten des Vaters, geht ihm nach und umschmeichelt ihn, weicht ihm aus, wenn er schlechter Laune, eilt ihm froh entgegen, wenn er wohlgestimmt ist. So wird, was zur heiligen Einfalt vorgebildet ist, ein berechnendes, unheimlich wägendes Wesen, das der reinen Einfalt entbehrt. Darum spricht unser heiliger Gott: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren! und ruft es Vater und Mutter ins Gedächtnis, daß sie beide besondere und insgesamt dieselben Pflichten haben, daß nicht ein „Mehr oder Weniger“ in der Erziehung sein darf.
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 Ach, wenn hier unter den Anwesenden Eltern sind, Mütter, denen die Erziehung ihrer Kinder, oder vielleicht auch ihrer Enkel, am Herzen liegt, so sind sie herzlich gebeten, über alles darauf zu sehen, daß eine Gleichheitlichkeit dem Kinde Vater und Mutter groß und wert erscheinen| läßt. Es ist eine ebenso blöde als sündige Frage, wenn das Kind darüber zur Rede gestellt wird, wen es lieber habe, den Vater oder die Mutter. Es ist ein Raub an der Einfalt und an der Schuldlosigkeit des Kindes. Und das Beste müssen immer die Eltern dazu tun; denn das vierte Gebot richtet sich im letzten Grund doch an die Eltern.

 Vater, bist du deines Kindes Vater? Es heißt ja nicht: Du sollst den Vater ehren, sondern deinen Vater und deine Mutter. Vater, siehst du das Kind als dein Kind an, in dem dein Gott dir eine Majestät von Liebe geschenkt hat, in dem Er dir einen Liebesgedanken in die Hand und aufs Herz gelegt hat? Einen Liebesgedanken, so sinnig, wie ihn nur Gott erdenken, so sonnig, wie nur die ewige Liebe ihn schenken kann. Vater, als du das Kind zum erstenmal erblicktest, dein Kind, hast du daran gedacht, wie über diesem Kinde der uralte Schöpfersegen wacht und groß und laut wurde? Vater, hast du daran gedacht, daß für dieses Kind ein himmlischer König sein Wort verpfändet und seine Ehre daran wagt, Er will erhalten, was Er erschaffen, Er will geleiten, was Er geschenkt hat. Vater, dein Kind! Hast du das bedacht, als in der heiligen Taufe mit Wasser und Wort dieses Kind in die Gnadenarme und in den Gnadenrat des dreieinigen Bundesgottes eingefriedigt, eingesenkt ward, als es dem, von dessen Herz es gegangen war, wieder ans Herz gelegt ward? Sorge, segne, vergib, begnade es, heile und heilige es und führe es endlich in die Heimat, aus der es stammt und in die es gehört! Vater, dein Kind! Kind, dein Vater! In dem Wort: Du sollst deinen Vater ehren! liegt doch eine wundersame, aus der Ewigkeit stammende Ermahnung an den Vater: siehe doch dein Kind an, was es dich lehrt!

 Und du, Mutter, dein Kind, für das du hast beten sollen, ehe es das Licht der Welt erblickte, dem du heilige, heilsame Eindrücke geben solltest, ehe es diese Welt sah. Dein Kind,| für das du sorgen solltest, ehe es wirklich von dir umarmt und begrüßt wurde; dein Kind, das deine Sünde, aber auch deine Sorge trägt, das Zeuge deiner heimlichen Gebete, aber auch deiner vielen Unterlassungen und deiner Untreue ist. Es liegt in einem solchen Kinde ein wunderbarer Gnadengruß der Ewigkeit, eine Fülle von Gottesgeschick und Gottesgeschichte und Menschensünde und Menschennot. Es liegt in jedem neugeborenen Kinde eine wundersam heimliche Majestät: Was meinst du, soll aus dem Kinde werden? Bei dem einen Kinde, wenn man es wüßte, würde der Tag der Geburt verflucht, bei dem anderen Kinde hörte man heilige Lobgesänge.

 Noch einmal: Deinen Vater und deine Mutter! Das also wollen wir uns recht merken, daß alle Erziehung eine einheitliche sein muß.

 Die meisten unter uns denken an heimgegangene Eltern und wenn sie ihrer gedenken, danken sie am meisten dafür, daß Vater und Mutter, so verschieden sie geartet waren, in dem einen Bestreben, ihre Kinder zu erziehen, sich verstanden, daß die Mutter nie verschwieg, was der Vater wissen mußte, und der Vater nie beschönigte, was die Mutter betrübte. – Seht, es liegt in der ganzen großen Art eines göttlichen Pfandes, wie es ein Kind ist, eine solche Fülle von Aufgaben, daß Eltern ohne Christum wohl eine rationelle, individuelle, geistvolle, aber keine rechte Erziehung schenken können.

 Wenn unsere Eltern wüßten, was sie ihren Kindern vorenthalten, wenn die Kinder ihre Eltern nie beten sehen; wenn sie wüßten, um was sie ihre Kinder betrügen, wenn sie ihre Eltern nie zur Kirche gehen sehen; wenn sie daran dächten, wie in unbewachten Augenblicken törichter Art ein Kind verdorben werden kann und wie in unklugen, unvorsichtigen Äußerungen von Vater und Mutter ein Kind für sein ganzes Leben Gift empfangen kann! Es ist das Schwere| in unseren Tagen, daß man das Kind lediglich als ein Ergebnis natürlicher Funktionen und Faktoren ansieht, statt daß man den Goldfaden anbetend achte, den in menschliches Gewebe die ewige Liebe eingeflochten und eingereiht hat. Es gehört zu den Schrecken des sinkenden Welttages, daß die wenigsten Eltern mehr über ihrem Kinde beten, für das Kind beten und mit dem Kinde beten. Die Mutter hat gesellschaftliche Verpflichtungen und überläßt das Kind möglichst schnell denen, denen es eben nicht von Gott gegeben und befohlen ist, und welche Abgründe unheimlicher Art sich hier auftun, kann ich nicht einmal andeuten und will es auch nicht. Die meisten Mütter betrachten das Kind eben nicht als süße Lust und herrlichen Schmuck, als majestätische Würde priesterlicher Gnade, sondern als eine bittere Last und als eine Begleiterscheinung, die man möglichst von sich hält[.]

 Darum, wenn der Tag unseres Volkes so blutig zum Abend sich neigt, kommt dem Volksfreunde der Gedanke: es wird zu wenig gebetet und zu wenig die Pflicht gegen das Kind anerkannt. So wächst das Kind mutterlos und vaterfremd auf, wenn es nicht verwöhnt wird. Kein Wunder also, daß es denen nie nahe kommt, die es nicht nahe kommen ließen.

 Aber wir wollen mit ganzem Ernste uns in das Gebot stellen und wollen, indem wir den Eltern im Geiste zurufen: bedenket, welch eine selige Gabe und welch eine hohe Aufgabe euch Gott im Kinde gegeben hat! – einander recht geloben, auch wenn wir nicht mehr die Eltern auf Erden haben. „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!“

 Es heißt nicht – und damit laßt mich schließen: du sollst sie lieben. Denn die Liebe ist hier ein natürliches Ding, und wie sie bei Eltern leicht in eine törichte Affenliebe| sich verkehrt, so wird sie bei den Kindern leicht zuerst einseitige Vergötterung und dann erkaltet sie.

 Darum spricht der große Seelenkenner, unser Herr und Gott: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.

Denn es kommen Stunden, in denen die natürliche Liebe nimmer vorhält, aber das Gebot der Pflicht trägt über solch schwere Stunden hinweg und empor. Es kommen Tage, wo das Kind an seinen Eltern so wenig Liebenswertes mehr entdeckt: meine Mutter hat gelogen, mein Vater hat mich getäuscht. Ach, wie oft verspricht die Mutter gedankenlos dem Kinde etwas und vergißt es, und das Kind wartet stunden- ja tagelang, doch die Mutter löst das Versprechen nicht ein und das Kind ist verwundet: auch der treueste Mensch hat sein Vertrauen getäuscht!

 Und manch ein Vater verheißt dem Kinde den Sonntagsspaziergang, ein kleines Andenken; dann geht er dahin und lächelt für sich, daß es ihm so leicht gelang, dem Kinde gut zu reden. Und das Kind freut sich und wartet und der Vater entschlägt sich seines Wortes. Da hört die Liebe auf, da beginnt die Ehre. Und wenn wir herangewachsen waren und an den Liebsten die Sonnenflecken bemerkten, an den Menschen, für die wir unser Leben wagten, auch allerlei Unebenheiten sahen und wenn wir, nachprüfend und nachforschend, wehmütig und schweren Herzens, gestehen mußten: auch unsere Eltern sind fehlsam und sündig! dann hebt die Ehre an. Liebe sieht immer nur Sonne; Ehre muß, auch wenn die Sonne schwindet, bleiben. Liebe gibt immer Genuß, Ehre aber heißt den Charakter erstarken. Lieben kann man, auch wenn man nicht muß; ehren aber erfordert Selbstüberwindung. Darum: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.

 Gott verleihe, daß unser armes Volk, ehe es ganz zu Ende geht, noch einmal die Familie erbauen lerne, die| Familie, für die einst Heinr. Thiersch und später Riehl so herzlich und herrlich geschrieben haben!

 Gott verleihe, daß noch einmal eine Reformation im christlichen Haus beginne! Alles andere ist ärmlichster Notbehelf. Wer aber die christliche Familie zerstört, der ist ein Räuber an der Wohlfahrt des Volkes. Davor wolle Er uns aus Gnaden behüten!

Amen.





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