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sind das Gründe, weswegen wir Vater und Mutter ehren sollen? Es scheint an dem. In Wahrheit aber ist diese rein natürliche Empfindung doch nicht vorhaltend. Denn nichts vergißt sich leichter, als die Wohltaten, die man in einer Zeit empfing, da man sie nicht mit Bewußtsein genoß. All das, was wir in den frühen Tagen unserer Kindheit von mütterlicher Güte und väterlicher Treue erfuhren, ist allmählich in unserer Erinnerung verblichen, ja verschwunden und wir können nicht auf diese, uns kaum zum Bewußtsein gelangten Empfindungen ganz bestimmte Leistungen und sittliche Betätigung aufbauen und folgern.

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 Warum also, frage ich, steht das vierte Gebot in dieser Eigenart? Weil Gott der Herr – das ist das Erste – in dem Vatertum und der Mutterart seine Eigenart vorgebildet sieht: Er ist das Urbild aller väterlichen Treue und das erste Bild alles mütterlichen Trostes. Er ist wie ein Vater gegen Kinder und erbarmt sich gegen sie wie sich ein Vater gegen Kinder erbarmt. Und weil Er weiß, daß wir Staub sind und daran denkt, daß unser Leben enteilt und verwelkt, das Leben, in das Er so viel Anfänge, Keime und Blüten eingesenkt hat, darum erbarmt Er sich unser mit Vatertreue und Vaterhuld. Er sorgt für uns, Er zählt die Tage, Er mißt und wägt die Lasten, Er stärkt die Schulter, damit sie der Last gewachsen sei, Er mindert die Last, damit sie nicht zu schwer drücke, Er sucht für jedes – nach dem jetzt so viel gerühmten Individuellen und Individualisieren – gerade, ja eigens, den Weg aus, den es gehen kann. Er mutet niemand etwas zu, zu dessen Tragung Er nicht die Vorbedingungen gegeben hätte und weist niemand einen Weg an, zu dessen Gang Er nicht den Fuß stärkte und das Auge geschärft hätte. Seht, das ist väterliche Fürsorge, daß Er ganz genau Last und Liebe, Leid und Freude, den frohen Tag und die harte Stunde gegenseitig abwägt und abmißt, daß Er einen jeden