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in unseren Tagen, daß man das Kind lediglich als ein Ergebnis natürlicher Funktionen und Faktoren ansieht, statt daß man den Goldfaden anbetend achte, den in menschliches Gewebe die ewige Liebe eingeflochten und eingereiht hat. Es gehört zu den Schrecken des sinkenden Welttages, daß die wenigsten Eltern mehr über ihrem Kinde beten, für das Kind beten und mit dem Kinde beten. Die Mutter hat gesellschaftliche Verpflichtungen und überläßt das Kind möglichst schnell denen, denen es eben nicht von Gott gegeben und befohlen ist, und welche Abgründe unheimlicher Art sich hier auftun, kann ich nicht einmal andeuten und will es auch nicht. Die meisten Mütter betrachten das Kind eben nicht als süße Lust und herrlichen Schmuck, als majestätische Würde priesterlicher Gnade, sondern als eine bittere Last und als eine Begleiterscheinung, die man möglichst von sich hält[.]

 Darum, wenn der Tag unseres Volkes so blutig zum Abend sich neigt, kommt dem Volksfreunde der Gedanke: es wird zu wenig gebetet und zu wenig die Pflicht gegen das Kind anerkannt. So wächst das Kind mutterlos und vaterfremd auf, wenn es nicht verwöhnt wird. Kein Wunder also, daß es denen nie nahe kommt, die es nicht nahe kommen ließen.

 Aber wir wollen mit ganzem Ernste uns in das Gebot stellen und wollen, indem wir den Eltern im Geiste zurufen: bedenket, welch eine selige Gabe und welch eine hohe Aufgabe euch Gott im Kinde gegeben hat! – einander recht geloben, auch wenn wir nicht mehr die Eltern auf Erden haben. „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!“

 Es heißt nicht – und damit laßt mich schließen: du sollst sie lieben. Denn die Liebe ist hier ein natürliches Ding, und wie sie bei Eltern leicht in eine törichte Affenliebe