Textdaten
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Autor: Stefanie Keyser
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Titel: Die Lora-Nixe
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14–23, S. 237–242, 257–263, 277–280, 293–296, 309–312, 326–330, 345–350, 361–364, 377–383, 394–398
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Fortsetzungsroman in Nummern 14 bis 23
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Die Lora-Nixe.

Novelle von Stefanie Keyser.

Ueber den waldigen Hainberg, welcher das Bad Jungbrunnen vor den rauhen Ostwinden schützt, wandelte an einem Sommernachmittag des Jahres 185* eine kleine Gesellschaft eleganter Herren und Damen. Nur selten verstiegen sich die Badegäste bis hier herauf. Die Pfade hatten manches von ihrer Naturwüchsigkeit bewahrt. Brombeerranken hingen sich an die langen, weit gebauschten Sommerkleider der Damen, Baumwurzeln stemmten sich den Lackstiefeln der Herren entgegen, als wolle der Wald den feinen Leuten zeigen, daß er sich gar nichts aus ihrer Naturschwärmerei mache.

Endlich lichteten sich die Bäume. Die sonnige Landschaft glänzte zwischen ihnen herauf.

„Von hier aus hat man den schönsten Blick auf Jungbrunnen,“ sagte ein älterer Herr, mit einer Ordensrose im Knopfloch, und trat, geschäftig voran gehend, auf einen Vorsprung hinaus, den ein breiter Ahorn beschattete.

Drunten im Thal lag das Bad mit seinen langen Reihen weißer Häuser, den zerstreuten Villen, dem Alles überragenden Kurhaus, den schnurgeraden Alleen und eckigen Steinbalustraden, in welchen die Lora, wie in einen Schnürleib eingepreßt, ihre raschen Wellen dahin trieb,

„Ich besaß als Kind ein derartiges Etablissement in einer Schachtel,“ bemerkte ein anderer Herr, dessen feiner Sommeranzug von gewählter Einfachheit mit seiner vornehmen Haltung ebenso in Einklang stand wie der Ausdruck seines scharf geschnittenen Gesichtes mit dem kühlen spöttischen Ton seiner Stimme. „Gerade so grell, bunt und hölzern wie diese gerühmte Ansicht nahm sich mein Spielzeug aus.“

Ein junges Mädchen wandte das von braunen Flechten umwundene Köpfchen, welches ein mit Kornblumen garnirter runder Strohhut schützte, ihm zu. Aber ihre Lippen, die sich zu einer Antwort geöffnet hatten, beschränkten sich auf ein heiteres Lächeln, als sie sah, daß eine Birke ihr zartes Gezweig in die Schnur geschlungen hatte, an welcher das Monocle des Herrn hing, und dieses ihm von dem Auge hinweg schnellte.

Die Gesellschaft schritt durch das feine Gras des Bergkammes weiter.

Bald öffnete sich an der andern Seite abermals ein Blick in die Tiefe. Inmitten grüner Wiesen und wogender Getreidefelder lagen ebenfalls weiße Häuser in regelmäßigen Reihen.

„Eine Spielschachtel geringerer Qualität,“ sprach der Herr, der sein Glas von der Birke zurück erobert und wieder vor das Auge gedrückt hatte.

„Von Ihrem Standpunkt aus, Herr von Ravensburgk, mögen Sie Recht haben; es ist die Herrnhutergemeinde Himmelgarten,“ erklärte der alte Herr. Er war der Regierungspräsident des Bezirkes. [238] Als alljährlicher Badegast in Jungbrunnen hatte er es unternommen, einigen vor Kurzem angekommenen alten Bekannten die Honneurs der Gegend zu machen.

„Wir befinden uns auf einer merkwürdigen Wasserscheide zwischen den Kindern Gottes nlld den Kindern der Welt,“ lächelte Ravensburgk.

„Herr Präsident, was ist das für ein alter Thurm, der dort drüben auf dem Berg sich erhebt?“ fragte den freundlichen Cicerone eine Dame, die durch ihre vollen aufgesteckten grauen Locken zeigte, daß sie nichts sein wollte als eine würdige Matrone.

„Das ist der Bergfried von Falkeneck, eine der schönsten Ruinen dieser an alten Burgtrümmern so reichen Gegend,“ antwortete der Gefragte.

„Von hier aus würde ich sie eher für einen baufälligen Schlot als für das Stammschloß der Falkenecks halten,“ kritisirte Ravensburgk. „Wäre auch nur der Lauf der Welt,“ setzte er mit einem düstern Blick nach dem grauen Thurm hinzu; „die Ravensburgk, wo die alten Kampfgefährten der Falkenecks hausten, hat sich längst in einen Fabrikschlot verwandelt.“

„Die Burg liegt auf einem Fels am Fluß, der hier eine Krümmung um den Fuß des Hainberges macht, und wird deßhalb von Berg und Bäumen verdeckt bis auf den hohen Thurm,“ erwiderte der Präsident. „Die Freiherren von Falkeneck, deren Besitzthum einst so weit reichte, als sie von ihrer hohen Warte schauen konnten, schenkten im vorigen Jahrhundert der Brüdergemeinde das wüste Falkenthal, und diese gründete daselbst den Ort Himmelgarten. Wenn man sieht, wie die Herrnhuter den Grund in Wahrheit zu einem Garten umgewandelt haben, muß man vor den stillen Leuten Respekt bekommen.“

„Ich hasse die sogenannten fruchtbaren Gegenden,“ sagte Ravensburgk.

„Es bleibt Ihnen überlassen, auf Ihrem Gut die Wildniß früherer Tage zu hegen,“ entgegnete der aller Kultur zugewendete Regierungspräsident etwas spitz.

„Die Familie Falkeneck ist ausgestorben, nicht wahr?“ fragte interessirt die alte Dame den Präsidenten.

„Leider irrt sich Frau von Blachrieth,“ sprach Ravensburgk, neben dem jungen Mädchen weiter schreitend. „Die Familie ist nicht gestorben, sondern verdorben. Der Letzte, welcher den Namen führte, ging vor Jahren als überschuldeter Officier in die weite Welt hinaus und galt als verschollen. Jetzt munkelt man in Jungbrunnen, daß der eine Croupier der letzte Sprosse des uralten Geschlechtes sei. Es ist eine Sünde und Schande, daß man sich von seinen Wirthsleuten, vom Bademeister das muß erzählen lassen, ohne getrost widersprechen zu dürfen.“

„Der Mann zeichnet sich allerdings durch vornehme Haltung aus,“ mischte sich ein Herr in das Gespräch, der officiell als Bergrath Müller angeredet wurde, den aber Ravensburgk konsequent den „Sohn seiner Mutter“ nannte, weil er nur von seiner Mama, einer Geborenen von Haderndorf, und deren Verwandtschaft sprach.

„Einen feinen Lack giebt das Spiel immer,“ erwiderte Ravensburgk, und zu seiner Begleiterin gewendet, fuhr er fort: „Wenn es Ihre Frau Tante interessirt, so machen Sie dieselbe einmal auf den großen stattlichen Herrn mit dem schwarzen, spitz gedrehten Henri quatre am Roulettetisch aufmerksam. Das ist Monsieur Faucon, wie er sich nennt.“

„Wir gehen niemals in die Spielsäle,“ entgegnete die junge Dame und pflückte ein paar Zweige blühenden Thymian zu dem Gewinde, welches sie im Gehen an einander fügte, indem sie dazu Seidenfäden aus den blauen Fransen ihrer Mantille zog.

Frau von Blachrieth folgte ihr zwischen die hohen Grashalme und niedrigen Gesträuche; und wahrend sie scheinbar bewundernd vor einer Skabiose stehen blieb, die von kleinen dunkelroth und grün gezeichneten Schmetterlingen bedeckt war, flüsterte sie: „Laß Dir doch von dem wüsten Ravensburgk nicht so auffallend den Hof machen, Hedwig. Bedenke, daß er ein berüchtigter Roué ist, der Verhältnisse mit Frauen aller Regionen hat.“

„Aber Tantchen!“ entschuldigte sich Hedwig, „er ist doch ein alter Bekannter. Als im vorigen Winter meine Eltern ein paar Monate mit mir in der Residenz verlebten, ist er sehr aufmerksam gegen mich und wahrhaft freundschaftlich gegen den Papa gewesen.“

„Ich verlauge auch durchaus nicht, daß Du ihn schroff zurückweisen sollst,“ erwiderte Frau von Blachrieth. „Seine Stellung als Flügeladjutant und Kammerherr unseres Fürsten verleiht ihm großen Einfluß bei Hofe, der noch viel bedeutender wird durch die Energie und die Klugheit des geriebenen Hofmannes. Es würde mir sehr unangenehm sein, auch um Heino’s willen, wenn Du ihn reizen wolltest. Du sollst ihn nur nicht aufmuntern. Es giebt in allen Dingen ein schickliches Maß.“

Hedwig schwieg, und ihre Tante kehrte wieder auf den betretenen Weg zurück, der in eine steil bergab führende Schlucht mündete.

Auf den Arm des Präsidenten und ihren Sonnenschirm gestützt, betrat sie vorsichtig den feuchten Pfad, der sich zwischen hohen Farnkrautwedeln und überhängenden Zweigen des Buschholzes hinab zog.

Hedwig folgte langsam, dem Anschein nach eifrig beschäftigt, Blumen zu sammeln, in Wahrheit aber, um, dem Wunsch ihrer Tante gemäß, dem gefährlichen Ravensburgk einen Vorsprung zu lassen. Doch nicht ohne eine Regung des Mitleides mit dem eleganten Kavalier. Sie war ihm im Herzen dankbar geblieben für das Gefühl von Sicherheit, das er ihr auf dem glatten Parkett der fürstlichen Säle gegeben hatte, als er, der gewöhnlich nicht mehr tanzte, sie auf ihrem ersten Ball zur Française und damit in die Reihe der voll berechtigten Tänzerinnen führte.

Als sie endlich, durch verschiedene rothe Kleeköpfchen und gelbe Löwenmäulchen bereichert, am Eingang der Schlucht ankam, fand sie Ravensburgk ihrer harrend; und während er eine dreiste Hasel zurückbog, die sich quer über den Weg gelegt hatte, sagte ihr der durchdringende Blick seiner tief liegenden Augen und ein halb spöttisches, halb überlegenes Lächeln, welches seinen röthlichen Bart kräuselte, daß er sowohl das Manöver ihrer Tante als ihr eigenes durchschaut habe und sich ein Vergnügen daraus mache, die kleinen Kriegslisten zu durchkreuzen.

„Warum fehlt Ihr Vetter bei der Partie?“ fragte er, wie vorher neben ihr weiter schreitend und mit seinem Spazierstöckchen von Zeit zu Zeit die blauen Säume ihres weißen Barègekleides aus rauhen Wurzelhänden lösend. „Ich vermißte ihn schon diesen Morgen am Brunnen.“

„Ich nicht,“ antwortete Hedwig unbefangen. „Ich wußte, daß Heino beim Ordnen seiner Papiere war. Er beschäftigt sich wieder mit einer neuen Dichtung.“

„Ja, ja,“ spottete Ravensburgk. „Er fängt seine Empfindungen ein, sperrt sie in ein Büchlein und gestattet seiner Mutter, daß sie ihn dafür anbetet, und der Gesellschaft, daß sie der Schrulle des reichen Rittergutsbesitzers schmeichelt, der durchaus seinen alten Namen auf den Büchermarkt bringen will. Aber er sollte bedenken, daß Apollo ein strenger Gebieter ist, der sich zuweilen damit beschäftigt, zu schwach Befundene lebendig zu schinden.“ Er köpfte mit scharfem Hiebe eine blaue Glockenblume, die am Wege stand.

„Das wäre eine zu harte Strafe für ein harmloses Unterfangen,“ wehrte Hedwig lächelnd ab, während sie die Glockenblume aufhob und sorgsam in den Kranz fügte.

„Harmlos ist der Dilettantismus nicht,“ entgegnete Ravensburgk mit Nachdruck. „Das musikalische Gebiet hat er dermaßen überwuchert, daß die holde Kunst Euterpes sogar in Miethskontrakten verbeten wird. Jetzt fangen Wagner und Liszt die Reinigung an. Ihren Anforderungen können nur Künstler genügen; und so gehen die ewigen Kückensängerinnen an der Frau Venus, die Variationenspieler an den Rhapsodien zu Grunde. Nun scheint sich die unsterbliche Stümperei auf die Litteratur zu werfen; denn ganz aus der Gesellschaft zu bringen ist sie so wenig wie die Gicht aus dem Körper. Einmal zwickt’s im Arm, einmal im Bein. Uebrigens würde Ihre Frau Tante sehr zufrieden sein, wenn sie vernähme, daß Sie mit Ihres Vetters Eigenthümlichkeiten einverstanden sind,“ setzte er in leichtem Ton hinzu.

Hedwig’s Züge nahmen einen kühlen Ausdruck an, „In der That?“ sagte sie gleichgültig.

„‚In der That‘ ist weder eine Frage noch eine Antwort und ungefähr so viel werth wie ein Achselzucken,“ rügte Ravensburgk mit leisem Unmuth im Ton.

„Als feiner Hofmann kennen Sie den Werth dieser Geste gewiß,“ erwiderte Hedwig schelmisch.

[239] „Von Ihnen wünsche ich nicht als Hofmann gewogen und behandelt zu werden,“ war seine ernste Antwort.

Laute Ausrufe des Entzückens von der voraus gegangenen Gesellschaft unterbrachen das Gespräch. Die Schlucht öffnete sich vor ihnen und zeigte ein schönes Landschaftsbild.

In weitem Becken breitete sich die Lora vor ihnen aus. In ihrem klaren Gewässer spiegelte sich der wolkenlose blaue Himmel, strichweise von den Sonnenstrahlen mit goldenen Schleiern überwebt. Der Wald des Hainberges zog sich bis hinab auf den frischen Rasen, an dem das Wasser vorüber rann, und warf seinen Schatten in die Fluth. Zur Seite stieg aus dem Wellenschaum der braune Fels, der die Ruine von Falkeneck trug, schroff empor, und am jenseitigen Ufer streckten sich Aehrenfelder, lachten Weinberge.

Mitten zwischen ihren Terrassen erhob sich eine Gruppe alter stattlicher Gebäude mit steilen Schieferdächern, spitzen Schornsteinen und einem grauen, von üppigem Epheu überzogenen Eckthurme.

„Da sind wir im Lora-Grund,“ verkündete der Präsident.

„Wem gehört das Haus drüben in den Weinbergen?“ fragte Hedwig.

„Seit alten Zeiten den Herren Aufdermauer,“ lautete die Antwort des Präsidenten. „Wie die vom Thurm wehende Flagge verkündet, ist der Herr anwesend. Er soll seit dem Tod seines Vaters seinen Wohnsitz hier genommen haben. Bis jetzt war er Officier und hat bei der Artillerie einer rheinischen Festung gestanden.“

Der „Sohn seiner Mutter“ lachte kurz und spöttisch auf. „Was diese Leute sich Alles herausnehmen! Sie haben einen Herrensitz, ziehen eine Fahne auf. Nur schade, daß Niemand ihr obskures Wappenzeichen kennt.“

Ravensburgk’s Blick streifte ihn mit Verachtung. „Sie irren sich. Ich kenne ihr Wappenbild, die Gabel, ganz gut von dem Flaschensiegel, welches ihren vortrefflichen Wein bezeichnet. Unser Hof bezog von dem Haus Aufdermauer Dessertweine. Uebrigens wollte der alte Herr durchaus nichts Anderes sein als ein wohl situirter bürgerlicher Mann. Er gehörte zu den respektablen Leuten, die von dem eigenen Stande würdig genug denken, um von einem andern nicht das Seine borgen zu wollen.“

Der Bergrath wandte sich ab und klopfte untersuchend mit einem kleinen Hammer, der den Griff seines Spazierstockes bildete, an einen Felsblock, welcher ehrlich auf seinem braunen Gesicht seine Abkunft von den Basaltbergen trug.

„Es ist ein reizender Punkt,“ sagte Frau von Blachrieth; „aber wir müssen uns doch einmal zur Rückkehr entschließen und fragen: ,wie kommen wir über die Lora auf den Weg nach Jungbrunnen?‘“

„Im Kahn, meine Gnädige,“ belehrte der Präsident. „Sehen Sie, gerade über Ihrem Fräulein Nichte hängt das Signalglöckchen, welches den Fährmann herbeiruft.“

An dem Riesenstamme des Eichbaumes, unter dem Hedwig Schutz gegen die Strahlen der Abendsonne gesucht hatte, hing, geschützt von einem kleinen Dächlein, die mit Moos und Grünspan gefleckte Glocke.

Als Hedwig das herabhängende Seil anzog, ertönte ein helles Stimmchen über das Wellengemurmel hinaus.

Und auf den Klang kam drüben von einem kleinen grauen Haus her, das am Fuße des Weinberges zwischen Edelkastanien sich versteckte, ein Mann, der zum Ufer hinab stieg und bald darauf in einem Kahn abstieß.

„Wir müssen uns angemessen vertheilen,“ empfahl Frau von Blachrieth, „damit der Kahn nicht umschlägt.“

„Das Gleichgewicht dürfte herzustellen sein, wenn Frau von Blachrieth auf der einen Seite, der Rest der Gesellschaft auf der anderen Platz nähme,“ murmelte Ravensburgk, mit einem ernsthaften Blick das Gewicht der Dame abschätzend.

„Brechen Sie mir lieber dort die blauen Blüthenrispen der Natterzunge, statt daß Sie sich selbst als solche auszeichnen,“ sagte Hedwig. „Ich will den Kranz mit ihr schließen.“

„Unter der Bedingung, daß ich das stachlichte Ding nicht zu tragen brauche,“ sagte Ravensburgk, indem er sich ächzend bückte. „Eilen Sie sich; da ist der Kahn.“

„Wird bei einem einzigen Ruderer es keine Gefahr haben, wenn wir uns gleichzeitig überholen lassen?“ fragte abermals bedenklich Frau von Blachrieth.

Ein Blick auf die hohe kräftige Gestalt des Fährmannes, der den Nachen mit der Stange fest an das Ufer drückte, verscheuchte ihre Besorgniß. Die Gesellschaft nahm Platz, und der Schiffer trieb seinen Kahn mit energischem Stoß in die rauschenden Wellen hinaus.

Seiner schlichten grauen grün paspoilirten Joppe nach mußte er ein Forstbediensteter sein, und darauf deutete auch ein weißer braun gefleckter Jagdhund, welcher, dem Verlauf der Fahrt mit gespanntem Blick folgend, drüben am Ufer saß und, wenn das Gesicht des Fährmanns sich hinüber wendete, mit hastigem Schweifwedeln seiner Freude Ausdruck gab.

„Es ist doch schade,“ meinte der Präsident, „daß der neue Pächter der Bank seinen Plan nicht hat ausführen können. Er hat die Errichtung einer Schifferstation mit einer Flotille von Gondeln und einem feinen Restaurant statt der grauen Holzhütte beabsichtigt. Er verhandelt ja auch mit der Regierung wegen der Ruine Falkeneck, die er wieder aufbauen will.“

Ravensburgk ließ ein dumpfes Gebrumm hören, und Frau von Blachrieth fragte: „Warum ist der hübsche Plan mit dem Restaurant gescheitert?“

Der Präsident erzählte: „Der Herr Aufdermauer, dem auch der Hainberg gehört eben so wie das Weingut, hat geantwortet: ,Die Ruhe meiner Hirsche im Hain und die Bequemlichkeit meiner häufigen Flußbäder unter freiem Himmel sind mir nicht feil; und ein Stück Erde, das ich natürlich und schön finde, soll mit meiner Bewilligung nicht durch künstliche Schnitzer verhunzt werden.“

„Dafür möchte ich ihm von Herzen gern die Hand drücken,“ sagte Hedwig lebhaft.

Der Schiffer hielt einen Augenblick das Ruder an und wandte ihr das von der Sonne gebräunte, von schwarzem Vollbart umrahmte Gesicht zu.

Mochte es die plötzlich veränderte Fahrt sein, oder waren sie in eine Strömung gekommen: Wellengekräusel bäumte sich am Kahn auf, feurige blaue Funken blitzten aus dem Wasser; weithin überrauschte wie Schaumgold sonniges Licht die Fluth. Der Kahn kam ins Schwanken, und der Kranz, der am leichten Geländer desselben hing, fiel hinab.

„Mein Kranz!“ rief Hedwig, als sie ihn, auf einer Welle schaukelnd, davon treiben sah.

„Die Lora hat ihr Opfer von Ihnen gefordert,“ scherzte der Präsident. „Am Johannistage bringen ihr nämlich alle Frauen und Mädchen Blumen dar. Und dafür prophezeit sie ihnen die Zukunft.“

Ueber das Gesicht des Schiffers glitt ein Lächeln. Mit dem Ruder fing er den Kranz auf und bot ihn Hedwig wieder an, die ihn freundlich dankend mit spitzen Fingern abnahm.

„Laß ihn doch,“ mahnte die Tante, „Du wirst Dir Kleid und Handschuhe verderben.“

„Ich möchte ihn gern in meinem Zimmer aufhängen,“ bat Hedwig; „er erinnert mich an daheim. So riechen die Sträuße, welche wir pflücken, wenn wir Abends mit Papa und Mama durch unsere Flur gehen.“

Die Tante hörte nicht auf die ländlichen Erinnerungen. Sie balancirte ängstlich in dem schwankenden Kahn. „Gut, daß es so vorüber ging,“ sagte sie aufathmend, als derselbe wieder ruhig hinglitt. „Die Lora scheint gefährliche Strudel zu haben.“

„Vielleicht hat sie nachsehen wollen,“ lachte der Präsident, „ob sich unter uns ein Ritter fände, der bereit wäre, sie von der Unseligkeit zu erlösen. Der Sage nach erhofft sie dieselbe von unwandelbar treuer Liebe.“

„Der Neckar ist materieller,“ bemerkte der Bergrath Müller. „Er hat früher am Auffahrtstage ein Schaf, ein Brot, einen Bienenkorb und einen Menschen gefordert, wie der Fischer am Wolfsbrunnen erzählte, als ich mit meinem Vetter, dem Grafen Salmenwehr, dort Forellen speiste.“

„Dafür ist der Neckar, dessen Name sogar an den Nix erinnert, ein Mann,“ sagte Ravensburgk. „Ein solcher hält auf ein gutes Diner. Die Damen ziehen Anbeter vor. Im Grunde sind die Nixen nichts als zudringliche Personen, mögen sie nun Elbjungfrau oder Saalnixe, Donauweibchen oder Lora heißen; und es hat nie an Schwächlingen gefehlt, die sich verschlingen ließen.“

„Alle die Sagen sind Üeberreste des alten Wasserkultus,“ erklärte der Präsident. „Daß in hiesiger von diesem Element [242] so reich gesegneten Gegend eine Wassergöttin verehrt wurde, war natürlich.“

Mit leisem Stoß fuhr der Kahn am Ufer an.

Das Fährgeld wurde nach der bestimmten Taxe berechnet und, da der Schiffer mit Anketten des Kahnes beschäftigt war, auf die Bank gezählt. Dann schlug die Gesellschaft den Fußweg ein, der am Ufer hinauf nach Jungbrunnen führte.

Hedwig blieb zurück. Sie konnte sich nicht satt sehen an dem schönen stillen Grund, den die Abendsonne mit rosigem Licht überhauchte. Sie mußte dem Lied lauschen, das eine aus dem Weizenfeld aufsteigende Lerche dem sinkenden Tagesgestirn nachsang; ihre Blicke wurden gefangen gehalten von dem alten festen Haus Aufdermauer, dessen Fenster aus ihren tiefen Nischen ihr zuzublinzeln schienen. Wie lauschig mochte es in den Erkern sein, die an den dicken Mauern hingen! Wie gastlich lud der steinerne Laubengang ein, der sich vor dem untersten Stockwerk in Rundbogen wölbte! Und wie heimelten die Taubenscharen sie an, welche die Dächer der Seitenflügel bedeckten, das vielstimmige Herdengeläut, das herab schallte!

„Das ist ja ein deutsches Haus, wie ein Herz sich es nur wünschen kann,“ sprach sie fast andächtig. „Wird das prachtvoller Weizen!“ fuhr sie fort, mit Kennerblick die Aehren prüfend. „Und wie duftet die Weinblüthe von den Terrassen herab! Gehört das Alles dem Herrn Aufdermauer?“ fragte sie den Fährmann.

„Alles höchst eigenes Gewächs,“ antwortete der Schiffer in vollkommen dialektfreiem Hochdeutsch.

„Der beneidenswerthe Mann!“ sagte Hedwig. „Hat er erwachsene Töchter?“

„Er ist nicht so glücklich,“ entgegnete lächelnd der Fährmann. „Wäre auch bei seinem Alter und ledigen Stand nicht möglich.“

„Ach, er ist noch jung und unverheirathet?“ erwiderte Hedwig, etwas erschrocken zurücktretend.

„Zu Befehl,“ gab der Schiffer mit einer tadellosen Verbeugung zur Antwort; „dreißig Jahr und fünf Monate alt und noch zu haben.“

Bestürzt und erröthend sah Hedwig dem kecken Mann ins Antlitz. Sie begegnete ein paar dunklen Augen von solcher Schärfe und Sicherheit, unter dem schwarzen Bart lachten zwei Reihen weißer Zähne mit solcher Schelmerei, daß sie in höchster Verlegenheit mit stummer Neigung des Köpfchens sich wendete und ihrer Gesellschaft folgte, vor Verwirrung den Kranz vergessend, den sie kaum noch so eifrig behauptet hatte.

Der Fährmann blieb, auf seine Ruderstange gestützt, stehen und sah ihr nach, wie sie leicht dahin schritt, wie die blauen Säume ihres Kleides über das bräunliche Gras des Fußweges glitten. Er stand noch lächelnd und sinnend, als das weiße Kleid längst hinter den Weinbergterrassen verschwunden war.

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aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 15, S. 257–263

[257] Die zweite in später Nachmittagsstunde stattfindende Table d’hôte im Kurhause von Jungbrunnen näherte sich ihrem Ende. Schon lagen die aus Marzipan und Zucker errichteten Tempel, welche als Dessert gedient hatten, in Trümmern, und ihre elegischen Reste wurden, wenn auch nicht von Eulen, so doch von einzelnen Mücken und Wespen umschwirrt, die durch die geöffneten Fenster den Weg gefunden hatten. Stühle wurden gerückt. Die Gäste verließen gruppenweise den Saal.

Nur ein Herr verweilte noch auf seinem Platz. Er hielt ein Taschenbuch und einen goldenen Stift in den Händen, hatte die präsentirenden Kellner mit kurzem Wink abgewehrt oder die Speisen unberührt stehen lassen und sich zerstreut von den beiden Damen verabschiedet, mit denen er gekommen war. Er blieb sitzen, indem er mit traumverlorenen Augen in die Luft schaute und dann von Zeit zu Zeit eifrig in sein Taschenbuch notirte. Die Tischgesellschaft zollte seinem ungewöhnlichen Benehmen achtungsvolle Rücksicht.

„Baron Heino Blachrieth dichtet,“ flüsterte es um ihn her. Er war die Berühmtheit der Saison.

Erst kurz vor Beginn des Diners war er von einem Ausflug zurück gekommen. Die Erzählungen seiner Mutter und Cousine hatten ihn veranlaßt, seinen Morgenspaziergang nach dem Lora-Grund zu machen. Er wollte sich die Schönheit des Thales anschauen, vor Allem aber der Nixensage näher zu treten suchen von der seine Damen gesprochen und von der er auch eine Andeutung im „Führer durch Jungbrunnen“ gefunden hatte. Vielleicht konnte ihm ein Freund, den er auf einer Reise in Italien kennen gelernt hatte, Georg Aufdermauer, genaue Auskunft geben. War dieser doch hier, im Mittelpunkt des Sagengebietes, angesessen.

Diese letztere Hoffnung wurde zwar zu nichte. Der Hauptmann war auf die Jagd gegangen, und er hatte sich auf die Abgabe einer Karte beschränken müssen. Um so reicher gingen seine andern Wünsche in Erfüllung. Stundenlang saß er vor dem grauen Holzhause bei dem weißhaarigen Waldhüter, der das Amt eines Fährmanns bekleidete, schwelgte in der Schönheit des Grundes und ließ sich unter dem Murmeln des Wassers, dem Säuseln der Edelkastanien die traurige Geschichte der Lora-Nixe erzählen, deren feurige blaue Augen der Ferge selbst hatte aus dem Wasser blitzen sehen, deren goldene Locken oft weit ausgebreitet gleich glitzerndem Schaum auf den Wellen schwammen, wie männiglich im Lora-Thal bekannt war.

In Gedanken noch immer mit seiner poetischen Ausbeute beschäftigt, erhob sich Heino von der Tafel, als [258] plötzlich eine laute Stimme vom Vorplatz an sein Ohr schlug und ihn eilig dem Ausgang zuschreiten ließ.

„Mein gewöhnliches Zimmer Nummer 20,“ hatte die kurze Forderung gelautet.

„Nummer 20 ist bereits vergeben,“ entgegnete der Portier; „Fräulein Paloty –“

„Dann geben Sie mir ein anderes Zimmer des Lora-Flügels,“ befahl der neue Gast.

„Bedaure unendlich,“ entschuldigte der Portier; „aber die ganze Beletage des Lora-Flügels ist von Fräulein Paloty und ihrer Mutter bestellt, welche heute –“

„Nun, so gebeu Sie mir irgend ein Zimmer,“ unterbrach ihn der Fremde ungeduldig, „und lassen Sie mich mit Ihrem Fräulein Paloty in Ruhe. Arnold, so bringe doch die Pferde in den Stall,“ kommandirte er auf den Hof hinaus, wo sein Diener mit offenem Munde einen Zug von Pferden, geführt von englischen Reitknechten, einpassiren sah.

„Herr Hauptmann, die Prachtthiere gehören alle einem Fräulein Paloty,“ erwiderte Arnold ganz verblüfft.

„Marsch,“ befahl sein Herr, und Arnold kam schleunigst dem Befehl nach.

Der Hauptmann drehte sich auf dem Absatz herum.

„Blachrieth!“ rief er mit einer Stimme, die hallend Vestibüle und Korridore erfüllte, und schüttelte dem Freunde, der mit leisem, überlegenen Lächeln auf sein ungebundenes Gebahren schaute, herzhaft die Hand. „Mußte mich der Teufel reiten, daß ich gerade heute nach dem entfernten Forstort ging! Ich bin spornstreichs Deiner Fährte gefolgt, als ich Deine Karte vorfand. Aber nun laß mich das versäumte Mittagsessen nachholen.“

Die Freunde kehrten in den Speisesaal zurück, und nachdem der Hauptmann Hut und Reitpeitsche abgelegt hatte, rief er mit kurzen Kommandoworten nach Speise- und Weinkarte, während Heino die Zeit benutzte, noch einige poetische Gedanken in sein Taschenbuch einzutragen.

Bevor sich Georg in die Suppe vertiefte, erklärte er kurz und bündig seine Anwesenheit auf seinem Gut.

„Bald nach der Rückkehr von unserer gemeinschaftlichen Reise in Italien starben rasch hinter einander meine Eltern, wie ich Dir seiner Zeit gemeldet habe. Das Gut Aufdermauer ist nie von einem Pächter bewirthschaftet worden, das Leben eines Officiers in Friedenszeiten kannte ich zur Genüge, so nahm ich meinen Abschied und gedenke meinen eigenen Kohl zu bauen. Eine Aussicht, im Ernst losschlagen zu dürfen, ist doch nicht vorhanden. Vielleicht haben meine Jungen einmal mehr Glück als ich.“

„Hast Du Söhne?“ fragte Heino verwundert.

„Nein, noch nicht,“ erwiderte Georg. „Aber so viel steht fest: der Aelteste übernimmt einmal das Gut, die Andern werden alle Soldaten, die Großen Grenadiere, die Kleinen Husaren. Wir werden sie schon brauchen können.“

„So bist Du oerheirathet?“ erkundigte sich Heino ganz perplex. „Mit wem?“

„Mit Niemand,“ antwortete abermals Georg. „Aber ich gehe stark damit um, mir eine Frau zu nehmen. Nun! Und in welcher Würde habe ich Dich zu begrüßen? Denn Deine Staatsexamina sind ja wohl längst absolvirt.“

Heino schüttelte das goldbraun umlockte Haupt.

„Längst habe ich eingesehen und auch Mama überzeugt, daß es ein beklagenswerther Irrthum war, als ich das trockene Studium der Rechte zu meinem Lebensberuf erwählte. Ich wandte deshalb dem Jus für immer den Rücken und zog mich auf mein Gut zurück.“

„Du wirst auch Landwirth? Das freut mich,“ rief Georg. „Darauf wollen wir anstoßen.“ Und er füllte zwei grüne Römer mit Johannisberger.

Aber Heino schüttelte abermals den Kopf.

„Ich habe dort nur meiner Muse gelebt, indem ich die Eindrücke meiner italienischen Reise poetisch verwerthete. Als dann meine Gedichte druckreif waren, brachte ich mit Mama einige Wintermonate in der Residenz zu. Ich habe dort viel Freundlichkeit erfahren, und es wurde mir die Gnade zu Theil, in einem auserlesenen Cirkel bei Hofe eine Auswahl meiner Gedichte vortragen zu dürfen. Ich konnte nach so viel Aufmerksamkeit nichts Anderes thun, als mein Werk der Frau Erbprinzessin widmen, und erhielt dafür den Hausorden.“

Eine nachlässige Bewegung seiner marmorweißen Hand nach dem blauen Bändchen im Knopfloch begleitete die leicht hingeworfenen Worte.

„Ich gratulire,“ schaltete Georg ein. „Kellner, wo bleibt mein Fleisch mit Gurken? Nun, wie ging die Geschichte weiter?“ Und er sah Heino auffordernd an.

Dieser war ein wenig nervös zusammengefahren bei der prosaischen Unterbrechung. Aber er sprach gern von dem, was seine Muse ihm zuflüsterte, und so überwand er seine aufsteigende Empfindlichkeit und fuhr fort:

„Als der Frühling ins Land kam, zog ich wieder von dannen, um neue poetische Anregung zu suchen. Denn wie sollte ich in unserem Dörfchen Stoff zu einer Dichtung finden?“

„Na,“ meinte Georg nachdenklich, „ich verstehe freilich nicht viel davon; aber Auerbach hat seine berühmten Geschichten von einer Dorfgasse aufgelesen.“

„Er hat eben das Glück gehabt, in einer poetischen Umgebung zu leben, unter einem Volke, dessen Eigenthümlichkeiten das Publikum interessiren,“ bedeutete ihn Heino und sah fast beleidigt aus über das blinde Glück des Dorfgeschichtenerzählers. „Ich dagegen habe in Wochen die einzige stimmungsvolle Stunde in der Walpurgisnacht auf dem Brocken verlebt.“

„Wie?“ rief Georg. „Die Fahrt hättest Du den alten Weibern überlassen sollen. um die Zeit hast Du ja keine Christenseele zur Gesellschaft gehabt.“

„Mein Gesellschafter laßt sich allerdings schwerlich mit diesem Namen bezeichnen,“ entgegnete Heino. „Bei Schierke und Elend erwartete mich sein Geist; er zeigte mir die Felsennasen, die man die Schnarcher nennt, und ließ mich am Ilsenstein der Eule ins Nest schauen. Er hieß Goethe,“ schloß er mit tiefer Neigung des Hauptes.

Georg rückte unruhig hin und her.

„Na ja, den ‚Faust‘ von Goethe kenne ich. Aber was hast Du zu Stande gebracht?“

Heino nickte gewichtig.

„Mein Ohr öffnete sich für das Murmeln der Quellen unter den Granitblöcken, für das Rauschen der hinabstürzenden Bäche. Die Sage von der Liebe der Ilse zu Heinrich dem Finkler hatte mich fast festgehalten; aber wenn ich Begeisterung an ihren sprühenden Wasserfällen schöpfen wollte, brachte sie mich durch ihre Unbändigkeit, mit der sie den Brocken hinunter poltert, stets auf den Gedanken, daß sie mehr ein wilder Junge als das schöne Liebchen des alten Sachsenherzogs sei. Meine Mama entriß mich meinen Träumereien, indem sie mich nach Hause berief und mir einen Bade-Aufenthalt in Jungbrunnen verordnete, das sie mit meiner Kousine, Fräulein von Grundleben, zu besuchen gedachte.“ Ein leises Lächeln spielte einen Augenblick um seine feinen Lippen. „Sie strebt das Eine an, ich erreiche das Andere. Auf Deinem Grund und Boden tauchte die verführerische Nixe auf, die ich suchte. Du überläßt mir doch das schöne Lora-Weib?“

„Ich liebe Fischschwänze nur blau gesotten auf meinem Teller,“ erwiderte Georg, sich eine Forelle zulangend. „Aber der Fisch ist kalt. Kellner, was ist das für eine Wirthschaft?“

„Ich bitte tausendmal um Entschuldigung,“ bat der Gescholtene. „Es herrscht einige Verwirrung bei uns. Erst heute früh kam Befehl, die Zimmerreihe in Bereitschaft zu setzen, welche Fräulein Paloty –“

„Ich glaube, Sie sind Alle verrückt geworden,“ schnitt Georg ihm die Rede ab und maß ihn mit einem zornfunkelnden Blick. „Gehen Sie mit Ihrer Forelle und Fräulein Paloty zum Teufel und schaffen Sie mir eine ordentliche Cotelette und Bohnen. Nein,“ fuhr er zu Heino gewendet fort, „ich habe kein Recht an die Wasserfrau. Auf der Mauer ist’s stets mit richtigen Dingen zugegangen. Wir haben die Ehre des Nixenverkehrs den Falkenecks überlassen, welche auch jedenfalls mit ihren Rittersporen und dem goldenen Falken im blauen Feld der Lora besser gefallen haben als meine derben Vorväter mit ihrer Mistgabel. Da Du schon die Bekanntschaft der geschwänzten Schönheit gemacht hast, wirst Du auch wissen, daß sie die Stammmutter der Freiherren von Falkeneck sein soll.“

„Die Sage hat mich förmlich gepackt,“ entgegnete Heino mit schwärmerischem Aufschlag seiner braunen Augen. „Sie ist hoch poetisch vom Einzug der schönen Lora an mit ihrem Schatz [259] von Gold und Sapphiren bis zu ihrer Verstoßung durch den Ritter, als er entdeckte, daß sie eine Nixe war, und seiner Bußfahrt nach dem gelobten Lande.“

„Es wird etwas Wahres an der Geschichte sein,“ antwortete Georg, indem er ein Rebhuhn zerlegte. „Wahrscheinlich ist die Stammmutter der Falkenecks die Erbtochter eines heidnischen Häuptlings der Gegend gewesen. Ihre Schätze erklären sich daraus, daß die Lora in früheren Zeiten Goldkörner geführt hat und Sapphire in den Basaltbergen ihrer Ufer gefunden wurden. Die reiche Erbin wird von dem mit Karl dem Großen eindringenden christlichen Ritter zum Christenthum bekehrt und gefreit worden sein. Wahrscheinlich hat sie aber von den alten heidnischen Gebräuchen nicht lassen konnen – vielleicht zu viel gescheuert und gewaschen – und ist von ihrem Gatten dabei überrascht und fortgejagt worden, wie ihr für ihren Ungehorsam gebührte. Wenn Dir die Geschichte Spaß macht, freut es mich. Dann ist der Unsinn doch zu etwas gut.“

Heino sah ihn mit großen Augen an.

„Spaß? Ich trage schwer an der Aufgabe.“

„So laß die Hexe in ihrem Wasser sitzen,“ rieth Georg. „Gott solle mich bewahren, daß ich mir unnöthiger Weise ein solches Kreuz auf den Hals lüde.“

„Nein,“ rief Heino schwärmerisch, „sie hat es mir angethan, obgleich sie am wenigsten deutlich aus der Sage heraustritt. Es ist, als sähe man ihre Gestalt nur fern durch das Wasser herauf schimmern. Die Sapphiraugen, das goldne Haar sind erkennbar; sie selbst aber bleibt verhüllt. Und was übt wunderbareren Zauber aus als das Geheimnißvolle?“

Georg zuckte die Achseln.

„Ich lobe mir klare Verhältnisse, besonders, wenn es sich um Frauen handelt. Aber bei einer Dichtung mag das anders sein.“

„Ja wohl ist es da anders,“ seufzte Heino. „Ich fühle, daß das glatte, klare Alltagsleben, in das ich geschmiedet bin, Bleigewichte auf die Flügel meines Geistes legt. Aber der Bann muß gesprengt werden, der meinen Genius gefangen hält, sei es selbst durch ein schweres Schicksal – ich will den Göttern dafür danken.“

„Mensch, versündige Dich nicht,“ rief Georg unwillig. „Wir wollen gehen und Kaffee trinken. Ich glaube, die Luft hier benebelt den Verstand.“

Der Freund gefiel ihm gar nicht mehr. War Blachrieth verwandelt, oder hatte er selbst in seiner früheren Jugendeselei sich ein falsches Bild von ihm gemacht?

Sie tranken ihre Gläser aus und begaben sich in die von Schlingpflanzen umrankte, mit Topfgewächsen geschmückte Veranda, welche sich vor dem Saale hinzog.

Mehrere elegant gekleidete Herren saßen bereits dort in bequemen Schaukelstühlen, plaudernd, rauchend und ihren Kaffee nehmend. Heino war mit ihnen bekannt und stellte seinen Freund vor. Man wechselte einige flüchtige Worte, und die beiden neu Angekommenen schlossen sich den Andern an. Ungenirt kehrten diese zu dem Gesprächsthema zurück, welches sie vorher beschäftigt hatte.

„Sie muß herein sein,“ bemerkte der Eine, welcher einen Anzug von auffallendem karrirten Stoff trug. „Die Beletage des Lora-Flügels ist offenbar alarmirt.“

„Vor einer Stunde war sie noch nicht da,“ beharrte ein Anderer. „Ich selbst sprach mit dem Geschäftsführer des Kurhauses.“

„Ist das wieder diese verwünschte Paloty?“ fragte Georg, sich oerzweifelt in seine dunklen, unter kurzem militärischen Schnitt gehaltenen Haare fahrend.

„Ganz richtig; Frau Paloty mit ihrer Tochter Leonore,“ erwiderte Ravensburgk. „Oder besser gesagt: Fräulein Leonore Paloty mit ihrer Mutter.“

„Wenn es überhaupt ihre Mutter ist,“ wendete der „Sohn seiner Mutter“ ein.

„Freilich ist es ihre Mutter,“ stritt der Großkarrirte, der Baron Pölz genannt wurde. „Sie führt den Familiennamen der Mutter.“

„Sind Sie so genau in die etwas dunklen Verhältnisse eingeweiht? Vielleicht als Apostel der Aufklärung ausgesendet?“ fragte Ravensburgk, indem er seinen von Gichtschmerzen geplagten Arm ächzend knetete.

„Für Geld ist Alles zu haben,“ lachte Pölz. „Es kommt nur darauf an, ob man den Preis zahlen kann. Als die Palotys in der vorigen Saison hier auftraten und uns Allen durch Erscheinung und Verhältnisse ein Räthsel aufgaben, ließ ich meine geheimen Federn spielen, und es dauerte nicht lange, so hatte ich die Auflösung.“

„Ah,“ machten die Herren, blaue Ringe in die Luft blasend.

„Frau Paloty,“ erzählte wohlgefällig Pölz, „ist die Tochter eines böhmischen Kapellmeisters oder Komponisten, kurz, eines Musikanten, die durch ihre Schönheit Herz und Hand eines Herrn von guter Familie gewonnen hat. Die Ehe ist, wie unter solchen Verhältnissen meistens, unglücklich ausgefallen, und der Mann, von seinem Vater enterbt, in die weite Welt gegangen. Die Tochter aber ist die alleinige Erbin des steinreichen Großvaters geworden.“

„Wozu aber die Annahme des mütterlichen Namens?“ warf man ein.

„Einer Grille des Erblassers zu genügen,“ lautete die Antwort.

„Vielleicht fürchtete er, daß der Name auch durch die weibliche Descendenz kompromittirt werde,“ sagte Ravensburgk. „Aber wie lautete dieser abgeworfene Name?“

Jetzt mußte Pölz seine Unwissenheit zugestehen und damit die Glaubwürdigkeit seiner Nachrichten selbst erschüttern.

Der Bergrath hatte gehört, die Palotys seien russische Emissärinnen und deßhalb ihnen gegenüber Vorsicht geboten.

„Kommt der schwarze Mann noch immer nicht zur Ruhe?“ lachte Georg.

„Der schwarze Mann stirbt nicht,“ belehrte Ravensburgk. „Immer wieder wird er bei kleinen und großen Kindern seine Auferstehung halten, so oft sie auch die Strohpuppe hinter der schwarzen Vermummung erkannt haben. Die Menschheit bedarf der Scheuchen auf allen Feldern ihrer Thätigkeit – sei es Politik oder Religion – wie das Spatzenvolk des Butzemanns in den Weizenfeldern. Uebrigens ist es ja gleichgültig, was die Palotys sind. Wenn wir uns an einer schönen Blume freuen, fragen wir auch nicht danach, ob sie in einem Treibhause oder auf dem Kehrichthaufen gewachsen ist.“

Georg fühlte sich von der Unterhaltung gelangweilt. Er erhob sich und ging; Heino und Ravensburgk schlossen sich ihm an.

In diesem Augenblick rasselte ein von vier lang gespannten Pferden gezogener eleganter Reisewagen an ihnen vorüber. Aus dem Fenster bog sich über ein riesiges Bouquet ein verschleierter weiblicher Kopf und erwiderte den kecken Gruß Ravensburgk’s.

„Sie!“ sagte dieser, indem er das Glas aus dem Auge fallen ließ. „Fräulein Leonore Paloty ist einpassirt.“

Heino blieb stehen und blickte dem Wagen nach, der, gefolgt von einem andern Wagen mit zierlichen Zofen und riesigen Koffern, am Portal des Kurhauses vorfuhr.

Die Glocke annoncirte die Ankommenden mit einem wahren Sturmgeläut; die zusammenlaufenden Kellner bildeten eine Gasse; die von ihren Sitzen herabspringende Dienerschaft gesellte sich dazu. Der Schlag wurde geöffnet.

Aber von den Insassen konnte Heino vor dem schwarz befrackten Garçonspalier nichts erkennen.

Nur ein grausilbern schimmerndes Schleppkleid huschte wie ein Schlangenschweif an der Erde hin, die Stufen hinauf und verschwand in der Pforte.

Georg aber hatte bei der abermaligen Nennung des Namens das Hasenpanier ergriffen.




Die Abendpromenade hatte begonnen. In rastlosen Verschlingungen wechselten die Gruppen auf dem Kurplatz, zogen sich von hier nach der Rotunde, welche die heißen Quellen überwölbte, und von da nach den Gartenwegen und Alleen hin.

Die festen Pole in der Erscheinungen Flucht bildeten die Badeärzte, welche gleich Beichtvätern einmal nach rechts, einmal nach links sich beugten, leise Klagen entgegennahmen, neue Verordnungen erließen.

Das Ohr des Geheimen Medicinalrathes hatte Frau von Blachrieth erobert. Den goldenen Knopf seines Stockes [260] nachdenklich an die Nase gelegt, vernahm derselbe ihre Beichte und verordnete ihr dann mit wichtiger Miene, einen Becher mehr zu trinken.

Dann lieh sie ihrerseits ihr Ohr dem Präsidenten, der über die Table d’hôte im „Englischen Hof“ klagte, und empfahl ihm die des Kurhauses.

Hedwig schritt mit Ravensburgk voraus. ihr Schirmchen war wie ihr Kleid in frisches chinesisches Rosa getaucht und warf einen lieblichen Schein auf ihr Gesicht.

Ravensburgk, die Hände mit dem Stöckchen lässig auf den Rücken gelegt, schlenderte plaudernd neben ihr her.

„Ah, da ist Frau von Tromsdorf mit ihrer Tochter Fifi. Welche Fertigkeit wird das gute Kind zunächst entwickeln? Wenn man die Nausikaa von Bendemann lobt, sagt die Mutter: ‚Sie sollten sehen, wie Fifi malt.‘ Ist man von Liszt begeistert: ‚Aber Sie haben Fifi noch nicht gehört.‘ Ich fürchte, da kürzlich ein neuer Mond entdeckt worden ist, so wird es nun heißen: ‚Das ist gerade Fifi’s specieller Fall, Monde zu entdecken.‘“ Er grüßte abermals in verbindlichster Weise. „Die drei Fräulein von Gokel! Welche Führung hat sie hierher geführt? Sie müssen nämlich wissen, daß sie nur durch Führungen leben. Selbst wenn sie den Schlüssel zum Brotschrank auf ihrem Hafergütchen verlegen, so ist das eine gnädige Führung, welche ihnen das Frühstück für ihre Leute spart. Aber Frau von Giera fehlt. Wahrscheinlich ist sie schon bei Frau Paloty, die sie begleitet wie der Ibis das Krokodil. Gewiß nimmt die getreue Freundin bereits den Thee und noch viele andere gute Dinge im Lora-Flügel ein.“

Hedwig schüttelte den Kopf.

„Warum verkehren Sie so angelegentlich mit der Gesellschaft, wenn Sie sie doch verachten?“

„Wer sagt Ihnen, daß ich die Gesellschaft verachte?“ spottete Ravensburgk. „Womit hätte dieselbe eine solche Empfindung verdient? Befolgt sie nicht alle Gebote? Sie betet nur einen Gott an – den Vortheil; sie ehrt Vater und Mutter – wenn sie Geld haben; sie übt Treue – gegen die Champagnersoupers. Mein Liebchen, was willst Du noch mehr?“ sang er mit der Stimme eines Nachtmahrs. „Aber es wird Zeit, meinen zweiten Becher zu trinken.“

Er zog den Hut und richtete seine Schritte nach der Brunnenhalle.

„Jetzt kommt Heino,“ sagte in tröstendem Tone Frau von Blachrieth zu Hedwig, indem sie sich von dem Rollstuhl einer gelähmten Freundin der Nichte zuwandte.

Hedwig schien diese Mittheilung so wenig zu interessiren, als vorhin die moquanten Reden Ravensburgk’s. Da ihre Tante stehen blieb, um den Sohn zu erwarten, lehnte sie sich an das eiserne Geländer, welches die Promenade nach dem Fluß abschloß, und blickte das Thal entlang, wo derselbe um den Fuß des Hainberges in den Lora-Grund hinabrauschte.

„Hier bringe ich meinen Freund, Herrn Hauptmann Aufdermauer,“ sprach Heino, diesen vorstellend.

Hedwig wendete sich gleichgültig; aber als sie die Augen aufschlug, wurde sie purpurroth.

Georg stand einen Augenblick sprachlos. Dann sprühte heller Muthwille aus seinen Augen, und in neckendem Tone sagte er:

„Ihr Kranz hängt wohlbehalten bei den Erntekränzen in der Vorhalle des ‚deutschen‘ Hauses Aufdermauer.“

„Mein Gott, wie ist denn das?“ fragte Frau von Blachrieth auf das Aeußerste überrascht.

„Ich habe Sie übergeholt, gnädige Frau, als Sie sich den Lora-Grund angeschaut hatten,“ antwortete Georg lachend. „Aber Fräulein von Grundleben ist die einzige, die mich wieder erkannte.“

Heino wurde von dem Vorgange in Kenntniß gesetzt.

„Ist’s möglich?“ rief er ganz erstaunt. „Solche Abenteuerlust hätte ich Dir gar nicht zugetraut.“

„Nein,“ verwahrte Georg sich eifrig, „ich habe wahrhaftig keine romantische Ader. Das Zusammeutreffen war ganz zufällig. Ich wollte auf die Pirsch in den Hainberg gehen, und als ich an den Kahn kam, bemerkte ich, daß ich meine Rehblate vergessen hatte, Christian meinte, in der Abendstunde abkommen zu können, und lief zurück, mir das Pfeifchen zu holen. Ich setzte mich einstweilen auf seine Steinbank. Da wurde geläutet. Christian’s Ruf als zuverlässiger Fährmann stand auf dem Spiel, ein Ruf, der in seiner Art so viel werth ist als jeder andere. Genug! ich holte über, und – es hat mich nicht gereut.“

Die scherzende Besprechung des kleinen Ereignisses hatte eine rasche Bekanntschaft vermittelt. Bald war Hedwig in ein landwirthschaftliches Gespräch mit Georg vertieft. Von einem neuen Butterfaß ausgehend, kamen sie zu einem Streit über holländische Kühe und einer Uebereinstimmung über eine amerikanische Dreschmaschine.

Frau von Blachrieth seufzte am Arme Heino’s:

„Wenn es nur Niemand hört! Man hält uns sonst für eine Krautjunkerfamilie.“

Sie gingen eben den Lora-Flügel entlang. Aus einem der hohen Bogenfenster tönten die lang hinhallenden Akkorde einer Harfe herab.

„Nach wem siehst Du Dich nur um, Heino?“ fragte sie nach einer Weile. „Du führst mich so eigenthumlich heute.“

„Verzeih, liebe Mama,“ entschuldigte er sich. „Ich bin ganz benommen von meinem neuen Stoff und suche Ravensburgk, um von ihm etwas über die Wappensage der Falkenecks zu erfahren. Er ist ein außergewöhnlich gut unterrichteter Heraldiker.“

„Ah, sehr verbunden,“ ertönte die dumpfe Stimme des Genannten. „Ich gehe merkwürdiger Weise schon geraume Zeit nebenher, ohne von irgend jemand beachtet zu werden. Sie meinen jedenfalls die Tradition, daß die Falkenecks bis zu ihrer Mesalliance mit der Nixe den Falken ohne Kappe im Schild geführt und erst zur Buße ihn geblendet und die Devise angenommen haben: ,ich harre auf Licht.‘ Die Geschichte klingt zu modern. Vielleicht ist es eine spätere Legende, wie sie sich immer um hervorragende Persönlichkeiten sammeln, gleich den Nebeln um Berggipfel. Verbürgen läßt sich natürlich nichts. Vor tausend Jahren wurde nicht so viel geschrieben wie heutzutage.“

„Tausendjähriges Harren auf Licht; welch schweres Schicksal!“ sagte Hedwig, die, den Harfenklängen lauschend, stehen geblieben war.

„Das Schicksal der Menschheit,“ entgegnete Ravensburgk, indem er seinen Plaid langsam um die Schultern warf. „Der Einzelne kann nichts voraus verlangen.“

„So alt sollte der Adel sein?“ fragte Frau von Blachrieth ungläubig.

„Daran ist nicht zu zweifeln,“ entgegnete Ravensburgk leichthin. „Er ist so alt wie der meinige. Die Falken und Raben haben zusammen gekämpft und geraubt. Es sollen auch ein paar von Rudolph von Habsburg zusammen dafür gehenkt worden sein.“

„O!“ wehrte Frau von Blachrieth.

„Nehmen Sie es nicht tragisch, gnädige Frau,“ tröstete Ravensburgk ironisch. „Das Werfen der Kaufleute war dazumal Sport, und dieser hat zu keiner Zeit Anspruch auf erhabene Gesinnung gemacht.“

„Sagen Sie,“ erkundigte sich Frau von Blachrieth interessirt, „gehören Sie der Linie Dohlennest an?“

„Nein, Ravensburgk von Ravenskopf; ich bin ein echter Rabe,“ war die Antwort.

„Ach ja, ihre Frau Mntter war eine Dohlennest,“ verbesserte sie ihren Fehler. „Aber die Elsterbergs –“

Hedwig ergriff die Flucht. Sie wußte: wenn ihre Tante einmal anfing, die Stammbäume auf und ab zu klettern, so war sie so bald nicht wieder herunter zu bringen.

„Woher bekommen Sie Ihre Lektüre?“ fragte sie Georg, der unentwegt an ihrer Seite ging.

„Von Jungbrunnen,“ berichtete er.

„Das sind gewiß nur oberflächliche Romane,“ rügte sie. „Die Buchhandlungen der Bäder sind hauptsächlich darauf angewiesen.“

„Nun ja, was man so zum Schmökern braucht,“ murmelte er verlegen.

„Wir haben unsere kleine Hausbibliothek,“ erzählte Hedwig. „Wenn das Tagewerk beschlossen ist, sitzen wir in der Wohnstube um den runden Tisch. Ich lese vor, Papa raucht, Mama strickt. [262] Unsere neueste Erwerbung ist ein Buch von Gustav Freytag: ‚Bilder aus der deutschen Vergangenheit.‘ Es waren schöne Abende, als wir es lasen. Seitdem habe ich unser altes Haus mit seinem hundertjährigen Geräth noch einmal so lieb und bin noch einmal so stolz darauf, eine Deutsche zu sein.“

„Dafür möchte ich Ihnen nun auch von Herzen die Hand drücken,“ sagte Georg in warmem Tone.

„Mein Gott,“ klagte Frau von Blachrieth plötzlich, indem sie stehen blieb, „die Anlagen sind doch recht beschränkt. Wir mögen einen Weg einschlagen, welchen wir wollen, immer mündet derselbe unter dem Lora-Flügel des Kurhauses.“

„St!“ machte Heino und lauschte.

Jetzt schallte ein mit großer Virtuosität gespielter Perlenregen herab, aus dessen wirbelnden und rollenden Tongebilden eine einförmige Melodie von unendlicher Sehnsucht mit starker Hand „herausgerissen“ wurde. Heino konnte keinen andren Ausdruck für diese leidenschaftliche Art des Vortrags finden.

„Leonore Paloty spielt,“ sagte Ravensburgk. „Diese Fertigkeit spricht allerdings für die Annahme, daß sie von böhmischen Musikanten abstammt.“

„Wie kommt diese fragwürdige Dame zu dem Lora-Lied, welches das Volk in unserem Thale singt?“ fragte Georg, während er mit Hedwig weiter ging.

„Der Herr Aufdermauer marschirt im Sturmschritt,“ bemerkte Ravensburgk mißmuthig.

Verstimmt hüllte Frau von Blachrieth sich in ihre Mantille und klagte:

„Ich darf mich aus Rücksicht auf meine Brunnenkur der Abendluft nicht aussetzen.“

Pardon, Mama,“ sagte Heino, „wenn dies das Lora-Lied ist, muß ich es zu Ende hören; das ist zu meinem Stoff nothwendig.“

Ravensburgk bot Frau von Blachrieth galant den Arm, und während Heino zurückblieb, geleitete er sie nach Hause, unverwandt das Monocle auf das junge Paar gerichtet, das er so „contre coeur“ chaperonniren mußte, während er die alte Dame „faute de mieux“ führte.

„Herr von Ravensburgk,“ klagte sie, „nicht wahr, Sie erinnern Heino daran, daß er zu rechter Zeit nach Hause geht? Es ist nicht kurgemäß, sich spät zur Ruhe zu begeben.“

„Gnädigste Frau,“ entgegnete Ravensburgk in entschiedenem Tone, „ich glaube, daß ihr Herr Sohn etwas ganz Anderes bedarf als eine sorgfältige Brunnenkur. Es ist dies eine richtige Erkenntniß des Lebens, und ich meine, daß er seinen Aufenthalt hier benutzen sollte, um einmal Welt und Menschen kennen zu lernen, statt Phantasiebildern nachzujagen.“

Frau von Blachrieth hob beleidigt das Haupt.

„Seine poetische Begabung scheidet ihn von der Prosa des Lebens und bewahrt ihn davor, mit dem Niedrigen in Berührung zu kommen,“ schloß sie mit dem spitzen Tone, der an das Summen der Biene erinnert, die gern stechen möchte.

Ravensburgk nahm keine Notiz von der Anzüglichkeit.

„Auch der dichterische Lorbeer wird nicht erträumt, sondern im heißen Kampfe errungen,“ entgegnete er. „Oder glauben Sie wirklich, daß eine Seele, die nur sich selbst bespiegelt, die keine Leidenschaft kennt, die vom Schmerz und Elend des Lebens nie berührt wurde, daß eine solche Seele Töne zu finden vermöchte, welche die Menschheit auf ihrem Passionswege über diese schöne Erde ergreifen, rühren, erheben können?“

Sie waren an der Wohnung angekommen. Ehe sie noch eine Erwiderung fand, zog er den Hut tief ab. Ihren empfindlichen Abschiedsgruß nahm er mit stoischer Ruhe hin. Sie wandte sich Hedwig zu, die mit holdem Lächeln dem Hauptmann Aufdermauer „Guten Abend“ wünschte.

In tiefer Verstimmung uahm Frau von Blachrieth in ihrem Salon Platz. Während sie, wie allabendlich, eine Fächerpatience legte, krittelte sie:

„Was fällt diesem Herrn von Ravensburgk ein, mir über die Erziehung meines Sohnes Rathschläge zu ertheilen, da er doch selbst nur als abschreckendes Beispiel dienen kann?“

Hedwig stand am Fenster.

„Da wendet sich der Herr Aufdermauer noch einmal um und grüßt herauf,“ sagte sie.

Ihre Tante wurde noch ärgerlicher.

„Ich wundere mich doch, Hedwig, daß Du so schnell vertraut wurdest mit diesem Herrn Aufdermauer. Der Scherz, den er sich mit uns erlaubt hat, war nicht sehr gewählt.“

Jetzt drehte sich Hedwig um.

„Du irrst Dich ein wenig im Ausdruck, liebe Tante,“ erwiderte sie sanft, aber bestimmt. „Er hat uns einen Dienst geleistet.“

Frau von Blachrieth wiegte unmuthig das Haupt.

„Er hat nichts Vornehmes, nichts Apartes; seine Sprache ist nicht gewählt.“

„Ich habe nur den Eindruck,“ widersprach Hedwig, gleichmäßig ruhig, „daß er vor Allem wahr reden und nichts sein will als ein ganzer Mann.“

„Sämmtliche Könige liegen voran, kein Aß ist heraus zu bekommen. Aus der Patience wird nichts.“ Aergerlich schob Frau von Blachrieth die Karten zusammen.




Trotz der Nähe seines Gutes war Georg über Nacht in Jungbrunnen geblieben. Er wolle sich die Morgenpromenade einmal ansehen, hatte er Heino gesagt.

An frühes Aufstehen gewöhnt, saß er schon frühstückend hinter den Myrten- und Granatbäumen, welche seinen Balkon überschatteten, als von dem Badeleben kaum die ersten Spuren sich zeigten. Ueber den Kurplatz zu seinen Füßen schritten nur Milchverkäuferinnen, Bäckerjungen mit Körben voll Brötchen auf den Köpfen, eilten Badewärter hin und her.

Georg meinte, es sei ihm lange nicht so wohl geworden wie heute. Daheim mußte er um diese Stunde dem Verwalter, der Haushälterin, dem Gärtner und Kutscher Rede stehen, welche Bericht erstatteten und seine Befehle einholten; hier konnte er ungestört seinen Gedanken nachhängen, die unaufhörlich die Ereignisse der letzten Tage an seinen Augen vorüber führten. Die kleine Romanscene, die er erlebt hatte, dünkte ihn viel unterhaltender als die Journalnovellen, welche er zu Hause nach dem Mittagsessen zu lesen und über die er regelmäßig einzuschlafen pflegte. Er spann bereits ein Plänchen aus, das dem romanhaften Anfang entsprach, und unternehmend ließ er seinen schwarzen Schnauzbart durch die kräftigen wohlgeformten Hände gleiten.

Da weckte ihn ein Klirren aus seinen Gedanken.

Ihm gegenüber an der Rückseite des Lora-Flügels wurde ein Fenster geöffnet. Eine schlanke Mädchengestalt, in einen von Spitzen überrieselten Negligémantel wie in eine duftige Wolke gehüllt, von aufgelöstem goldblonden Haar wie von einem Schleier umwallt, erschien in dem Rahmen. Das mußte die Paloty sein, über welche die Leute den Verstand verloren hatten! Nachlässig auf das sammetne Fensterkissen gestützt, hielt sie Umschau.

Da – plötzlich – hob sie wie em lauschendes Reh den zierlichen Kopf höher; ihr Blick heftete sich so gespannt auf eine Stelle des Kurplatzes, daß Georg demselben unwillkürlich folgte.

Aus der Brunnenhalle kam ein schlanker, ganz in Grau gekleideter Herr. Er mochte kaum die Mitte der vierziger Jahre überschritten haben; doch deuteten sein langsamer Gang und sein bleiches abgezehrtes Gesicht auf eine gebrochene Lebenskraft. Kein Blick von ihm richtete sich nach dem Fenster empor, obwohl die Dame sich weit herausbog.

Da verschwaud sie einen Augenblick von demselben, um im nächsten mit einem Spiel Karten in der Hand wieder zu erscheinen. Gedankenschnell ließ sie die Blätter durch ihre Finger gleiten und wählte eines derselben aus. Sie warf einen raschen Blick über die gegenüberliegenden Feuster und den Platz; und da der letztere leer war und die zugezogenen Behänge der Fenster so unschuldig aussahen wie die Myrtenbäume, die den Balkon verhüllten, ließ sie die Karte, die Georg’s scharfes Auge als das Coeur-Aß erkannte, vor die Füße des frühen Brunnengastes fallen.

Es schien Georg, als zucke der graue Herr ein wenig zusammen. Dann nahm er die Karte auf. Eine der Ecken war eingeknickt, wie man bei verfehlten Visiten zu thun pflegt.

Ein Lächeln ging wie ein heller Schein über sein blasses Gesicht. Aber ohne aufzusehen, schritt er schnell von dannen, obgleich die junge Dame ihm mit dem Blick folgte und erst, als [263] er verschwunden war, sich ins Zimmer zurück wandte. Georg bemerkte, daß sie dort einen Augenblick stehen blieb, die Hand vor die Augen gedrückt.

„Das weiß Gott! in einem Bade ist der Teufel schon am frühen Morgen los,“ brummte Georg.

Dann tauchte vor seinen Augen wieder die Mädchengestalt auf, welche nun seit zwei Tagen ihn unaufhörlich umgaukelte, mit den klaren Augen, der sammetartigen bräunlichen Haut, dem sanften stillen Mund. Er stellte sich vor, wie sie in einem weißen Häubchen aussehen müßte; denn solche extravagante Frisuren, wie die Coeur-Dame da drüben trug, waren ihm ganz zuwider. Endlich zeigten die belebtere Promenade und die beginnende Morgenmusik an, daß die Zeit gekommen war, zu der er die Blachrieth’sche Familie der Verabredung gemäß im Kurgarten erwarten durfte.

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aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 16, S. 277–280

[277] Immer dichter drängten sich die Badegäste um das Bronzegitter, hinter welchem die Brunnenmädchen in ihren weißen Röcken und blauen Jacken die Becher mit heißem Mineralwasser füllten.

Ein warmer Dunst durchzog die Halle und ließ die blassen verschlafenen Gesichter der trinkenden Gesellschaft noch abgespannter erscheinen. Man gähnte, klagte über die schwülen Nächte und die langweilige Saison, tadelte die Bestrebungen Einzelner, sich vorzudrängen, und war doch selbst nur bemüht, früher Gekommene zu überspringen. Da entstand eine Bewegung. Das träge Geplauder verstummte. Aller Augen richteten sich neugierig [278] nach dem Eingang. Die Gruppen wichen aus einander, ein leises Rauschen kam heran: Frau Paloty und ihre Tochter traten in die Trinkhalle.

Es war plötzlich, als seien alle andern Anwesenden zusammengeschrumpft oder verblichen.

Frau von Blachrieth wurde von der hoch modernen Krinoline der Frau Paloty zusammengedrückt, Vergeblich winkte sie Heino, ihr zu folgen. Er schaute gespannt den heranschreitenden Damen entgegen. In ihrem Verdruß übersah sie, daß Ravensburgk den Hut vor ihr zog. Und als dieser Hedwig begrüßen wollte, verließ dieselbe gerade mit dem Herrn Aufdermauer tief aufathmend die heiße Brunnenhalle. Er drehte sich ärgerlich ab und wandte sich ebenfalls den neuen Ankömmlingen zu.

Mit gleichgültiger Ruhe behauptete Frau Paloty das Feld, als sei es ihre einzige Aufgabe, in ihrer kostbaren, aber mattfarbigen Toilette ihrer Tochter zur Folie zu dienen.

Leonore dagegen trat mit der Sicherheit einer Primadonna auf, welche beim Erscheinen sofort die ganze Bühne nimmt. Rasch vorschreitend, üherfluthete sie mit ihrem weißen rosa gefütterten Morgenkleid die Steinfliesen der Halle, und ihre blauen Augen blitzten durch den gleich einem leichten Nebelwölkchen sie umflatternden Schleier über die Anwesenden hin. Wie eine zauberische Atmosphäre umgab sie ein feiner Duft von Heliotrop, der mit ihr kam und schwand. Ein Diener folgte den Damen mit ihren kostbaren persischen Shawls und den Trinkbechern.

Um Beide bildeten sich sofort Gruppen. Frau Paloty wurde von älteren Herren und Damen begrüßt, die sie als Bekannte der vorjährigen Saison aufsuchten.

Um Leonore schloß sich ein Kreis, in welchem Ravensburgk Hofmarschallsdienste that, indem er immer neue Vorstellungen vollzog.

Mit der ihm eigenen klanglosen Stimme sprach er:

„Baron Blachrieth, neuestes Opfer der Lora-Nixe, die er durch einen Ritt auf dem Pegasus zu erlösen beschlossen hat.“

Einen Augenblick hielt er in seiner Präsentation inne. Warum wandte Leonore sich so überrascht nach ihm um, als hätte er eine welterschütternde Neuigkeit erzählt? Was bedeutete das Aufleuchten ihrer Augen, mit dem sie Blachrieth beglückte? Sie schien wirklich Fassung und Athem verloren zu haben, so gut wie Blachrieth, dessen Augen ganz hingerissen an ihr hingen.

Da er dann fortfuhr, Mister Montagu, den österreichischen Kürassier und noch eine lange Reihe von Herren zu nennen, erschien sie ihm immer noch geistesabwesend. Sie sammelte sich erst wieder, als ihr der Krystallkrug mit dem heißen Mineralwasser gereicht wurde.

„Die Heilguelle hat sich nicht verbessert,“ sagte sie. „Sie riecht wirklich nach Schwefel, als komme sie direkt aus der Hölle.“ Mit einer Bewegung des Widerwillens wandte sie den Kopf ab, wobei sie den Inhalt des Glases halb verschüttete.

„Wenn Sie hier eine neue Douche anzulegen beabsichtigen,“ sprach Ravensburgk, seine bespritzten Stiefeln schüttelnd wie eine Katze, die in die Nässe gerathen ist, „so bitte ich mir wenigstens vorher einen Wink aus, damit ich mich bei Zeiten der überflüssigen Kleidungsstücke entledigen und den Bademeister mit trockenem Leinenzeug bestelleu kann.“

Leonore lachte zu seiner Unverschämtheit. „Ihre Furcht vor Nässe ist begreiflich bei Ihrer starken Anlage zur Trockenheit.“

„Da außer Ihnen noch Niemand diese Eigenschaft an mir entdeckt hat,“ entgegnete Ravensburgk mit spöttischer Verbeugung, „so vermuthe ich, daß Ihre gluthathmende Gegenwart allein schuld an dieser Erscheinung ist. Gewöhnen Sie sich nur an den Gedanken, daß ich mich nächstens verkrümele.“

„Edler Stoff wird durch koncentrirte Hitze geläutert, unedler, erdig lehmiger zerfällt,“ neckte Leonore.

„Bah! Erd- und Lehmkegel sind wir Alle,“ erwiderte Ravensburgk.

Leonore warf mit einer graziösen Bewegung den Schleier zurück und strich das Haar aus der niedrigen griechischen Stirn. „Ist das Lehm?“ fragte sie übermüthig, und ihr Blick traf in Heino’s Augen.

Einen Athemzug lang schauten sich die beiden jungen schönen Menschen strahlend an.

„Nein, das ist die Morgenröthe,“ sagte Heino entzückt.

„Asche!“ tönte es im selben Augenblick wie ein Hauch in Leonoren’s Ohr.

Erschrocken sah sie sich nach dem Sprecher um.

Vor ihr stand ein hoch gewachsener schwarz gekleideter junger Mann. Ein ernster Blick, der aus unermessener Höhe zu kommen schien, fiel schwer auf sie herab. Dann wandte sich der Fremde und ging mit ruhigem Schritt durch das Menschengewühl davon.

„Wer ist dieser Herr?“ fragte sie hastig den Präsidenten.

„Der jetzige Prediger der Herrnhutergemeine Himmelgarten,“ erwiderte der alte Herr, mit ihr die Stufen der Brunnenhalle herabsteigend. „Er ist auch Gast der hiesigen Heilquelle, kommt jeden Morgen über den Hainberg herüber und geht am Abend zurück. Eine beschwerliche Badekur; aber als Missionar ist er das Wandern gewohnt worden.“

Sie waren in den Kolonnaden angelangt, die auf der einen Seite offen und von wildem Wein umrankt, auf der andern durch Verkaufsläden geschlossen waren. Der bunte Schwarm eleganter Herren und Damen, der Leonoren folgte, wie der Schweif dem Kometen, sammelte sich um den nächsten Verkaufstisch, wo in Glaskästen vieux saxe ausgestellt war, reizende Amoretten, welche Fische fingen und Wein kelterten.

„Echtes Rocoeo,“ lobte Baron Pölz mit Kennermiene. „Es kommt doch nichts der koketten Grazie jener Zeit gleich.“

„Es ist Alles schon dagewesen, Herr von Pölz,“ sagte Leonore, seinen überlegenen Ton nachahmend. „Als auf der Meißner Porzellanerde noch Drachen und Bären hausten, malte man schon in Pompeji Amoretten als Schustergesellen an die Wand.“

„Ich kenne den Schwindel mit dem Schutthaufen,“ antwortete Baron Pölz und winkte abwehrend mit der Hand. „Ich dankte Gott, als ich heraus war; ließ mir lieber am Strande von Neapel von den Fischern frische Austern auftischen und von ihren hübschen Töchtern Limonien darüber ausdrücken. Das war doch wirkliches Leben.“

„Ja, lebendig müssen uns die alten Kunstwerke werden,“ belehrte Leonore. „Und wenn unsere Einsicht nicht hinreicht, die Schöpfungen alter Meister zu verstehen, so müssen wir uns an diejenigen halten, welche von der Natur so begnadet sind, daß sie die Gedanken längst vergangener Menschengeschlechter aus ihren zerbröckelnden Werken heraus zu lesen vermögen. Hätten Sie das pompejanische Bilderbuch von Heino von Blachrieth einmal mit Aufmerksamkeit studirt,“ fügte sie mit neckendem Augenaufschlag gegen Heino hinzu, „so würden Sie die pompejanische Kunst aus den prächtigen Abbildungen und Versen kennen gelernt haben.“

„Hat Ihnen mein Bilderbuch gefallen?“ fragte Heino roth und verschämt wie ein junges Mädchen.

„Wem nicht?“ gegenfragte sie. „Wie habe ich die zarten Verse bewundert, die den Handel mit Amoretten so sinnig auslegen. Nur kann ich Ihnen darin nicht zustimmen, daß der kleine Liebesgott, der sich dreist hinter das Gewand der schönen Frau verbirgt, der erwählte sein soll. Sie beachtet ja den Zudringlichen gar nicht und hat auch für den zuversichtlich mit seinem Kränzchen auf sie zufliegenden nur einen ernsten Blick. Ihr gefällt gewiß allein der kleine Schelm, den die derbe Faust des Händlers an seinen Flügelchen aus dem Taubenkäfig zieht.“

„Sind das Allegorien?“ fragte Ravensburgk hinzutretend. „Ist vielleicht unter dem dreisten Liebesgott, der an Ihrem Gewand hängen soll, Baron Pölz zu verstehen, der eben auf Ihrer Schleppe herumtritt? Bin ich so glücklich, als der zuversichtliche Amor geschildert zu werden, den man mit einem ernsten Blick abspeist? Und wer ist der Unglückliche, der an den Haaren herbeigezogen wird?“

Als seine Bemerkung keiner Beachtung gewürdigt wurde, lachte er boshaft in sich hinein: „Der Dichterling hat richtig angebissen. Da führt sie ihn an ihrer Angelschnur fort.“

Dann spähte er nach der Allee hinüber. Dort ging neben Hedwig der Herr Aufdermauer, und sie plauderten und lachten zusammen. Mit einem unmuthigen Zucken der Augenbrauen ließ er das Monocle fallen.

„Ist es Wahrheit, daß Sie die Lora-Sage zum Gegenstand Ihrer neuesten Dichtung machen wollen?“ fragte Leonore, während sie mit Heino in die Gartenwege hinaus schritt.

[279] Er neigte bejahend das Haupt. „ich würde mich an der Gunst der Götter versündigen, wenn ich die Berufung zu diesem Werk nicht annehmen wollte. Sie überschütten mich mit allen Gaben, deren ich dazu bedarf.“

„Vielleicht kann auch ich ein Scherflein dazu beitragen,“ sprach sie langsam wie überlegend. „Ich kenne die Sage wie mich selbst.“

„Stammen Sie aus hiesiger Gegend?“ fragte er überrascht. Die Bewohner dieses Landstriches waren ein kleiner Menschenschlag von bräunlicher Farbe und mit nußbraunen Augen.

„Ich gehöre nicht dem Volk des lieblichen Lora-Thales an, und doch ist kein Kind desselben so berechtigt, es seine Heimath zu nennen, als ich.“ Sie sprach mit einem seltsam geheimnißvollen Lächeln.

Er schaute sie verklärt an. Was ihm zuerst als Ahnung gedämmert hatte, ward mehr und mehr zur Gewißheit. Das Modell zur Nixe war gefunden, und das Geheimniß, welches Leonore umgab, erhöhte nur die Ähnlichkeit.

„O,“ rief er, „warum auch forschen und fragen? Das thut nur der Alltagsmensch im Alltagsleben. Wir aber sind auf einer Insel der Seligen gelandet, wo man ohne Worte sich versteht, wo wir nichts von einander fordern als unser eigenstes Selbst.“

„Das Höchste!“ sagte Leonore ernst.

„Das wir doch mit Freuden opfern,“ antwortete er begeistert, „wenn wir das Ideal gefunden haben, welches unserer Sehnsucht vorschwebte.“

„Ja,“ antwortete sie; „und wer das Opfer ganz und ohne kleinlichen Rückhalt bringt, dem wird schrankenloses Glück, reicher Genuß des Lebens lohnen. Aber wer noch – und sei es nur mit einem Gedanken – in der Welt der Alltäglichkeit wurzelt, der stürzt unrettbar in das Verderben. Das lehrt auch die Sage von der Lora-Nixe.“

Sie sah Heino tief, fast wie warnend in die Augen, und es schien ihm, als seien die großen Augensterne hinter den goldigen Wimpern dabei dunkel geworden.

Da trat der Hauptmann Aufdermauer an ihn heran und weckte ihn aus seiner Versunkenheit. „Auf einen Augenblick!“ rief Georg höchst angeregt und heiter. „Ich habe Dich in allen einsamen Gängen, wo die Musen wohnen sollen, gesucht. Wir – nämlich Deine Frau Mutter, Fräulein von Grundleben und meine Wenigkeit haben einen prächtigen Plan gemacht. Wir diniren gemeinschaftlich im Forsthaus auf dem Hainberg. Ich freue mich kindisch darauf, unter meinen schönen Waldbäumen Dich und Deine Familie bewirthen zu dürfen. Ich schicke sofort einen Boten dahin, wenn Du Deine Einwilligung gegeben hast.“

„Ich bedaure unendlich,“ antwortete Heino zerstreut, während sein Blick Leonoren folgte. „Aber ich bin wirklich nicht disponirt, heute noch in Gesellschaft zu sein. Meine neue poetische Aufgabe nimmt mich ganz gefangen.“

„Ihm dichtert,“ krächzte Ravensburgk, der langsam heran schlenderte.

„Es strömt,“ rief Heino davonstürmend.

„Das wäre ein Glück,“ sagte Ravensburgk; „bis jetzt war das poetische Aederchen nur durch das Vergrößerungsglas der Gesellschaft erkennbar.“

Georg fühlte sich tief enttäuscht. Er wußte, ohne den Leibsohn war Frau von Blachrieth nicht von der Stelle zu bringen. Unmuthig blickte er hinter seinem Freund her, der Leonoren nacheilte.

Sie stand am Eingang zum Lora-Flügel und verabschiedete sich von der Gesellschaft, die einen weiten Kreis um sie gebildet hatte.

Da ging an der glänzenden Gruppe jener graue Herr vorüber, den Georg noch vor wenigen Stunden in so eigenthümlichem Rapport mit dieser Paloty gesehen hatte.

Georg faßte sie scharf ins Auge; aber sie scherzte und lachte heiter weiter, ohne einen Gruß oder Blick mit dem Fremden zu wechseln, dem sie heute Morgen eine so auffallende Beachtung geschenkt hatte.

Langsam kam der graue Herr näher. Seine feinen, aber blassen verlebten Züge trugen den Ausdruck stiller Resignation, und aus den halb geschlossenen Augen blickte eine tiefe Schwermuth.

Ein anderer sehr elegant gekleideter Herr begegnete ihm, dessen regelmäßiges Gesicht und wohlgepflegter schwarzer Henri quatre ihn noch immer schön erscheinen ließen, obgleich er augenscheinlich dem Alter näher als der Jugend stand.

Mit gesuchter Höflichkeit wich er dem Grauen aus und grüßte, während der Andere kaum eine Handbewegung nach seinem leichten Filzhut machte.

„Kennen Sie den Herrn?" fragte Georg.

Ravensburgk drückte sein Glas ins Auge. „Wie man diese Leute eben kennt; man weiß sie zu nennen. Meinen Sie den Großen, Stattlichen? Das ist einer der Croupiers, ein Monsieur Faucon, der letzte der Falkenecks, wie ihn das Gerücht bezeichnet. Ah, Sie wollen wissen, wer der Graue ist? Der Pächter der Bank, ein gewisser Herr Dornheim.“

Georg fielen die gestern vernommenen Gerüchte über die Familienverhältnisse der Palotys wieder ein. Er dachte jedoch nicht daran, seine Beobachtungen zu erzählen; das wäre Klatscherei gewesen. Aber er wich dankend dem Anerbieten Ravensburgk’s aus, ihn mit den Damen bekannt zu machen.

Ein Trost für den gescheiterten Plan war es ihm, daß Hedwig’s frohes Gesicht betrübt wurde, als ihre Tante den Ausflug aufgab, und daß sie beim Abschied sprach: „Auf Wiedersehen!“




Mehrere Tage später saß Frau von Blachrieth mit ihrer Nichte beim Frühstück, das in dem Gärtchen vor ihrer Wohnung aufgetragen war. Es bot einen reizenden Ausblick über den kurz geschorenen, von einem feinen Eisengitter begrenzten Rasenplatz in die Kieswege hinaus, welche von Badegästen in eleganten Morgenanzügen belebt waren. Ein frisches Lüftchen trug die Klänge der Musik aus dem Kurgarten herüber; die Reseda und die Federnelken dufteten in den kleinen Beeten; der Kaffee dampfte, und die braunen Hörnchen lockten in dem vergoldeten Kuchenkörbchen.

Aber Frau von Blachrieth sah nicht behaglich, sondern sorglich aus. Sie hatte schon ein paarmal suchende Blicke hinaus geworfen. Da knirschten endlich eilige Schritte auf dem Gartenwege, und Heino trat rasch unter das weiß und blau gestreifte Zeltdach.

„Ich habe für heute Nachmittag eine Partie nach Himmelgarten arrangirt und rechne dabei sehr auf die Theilnahme und Unterstützung meiner Damen,“ sagte er, wohlgelaunt sie begrüßend.

„Welche von unseren Bekannten nehmen Theil?“ fragte Frau von Blachrieth und blickte von der Badeliste auf, die sie studirte. „Unser Kultusminister jedenfalls.“

„Er hat mir geschrieben, daß er nur seiner Kur lebe und an keinem Vergnügen Antheil nehme,“ antwortete Heino.

Seine Mutter zog bedenklich die Augenbrauen in die Höhe. „Es wird hoffentlich kein übles Zeichen sein, daß er Deine Aufforderung refüsirt. Die Frau Oberhofmeisterin der hochseligen Fürstin hat doch zugesagt?"

„Mein Gott, Mama, die ist ja ganz kontrakt,“ entgegnete Heino schmollend.

„Nun, man kann ihr doch die Aufmerksamkeit erweisen; sie hat noch Einfluß bei Hofe."

„Sind Deine Freunde dabei?“ fragte Hedwig, während sie mit einer zierlichen elfenbeinernen Häkelnadel, die sie in den rosigen Fingern hielt, eifrig an einer feinen Spitzenkante arbeitete.

„Ravensburgk, ja,“ antwortete Heino. „Aber die Zeit war zu kurz, um Aufdermauer zu benachrichtigen.“

Hedwig schwieg und zählte die Maschen an einer Rosette.

Frau von Blachrieth examinirte weiter: „Wie steht’s mit Linskis?“

„Ravensburgk ist nicht ganz d’accord mit ihnen; das mag die Ursache sein, die sie danken ließ,“ entgegnete Heino schon gereizt.

Jetzt sah Frau von Blachriech ihn aufs Aeußerste erstaunt an. „Aber sage mir um Gotteswillen, wie kannst Du eine Partie arrangiren, an der sich eigentlich Niemand betheiligt?“

„Wenn außer den genannten Familien die gesammte andere Gesellschaft Niemand ist,“ entgegnete Heino beleidigt, „so ist Deine Bemerkung richtig, Mama. Uebrigens – hier ist das Verzeichniß; prüfe selbst!“

Mit einer Miene, die deutlich sagte, wie wenig Vertrauen ihr das Projekt einflößte, rückte Frau von Blachrieth die goldene Brille zurecht und entfaltete das Papier. „Frau von Nihiloff, um die ihr Töchterchen Vera herumtobt wie ein wilder Kosak; Mister Montagu, der es zu seiner Aufgabe gemacht hat, seine [280] Füße statt auf die Erde auf einen Stuhl zu stellen, – ich fürchte, er ist ein englischer Schneider; Baron Pölz, der vor seiner Nobilitirung Pelz hieß und Lichte fabricirte; die Gräfin Scultizka, deren Güter zwar im Monde liegen, die aber doch im theuern Kurhaus wohnt; und diese – wie heißen sie doch?“ – Sie blinzelte den Namen Paloty an, ohne ihn auszusprechen, und legte das Verzeichniß aus der Hand. „Ja, ja! Die unternehmendsten Herren, die elegantesten Damen – nur schade, daß ich alte einfache Frau nicht unter sie passe.“

„Das käme auf die Probe an,“ redete Heino mit bebenden Lippen zu. „Und Hedwig würde sich gewiß amüsiren. Ravensburgk meint auch, sie müsse in der Zurückgezogenheit, in der Ihr lebt, sich entsetzlich langweilen.“ Sein Blick forderte Hedwig auf, ihm zu Hilfe zu kommen.

Aber diese sagte gar nichts, sondern häkelte mit größter Gelassenheit weiter.

Und seine Mutter entgegnete würdevoll: „Ein junges Mädchen muß es lernen, sich mit Anstand zu langweilen.“

„Nun,“ brach er unmuthig aus, „da ich kein junges Mädchen bin, wirst Du mich wenigstens von diesem Lehrgegenstand dispensiren müssen. Ich bedarf der Anregung zu meiner Dichtung. In Deinem eng begrenzten Kreis aber könnte ich höchstens Stimmungen zu einer Idylle sammeln. Ich danke es meinem guten Genius, der mich hierher geführt hat, um mich einen reizenden Stoff und ein Modell finden zu lassen, das mich zum Schaffen begeistert. Und ich gedenke auch das Glück auszunützen.“

„Mein Gott!“ seufzte seine Mutter ganz eingeschüchtert. „Daran kann Dich Niemand hindern. Nur sei vorsichtig. Es wäre doch fatal, wenn diese etwas problematischen Damen daran Konsequenzen knüpften, vielleicht den Winter in der Residenz zubringen und durch uns in die Gesellschaft eingeführt sein wollten.“

Heino lächelte. „Dazu könnte sich unsere Residenz nur gratuliren. Eine so glänzende Erscheinung wie Fräulein Paloty ist dort noch nie aufgetreten.“

„Willst Du nicht eine Tasse Kaffee mit uns nehmen?“ fragte seine Mutier abbrechend.

„Ich danke sehr,“ entgegnete Heino. „Ich habe noch zu viel mit Vorbereitungen zu unserem Ausflug zu thun.“ Und er verließ mit einer förmlichen Verbeugung das Zelt.

Eine Weile wirkte der verstimmende Eindruck, den die Auseinandersetzung mit seiner Mutter auf ihn gemacht hatte, nach. Dann nahmen ihn die unzähligen Geschäfte, welche gesellschaftliche Arrangements mit sich bringen, in Anspruch.

Und Alles war vergessen, als er am Nachmittag auf einem hübschen Fuchs, dem besten Pferd des Verleihers, am Stelldichein sich einfand, um die Ankommenden zu begrüßen, den Zug zu ordnen.

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aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 17, S. 293–296

[293] In der vierreihigen Kastanienallee, die vom Kurhaus auf die Chaussee nach Himmelgarten leitet, versammelte sich die Gesellschaft. Aus dem großen Eselsstall führten die Eselsbuben in ihren blauen Blousen und rothen Mützen die geduldigen Thiere heran, die mit bunten Quasten und Satteldecken geschmückt waren und von den Damen in Spitzen- und Seidenroben bestiegen wurden. Elegante Equipagen schlossen sich an.

Baron Pölz saß in einem niedrigen mit Scharlachtuch ausgeschlagenen Wagen, den vier roth geschirrte, mit Glöckchen behangene Maulthiere zogen; zwei kleine Vorreiter auf ebenso ausgestatteten Thieren klingelten voraus.

Eine Kammerjungfer, in Seide gekleidet, und ein Diener, der in einer viel zu weiten Livree schlotterte, hoben die Gräfin Scultizka auf einen kleinen Esel mit einem großen Federball zwischen den langen Ohren.

Ravensburgk hielt am Eingang der Allee. Nachlässig auf einem Maulthier sitzend, sein Glas ins Auge geklemmt, schaute er gespannt den von allen Seiten Herzuströmenden entgegen. „Nun, wann kommen denn Ihre Damen?“ fragte er Heino, der aufgeregt hin und her eilte.

„Gar nicht,“ erwiderte dieser zerstreut, während er gespannt nach dem Lora-Flügel hinüber spähte.

Ravensburgk fiel das Glas aus dem Auge. Vera jagte heran. Frau von Blachrieth hatte nicht Unrecht; wie ein Kosak, so sicher und bequem zugleich, saß das kleine sechsjährige Mädchen auf ihrem struppigen Pony. „Ich reite mit Fräulein Paloty voraus,“ rief sie in dem die Worte scharf ausprägenden Accent der Russen und schwang energisch ihre starke Lederpeitsche.

Ravensburgk fing ihre Hand auf. „An dem Ort, nach weichem wir reiten werden, regiert nicht die Knute, sondern das Wort: ‚Die Ersten werden die Letzten sein.‘“ Auf seinen Wink führte ein Diener den kleinen Kosaken unter die Obhut der Gouvernante zurück, die beleidigt auf dem unscheinbarsten Esel hockte.

„Herr von Ravensburgk, welches Malheur!“ rief Frau von Tromsdorf aus einer kleinen Eselskutsche, in welcher sie mit Fifi und den drei Fräulein von Gokel saß. „Wir haben kein Pferd bekommen, und Reiten ist doch Fifi’s ganz specieller Fall.“

„O, trösten Sie sich, meine Gnädigste,“ erwiderte er. „Nach der Gemeine der Heiligen müßten wir eigentlich per pedes apostolorum wallfahrten, was ich Ihnen überhaupt rathen möchte zum Besten ihres Gespanns. Ich empfehle mich unterthänigst. Vielleicht habe ich die Ehre, [294] Ihnen auf dem Rückweg wieder zu begegnen, wenn Sie nicht der Verein gegen Thierquälerei abgefangen hat.“

Endlich sprengte Leonore auf einem prächtigen Schimmel heran, von einem Reitknecht gefolgt.

In einem leichten offenen Wagen langte Frau Paloty an. Ihr zur Seite saß Frau von Giera, welche, die Lorgnette vor den Augen, mit mißbilligendem Blick die kecke Reiterin musterte.

Wie beim Erscheinen einer Fürstin gab Heino sofort das Zeichen zum Aufbruch. Trappelnd und klingelnd bewegte sich der Zug über die zierliche Kettenbrücke, welche den Fluß überspannt, und bog in das Waldthal ein, das durch die Laubhallen des Hainberges sich nach Himmelgarten windet.

„Wie weit sind Sie mit Ihrer Dichtung?“ fragte Leonore Heino, der neben ihr ritt. „Die Gesellschaft spricht von nichts weiter als von Ihrem neuesten Werk, und ich, als eine Ihrer wärmsten Verehrerinnen, habe wohl ein kleines Recht, in Gedanken und Plan desselben eingeweiht zu werden.“

Heino’s Augen hingen mit schwärmerischer Bewunderung an ihr. „Die schöne Lora verleugnet das Element nicht, dem sie entstiegen ist. Wie die Welle wandelt sich ihre Erscheinung. Jetzt sehe ich sie auf milchweißem Roß durch den Wald reiten. Ihr lang hinabwallendes Sammetkleid zeigt nicht den nassen Saum, der die Nixe sonst verräth. Nur ein Wassertropfen ist ihr am Geschmeide hängen geblieben.“ Er deutete auf eine große Perle, die mit goldenem Trinkhörnchen und rubinenbesetztem Hufeisen an ihrer Uhrkette hing. „Aber,“ fuhr er fort, „so reizend sie in jeder Verwandlung ist, erschwert sie mir gerade dadurch meine Dichtung immer von Neuem. Wenn ich eben glaube, sie in ihrer wahren Gestalt gesehen zu haben, so schwebt sie wieder als eine ganz Andere an mir vorüber, und die kaum begonnene Skizze bleibt unvollendet, weil sie ihr nicht mehr gleicht.“ Er seufzte tief auf.

„Bereuen Sie Ihre Wahl?“ fragte Leonore in weichem vorwurfsvollen Tone. „O, dann suchen Sie sich einen anderen Stoff und überlassen Sie die arme Nixe ihrem dunklen Los.“

„Wählen wir uns frei, was wir lieben, anbeten, besingen?“ fragte Heino. „Wir folgen einem geheimnißvollen Zuge, den wir nicht zu erklären vermögen. So muß ich die Lora-Nixensage dichten, ich mag wollen oder nicht, und kann nur sagen: Unheil, nimm deinen Lauf.“

„Ein sehr passender Segensspruch an dieser Stätte,“ lobte Ravensburgk, der dicht hinter dem Paare ritt. „Denn hier hinab geht es zum Höllenschlund.“ Er deutete nach einem engen tiefen Thalkessel hinunter, der in düsterem Schatten lag.

Sie waren am großen Scheidewege angelangt. Eine breite Chaussee führte der nächsten Eisenbahnstation zu; ein Waldpfad zweigte sich nach der Burg Falkeneck ab, deren hoher Bergfried über den Gipfeln der Bäume empor stieg; der Grenzstein der Gemeine Himmelgarten stand am Anfang einer sorgfältig gepflegten Straße, und ein wild überwachsener Weg schlängelte sich in den Höllenschlund hinab.

Wie graue Gespenster von Bäumen drängten sich unten fahle Weiden um ein matt glänzendes Wasserauge. Hohes Schilf starrte empor, und eine weiße Wasserrose schwamm auf dem unheimlich glatten Spiegel. Aus der Luft tönte der wilde Schrei eines Raubvogels, der über dem Grunde seine Kreise zog.

„Warum gab man der Schlucht den furchtbaren Namen?“ fragte Hetno, sein Pferd anhaltend, um sich das Bild einzuprägen.

„Drunten im Grund,“ erzählte Leonore mit gedämpfter Stimme, „hat der Ritter von Falkeneck die Entdeckung gemacht, daß seine Gemahlin ein Wasserweib war, und die Flehende verstoßen. Da ist sie in die Erde gesunken und an der Stelle der Weiher entstanden. Deßhalb wächst auch die Wasserrose dort, die noch heute der Volksmund eine verwandelte Frau nennt. Der Weiher steht wirklich in unterirdischem Zusammenhang mit der Lora. Gegenstände, die man hier in das Wasser geworfen hat, sind draußen im Fluß wieder zum Vorschein gekommen.“

„Eine andere Version lautet,“ warf Ravensburgk ein, „der Name schreibe sich daher, daß die Schlucht wegen der Nähe der Grenze öfters benutzt wird, um Duelle auszufechten, und an der Bank ruinirte Spieler gern den abgelegenen Winkel wählen, um ihrem Leben ein Ende zu machen.“

Ein Schauder schien plötzlich Leonoren zu schütteln. Sie riß wie mit unwillkürlicher Gebärde ihr Pferd zurück, daß es in die Zügel knirschte und schäumte.

Während sie das empfindliche Roß über die brüske Behandlung zu beruhigen suchte, tummelte sich eine Schar muthwilliger Reiterinnen auf ebenso muthwilligen Eselchen an Heino heran.

„Was giebt es zu sehen? Was wurde erzählt?“ Sie nahmen ihn in ihre Mitte, so sehr er sich auch gegen die Umzingelung sträuben mochte.

Als Leonore sich der Gesellschaft wieder zuwandte, bemerkte sie, daß diese am Scheideweg einen Zuwachs erhalten hatte.

Es war ein unscheinbares Einspännerchen, und in demselben saß ein kleines ältliches Frauenzimmer.

Sie trug ein schlichtes dunkles Wollenkleid; über den sehr verwachsenen Rücken fiel ein dünnes schwarzes Seidenmäntelchen herab; ein weit vorreichender Zughut rahmte ein stilles blasses Antlitz ein mit hoher schöner Stirn und klugen ruhigen Augen. Unbekümmert um die neugierigen Blicke, das verwunderte Lächeln der eleganten Gesellschaft hielt sie ihr altmodisches Sonnenschirmchen in den mit Halbhandschuhen bekleideten Händen und fuhr so gelassen zwischen den glänzenden Equipagen und Reitern mit, wie der blasse Neptun neben dem strahlenden Jupiter, der leuchtenden Venus in demselben Sonnensystem dahin zieht.

„Man merkt die Nähe von Himmelgarten,“ sprach Ravensburgk. „Da fährt schon die Weltverachtung neben uns her.“

Leonore hörte es kaum. Ihre Augen wanderten über die Maulbeerpflanzungen, die den Weg nach Himmelgarten umsäumten, wo eifrig Seidenraupenzucht betrieben wurde, über die sorgfältig bebauten Felder und Gärten mit den fleißigen Menschen, die nicht von ihrer Arbeit aufblickten.

Jetzt schallte der Hufschlag der Pferde laut auf dem Pflaster des Ortes. Aber keine neugierigen Gesichter zeigten sich an den Fenstern, die mit weißen Vorhängen sorgfältig geschlossen waren, keine müßigen Leute, keine schreienden Kinder waren in den Straßen zu sehen; Niemand schaute dem glänzenden Zuge nach. Für die Bewohner von Himmelgarten war ja Pracht und Schönheit – „Asche!“ Leonore flüsterte leise das Wort.

Auch am Gasthof war es still. Als einzige Zechbrüder summten nur die Bienen um die mächtige Linde, welche blendend weiße Gartenbänke und Tische überschattete.

Wie die unruhigen Wellen das Felsengestade nicht mit fortzureißen vermögen, wenn sie auch einmal über den hohen Uferrand hinüber lecken, so blieb die Ruhe von Himmelgarten ungestört, mit wie großem Lärm auch die Gäste davon Besitz ergriffen.

Die lebhaften Rufe nach Chokolade und Kaffee wurden von der Wirthin mit vollkommener Ruhe entgegen genommen. Die Dienstmädchen besorgten in der saubern Küche ihre sich häufenden Geschäfte emsig, aber ohne zu rennen und zu klappern. Es war, als sei das weiße Mützchen, das Alle trugen, ein Zauberkäppchen, welches die Gedanken zusammen halte.

Auch der weit und breit berühmte Bäcker verlor den Kopf nicht zwischen den Damen, welche seinen Laden stürmten. In weißer Schürze, mit den Manieren eines feinen Mannes wog er Einer nach der Anderen Anisbrot oder kandirte Früchte zu.

Die laute Schar, welche in das stille Schwesternhaus drängte, wurde höflich empfangen und nach Wunsch herumgeführt, ohne daß man eine Vergütung dafür nahm. Als die Gesellschaft dann in das Zimmer gelangte, wo Arbeiten des Schwesternhauses zum Verkauf niedergelegt waren, und die Fremden etwas davon zu erwerben wünschten, traten die Schwestern, welchen das Geschäft des Handels oblag, hinter die Tische, auf denen Seidenkisschen, mit Samenkörnchen gestickt, aus Tuch verfertigte Erdbeeren, durch die man rostige Nadeln zieht, lagen. Mit vornehmer Ruhe nannten sie ihre hohen Preise, antworteten Mister Montagu in geläufigem Englisch und Frau von Nihiloff in vorzüglichem Französisch. Auch einen Herrn mit pedantisch gezogenem blonden Backenbart redete eine Schwester englisch an; aber als dieser geschmeichelt in der breiten Aussprache, die in Mitteldeutschland zu Hause ist, eine englische Antwort radebrechte, erfolgte sofort in reinem Hochdeutsch die Erwiderung.

Heino ging unstät hin und her. Leonore war ihm aus den Augen gekommen, und was er sah, stieß ihn ab. Nirgends war ein poetisch verwildertes Plätzchen zu sehen.

In den Gärten dehnten sich lange Beete von Kohl und Gurken. Nicht einmal in den Wegen oder zwischen dem Pflaster durfte sich ein kleines Unkraut spreizen.

[295] Endlich drang das Rauschen eines Brunnens an sein Ohr. Das war wenigstens der Rhythmus des Wassers. Leider erschien auch der Steintrog sorgfältig vom Moos gesäubert. Mißmuthig setzte sich Heino auf das Wasserbänkchen unter der Silberpappel, zog sein Notizbuch heraus und begann leise zu skandiren.

Leonore war unterdessen neugierig in die stillen Straßen hinein geschritten.

Sie kam sich wie verzaubert vor. Selbst der Kanarienvogel, dessen blitzend blanker Käfig in einem Fenster stand, sang nur leise mit gedämpfter Stimme. Sie ertappte sich dabei, daß sie vorsichtig auftrat, um mit dem Klappen ihrer spitzen Absätze nicht die Ruhe zu stören.

Kräftig setzte sie nun die zierlichen Fuße auf, um den Bann zu brechen, der sie mit leisen Fäden umspann.

Aber schon hemmte sie wieder ihren Schritt.

Vor einem Haus mit vielen hellen Fenstern hielt das Einspännerchen. Die Reisegefährtin vom Scheidewege stieg aus. Junge Schwestern im Häubchen nahmen ihr das Gepäck ab. Wie gütig war das Lächeln in dem alten welken Gesicht! Dann schloß sich lautlos die Hausthür. Das freundliche Bild war verschwunden.

Wie im Traum ging Leonore weiter.

Ein größeres Gebäude, das ein Thürmchen schmückte, erhob sich am Ende der Straße. Eine weiß getünchte Gartenmauer schloß sich daran. Durch das eiserne Gitterthor schimmerten Blüthendolden. Es war der Eingang zum Friedhof der Brüdergemeine.

Die Pforte war nur angelehnt und that sich unter ihrer Hand geräuschlos auf. Sie schritt hinein. In langen Reihen schloß sich Grab an Grab, jedes ein blühendes duftendes Gartenbeet. Flache weiße Steine lagen auf den Ruhestätten. Das Wort „Heimgegangen“ leuchtete ihr von jedem entgegen.

Nur eine grüne lebendige Hecke trennte den nächsten Garten von dem Gottesacker. Die kleinen blauen Schmetterlinge flogen von dem Garten der Todten zu dem der Lebenden hinüber; der leise Wind trug die Düfte der hohen Lilien, die drüben auf den Rabatten blühten, herüber.

Dicht am Friedhof stand eine Laube, von Jelängerjelieber umrankt.

Leonore bog das Haupt mit dem von Straußfedern überwallten Hütchen durch die Ranken, um hinein zu schauen.

Tief in seine Lektüre versunken, saß drüben ein junger Mann. Sie erkannte ihn sofort wieder. Es war derselbe, der bei ihrer kecken Entschleierung in Jungbrunnen so ernst sie angeschaut und das unheimliche Wort „Asche“ ihr zugerufen hatte. Das waren die tiefen blauen Augen, die klare reine Stirn, der blasse feine Mund.

Da sah er auf. Ein Ausdruck von Ueberraschung spiegelte sich in seinen Zügen; er ließ die Hand mit dem kleinen schwarzen Buch sinken.

Leonore war zusammengeschreckt. Sie empfand es plötzlich als ungehörig, so an diesem ernsten Ort zu stehen, die Schleppe über den Arm geschlagen, in den hohen mit Quasten verzierten Stiefelchen, die so rücksichtslos das Epheugerank niedertraten, welches den Rasen des Friedhofes überspann, mit dem Stulphandschuh an der Hand, in der die Reitgerte sich bog.

Und doch blieb sie wie gebannt von dem Blick des jungen Mannes stehen und schaute ihn hilflos an. Ihre Weltgewandtheit hatte sie gänzlich im Stich gelassen.

Die Ueberraschung des Predigers war aber schon überwunden. Er stand auf und fragte mit ruhiger Stimme: „Haben Sie sich verirrt? Soll ich Sie auf den richtigen Weg weisen?“

„Ja,“ hauchte sie. „Nein,“ widersprach sie sich selbst im nächsten Augenblick, und aufrichtig fügte sie hinzu: „Ich war nur gespannt zu erfahren, wer sich so nahe dem Friedhof ein Ruheplätzchen für seine Mußestunden errichtet habe. Ich hätte mir sagen können: ‚Nur Der, welcher in Allem, was des Lebens sich freut, schon den Zerfall sieht, wenn dieser auch für keines andern Menschen Auge sichtbar ist.‘“

„Vielleicht sieht er auch das Ewige darin,“ erwiderte der Prediger mild, „wenn es auch ebenso noch für keines andern Menschen Auge sichtbar ist.“

Sie schaute ihn staunend an. „Sie glauben Gutes von mir? Ich dachte, Sie würden mich wegen des Uebermuthes, in dem Sie mich zuerst sahen, und wegen meines unberufenen Eindringens hier in Ihr friedliches Asyl verurtheilen.“

Ein stiller Blick sank auf sie herab. „Wie dürfte ein armes Menschenkind Andere richten, da es doch selbst kämpfen und ringen muß, um allezeit lauter und rein erfunden zu werden. Wir verurtheilen nicht, wir lieben nur, auch den strauchelnden Bruder, die irrende Schwester.“

Unwillkürlich wiederholte sie die Worte: „Bruder! Schwester! Heimgegangen. Wie verheißungsvoll klingt das. O, wie bewegt mich Alles so tief, was ich sehe und höre.“

Mit gelassener Zuversicht erwiderte der Prediger. „An jeden Menschen ergeht einmal der Ruf der Gnade.“

Feierliche Posaunenklänge, die in lang gezogenen Tönen einen Choral bliesen, schlossen sich den Worten an; sie schallten von dem thurmgeschmückten Bethaus herüber.

Leonore bebte sichtlich zusammen. „Was bedeutet die Musik?“ fragte sie leise.

„Die Posaunen rufen uns zu unsrem Gottesdienst,“ war die freundliche Antwort.

„Welches Fest feiern Sie heut am Werktage?“ forschte sie weiter.

„Wir feiern den Tag der Gründung von Himmelgarten,“ antwortete der Priester. „Heute vor hundert Jahren ließ der Freiherr von Falkeneck unter seinen Augen den Grenzstein der Flur setzen, welche er der Brüdergemeine schenkte.“

Ein jähes Roth flog über Leonoren’s Antlitz; dan wurde sie todtenblaß; ein paar Augenblicke lang stand sie wortlos.

Dann fragte sie zaghaft: „Darf man Ihrem Gottesdienst beiwohnen?“

„In das Haus des Herrn sind Alle geladen,“ erwiderte er.

„Aber,“ sprach sie stockend, „wird es nicht übel vermerkt, wenn ich in diesem Kleid das Bethaus betrete?“

Er lächelte leise. „Was ist das Kleid vor Gott? Er sieht mit gleicher Liebe auf die Indianerin im bunten Federschmuck wie auf die Nonne im härenen Gewand, wenn die Seele ihm aufrichtig ergeben ist.“

„O, ich danke Ihnen für die Erlaubniß; ich möchte heute so sehr gern der Feier beiwohnen,“ sprach sie in innigem Tone. „Aber nun sagen Sie mir auch, wie darf ich in Gedanken Sie nennen, wenn ich mich Ihrer Güte erinnere?“

„Bruder Johannes,“ erwiderte er.

„Und ich heiße Leonore –“ sie wollte noch einen Namen hinzufügen; aber sie stockte plötzlich. Es zuckte schmerzlich um ihre Lippen. Endlich sagte sie leise: „Wenn Sie meiner gedenken, dann nennen Sie mich Schwester Leonore.“ Ihre Augen standen voll Thränen, als sie sich zum Abschied verneigte und ging.

Als sie die Pforte wieder erreichte, fand sie die Straße von festlich gekleideten Männern und Frauen belebt, welche nach dem Gotteshaus wandelten. Auch mehrere neugierige Damen und Herren der Badegesellschaft befanden sich darunter. Leonore folgte ihnen.

Sie gelangte in einen großen hellen Saal mit weiß getünchten Wänden und weiten lichten Fenstern.

Kein Blick der Gemeine beachtete die Fremden, welchen auf Bänken am Eingang ihr Platz angewiesen wurde.

„Christi Schäflein sind sorgfältig sortirt,“ sagte Ravensburgk, mit den Augen die in verschiedene Chöre getheilte Gemeine überfliegend. „Da kann sich keine junge Wittwe für ein Mädchen ausgeben; die weiße Schleife verräth sie. Am besten gefallen mir die Frauen; die weißen gestickten Schürzen und Tücher auf den schwarzen Kleidern und die blau garnirten Häubchen machen einen recht häuslichen Eindruck,“ Er begab sich auf die Seite der Brüder.

Ein Orgelwerk von seltsam verschleiertem Klang summte an.

Vor der Gemeine, ein paar Stufen höher, saß an einem einfachen, mit einem grünen Tuch bedeckten Tisch der Prediger.

Leonoren’s Augen hingen an seinen blassen Zügen.

Jetzt verstummte die Orgel.

Bruder Johannes erhob sich. Seine ernste Stimme tönte über die Versammlung hin: „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen, Du bist mein.“

Es war die Losung der Brüdergemeine für den Tag, mit welcher er seine Rede einleitete.

[296] Sanft und eintönig schloß sich der Gesang der Gemeine an:

„Und sprich auch nicht: es ist noch Zeit,
Ich muß erst diese Lust genießen,
Gott wird ja eben nicht gleich heut
Die offnen Gnadenpforten schließen.
Nein, weil er ruft, so höre Du
Und greif mit beiden Händen zu.“

Es entstand plötzlich eine Bewegung unter den fremden Damen; Leonore lag zurück gesunken ohnmächtig an der Lehne der Bank.

Als sie wieder zu sich kam, stand die alte Reisegefährtin neben ihr und rieb ihr die Schläfen mit Eau de Lavande.

„Was war das nur?“ flüsterte Leonore. „Es rauschte um mich immer lauter, immer näher. Dann vergingen mir die Sinne. Verzeihen Sie die Störung.“

„Sie haben durch Ihre Ohnmacht Niemand gestört,“ tröstete die Schwester. „Wie Sie sehen, geht unser Gottesdienst ruhig seinen Gang.“

Eben öffnete sich geräuschlos die Pforte. Schwestern traten ein, die auf großen Platten Thee in Meißner Schälchen und Körbe voll Milchbrötchen trugen. Die Feier des Liebesmahles begann. Mit vornehmer Verneigung boten sie den Trank, den ein feiner Duft von Vanille umschwebte.

Dazu hallte leise Musik vom Chor her, wo Schwestern und Brüder mit musikalischen Instrumenten und Notenblättern standen. Die Gesichter der jungen Mädchen, die sich an die braunen Geigen schmiegten, sahen so regelmäßig und unbewegt aus, wie die der musicirenden Englein auf den Bildern von Albrecht Dürer.

Die alte Schwester, welche Jakobine genannt wurde, reichte Leonoren eine Tasse Thee und ein Brötchen. Dann genoß auch sie, neben ihrem Schützling sich niederlassend, von dem Dargebotenen.

Sie trug gleich den anderen ledigen Schwestern ein weißes Kleid und ein flaches Häubchen, das mit blassen rosa Bändern gebunden war. Aber der Kontrast der festlichen Farben zu dem welken Gesicht und der verkümmerten Gestalt würde durch die auspruchslose Haltung, den harmlosen Ausdruck der Mienen vollkommen getilgt.

„Ebenso könnte ein weißes Sterbekleid unangemessen erscheinen,“ sagte Leonore zu sich selbst.

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aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 18, S. 309–312

[309] Als der Gottesdienst zu Ende war und die Gemeine sich entfernte, schloß sich Leonore dem alten Mädchen an.

„Am großen Scheidewege trafen wir heute mit Ihnen zusammen,“ sagte sie. „Sind Sie um des Festes willen hierher gekommen?“

Die Andere verneinte die Frage. „Ich war bis jetzt in England,“ entgegnete sie, „und wirkte an einer gesegneten Anstalt für Erziehung der Kinder nach dem Sinne Christi. Da empfing ich die Weisung, hinfort hier zur Ausbreitung seines göttlichen Reiches thätig zu sein. Der Ruf des lieben Heilandes war mir eine doppelt frohe Botschaft. Himmelgarten ist meine irdische Heimath, und der Sohn meiner verstorbenen einzigen Schwester ist jetzt Prediger in hiesiger Gemeine. Ich hatte ihn lange nicht gesehen. Er war als Missionar thätig und ist nur zurückgerufen worden, um sich von schwerer Krankheit zu erholen, die das Klima von Südafrika verursacht hatte.“

„Auf so fernem und gefährlichem Posten war Bruder Johannes?“ fragte Leonore erstaunt.

Schwester Jakobine nickte. „Er hat einen weiten und mühseligen Pfad schon zurückgelegt trotz seiner Jugend. In Brasilien ist er von dem wilden Indianerstamm der Barbados in harter Gefangenschaft gehalten worden. Seine Handgelenke zeigen noch die von den Fesseln roth geriebenen Ringe. Aber Gott war bei ihm in der Noth und hat ihn seiner Bande entledigt.“ Dann empfahl sie sich.

Ravensburgk, der dazu kam, bemerkte, ihr nachschauend: „Die Verneigungen hier sind vollständig kourfähig; sie stammen jedenfalls in gerader Linie vom Grafen Zinzendorf ab.“

Der zurückkehrenden Gesellschaft trat unter der Linde Heino entgegen. „Kommen Sie endlich?“ rief er. „Meine Bowle ist längst fertig.“

„Ich denke, Sie wollten Verse machen,“ sagte Ravensburgk. „Sie zogen sich doch an den Röhrbrunnen zurück.“

„Wie kann man in Stimmung kommen, angesichts eines Fischkastens und Krebskorbes? Beides stak statt einer Nixe im Brunnentrog,“ klagte Heino. „Wo waren Sie nur so lange?“ wandte er sich mit einem Ausdruck zärtlicher Empfindlichkeit an Leonoren.

„Ja, das frage ich auch,“ sagte Frau Paloty, die ruhig auf einem der hölzernen Gartensofas saß, mit einer Handarbeit beschäftigt, welche allerhand silberne Werkzeuge in Bewegung setzte, um mehrere Fäden zu verknüpfen zu einem Zweck, der unerfindlich blieb, wenn man nicht annehmen wollte, daß ein Strick verfertigt werden sollte, um unnütze Finger damit zu peitschen.

„In Ohnmacht war Fräulein Paloty,“ erwiderte Ravensburgk an ihrer Statt.

„Der einfache Gottesdienst hat mich allerdings tief ergriffen,“ erwiderte Leonore etwas verwirrt.

„Wir lesen jeden Morgen die Losung der Brüdergemeine,“ bemerkte ein Fräulein von Gokel, welche Leonoren keinen Vorsprung lassen wollte in frommer Empfindung.

„Meine Fifi verdankt ihr feines Französisch, das ihr specieller Fall ist, der Erziehung bei den Herrnhutern,“ fügte Frau von Tromsdorf hinzu.

[310] Und Frau von Giera rückte ihr großes schwarzes Kreuz, das sie auf der Brust trug, in das rechte Licht, Ravensburgk sah spöttisch von Einer zur Andern, „Wie weit sind Sie mit Ihren rothen Strümpfchen für die Mohrchen, Gräfin?“ fragte er die Komtesse Schwuggensee, welche in größerer Gesellschaft stets für den Missionsverein arbeitete.

„Ich finde es sehr ungehörig, daß über so ernste Dinge gescherzt wird,“ verwies die Komtesse.

„Gnädige Gräfin, fürchten Sie nicht, daß ich einen Faux-Pas begehe,“ erwiderte Ravensburgk höhnisch, „Sicheren Anzeichen nach hat die Frömmigkeit diesmal ihren Höhepunkt überschritten. Die Gesellschaft wird nächstens ein anderes Steckenpferd reiten, und die armen Kerlchen werden in ihrem heißen Klima wieder barfuß gehen dürfen.“

„Warum gefallen mir nur die Pietisten in der Gemeine, während die, welche in der Welt dieselbe Glaubensrichtung zur Schau tragen, mich anwidern?“ fragte Leonore.

Der alte Präsident hatte ihre Worte gehört. „Weil nicht umsonst geschrieben steht: ‚Wenn du betest, gehe in dein Kämmerlein‘,“ erwiderte er in gedämpftem Tone.

„Es ist der Kontrast mit Ihrem alltäglichen glänzenden Weltleben, der Sie angezogen hat,“ sagte Pölz.

„Das erste Symptom der Bußfertigkeit ist’s,“ lachte Ravensburgk. „Es zeigt sich etwas früh, aber das ist egal: einmal kommt’s!“

Es wurde Zeit zum Aufbruch.

Hcino zog seine Brieftasche, um die Rechnung zu berichtigen, und dabei flatterte ein zusammengefaltetes Billet zur Erde.

Ravensburgk lugte mit seinem eingeklemmten Glas darauf nieder. Als er das Wappenzeichen im Siegel erblickte, hob er es rasch auf und gab es Heino zurück. „Ein theures Andenken,“ sagte er leichthin, aber mit forschendem Blick.

Hcino nahm es zerstreut an sich. „Das Billet wurde mir heute überbracht, als ich mich zur Gesellschaft begab. Meine Kousine schrieb mir die zwei Zeilen, um ein Mißverständniß zwischen Mama und mir aufzuklären.“

Ravensburgk’s „Aha“ drückte deutlich aus, daß er Mißverständnisse sehr begreiflich finde.

Leonore hatte aufgehorcht. „Ist Ihre Frau Mutter mit in Jungbrunnen?“ fragte sie, und es lag wie Beklommenheit in ihrer Stimme.

In Heino’s Wangen schoß eine Röthe, und Ravensburgk antwortete mit fester Betonung: „Seine Mutter und seine Kousine.“

Leonore wechselte die Farbe. „Ist Ihre Kousine schön? geistreich?“ fragte sie gespannt.

„Schön ist sie eigentlich nicht,“ erwiderte Heino nachlässig.

Aber Ravensburgk unterbrach ihn: „Eine große Schönheit ist Fräulein von Grundleben allerdings nicht, und auch kein geniales Weib,“ sprach er, diesmal in ernstem warmen Tone. „In ihrer äußeren Erscheinung ist sie ein holdes Mädchen, ihrem inneren Wesen nach eine starke Frau. Verschlossen und zart wie eine Knospe und doch fest und durchsichtig wie ein Krystall.“

Heino nickte lächelnd. „Sie und Hedwig verstehen sich vortrefflich zu charakterisiren.“

Ravensburgk horchte auf. „Hat mich Fräulein von Grundleben charakterisirt?“

Heino hörte nicht auf ihn. Sein Blick hing an Leonoren, die sichtlich betroffen vor sich hinstarrte. Er sagte sich, daß sie die Zurückgezogenheit seiner Familie ihr gegenüber peinlich empfand.

Als Ravensburgk noch einmal dringend fragte: „Was hat Fräulein von Grundleben von mir gesagt? Bitte, genieren Sie sich nicht,“ wurde Heino ungeduldig und erwiderte rücksichtslos: „Ach, es ist nicht der Rede werth. Hedwig sagte, Sie erschienen ihr wie eine Harfe mit verstimmten und zerrissenen Saiten; die aber, welche noch anklängen, legten Zeugniß ab, welch schöner Töne sie ursprünglich mächtig gewesen sei.“

Ravensburgk hielt die Augen nachdenklich auf den Becher in seiner Hand gesenkt.

„Nun, welche tiefsinnige Betrachtungen stellen Sie über die Bowle an?“ fragte Pölz hinzutretend.

„Traubenblüthen in den Wein gemischt, Frühling und Herbst in einer Person,“ antwortete er; „das Bild eines gereiften Mannes, der den dummen Streich macht, sich noch einmal zu verlieben.“ Er lachte dumpf und trank das Glas aus.

Gleich den Zugvögeln, die an die Abreise denken, zog die Gesellschaft sich in immer engeren Kreisen zusammen; die Eselsbuben führten ihre Grauthiere heran, die Reitknechte nahten mit den Pferden, die Wagen rollten herbei.

Die Gesellschaft verließ mit wehenden Locken und Schärpen unter Geplauder und Gelächter den Ort.

Leonore brach aus dem Getümmel hervor. Ihre Augen schienen Funken zu sprühen; ein finsteres Fältchen lag zwischen den Brauen und gab ihr einen Ausdruck rücksichtsloser Entschlossenheit.

„Nun aber einen lustigen Ritt,“ rief sie, ihr Pferd antreibend.

Das schöne Thier ging in Galopp über. Die weiße Mähne flatterte mit den weißen Federn auf Leonorens Hut um die Wette. Lachend sah sie zu Heino zurück, mit dem Blick ihn sich nach ziehend. Seite an Seite flog das Paar davon.

Sie jagten an der Rückseite der Gärten vorüber, auch an dem, in welchem die Heimgegangenen schliefen, und dem anderen, in dem die feierlichen Lilien leise im Abendwind schwankten.

Mit einem einzigen scheuen Blick sah Leonore zwischen den Blüthenstengeln eine hohe schwarze Gestalt stehen. Mitten im wilden Dahinbrausen war es, als beuge sie etwas plötzlich nieder. Es war nicht der ihr eigene graziöse Gruß; sie bückte sich, wie Kinder beim Betreten der Kirche thun.

Aber da lag das stille Bild schon hinter ihr.

Und nun fuhr plötzlich die Reitgerte durch die Luft. Das feurige Thier bäumte auf und stürmte dann in rasender Karriere fort, Heino neben ihr, – eine wilde Jagd nach dem Glück.

Johannes sah ihr nach. „Ist’s eine Versuchung oder eine Mission, die da an mich herantritt?“ fragte er sich.

Der Abendwind strich vorüber, die Schwingen beschwert von Blüthenduft. Er schien zu flüstern: „Genieße, genieße; jetzt ist die schöne Sommerzeit!“

Die weißen Steine, die hinter den grünen Ranken schimmerten, schienen zu mahnen: „Bald ist die kurze Spanne Zeit vorbei, und Du liegst still im dunklen Grabe, und der Traum des Lebens ist ausgeträumt.“ Eine tiefe Sehnsucht erfaßte ihn wie alle Kinder der alten Mutter Erde in dieser Zeit und diesen Dämmerstunden, in denen sie mit ihrer ganzen Kraft die ihr Entstammten an ihr Herz zieht.

Stille Sammlung bei ernster Lektüre mußte die Seele wieder in ihr ruhiges Gleichgewicht bringen.

Er ging nach der Jelängerjelieberlaube, wo sein Buch noch lag.

Gleich einem Mönchsgewand trug es einen schwarzen Einband. Der Thomas a Kempis war es, der mit seiner gesunden Weisheit allezeit den Nagel auf den Kopf traf, wie es seinem wirklichen Namen „Hämmerlein“ entsprach.

Als Johannes es aufschlug, las er: „So oft ich unter Menschen gewesen bin, war ich weniger Mensch, als ich heim kam.“ Und dann folgte der Seufzer: „Nirgends habe ich Frieden gefunden denn in Hoekens und Boekens,“ d. h. in Wäldern und Büchern.

Er steckte den Rathgeber in die Tasche, nahm den breitrandigen schwarzen Hut, wie ihn die Presbyter tragen, und schritt hinaus den waldigen Höhen zu, die sich allmählich in die Schleier der Dämmerung hüllten.

Immer empfahl der alte Weise Einsamkeit; er war der echte Mönch.

Aber es durfte doch nicht die höchste Aufgabe des Menschen sein, sich selbst in eine ruhige reine Höhe zurückzuziehen, unbekümmert darum, ob neben ihm seine Brüder und Schwestern in den Stürmen des Lebens untergingen! Er war doch berufen zu warnen, zu lehren, zu retten!

Und dennoch! Konnte der heiße Wunsch, diese eine Seele gerade dem Untergang zu entreißen, nicht eben die Versuchung sein, welche im Gewand einer Mission an ihn herantrat?

Auf der Straße, welche er ging, war auch das Weltkind dahin gejagt. Er sah die Hufspuren im Staube eingedrückt. Er, der in der Wildniß daran sich gewöhnt hatte, auf diese Zeichen zu achten, meinte die feine Spur des arabischen Rosses zu erkennen. Da war sie geritten, und daneben der schöne junge Mann.

Er hatte die Sprache verstanden, welche die beiden leuchtenden Augenpaare mit einander redeten, während sie in wildem Fluge an ihm vorüber sausten.

Nein. Er wollte diesen Weg nicht weiter gehen.

[311] Da er empor blickte, sah er dem ersten Stern ins Auge, der über dem alten Bergfried von Falkeneck aufstrahlte.

Da wandte er sich und stieg den Pfad zu der Stammburg derer hinauf, auf welche er heute im Gottesdienst die Losung der Brüdergemeine bezogen hatte: „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen; Du bist mein.“




Für Heino’s Angehörige war der Nachmittag einförmig hingeschlichen. Als auch bei der Abendpromenade manche der alten Bekannten gefehlt hatten, sagte Frau von Blachrieth verdrießlich, als sie nach Hause kamen: „Es ist doch auffallend, daß sich gar kein Verkehr für Dich finden will. Auch Ravensburgk läßt sich nicht sehen. Du hast ihn hoffentlich nicht beleidigt. Das könnte Heino schaden.“

„Beruhige Dich, Tantchen,“ tröstete Hedwig, indem sie die Spiritusflamme unter der Theemaschine anzündete. „Herr von Ravensburgk geleitete ganz freundschaftlich mit Heino Fräulein Paloty, als sie nach Himmelgarten ritten.“

Der Name verdarb der alten Dame vollends die Laune. „Vielleicht heirathet sie Ravensburgk. Das wäre eine brillante Partie für diese – wie heißt sie doch? Der älteste Name des Landes. Und ein Mann, der sich in seiner Jugend ausgetobt hat, wird immer ein guter Ehemann.“

„Ich glaube nicht, liebe Tante,“ warf Hedwig lächelnd ein, „daß diese Kombination richtig ist.“

„Ich weiß, was Dein Lächeln bedeuten soll,“ antwortete Frau von Blachrieth empfindlich; „aber da führt Dich Deine Unkenntniß von dem, was ein Dichter bedarf – und vielleicht noch etwas Anderes irre,“ fuhr sie mütterlich nachsichtig fort. „Heino hat Recht, wenn er sagt, dieses sich Abschließen von der Welt mache einseitig. Und anstatt ihn zu verdächtigen, solltest Du Dir ein Beispiel an ihm nehmen. Sonst gehst Du ganz in der Prosa des Lebens auf.“

Hedwig schwieg. Die arme Tante! dachte sie. Wenn sie doch nur einmal ganz genau wüßte, was sie will!

Das arme Kind! dachte Frau von Blachrieth. Da hat sie ihren hübschen Korallenschmuck angelegt. Die rothen Nadeln sehen wirklich allerliebst aus in den dunklen Zöpfen. Und nun sieht es Niemand.

„Herr Hauptmann Aufdermauer wünscht der gnädigen Frau seine Aufwartumg zu machen,“ meldete der Diener.

„Nun wird der sich den ganzen Abend zu uns setzen und von seinen Rehböcken und Weinbergen erzählen,“ sagte Frau von Blachrieth, auf dem Gipfel alles Mißvergnügens angekommen, leise zu Hedwig, während ein lautes: „Sehr angenehm!“ ihm die Erlaubniß zum Eintritt gab.

Und Georg machte allerdings Anstalt, den ganzen Abend bei den Damen zu bleiben, sprach aber weder von Jagd, noch von Weinbau.

Sichtlich erfreut nahm er die Einladung zum Thee an und folgte mit dem Ausdruck des lebhaftesten Vergnügens Hedwig, die Thee aus der Büchse von chinesischem Porzellan in die silberne Kanne schüttete, die Tellerchen und Eierbecher ordnete, das Kabaret mit kalten Fleischspeisen auf den Tisch stellte.

Frau von Blachrieth erklärte ihm Heino’s Abwesenheit mit dessen ernsten Studien zu einem neuen poetischen Werk.

Georg versicherte, daß er dasselbe jedenfalls seiner zukünftigen Frau zum ersten Weihnachten schenken würde, wenn er so glücklich sei, sich eine solche zu erringen.

Hierauf hatte Frau von Blachrieth nur ein herablassendes Lächeln. Es war bedeutungslos, ob auf dem Tisch einer Frau Aufdermauer Heino’s unsterbliche Werke lagen.

Georg bemerkte die überhebende Miene der guten Dame nicht. Er war beschäftigt, den heiß gewordenen Griff des Kessels mit seinem Handschuh zu umwickeln, daß Hedwig sich nicht die Finger verbrannte.

„Es fehlt doch etwas auf dem Theetisch, wenn es keine gerösteten Kastanien giebt,“ sagte er. „So schön der Sommer bei uns ist, der Herbst ist doch noch viel gemüthlicher, wenn das erste Feuer im Ofen flackert und auf der heißeu Platte die Kastanien aufgetragen werden.“

„Bei uns daheim giebt es statt Maronen Kartoffeln, aber diese in vorzüglicher Qualität,“ erwiderte Hedwig.

„Die schönsten Kastanien werde ich für Sie auslesen und Ihnen schicken,“ versicherte Georg. „Meine Bäume tragen dieses Jahr sehr reichlich.“

„Nun, da wir keine Kastanien haben, darf ich Ihnen Weißbrot mit Butter anbieten?“ fragte sie heiter. „Oder ziehen Sie Zuckerbrezelchen vor?“

„Um Goueswillen nicht,“ rief Georg. „Aber ein Butterbrot nehme ich dankbar an, vorausgesetzt, daß Sie die Gnade haben, es selbst für mich zu streichen. Ich möchte doch wissen, ob dann mein Fabrikat nicht noch einmal so gut schmeckt. Ja, gnädiges Fräulein, da ist meine Gabel auf der Butter. Ich schäme mich ordentlich, daß ich mich mit dem Produkt meines Gutes von Ihnen bewirthen lasse.“

„Dieser Butter braucht sich Niemand zu schämen,“ erwiderte Hedwig mit sachverständigem Blick auf die schön modellierte Butterscheibe und griff nach einem Messer, um ihr Werk zu beginnen.

„Sie werden doch nicht so unbarmherzig gegen Ihren zukünftigen Mann sein,“ rief Georg, ihre Hand zurückhaltend, „und ihn noch zu siebenjährigem Warten zwingen?“

„So schneiden Sie den Weck an,“ erwiderte Hedwig und suchte unter einem Lachen ihre Verlegenheit zu verbergen.

„Das werde ich bleiben lassen,“ antwortete Georg.

„Nun, damit dem Streit ein Ende gemacht wird, will ich die Butter anschneiden,“ entschied Frau von Blachrieth. „Aber ich hätte nicht von Ihnen erwartet, Herr Hauptmann, daß Sie sich vor einem ganzen Butterweck fürchten würden.“

„Vor sieben Jahren Einsamkeit in dem alten Hause Aufdermauer fürchte ich mich barbarisch,“ erklärte Georg. „Es ist gar zu traurig, allein in dem großen Gebäude zu sitzen. Ich denke es mir so hübsch, wenn in der tiefen Fensternische ein Nähtischchen stünde, wenn ein paar zierliche Füßchen durch die hallenden Korridore trippelten. Unter den Händen einer Frau gewinnt Alles eine würdigere Gestalt, vom kleinen Kaffeetisch an bis zum großen Jagddiner. Ihr zartes Gefühl versteht zu mildern, wo der stäte Verkehr mit einer Arbeiterschar schroff und derb macht, ihr beweglicher Geist kann das Interesse wach erhalten für Dinge, die außerhalb des eigentlichen Berufes liegen und doch von keinem gebildeten Menschen ungestraft vernachlässigt werden dürfen.“

„Was thust Du, Hedchen?“ rief Frau von Blachrieth. „Du gießest das heiße Wasser in den Sahnentopf, statt in die Theekanne.“

„Ach nein, ich schüttete nur daneben; Verzeihung,“ entschuldigte sich das junge Mädchen, roth wie eine Kirsche.

„Wie kommt es denn aber,“ fragte Frau von Blachrieth, „daß Sie bei diesen Ansichten noch unverheirathet sind?“

„Gnädige Frau,“ erwiderte Georg lächelnd, „die Liebe hat gar lange nichts von mir wissen wollen; mein Herz stand noch leerer als mein Haus. Lachen Sie nicht,“ fuhr er fort, und seine dunklen Augen hefteten sich durchdringend auf Hedwig. „Wenn nicht bald sich Jemand zum Einziehen entschließt, so zerfällt es in Ruinen wie alle unbewohnten Gebäude.“

Frau von Blachrieth nahm in kleinen Schlucken ihren Thee und ertheilte dazu ihre Rathschläge.

„Sie müssen sich eine lebendige Weltdame nehmen, damit Sie nicht zu einseitig werden. Ein Frauchen, das Ihnen keine Ruhe daheim läßt, gerade weil Sie sich allzuwohl dort fühlen – Sie werden sonst zu bequem –, die Ihr Haus umbaut; ein Schweizerhaus wäre viel schöner als das graue Gebäude.“

Georg sah sie ganz starr vor Staunen an. Dann rief er mit zornig gerunzelter Stirn:

„Wenn eine Frau mir solche Zumuthungen stellen wollte, hätte ich gar nichts mehr für sie übrig.“

Hedwig lachte.

„Sie lieben und hassen Ihre Frau schon ohne sie zu haben.“

Jetzt besann sich Georg und begann ebenfalls zu lachen. Dann aber fuhr er ernst fort:

„Ich mache vielleicht zu große Ansprüche. Ich will einer Frau Alles sein. Gesellige Freuden, Triumphe in der Welt muß sie im Stiche lassen. Und,“ fuhr er fort, seinen Bart nachdenklich kräuselnd, „wer ginge so ohne alle Bedenken in diese Einsamkeit, die nur während der Badesaison durch gleichgültige Touristen belebt wird, in welcher man von den Weltereignissen nur durch Zeitungen und Bücher etwas erfährt?“

Er sah Hedwig forschend an. Sie wurde dunkelroth.

[312] Die Frage der Tante, ob die Jalousien in ihrem Zimmer geöffnet seien, kam ihr zu Hilfe. Sie eilte hinaus, um sich wieder zu fassen.

Georg sah ihr schelmisch lächelnd nach.

Frau von Blachrieth entriß ihn seinen angenehmen Gedanken.

„Sie könnten mich zu tiefem Danke verpflichten,“ sagte sie mit der sanften Würde, die ihr zu Gebote stand, „wenn Sie Ihren Einfluß auf Heino dazu verwenden wollten, ihn zu Ihren Ansichten zu bekehren. Unser Familienprojekt ist Ihnen bei Ihrer Intimität mit Heino wohl nicht verborgen geblieben. Die Beiden ergänzen sich auf das Glücklichste. Hedwig hat die Stätigkeit, den praktischen Sinn, welche Heino’s geniale Begabung ausschließt; sie besitzt so viele Kenntnisse von der Landwirthschaft, in der sie aufgewachsen ist, um ihrem Gatten die Last der täglichen Arbeit abnehmen zu können, wenn sein Genius die Flügel regt. Und sie erhält einen in jeder Hinsicht ausgezeichneten Mann zum Lebensgefährten und einen würdigen Wirkungskreis, wo sie als Frau ihre Bestimmung erfüllen kann. Selbst Alter und Namen fügen sich passend zu einander, als wäre diese Ehe im Himmel beschlossen. Es steht nichts im Wege als meines Sohnes ungestümer Freiheitsdrang, Wenn Sie also Heino ein wenig ins Gewissen reden und ihn auf Hedwig’s Vorzüge aufmerksam machen wollten, würden Sie mir, meinem Bruder, uns Allen einem wahren Liebesdienst erweisen.“

Der arme Georg saß ihr gegenüber wie aus dem Himmel gefallen. Er war so zuversichtlich auf sein Ziel los marschirt, daß ihn das Hinderniß, welches Frau von Blachrieth enthüllte, vollständig aus der Fassung brachte. Jetzt fiel ihm freilich Heino’s geheimnißvolles Lächeln ein, als dieser erzählte, daß er von seiner Mutter hierher geführt worden sei. Hedwig’s Entwischen deutete er als Ausweichen; die Betonung der harmonisch klingenden adeligen Namen stieß ihn vor den Kopf. Er hätte aus der Haut fahren mögen.

Verletzt und beschämt erhob er sich und griff nach dem Hut.

„Ich werde das Mögliche thun,“ erwiderte er mit gepreßter Stimme, indem er einen verzweifelten Nachdruck auf ‚das Mögliche‘ legte. Der wieder eintretenden Hedwig machte er eine so gemessene Verbeugung und sah dabei so blaß und verstört aus, daß diese ganz versteinert stehen blieb und sprachlos ihm nachschaute, als er eilig davon schritt.

„Was hatte der Hauptmann?“ fragte sie bestürzt. „Er war so sonderbar gegen mich, als er ging.“

„Was sollte er haben?“ erwiderte die Tante. „Gewöhne Dir die übertriebene Empfindlichkeit ab, liebes Kind. Nichts ist den Männern lästiger als ein fortwährendes Uebelnehmen.“

Lauter Lärm vor den Fenstern unterbrach das Gespräch. Hedwig benutzte die Gelegenheit, um die Stirn an die Scheiben zu drücken und nach dem Hauptmann, der davon gestürmt war, auszuspähen. Aber er war bereits verschwunden.

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aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 19, S. 326–330

[326] Ein anderes Bild rollte sich auf dem Kurplatz auf. Derselbe war mit Reitern und Equipagen bedeckt. Die Treiber der Maulthiere trugen Fackeln, deren rothes Licht auf die in Plaids und Burnus eingehüllte Gesellschaft fiel.

„Siehst Du Heino nicht?“ fragte Frau von Blachrieth, die durch ihr Nichterscheinen am Fenster eine Demonstration nach außen zu machen suchte.

Es dauerte eine Weile, ehe Hedwig antwortete; dann gab sie mit etwas zitternder Stimme Bescheid:

„Er hob eben eine Dame von einem Schimmel. Jetzt sehe ich ihn nicht mehr. Die Gesellschaft geht aus einander.“

Die Fenster des Kurhauses erhellten sich. Balkonthüren wurden geöffnet; Schatten glitten in den erleuchteten Bogen hin und wieder. Vor dem Lora-Flugel drängten sich dunkle Gestalten.

Im nächsten Augenblick enthüllten sie sich als die Musikkapelle, die zu einer Serenade zusammen getreten war. Das Heine’sche Lied: „Du hast Diamanten und Perlen“, sendete seine schmeichelnden Vorwürfe und Bekenntnisse zu Leonorens Fenster empor.

„Da läßt gewiß Heino der schonen Paloty ein Ständchen bringen,“ sagte Hedwig.

„Ach, Heino soll auch an Allem schuld sein,“ erwiderte unmuthig die Tante. „Ich glaube, da schlägt es schon zehn Uhr. Wenn der Geheimerath, der mich um neun schon im Bett wissen will, diese Nichtbefolgung seiner Verordnung erführe! Mußte denn auch der robuste Hauptmann kommen und mich um eine Stunde Ruhe und vielleicht um den Erfolg der ganzen Kur bringen? Gute Nacht, Hedwig, Du bist gewiß auch todmüde und wirst schlafen wie ein Marmottchen.“

Frau von Blachrieth hatte wieder mit ihren Vermuthungen daneben geschossen. Hedwig war gar nicht müde. Sie stand neben dem Gueridon, auf dem Georg’s Hut gelegen hatte, und zersann sich den Kopf, warum der eben noch so heitere, kecke Mann plötzlich so verändert sich von ihr gewendet haben könnte.

Es dünkte sie, als dufte es wie frischer Wald im schwülen Zimmer. Ein grüner Zweig lag auf dem Boden; es war der Bruch, mit dem heute Morgen Georg nach einem glücklichen Schuß seinen Hut geziert hatte, wie er ihr vorhin, den weidmännischen Schmuck entschuldigend, erzählte.

Sie hob ihn auf und strich mit den kühlen Blättern über ihr heißes Gesicht. Ihre Lippen berührten ihn leise. Sie sah sich erschrocken im leeren Zimmer um und verbarg den Zweig in ihrem Spitzentuch, als sie in ihr Schlafzimmerchen hinüber schlüpfte.

Und Hedwig schlief auch nicht wie ein Marmottchen.




Es wurde in dieser Nacht, die dem St. Johannistag voraus ging, überhaupt nicht viel Ruhe im Lora-Thal.

Droben im Gebirge legten die Bäuerinnen ihren langbärtigen Ziegen neue Halsbänder um, an welchen sie dieselben in der Morgenfrühe, bevor noch ein Sonnenstrahl das Wasser getroffen hatte, in das Bad zu führen gedachten, das für das ganze Jahr vor Krankheit schützen sollte. Drunten im Lora-Grund striegelten die Knechte des Hauses Aufdermauer ihre Pferde, um sie recht schmuck in die heilkräftige Schwemme reiten zu können. Alle Frauen, die hubsch bleiben wollten, stellten Krüge bereit, das alte Heilawac damit zu schöpfen, das alle Fältchen aus dem Gesicht hinweg wusch.

In Jungbrunnen schmückten die Hausbesitzer die Pforten mit Birken, bekränzten die Schiffer ihre Kähne; und selbst der Nixe, die als Wetterfahne auf dem Schifferhaus sich drehte und mit einem Bogen zielte, wurde ein Strauß in die kampflustigen Hände gedrückt.

Längs des Flußufers arbeiteten Feuerwerker mit ihren Raketen und Leuchtkugeln; auf den Bergspitzen schichteteu Waldhüter hohe Holzstöße zu den Freudenfeuern, und auf der Wiese wurde der Platz zu einem Eselswettrennen abgesteckt. Denn der jetzige Pächter der Spielbank wollte den Festtag der Lora zu seinem alten Glanze erheben.

Die geheimnißvolle Mittsommernacht ging ihrem Ende zu. Noch strahlten die Sterne, noch lag Finsterniß in Schlucht und Wald. Aber im Osten lichtete sich schon der Himmel, und die Wellen des Flusses begannen bereits zu schimmern.

Da öffnete sich die Pforte des Gartensaales im Lora-Flügel, und eine weiße Gestalt trat heraus im lose nachwallenden Nachtgewand, das über den thaufeuchten Rasen streifte.

In den Händen trug sie einen Glaskelch und eine Wasserrose.

Barfuß, wie es der strenge Kultus der alten Heidengötter heischte, schritt sie hinab zur Lora.

Leichte Nebel webten über dem Fluß. Sie schwebten dahin gleich einer verschleierten Frauengestalt, die in stummer Klage die Arme ausstreckte. Sie zerflossen und verschwanden wieder in dem Wasser, das vorüber rauschte mit eifrigem Murmeln, als wolle eine Stimme etwas erzählen, wenn nur ein Ohr die Sprache verstünde. Unablässig folgten die Wellen einander.

Jetzt schwammen auch einzelne Blumen heran.

Der schlanke Stengel eines blaßrothen Fingerhutes glitt vorüber, den man auch Frauenhandschuh nennt. Die Spenderin desselben war wohl nicht vertraut gewesen mit der Lora-Sage. Sie hätte sonst diese Blüthen nicht gewählt. Mußten sie doch der Nixe die wehleidige Erinnerung an die längst versunkene Mittsommernacht wecken, wo sie sich unter den Tanz der Menschenkinder gemischt hatte und der Ritter von Falkeneck ihr die blaßrosa Handschuhe raubte und versteckte, ohne die sie nicht wieder in das feuchte Element zurück konnte.

Jetzt schaukelte ein kleines Brot vorbei. Hatte die Lora tückisch ein Menschenkind hinabgezogen, und sollte die Opfergabe, wie das Volk es glaubt, sie bestimmen, die todte Hülle wenigstens zurück zu geben?

Die weiße Gestalt schauderte. Wie mußte es kalt, einsam, freudlos da unten sein!

Ein Kranz folgte mit der nächsten Welle, Dunkelrothe Rosen glühten durch die dämmrige Nacht. Das war wohl ein heißes Herz gewesen, das ihn der Lora übergeben hatte. Sie sollte helfen, sie, die sich selbst nicht lösen konnte von dem ewigen ungestillten Liebessehnen.

Mehr und mehr Blumen schwammen heran. Sie drängten sich. Jede Welle trug eine duftige Gabe auf dem matt silbern schimmernden Kamm. Unzählbar waren sie wie die Wünsche im klopfenden Menschenherzen.

Vielleicht schwamm auch manche Thräne mit in den Wellen und gab ihrem Murmeln den melancholischen Klang.

Und doch war keine unter diesen Spenderinnen so qualvoll bedrückt, von so aufreibender Angst erfüllt als das junge Mädchen, das am Ufer stand mit dem kostbaren Kelch und der Wasserrose in der Hand – wie Leonore.

Was wollte die Sorge bedeuten, mit der die blutrothen Bergnelken, die eben vorüber glitten, droben im Gebirge geopfert worden waren? Sie mochten von dem nußbraunen Mädchen in dem Walddörfchen stammen, das so schöne Erdbeeren nach Jungbrunnen brachte. Mit solchem Federgras band sie auch die Sträußchen ihrer Beeren zusammen. Und die Lora sollte ihr dafür sagen, ob sie der flachshaarige Fischerbube, der sie immer in seinem Kahn mitnahm, noch in diesem Jahre freite. Die Lora wird ein Ja für sie haben; denn was könnte zwischen ihnen stehen? Er kennt das graue Holzhäuschen, in dem ihre Mutter ihr das erste Bettchen mit duftendem Waldheu gestopft hatte. Es ist so ehrenwerth wie seine Hütte im Schilf, dessen braune Wedel seine Ruhepfühle füllen. Die Glücklichen! Sie wußten nichts davon, daß einem Menschenkinde vor der einfachen Frage: „Woher kommst Du?“ bangen kann.

Und die Spenderin des Vergißmeinnichtstraußes dort, den der Flachsfaden zusammen hielt, durfte vollends leichten Herzens ihre Frage an die Nixe richten. Es war gewiß das Töchterlein des Lora-Müllers. Die blauen Blumen wuchsen am Mühlgraben, wo sie mit dem jungen Forstwart schäkerte, während Leonore ein [327] Glas Milch trank. Wenn sie heute zum Tanz ging, die Kette aus gebogenen Dukaten um den Hals, dann sahen Nachbarn und Freunden voll Achtung auf den Schmuck, der von der Urgroßmutter auf sie vererbt war. Sie lernte die Demüthigung nicht kennen, die Leonore erdulden mußte, wenn sie ihr Collier aus Sapphiren trug und in jedem Blick, der den Werth der großen Juwelen abschätzte, die versteckte Frage las:

„Woher?“

Sie vermochte nicht das stolze offene Wort zu sprechen, das alle Zweifel niederschlug. Wer würde bei ihr ausharren, wenn sie ihr Geheimniß offenbarte?

Er?

Die Lora murmelte, als wolle sie mahnen: Alles ist unbeständig. Die Liebe vergeht, die Treue wird gebrochen heute wie vor tausend Jahren.

Und wenn sie nicht einmal auf ihn rechnen durfte, der mit jedem Worte, jedem Blicke, früh und spät um ihre Liebe warb, wer blieb ihr dann?

Niemand!

Da stieg vor ihrer Seele eine dunkle hohe Gestalt auf, und eine ernste Stimme sprach:

„Wir lieben auch die irrende Schwester.“

Bruder Johannes! Ja, ihm hätte sie Alles sagen können: er würde vergeben. Und bei der Erinnerung an ihn wurde es still in ihr, wie stürmische Wogen sich im Mondenstrahl glätten.

Aber sie hatte ja keine Zeit, sich auszuruhen. Sie mußte ja doch hinüber über den Abgrund auf schwankendem Seil, die Balancirstange von Gold in der Hand. Am Ziel winkte ihr der schöne ritterliche Mann, um dessen Freiherrnkrone der Dichterlorbeer sich schlang. Sie mußte die Kraft gewinnen, die Seele des Geliebten so sich zu eigen zu machen, daß er sich über alle Vorurtheile der Welt mit ihr aufschwang und sie beide vereint im Sonnenlicht des Lebens sich freuten, zwei freie Falken. –

Ueber dem Hainberg begann der Himmel sich rosig zu färben. Die kleinen Bachstelzen waren munter geworden. Sie wippten heran, tauchten die Schnäbel in die Lora und schluckten, die zierlichen Köpfchen zurückgebogen, den kühlen Morgentrunk.

Und in das Wasserrauschen und das noch vereinzelte verschlafene Vogelgezwitscher tönte fernher aus den Waldthälern ein einförmiger wehmüthiger Gesang, als sei er dem klagenden Winde, den murmelnden Wellen abgelauscht. „Lora, die Gute!“ klangen deutlich die lang aüsgehaltenen Schlußworte. Das Volk sang, vom Blumenopfer heimkehrend, das uralte Lied von der Wasserholde.

Es war die höchste Zeit, die Lora um ihre Weissagung zu fragen.

Leonore trat ohne Scheu mit den nackten Füßen in die Wellen, die am Ufer empor spülten, neigte sich nach Mitternacht, wo die Götter der heidnischen Deutschen wohnen sollten, und übergab ihre Blume der Lora.

Sie sah der Wasserrose nach. Noch einmal hob sie sich auf dem Kamm einer Welle. Dann war sie in dem Dämmerlicht verschwunden. Steuerlos trieb sie hinaus, einem unbekannten Schicksal zu – wie sie.

Sie beugte sich mit ihrem Glas und schöpfte stromabwärts.

Dann ging sie zurück.

In ihrem Zimmer stellte sie den Kelch auf den Tisch und zündete eine Kerze von gelbem, noch süß nach Honig duftenden Wachs davor an. Mit erwartungsvollem, halb furchtsamen Blicke schaute sie hinein.

Perlen stiegen leise auf und vergingen – dann sah sie nichts mehr. Doch allmählich wurden Irisfarben, zart wie ein Hauch, in einem Halbkreise sichtbar. Feine Strahlen schossen dahinter empor.

Sie wußte nicht, ob sie es sah, oder ob es ein Blendwerk der Augen war.

„Eine Glorie! Der Strahlenkranz um den berühmten Dichternamen!“ flüsterte sie mit heißen Wangen.

Da schwand es. Das Tageslicht war gekommen und ließ das Kerzenlicht verblassen.

„Das Glück wirft seinen Strahl voraus,“ jauchzte Leonore selig.

„Und das Unglück seinen Schatten,“ antwortete eine müde Stimme hinter ihr.

Sie zuckte zusammen und sah in das blasse Gesicht ihrer Mutter, die geräuschlos eingetreten war.

„Ich habe ängstliche Träume gehabt,“ sagte sie, „die mich nicht wieder einschlafen ließen. Immer sah ich den Schatten des Treffbuben vor der Thür, und als ich darauf zuging, schrumpfte er zusammen, und es blieb nichts übrig als ein kleines schwarzes Kreuz.“




Die übrigen Badegäste übten den Wasserkultus auf andere Weise. Sie gingen nicht barfuß, sondern auf hohen Hacken, zogen die Gürtel so fest als möglich zusammen, halfen der Schönheit eigenhändig durch zarte Schminke und feine Striche mit dem Tuschepinselchen nach und opferten statt Blumen das gelbe Metall. Den Hauswirthen wurde es dargebracht, die ihre in der ganzen Welt bekannte Kunst übten, aus jedem Verschlag ein Boudoir, aus jedem alten Großvaterstuhl einen Fauteuil zu machen; der Brunnenverwaltung, die es durch allerhand Schriftwerk einkassirte; und vor Allem der Spielbank.

Es wurde Tag und Nacht nicht Ruhe. An die letzten Gäste, welche die Säle des Konversationshauses verließen, schlossen sich bald wieder die Kranken an, die mit ihren Bechern fertig sein wollten, bevor der glänzende Strom die Alleen füllte, die Brunnenhalle überschwemmte.

Nur in den Mittagsstunden, in denen die Sonne in das Lora-Thal hinein stach und von den vulkanischen Felsen zurückprallte, die heißen Quellen unterirdisch den Boden zu heizen schienen und die Dämpfe, die sie aushauchten, die Lust schwer machten, wurde es still in Jungbrunnen. Dann flüchtete Alles hinter die geschlossenen Jalousien.

Diese Zeit blieb Heino für seine neue Dichtung.

Die Ausstattung seines Arbeitszimmers verrieth, daß hier ein Lieblingsdichter der Damen hauste. Er legte ihnen in jedem Jahre auf den Weihnachtstisch ein mit Goldschnitt und reichem Einband geschmücktes Büchlein, dessen Seiten winzige Gedichte mit mikroskopischen Pointen zeigten, von denen Ravensburgk stets behauptete, „sie heinelten ihn an“. Die Damen feierten ihn dafür mit Notizbüchern, auf die goldene Leiern gestickt waren, und Tintenwischern, auf denen Rokokodämchen saßen.

Eine Prinzeß hatte ihm sogar für ein Festspiel zu ihrem Geburtstag einen Briefbeschwerer mit eigner Hand modellirt, die regierende Fürstin ihm für eine Widmung das silberne Schreibzeug mit ihrem Namenszug verehrt. Seine Mutter war auch hier besorgt gewesen, daß Lorbeerbäume um den Schreibtisch aufgestellt wurden. Und Leonore hatte ihm als Vielliebchen die Marmorbüste Apollo’s geschenkt, die auf einem Sockel dahinter sich erhob.

Der Tempel war bereit, die Musen zu empfangen.

Aber sie erwiesen sich spröde in letzter Zeit.

Auch heute lag das feine weiße Papier, auf das er zu schreiben pflegte, in unangetasteter Reinheit vor ihm.

Er saß im schwarzen Sammetrock, den er als eine Art Amtstracht für die Dichter erachtete, davor und schaute verdrießlich vor sich hin.

Einzelne hübsche Momente fielen ihm wohl ein. Auch die Gestalt der Lora konnte ihm nicht mehr entgehen. Sie umschwebte ihn überall und sah ihn mit Leonorens strahlenden Augen an. Aber vergeblich zerbrach er sich den Kopf darüber, wie er den Faden der Dichtung von Anfang bis zu Ende fest und unverwirrt zu führen habe. Bisher waren seine Poesien die Kinder einer augenblicklichen Stimmung gewesen. Flüchtige Gedanken hatte er eingefangen wie Schmetterlinge. Nun sträubte sich seine Natur gegen die Arbeit, ein Schema zu entwerfen. Selbstverständlich! Das Genie hatte einen Widerwillen gegen die Handwerksgriffe. Aber es half nichts. Er mußte den Pegasus in den Pflug spannen. Zum hundertsten Male faßte er diesen Entschluß.

Da schaute seine Mutter in das Zimmer.

„Arbeite nicht zu anhaltend, liebes Kind,“ mahnte sie zärtlich. „Man hat Beispiele von Gehirnerweichung bei geistiger Ueberanstrengung.“

[330] Dann schloß sie leise wieder die Thür.

Heino fuhr auf. O, diese ewigen prosaischen Unterbrechungen! Sie waren schuld, daß er nicht dazu kam, seine Gedanken zu sammeln.

Er warf die goldene Schwanenfeder weg, griff nach Hut und Handschuhen und stürmte hinaus.

„Wo willst Du hin? Du wirst den Sonnenstich bekommen,“ warnte seine Mutter, aus ihrer Stube heraussehend.

„Ins Freie, in die Einsamkeit,“ stöhnte er und verschwand.

Die Einsamkeit, die er suchte, konnte gar nicht tief genug sein. Die jetzt so stillen Anlagen, welche das Kurhaus umgaben, genügten ihm noch nicht. Rasch durcheilte er sie und mäßigte erst seinen Schritt, als er den Garten betrat, der für die jeweiligen Bewohner des Lora-Flügels vorbehalten war.

Unter einer Gruppe von blühenden Oleanderbäumen stand Vera neben einem Käfig, in welchem ein grauer Papagei kletterte und kreischte.

„Ist Deine Mama hier?“ fragte Heino.

„Nein, Mama liegt auf ihrer Ottomane und raucht!“ antwortete Vera.

„Wo ist Mademoiselle?“

„Sie läßt sich von Kathinka die grauen Haare ausziehen.“

„Was thust Du hier?“

„Ich unterrichte Jacques.“

„Worin?“

„Fräulein Leonore hat ihm aufgegeben, ‚Heino‘ sagen zu lernen, und ich helfe ihm. Nun, Jacques! Sprich: Heino.“

„Paschol!“ schnarrte der Vogel.

„Sage sogleich: Heino.“

„Geh zum Teufel!“ schimpfte Jacques, indem er sich an den Beinen aufhing.

„Willst Du die Peitsche haben?“

Andate via,“ schrie der Papagei und hackte mit seinem krummen Schnabel nach Vera.

Heino hatte sich von seinem freudigen Schrecken erholt und wieder Athem zum Lachen gefunden.

„Er ist ein echter Russe; in aller Herren Ländern zu Hause, kennt er sogar das Zauberwort, welches den geplagten Reisenden in Italien von allen zudringlichen Führern und Trägern befreit, wenn er in höchsten Nöthen ist. Aber nun sage, wo ist Fräulein Paloty?“

„Sie liegt drüben im Grase und schläft,“ gab Vera zur Antwort.

„Im Grase?“ fragte Heino erstaunt.

Vera nickte.

„Sie sagt, die reichen Leute wüßten es nur nicht, wie viel besser es sich manchmal hinter einem Zaun als in einem Himmelbett schlafe. Ich habe sie gewarnt, daß ihr ein Wurm ins Ohr kriechen würde; aber sie lachte und meinte, dem entginge zuletzt Niemand. Wollen Sie sie sehen? Aber Sie müssen ganz still sein, sonst wacht sie auf.“

In ihren kleinen, aus buntem Leder zusammengesetzten Stiefelchen ging sie voraus durch die Weingänge nach dem großen Rasenplatz, der sich zu dem Lora-Ufer hinabzog. Das gemähte Gras füllte die Luft mit süßem Heuduft.

Im Schatten einer Trauerweide, die ihre Zweige in die Wellen tauchte, ruhte Leonore, das rosige Gesicht an einen Heuschober geschmiegt, und schlief so behaglich, als habe sie nie eine andere Schlummerstätte gekannt. Sie schien wie verwebt und verwachsen mit der stillen Natur um sie herum. Das Lied der Feldgrillen umschwirrte sie; Marienkäferchen krochen dreist in dem langen goldenen Haargeringel, das bis auf den Rasenteppich herab fluthete.

Zu ihren Füßen wand sich die Lora dahin. Gleich Schuppen eines gleißenden Schlangenleibes schoben sich ihre Wellen glitzernd fort. Leises Murmeln entstieg ihnen, als singe eine unterirdische Stimme ein uraltes Wiegenlied. Zuweilen rauschte eine stärkere Welle heran, reichte wie ein ausgestreckter Arm hinauf bis an den Saum des weißen Kleides, ihn leicht netzend.

Heino war ganz hingerissen von dem schönen Bilde.

„Vera,“ sagte er leise, ohne den Blick von der schönen Schläferin abzuwenden, „willst Du mir etwas zu Liebe thun?“

Das Kind richtete die hellbraunen Augen fragend auf ihn.

„Wie macht man das?“ wisperte sie.

„Willst Du hingehen und mit einer Schere eine Locke aus Fräulein Leonorens Haar für mich schneiden?“ flüsterte er in das kleine mit einem Malachitglöckchen geschmückte Ohr.

Vera sah ihn eine Weile stumm und dreist an.

„Nein,“ antwortete sie dann, „das würde Fräulein Leonore nicht gestatten. Sie ist sehr stolz auf ihre schönen Haare.“

„Sie soll es auch nicht erfahren,“ entgegnete Heino beruhigend; „ich sage ihr kein Sterbenswörtchen, und außer uns sieht es Niemand.“

Vera legte ihre Hände auf den Rücken, zum Zeichen, daß sie ihm dieselben nicht zu der Unthat leihen wolle.

„Nur eine ganz kleine Locke,“ drängte er weiter. „Ich will Dir auch etwas Wunderschönes schenken.“

„Was denn?“ fragte sie neugierig.

„Willst Du Bonbons und Marzipan aus Himmelgarten?“ raunte Heino ihr zu.

Sie schüttelte den kleinen Kopf mit dem kurz geschnittenen dunklen Haar.

„Davon bekommt man schwarze Zähne.“

„Eine Puppe, die Papa und Mama sagen kann?“ bot er weiter.

„Ich spiele nicht gern mit Puppen,“ sprach sie wegwerfend.

„Nun, was möchtest Du wohl haben?“ drang er leise in sie.

Vera rückte unschlüssig ihren juchtenledernen Gürtel über der naturellfarbigen Blouse hin und her. Endlich stellte sie ihre Bedingung.

„Wenn Sie mir ein Gedicht machen wollen.“

„Wie kommst Du auf diese Idee?“ fragte Heino überrascht.

„Die Komtesse Schwuggensee wünscht sich ein Gedicht,“ vertraute ihm Vera an, „und die Fräulein von Gokel möchten es auch; und Mister Montagu wird so lange hier bleiben, bis er für sein Album von grünem Sammet ein Gedicht von Ihnen hat. Denn er sagt: Baron Blachrieth ‚is in vogue‘. Dann hätte ich etwas, was noch Niemand weiter hat.“

„Du sollst ein Gedichtchen bekommen,“ versprach Heino.

Vera sprang nach dem Salon und kam bald mit einer kleinen vergoldeten Schere wieder. Aber sie war noch nicht gänzlich ohne Bedenken.

„Warum schneiden Sie sich denn die Locke nicht selbst ab?“ fragte sie ihn mißtrauisch.

Heino erröthcte heiß.

„Weil ich keine solchen Elfenfüßchen habe, unter denen das Gras nicht knistert, und weil Du dann kein Gedicht bekommst.“

Der letzte Grund schlug durch. Leise schlich sie zu Leonoren hin, und mit ihrer kleinen ungeschickten Hand schnitt sie eine lange Locke ab, die still auf den Boden sank. Schnell hob sie dieselbe auf und brachte sie Heino, der zitternd das duftende seidenweiche Haar empfing und es eilig auf seiner Brust verbarg.

Dann versprach er, ihr recht bald den Sündenlohn zu zahlen, prägte ihr ernstlich ein, Niemand etwas von dem verübten Raub zu sagen, warf noch einen heißen Blick nach der schönen Schläferin zurück und eilte von dannen.

In seiner Aufregung hatte er die ganze Welt vergessen und fuhr erschrocken zusammen, als er plötzlich bei einer Biegung des Weges einem eleganten, ganz in Grau gekleideten Herrn gegenüber stand.

Auch der Andere war sichtlich überrascht und sah Heino durchdringend an. Doch sogleich senkten sich seine Augenlider wieder, und er schritt langsam vorüber.

Heino aber vermochte nicht, weiter zu gehen. Der Gedanke, der Fremde, in dem er den Pächter der Bank erkannte, könne zufällig an Leonorens so leichtsinnig gewählte Ruhestätte kommen, schnürte ihm die Brust zusammen. Er blieb stehen und folgte dem Grauen mit dem Blicke.

Da, wo der Weg von dem Weinlaubengang nach der Trauerweide sich abzweigte, schien der Spielpächter zu zögern und unmerklich das Gesicht nach ihm zu wenden. Dann drehte er sich rasch ab und wandelte den nach dem Kurgarten führenden Weg hinauf.

Heino athmete auf. Den goldigen Schatz an sein Herz drückend, eilte er nach Hause.

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aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 20, S. 345–350

[345] Heino fühlte sich so gehoben, so befreit von aller Erdenlast, daß er meinte, es müsse ihm jetzt spielend leicht werden, seine Dichtung in raschem Wurfe von Anfang bis zu Ende zu führen. Glühend vor Freude und Schaffensdrang stürmte er nach seinem Zimmer.

Der Salon seiner Mutter öffnete sich. Sie schaute heraus und jammerte:

„Mein Gott, Du verkennst gänzlich die Vorschrift des Arztes, daß man bei einer Brunnenkur sich Motion machen soll. Wenn Du Dich so erhitzest bei dem Gebrauch der Heilquelle, kann Dich der Schlag rühren.“

Heino wandte verzweiflungsvoll die Augen gen Himmel und verschloß sich in sein Zimmer.

Auf einem Purpurkissen breitete er die Locke aus und griff abermals zur Schwanenfeder.

Aber es war, als beneble der zarte Duft von Heliotrop, der dem Geringel entströmte, ihm den Sinn.

Dann sah er immer wieder nach der Pendüle, ob er auch nicht die Stunde des Diners versäume. Als diese endlich schlug, war er nicht über die Reime: „Lora hold, Lockengold“, hinweg gekommen, obgleich rings um ihn zerrissene Papiere lagen.

Nun mußte er schnell Gesellschaftstoilette machen.

Eilig die paillegelben Handschuhe überstreifend, trat er bei seiner Mama ein. Diese war auch heute nicht in Dinertoilette, und im Salon war wie immer in letzter Zeit die Mittagstafel gedeckt.

„Willst Du wieder nicht mit zur Table d’hôte gehen?“ fragte er gereizt.

„Ich kann jetzt durchaus keine fremden Menschen sehen,“ erwiderte Frau von Blachrieth mit leidender Miene.

Heino war sichtlich peinlich berührt. Mit einiger Ueberwindung sagte er:

„Ich möchte Dir die Dame gern vorstellen, die mich zu meiner neuen Dichtung inspirirt.“

„Die lerne ich am besten aus Deinem neuen Werke kennen, mein lieber Sohn,“ entgegnete seine Mutter.

Er wollte noch etwas einwenden; aber sie schnitt ihm die Rede ab:

„Die Küche des Kurhauses ist nicht ganz der Diät angemessen. Du würdest besser thun, mit uns zu speisen. Soll ich noch ein Kouvert auflegen lassen?“

Sie faßte nach dem Klingelzug, und er nach dem Thürgriff.

„Pardon, Mama! Ich habe mich bereits verpflichtet, zu kommen.“

„Iß nichts Saures, liebes Kind,“ rief sie ihm nach, und er flog wie ein vom Bogen geschnellter Pfeil nach dem Kurhaus.

Die ganze Table d’hôte befand sich in Aufregung über die Toilette, in welcher Leonore erschienen war: weiße Donna-Mariagaze [346] mit großen schwarzen Sammetschleifen, eine Zusammenstellung, die noch nicht dagewesen war.

„Unsere Farben!“ bemerkte ein alter preußischer Oberst.

Seine Nachbarin, eine Französin, sah ihn erstaunt an. Die preußischen Farben waren damals nicht sehr bekannt in der Welt.

Der Kürassier aus Temesvar lächelte:

„Schwarz und weiß soll halt die neueste Erfindung der Kaiserin Eugenie sein. Vor einer Stund’ ist die Toilett’ aus Paris angekommen.“

„Die preußischen Schilderhäuser haben sie schon getragen, als an eine Kaiserin Eugenie noch gar nicht gedacht wurde,“ brummte der alte Herr unter seinem kurz gehaltenen grauen Schnauzbart.

„Magnifigue,“ sagte Frau von Nihiloff, den weiten freien Blick, den die Russinnen aus ihren Steppen mitbringen, auf Leonoren richtend. „Sie ist natürlich eine Ungarin. Eine Deutsche würde nicht mit solcher souveränen Willkür die Schleifen in den Volants arrangirt haben.“

Heino’s Ankunft gab dem Gespräch eine andere Richtung.

Alle Blicke wandten sich ihm zu. Aber nur Leonore bemerkte die Wolke auf seiner Stirn. Niemand ahnte, wie bang ihr Herz in diesem Augenblick schlug.

Ihr erster Gedanke war: er hat erfahren, was er nicht wissen darf.

Und wenn auch diese Furcht schwand vor dem in unverhohlener Bewunderung aufleuchtenden Blicke, mit dem er ihre gewählte Toilette überflog, so stieg eine andere geheime Sorge in ihr auf, die sie nicht zu verbannen vermochte.

Forderte er es, daß sie sich immer damit beschäftigen sollte, neue Toiletten zu ersinnen, um seine Augen zu beschäftigen, räthselhafte Andeutungen, die seine Phantasie reizten und interessirten? Sollte sie immer nur Muse und Modell sein, nicht einmal das arme Menschenkind, das die ganze Wahrheit vom Herzen herunter beichtet, um an ein warmes Herz genommen und getröstet zu werden? Erlosch das Gefühl, das er für sie hatte, wenn sie nicht mehr die bewunderte Leonore war? Mit Schrecken fragte sie sich: Ist das Liebe?

Und während diese Zweifel sie quälten lächelten ihre Lippen; ein weicher Glanz lag in ihrem Blicke, ihre Wangen überhauchte ein zartes Roth. Sie war schöner als je, und Heino sah nur sie.

Die Augen der ganzen Gesellschaft ruhten auf dem glänzenden Doppelgestirn. Eine solche interessante Saison hatte man noch nie mitgemacht. Alle fühlten sich gehoben, daß sie gewürdigt wurden, eine Beziehung entstehen zu sehen, wie die zwischen Dante und Beatrice, Petrarca und Laura.

Nur ein kleiner skeptischer Kopf mit kurz geschnittenem dunklen Haar war nicht zu beirren. Neben Mademoiselle saß Vera und ließ sich, obgleich sie kaum auf den Tisch zu sehen vermochte, mit dem Selbstbewußtsein einer vollkommenen Dame die Speisen präsentiren. Während sie mit der Gabel, die gegen ihre kleine Person riesig erschien, regelrecht dem Fisch zu Leibe ging, stach ihr Blick hinüber zu dem Dichter, auffordernd, mahnend.

Als er einmal nach der Brusttasche griff, blieben ihre zarten Fingerchen mit dem Artischockenblättchen, das sie vom Stengel gebrochen hatte, vor den Lippen schweben. Das ganze bräunliche Gesichtchen war gespannte Erwartung.

Es erfolgte jedoch nichts. Er bemerkte sie gar nicht, und auch, als die Gesellschaft sich erhob und den Speisesaal verließ, schritt er mit Leonoren in die schattigen Promenadenwege hinaus, ohne seine kleine Gläubigerin zu beachten.

Aber sie heftete sich an seine Sohlen. Ihr Ziel im Auge, schlüpfte sie wie ein Eidechschen zwischen den weiten Krinolinen hindurch, nirgends auf eine im feinen Kies schleifende Spitzenfalbel tretend oder an ein Spazierstöckchen stoßend, und stand plötzlich neben Heino.

„Herr von Blachrieth, haben Sie das – Sie wissen doch – in Ihrem Notizbuch?“ fragte sie und sah ihn drohend an. „Sie müssen sonst das, was ich Ihnen gebracht habe – Sie wissen doch – zurückgeben.“

Heino fuhr erschrocken herum, nahm die Kleine bei der Hand und entfernte sich schleunig mit ihr, während Leonore ihnen erstaunt nachsah.

Hinter dem nächsten Boskett blieb er stehen.

„Warte nur bis morgen,“ redete er Vera zu.

„Nein,“ entgegnete diese in ihrem scharfen Dialekt. „Sie könnten abreisen oder Maman. Machen Sie das Gedicht gleich.“

Heino seufzte, zog sein Notizbuch heraus„ that ein paar rasche Züge an seiner Cigarre und begann endlich zu schreiben. Dann riß er das Blatt aus dem Buche.

„Hier hast Du das versprochene Gedicht,“ sagte er; „nun laß mich in Ruhe.“

„Lesen Sie es mir vor,“ bat Vera.

„Ich habe mehr zu thun,“ entgegnete Heino ungeduldig. „Und Niemand von der Gesellschaft sagst Du, wofür Du es erhalten hast,“ schärfte er ihr ein und ging.

Vera blieb traurig mit ihrem Blatt Papier zurück und schaute darauf nieder.

„Wenn es nur wenigstens französisch wäre!“ seufzte sie.

Sie sah sich um.

Da auf einer Bank hinter dem Boskett saß ein ganz schwarz gekleideter Mann mit einem Buche in der Hand. Sie ging entschlossen auf ihn zu und fragte:

„Können Sie deutsch lesen?“

„Ja, mein Kind,“ entgegnete der Fremde.

„O bitte, ich möchte das Gedicht gern hören,“ bat Vera, ihm das Blatt gebend. Sie setzte sich neben ihn, und er las.

Es war ein kleines Wiegenlied, in welchem das Nachtlämpchen im weißen Milchglas, das aus spinnwebenen Schuhen heranhuschende Sandmännchen und endlich der auf goldenen Taubenflügelchen herabschwebende Schutzengel das Kind in den Schlaf singen.

„O, es ist schön,“ sagte sie, indem sie stolz das Papier zusammen faltete und in ihren Gürtel steckte. „Der berühmte Dichter, Baron Blachrieth, hat es für mich gemacht. Aber ich habe ihm auch einen großen Dienst erwiesen.“

Der Fremde sah mit nachsichtigem Lächeln auf sie herab.

„Sie glauben mir nicht?“ fuhr sie beleidigt fort. „Ich habe Fräulein Leonore Paloty, als sie schlief, heimlich eine Locke abgeschnitten – o, so lang,“ sie breitete die Arme aus, „und ihm gebracht. Aber es darf Niemand davon erfahren. Ihnen kann ich es sagen. Sie gehören doch nicht zur Gesellschaft,“ schloß sie mit einem abmessenden Blick auf seinen schwarzen Rock.

In die Züge des jungen Mannes war bei ihrer Erzählung ein leises Roth gestiegen. Jetzt sagte er ernst:

„Nein, Du hast Recht. Ich bin ein Prediger, ein Geistlicher.“

„Sie sind ein Pope?“ fragte die Kleine geringschätzig, nestelte rasch eine Stecknadel aus ihrer breiten dunkelrothen Schärpe und warf sie von sich.

„Was thust Du?“ fragte er erstaunt.

„Wenn Maman einem Popen begegnet, wirft sie stets eine Nadel von sich; sonst hat man Unglück,“ erklärte die Kleine rücksichtslos.

Der Blick des jungen Mannes heftete sich ernst auf das Kind.

„Du wirst sofort die Nadel aufheben und Dein Leibband wieder schicklich zusammen stecken,“ befahl er. „Uebrigens bin ich kein Pope, wohl aber ein Priester und Verkündiger von Gottes Wort. Und ich sage Dir: Dein Schutzengel wird sich von Dir abwenden und weinen, weil Du aus einem guten Kinde eine kleine Sünderin geworden bist.“

In die bernsteinfarbige Haut Vera’s stieg glühendes Roth. Aber sie zweifelte noch an seinem Ausspruch.

„Eine Dame schenkt doch ihrem Freund ein Stück Zopf. Maman hat auch dem Fursten mit dem großen Bart, der uns überall hin nachreist, eine Flechte von ihrem Haar gegeben. Und Herr von Blachrieth ist der Freund von Fräulein Leonore Paloty. O, sie werden sich verloben, wenn auch Frau von Tromsdorf sich ärgert, daß er nicht ihre Tochter Fifi liebt. Maman meint: es fehlt nur noch an einem Anstoß, der die Entscheidung herbeiführt. Nur Mademoiselle sagt: das ist eben die Schwierigkeit, an der die besten Partien scheitern.“

Sie zuckte mißachtend die kleinen runden Schultern. Dann sah sie ihn aufmerksam an, welchen Eindruck ihr Plaidoyer gemacht hatte.

[347] Das wehmüthige Lächeln, das seine Lippen umspielte, erschreckte sie. Ihr Vergehen mußte groß sein, daß er solchen Schmerz darum empfand.

Kleinlaut fuhr sie fort:

„Wenn Sie glauben, daß mein Schutzengel bös ist und fort fliegen wird, dann bitte, sagen Sie mir, was ich thun muß, daß er wieder gut werde.“

Aber er schwieg und sah über sie hinweg, hinüber, wo Leonore auf der Bank am Marmorbassin saß und Heino nachschaute, der ihre Mutter in den schattigen Kiosk geleitete. Wahrscheinlich fürchtete er, sie könne das Gespräch hören, dachte Vera, den Kopf schüttelnd.

Aber da faßte er schon ihre Hand und gebot ihr sanft:

„Du mußt Deine Sünde bereuen und Dir fest vornehmen, nie wieder etwas zu thun, zu sagen oder zu denken, was Du gezwungen bist, zu verschweigen. Du sollst zu Fräulein Leonore gehen, ihr offen das Unrecht bekennen, welches Du ihr zugefügt hast, und sie recht innig bitten, daß sie Dir und Herrn von Blachrieth vergeben möge.“

Die Kleine küßte ihm die Hand, als sei er der Pope im vollen goldgestickten Ornat. Dann fragte sie doch noch beklommen:

„Wird sie mich vor der Gesellschaft schelten?“

Ein schmerzliches Lächeln spielte einen Augenblick um seinen Mund. Er schüttelte schwermüthig den Kopf und wandte sich dem einsamen Wege am Flusse zu.

Da bemerkte er, daß er sein Buch auf der Bank hatte liegen lassen, und kehrte um, dasselbe zu holen.

Bei einer Biegung des schattigen Ganges stand er plötzlich vor Leonoren und Vera. Die Kleine sagte:

„Das ist der schwarze Herr.“

Eine glühende Röthe übergoß Leonoren’s Antlitz, als sie sich dem Bruder Johannes gegenübersah. Unwillkürlich warf sie den Fächer aus Sandelholz, mit dem sie eben noch, ihn halb entfaltend, kokett ihr Antlitz gegen die Sonne geschützt hatte, hinter sich ins Gras.

Auch Johannes veränderte die Farbe. Sein schmales, von schlicht zurückgestrichenem braunen Haar umrahmtes Gesicht wurde noch einen Schein bleicher; aber er grüßte mit feiner ruhiger Haltung.

„Sie sind es, der Vera’s Gewissen geweckt hat?“ rief Leonore aus. „Sie erzählte von einem schwarzen Mann, der sich plötzlich in einen großen Herrn verwandelt und ihr so zu gebieten verstanden habe, daß sie ihm nicht zu widerstehen vermochte.“

„Die Gewohnheit der Brüdergemeine, zu warnen, wo ein Schäflein irrt, war zu mächtig in mir,“ erwiderte er.

„Und Sie sind so glücklich, immer den rechten Weg zu finden,“ sagte Leonore.

„Den hat ein Anderer schon lange vor mir gefunden und seinen Wegweiser an jedem Kreuzweg aufgestellt,“ antwortete Johannes.

„Sie lügen nicht wie Mademoiselle,“ erklärte ihm Vera achtungsvoll. „Fraulein Leonore hat mir gleich vergeben.“

Er reichte der Kleinen freundlich die Hand; aber sein Auge ruhte auf Leonoren, als er sprach:

„Ich weiß, daß nichts süßer ist, als zu verzeihen, was aus Liebe gefehlt ward. Und ich weiß auch, daß eine Menschenseele uns nur noch theurer wird, wenn wir ihr viel zu verzeihen haben.“

Als er den Hut zog, glitt der Aermel zurück. Ein breiter rother Streif zog sich um das Handgelenk, Aber auf Leonorens erschrockenen Blick erwiderte er mit einem gelassenen Lächeln:

„Das waren nur äußere Fesseln.“

Dann ging er.

Unterdessen hatte auch der alte Freund des Bruder Johannes, der auf der Bank liegen geblieben war, einen Kampf zu bestehen.

Ein auserlesener Kreis der Badegesellschaft wandelte an ihm vorüber.

Welcher alte Tröster macht sich da breit?“ sagte Ravensburgk.

Er schlug das Büchlein auf und las:

„Meide den vertraulichen Umgang mit einem Weibe; empfiehl Du lieber das ganze andächtige Geschlecht dem lieben Gott.“

„Ich wollte, dieser vortreffliche Rath wäre ein Viertel Jahrhundert früher gekommen,“ sagte Ravensburgk ernster als sonst.

Der „Sohn seiner Mutter“ klappte das Buch ebenfalls auf.

„Du bist, wer Du bist,“ fuhr ihn der alte Hämmerlein an.

Mit spöttischem Lächeln griff Heino nach dem Buche, schlug es auf und las:

„Es ist nicht alles, was hoch ist, heilig, nicht alles Reizende rein, nicht alles Angenehme gut, nicht alles, was uns gefällt, gottgefällig."

„Kinderweisheit,“ sagte er empfindlich und legte es hin.

Niemand wagte sich mehr an den Thomas a Kempis heran. Man warf ihm scheue Blicke zu wie ungefähr einem Igel und drückte sich davon.

Noch aus dem Grabe heraus hatte sich der tapfere Augustinermönch gegen die Weltkinder gewehrt und behauptete siegreich das Feld.

Er war aber nun einmal in unwirscher Stimmung, und als Johannes ihn abholte, empfing er ihn mit dem Ausspruch:

„Wärest Du in Deinem Hause geblieben und hättest Dir den Kopf nicht vollschwatzen lassen, so wärest Du ruhig in Deinem Frieden geblieben.“

„Du hast Recht, alter Freund,“ sagte Johannes. „Ich will nicht wieder in das Weltgetriebe gehen. Ein lahmer Arm ist besser als ein matter Wille.“

Er schritt den Weg nach Himmelgarten zu, ohne noch einen Blick zurück zu werfen.

Leonore aber stand wie angewurzelt. Die Lora rauschte vorüber, vom goldenen Sonnenlicht mit Funken übersäet; die schmalen Blätter der Weiden schwankten neben ihr. Fernher tönten einzelne Klänge des Champagnergalopps. Ihr war, als wäre sie auf ein paar Minuten der Erde entrückt gewesen in eine andere höhere Welt. Und nur langsam besann sie sich wieder darauf, wo sie war.

Dann aber jubelte es in ihr auf:

„Heino liebt mich so, daß nichts uns mehr trennen kann.“

Als er ihr beim Abschied die Hand küßte, zitterten ihre Finger und – war es Täuschung oder selige Wahrheit? – er meinte einen leisen Druck zu empfinden.

Gleich einem von Haschisch Berauschten kam er nach Hause.

Und wie ein schlichter Mensch im großen Glücke vor dem Altar niederkniet, so warf er sich in seinen Sammetfauteuil vor dem Schreibtisch und blickte begeistert zu der Apollo-Büste empor.

Aber das schöne Gesicht mit den hochmüthig geschürzten Lippen, dem kalten, grausamen Zug um die feinen Nasenflügel schaute erbarmungslos auf ihn herab.

Heino kannte den stolzen Musenführer nicht.

Der duldet keine anderen Götter neben sich. So lange ein armes Erdenkind mit der Binde umhergeht, die ihm von dem schalkhaften Amor vor die Augen gelegt worden ist, wendet ihm der Gott mit der Leier den Rücken. Erst wenn der Verblendete ausgetaumelt hat und reuig und zerknirscht ihm naht, sieht ihn Apollo mit gnädigen Augen an und gestattet, daß zu seiner Ehre der Geprüfte die Qualen verwerthet, die er im Dienste des Liebesgottes erlitt.

Es fiel kein Lichtstrahl in das Erlösungswerk der Lora-Nixe. Wohl aber stachen in Heino’s Augen die Lichter, die sich drüben in den Sälen des Konversationshauses entzündeten, in welchem Reunions, Koncerte stattfanden und Bank gehalten wurde.

Dort war jetzt Leonore.

Er hatte keine Ruhe mehr an seinem Schreibtisch; er mußte wieder fort.

„Vermeide die Nachtluft, Heino. Vergiß nicht, einen Foulard mitzunehmen,“ tönte die klagende Stimme seiner Mutter ihm nach.

Er antwortete mit einer beleidigten Miene und stummen Verbeugung. Es war seine Gewohnheit, gleich einer schönen Frau, seinen Willen durch Schmollen durchzusetzen, und er zweifelte nicht an dem endlichen Erfolg seiner Taktik.

Während Frau von Blachrieth ganz bestürzt sich in ihren Salon zurückzog, eilte er mit beflügelten Schritten durch die Gänge des Kurgartens.

Ein weiches Lüftchen säuselte in den blühenden Akazienbäumen. Die Thautropfen auf den Blättern und auf dem [348] wie Sammet geschorenen Rasen blinkten im matten Schein des aufgehenden Mondes. Die Musik der Kapelle zog in süßen italienischen Melodieen in die schweigende Nacht hinaus.

Die hohen Flügelthüren der Säle waren geöffnet und eine Fluth von Licht strömte aus ihnen hervor. Seidene Schleppen rauschten, Sporen klirrten die breiten Stufen hinauf und hinab; Fächer wehten, Locken flatterten, und leise Worte flüsterten durch die von Blüthenduft und feinen Odeurs erfüllte Luft.

Im ersten Saale herrschte die Roulette.

Wie ein Tempel des Goldes erschien der hohe gewölbte, von weißen Marmorsäulen getragene Raum. Riesige vergoldete Gaskronen, die unzählige Flammen umspielten, erhellten ihn. Die blitzenden Lichter vervielfachten sich in den Spiegeln, welche die Wände bekleideten, bis in das Unermeßliche; sie funkelten aus den breiten Goldrahmen derselben und leuchteten auf dem gelben Seidenstoff, welcher die Draperien an den Fenstern und Thüren bildete und die schwellenden Polster der Causeusen, Chaise-longues und Fauteuils überzog, die zu kleinen Gruppen zwischen den Marmorsäulen zusammengestellt waren.

In der Mitte des glänzenden Raumes stand das Allerheiligste des modernen Götzentempels, der Roulettetisch, an dem die schwarz gekleideten Kroupiers mit eiserner Ruhe ihren Dienst verwalteten.

Um denselben hatte sich ein dichter Kreis gebildet. Frau von Nihiloff setzte in Gesellschaft einiger Französinnen mit der Ruhe routinirter Spieler ihre Louisd’or, Vera mit glühenden Wangen ihre Silberguldenstücke, die sie zu ihrer Unterhaltung bekommen hatte. Die reizende Gräfin Scultizka mit dem defekten rothseidenen Portemonnaie ließ sich herab, aus der Börse des Baron Pölz zu spielen. Und Mister Montagu hatte den Spleen, unablässig auf eine bestimmte Zahl zu setzen, die er mit seinen Goldstücken attakirte, obgleich die Rateaux der Kroupiers dieselben immer wieder einzogen.

Alles Licht aber schien sich zu koncentriren auf Leonoren’s Gestalt. Sie hatte den Hut abgenommen. Ihr Haar, das von Goldpuder überstreut schien, gleißte um die Wette mit dem Kleide von goldig schimmernder Seide.

Eine heiße Röthe lag auf ihren Wangen, ein erwartungsvolles Lächeln kräuselte die purpurrothen Lippen und ließ die Reihen feiner Zähne wie Perlenschnüre hervortreten.

Hinter ihr im Rahmen der weit geöffneten Pforte dämmerte die Sommernacht, vom ungewissen Mondlichte und den Gaskandelabern erhellt. Ueber dem Bette der Lora webte ein weißer Nebelstreif wie ein langer flatternder Schleier.

Als Heino zu Leonoren trat, strahlten ihre Augen auf wie die großen Sapphire ihres Schmuckes.

„Die Priesterin im modernen Tempel des Pluto, märchenhaft schön wie immer,“ hauchte er mit heißer Stimme in ihr Ohr.

„Und erscheine ich ihnen in dieser Gestalt verdammenswerth?“ fragte sie lächelnd, aber mit gespanntem Blick.

Seine trunkenen Augen tauchten selig in die ihren.

„O, die Schönheit verklärt Alles. Wenn sie in solcher Gestalt mir vorschwebte, ich würde ihr folgen, selbst in die Hölle.“

„Und wenn Sie beim Wort genommen würden?“ flüsterte Leonore in einem zitternden warmen Tone, der ihm das Blut zum Sieden brachte.

„Ich bin zu Allem bereit,“ lachte er ausgelassen „und beginne das Opfer im Tempel.“

Er setzte eine Anzahl von Goldstücken auf eine Nummer der Roulette.

Ein Ausdruck von verstecktem Triumph trat in ihre Züge.

Sie folgte ihm und setzte auf eine andere Nummer.

Es wurde todtenstill. Nur die Kugel rollte, und das Rauschen der Lora drang herein, als hielten beide eine geheimnißvolle Zwiesprache.

Dann zog der Kroupier Heino’s Goldstücke ein und ließ in unfehlbarem Wurf Leonoren eine Summe zufliegen.

Sie schob die ganze Summe auf eine andere Nummer.

Heino setzte abermals.

Er verlor wieder. Sie gewann.

Sie lachte leise, während ihre schöne von Brillanten funkelnde Hand mit den vor ihr aufgehäuften Goldstücken spielte wie ein Kind mit Rosen.

Heino leerte sein Portefeuille auf eine neue Nummer.

Ein dichter Kreis von Zuschauern hatte sich um sie gebildet.

„Sie spielen mit hohem Einsatz,“ krächzte Ravensburgk hinter Leonoren, welche abermals die gewonnene Summe auf eine andere Zahl schob.

„Ich riskire nichts,“ lachte sie übermüthig. „ich kann hier nicht verlieren, nicht gewinnen.“

„Das klingt ja verteufelt mysteriös,“ brummte Ravensburgk.

„Leonore!“ mahnte leise Frau Paloty, welche an der Seite in einem Fauteuil saß.

„Was hat es auch weiter auf sich, ein paar Hände voll Gold auf eine rollende Kugel zu setzen?“ scherzte Leonore. „Stehen wir nicht alle auf einer Kugel, die uns heute noch zu rosigem Licht erhebt, morgen vielleicht schon in schwarze Grabesnacht stürzt?“

Im nächsten Augenblick war der goldene Berg vor ihr wieder um das Doppelte gewachsen.

Heino’s hohen Satz hatte die Geldkrücke abermals eingezogen. Er nahm Ravensburgk vertraulich bei Seite. „Können Sie mir ein paar hundert Louisd’or leihen? ich erwarte in diesen Tagen eine Geldsendung von dem Inspektor meines Gutes."

Schweigend willfahrte dieser ihm. Aber dem Präsidenten flüsterte er zu: „Blachrieth verliert heute kolossal. Er hat die Besinnung ganz verloren. Geht das noch eine Weile so fort, dann kann morgen eine tüchtige Hypothek auf das Gut aufgenommen werden.“

Mit leisen Schritten war Frau Paloty zu ihrer Tochter getreten. „Wie kannst Du so unüberlegt handeln?“ flüsterte sie ihr zu.

Leonore schnippte mit den Fingerspitzen. „Ich wollte, ich könnte ihn ruiniren, um ihm dann Alles zurück zu geben.“

„Weißt Du so bestimmt, ob er es aus dieser Hand nimmt?“ fragte Frau Paloty.

Von der andern Seite ertönte der Unkenruf Ravensburgk’s: „Nehmen Sie sich in Acht! Allzuviel Glück im Spiel bedeutet Unglück in der Liebe.“

„Bah!“ lachte Leonore. „Meine erhabene Schutzpatronin Fortuna treibt keinen kleinlichen Schacher. Wem sie einmal hold ist, der ist gefeit gegen jede unheilspinnende Macht.“

„Fordern Sie das neidische Schicksal nicht heraus,“ mahnte der Präsident. „Nach alten Erfahrungen haben die dunklen Mächte keine Gewalt über Gefühle und Gedanken; aber das gesprochene Wort entfesselt die Tückischen.“

„Dem Falkneck kann es ja bange werden für seine Tantième bei ihrem Glück,“ bemerkte der ‚Sohn seiner Mutter‘.

„Wem?“ fuhr Leonore herum.

„Nun, dem sogenannten Faucon, dem Kroupier,“ antwortete Ravensburgk. „Da sitzt er ja vor ihrer schönen Nase: Der Herr mit dem schwarzen Henri quatre.“

„Die Falkenecks sind verschollen,“ widersprach Leonore schroff.

Ravensburgk sah sie erstaunt an. „Möchten sie es bleiben. Aber diesem Kerl ist bei seinem erbärmlichen Leben selbst das letzte Restchen Schamgefühl abhanden gekommen. Er giebt es zu, daß er der letzte Falkeneck ist.“

„Er giebt es zu?“ fragte Leonore wie geistesabwesend, indem ihre Augen mit zorniger Verachtung zu dem stattlichen Kroupier hinüber flogen.

Dieser hatte jedenfalls bemerkt, daß er der Gegenstand der Konversation war. Der Blick seiner schwarzen Augen begegnete dem ihren. Eine Sekunde lang kreuzten sie sich wie zwei blanke Klingen.

„Betrüger!“ zischte es von Leonoren’s Lippen leise und doch hörbar durch die Stille.

Die Lora rauschte auf. Frau Paloty schrak zusammen.

„Gehen wir, Leonore!“ sagte sie.

Verstört trat diese von der Roulette zurück. Mit dem Fächer schob sie ihren Gewinn, den ihr der stattliche Kroupier abermals zufliegen ließ, vom Tisch auf die Erde. „Pour le garçon!“ kam es von den zusammengepreßten Lippen.

Heino eilte schon fort, um den Wagen zu bestellen.

„Wohl bekomm’s, mein Poet, Du bist artig gerupft worden,“ murmelte Ravensburgk, als er Heino nachsah, der die Damen zu dem Wagen geleitete.

Auch er trat den Heimweg an.

Die Lichter in den Zimmern der Kurgäste waren bereits erloschen. Nur in Leonoren’s Boudoir schimmerte noch heller Schein.

Eine einzelne Gestalt wandelte vor den Fenstern auf und ab. Es war Blachrieth.

[350] „Sind wir so weit, daß wir in der Nacht als Patrouille die Wohnung unserer Schonen umkreisen?“ brummte Ravensburgk vor sich hin. Laut aber begann er mit krächzender Stimme zu trällern: „Er sieht nicht die Felsenriffe, er starrt nur hinauf in die Höh.“

„Können Sie auch nicht schlafen?“ fragte Heino in weichem Tone und drückte ihm trotz des abscheulichen Ohrenschmauses so warm die Hand, als ob sein Herz vor Freundschaft und Dankbarkeit überflösse.

„Lassen Sie uns eine Cigarre rauchen,“ rieth Ravensburgk mit gutmüthigem Spott. „Das ist ein bewährtes Beruhigungsmittel. Da drüben ist das Café Lakrony noch geöffnet.“

Er nahm mit Heino unter der Veranda Platz, bestellte Sodawasser und zündete eine Cigarre an. Den Versuch, Konversation zu machen, gab er auf. Heino hörte ihn nicht, sondern blickte mit träumerischen Augen nach Leonoren’s Licht, das jetzt ganz matt geworden war, als sei es im Verlöschen.

Kein Mensch ließ sich mehr sehen. Nur die Stimme der Lora murmelte, und der kühle Nachtwind flüsterte in den Akazien.

Auch Ravensburgk versank in Gedanken. Da saßen nun Zwei, von denen der Eine aus Mangel an Erfahrung im Begriff stand, seine soliden Verhältnisse aufzugeben und in ein abenteuerliches Treiben sich hinein ziehen zu lassen, und der Andere von der Sorge erfüllt war, daß sein Ueberfluß an Erfahrung zum Hinderniß werden möchte, in ein geordnetes Leben zurückzukehren.

Da schallte ein eiliger Schritt über den Platz.

Als der Nachtwandler in den Lichtkreis der Gaskandelaber kam, sahen die beiden späten Gäste, daß es ein junger schlanker Mann war, vom Kinn bis zu den zierlichen bespornten Stiefeln in einen weißen mit Schnüren und Quasten besetzten Mantel gewickelt, einen breiten weißen Filzhut tief in die Stirn gedrückt.

Als der Weißmantel an sie heran kam, stutzte er und wich aus dem Lichtkreis. Dann eilte er mit festem Tritt rasch vorüber.

„Blüht hier Heliotrop?“ fragte Heino, plötzlich auffahrend. Aber das Pfeifenkraut und der Teufelszwirn, welche die Veranda umrankten, zeigten sich unschuldig an dem Verdacht. Er legte die Hand über die Augen und versank wieder in seine Träume.

Ravensburgk’s Blick war dem späten Wanderer gefolgt. „Er geht in den Lora-Pavillon, wo der Bankier Dornheim wohnt. Vielleicht ein Kroupier. Gute Nacht, Blachrieth.“

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aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 21, S. 361–364

[361] Am andern Morgen erschien Ravensburgk frühzeitig am Brunnen. Er war mit außergewöhnlicher Sorgfalt gekleidet, trug eine Rose im Knopfloch und hatte die röthlichen Bartspitzen in zwei horizontale Linien gedreht. Die Badekapelle in ihrem mit vergoldeter Kuppel gedeckten Pavillon hob eben ein neues Musikstück an.

„Die Ouverture zum ‚Tannhäuser‘ von Richard Wagner,“ sagte achselzuckend Baron Pölz. „Warum spielen sie nicht ein Ballet aus ‚Wilhelm Tell?‘“

„Wie kann man von dem Revolutionär etwas aufführen?“ bemerkte Frau von Tromsdorf. „Fifi verabscheut Wagner.“

„Und diesen hirnverrückten Wirrwarr, der gegen die Gesetze des Generalbaß verstößt, nennt man Zukunftsmusik!“ schalt der Professor einer musikalischen Akademie.

„Ueberall zerbrochene Ketten,“ sprach Ravensburgk, aufmerksam zuhörend. „Wenn es wahr ist, daß in erleuchtete Geister die Zukunft ihr Bild vorauswirft, so stehen wir vor einer großen Wende der Zeit.“

Ein alter Intendant, der hauptsächlich Ausstattungsopern aufführte, schüttelte den Kopf. „Ich denke, das gesunde Urtheil unseres Publikums wird diesen mittelalterlichen Unsinn verwerfen.“

„Wenn es nicht eher die tanzenden Nonnengeister und mädchenanbeißenden Vampyre verwirft, um sich dem Tannhäuser zuzuwenden, der wie Ahasver, Don Juan und Faust die Jahrhunderte überdauert,“ entgegnete Ravensburgk. Und beklommen setzte er hinzu. „Zweifelhaft ist nur, ob sich immer eine Elisabeth findet, die Erbarmen mit dem armen Gestrandeten fühlt.“ Er ging grüßend weiter.

Während er scheinbar ziellos den Weg zum Lora-Ufer hinab schlenderte, überflog sein scharfer Blick den einsamen Pfad, der dasselbe entlang führte. Jetzt sah er durch die Blätter der Silberpappeln und Weiden ein rosenrothes Schirmchen schimmern.

Mit lautlosem Schritt trat er näher und stand neben Hedwig, welche an dem Geländer lehnte und den Wellen nachschaute, die in den Lora-Grund hinabrauschten. Sie seufzte tief.

„Warum seufzen Sie?“ fragte er mit seiner klanglosen Stimme.

Sie fuhr ein wenig zusammen. Dann antwortete sie aufrichtig: „Ich wollte, ich wäre daheim.“

„Man muß nicht zu viel auf einmal verlangen,“ verwies Ravensburgk mit halbem Ernst, während er mit ihr weiterging. „Der ist schon glücklich zu preisen, der überhaupt ein Daheim hat.“

„Ein Heim kann sich jeder Mensch gründen,“ entgegnete Hedwig, „wenn er [362] nur versteht mit den Verhältnissen zu rechnen, in die ihn das Schicksal gestellt hat.“

„Nein,“ widersprach Ravensburgk herbe, „nicht jeder vermag es.“ Und in leichterem Tone fuhr er fort: „Ich könnte Ihnen eine Geschichte erzählen von einem jungen Lieutenant, der weniger hatte als seine Gage, da dieselbe zum Theil dem Lieferanten seiner Uniform verpfändet war. Sein Vater lebte mit den jüngeren Kindern auf einem Gut, das unter Sequester stand und kaum mehr gab als das Dach, unter dem die Familie sich barg. Es ist zwar in derselben ein Hausschatz vorhanden, ein prächtiges Silbergeschirr, aber dieses ist, laut Testament eines Urgroßonkels, unveräußerlich. Nur wenn die Familie ein glänzendes Fest geben sollte, würde es aus den Kisten genommen und benutzt werden können. Es hat Tage gegeben, an denen den jungen Officier der wirkliche Besitz eines silbernen Tellers vor den Klauen gemeiner Wucherer gerettet hätte; es gab auch eine Zeit, wo ihn sein Antheil an dem Silberschatz zu einem glücklichen Mann machen konnte, der auch die Güter besitzen durfte, welche das Leben veredeln und verschönen. Aber das Testament bestand einmal, und ein Mensch, der nicht das Hemd auf dem Leib sein eigen nennt, wird von keinem vernünftigen Vater zum Schwiegersohn erwählt.“

Er wehte sich Kühlung mit dem Battisttuch zu, das wie Halskragen und Manchetten lila umsäumt war, und fuhr fort: „In diesem Fall war es nichts mit der Gründung eines traulichen Heims. Ja, wenn er so klug gewesen wäre wie seine jüngeren Brüder, die, ohne viel zu fragen, die Töchter aus der Spinnerei sich holten, welche von den Steinen der alten Ravensburgk erbaut worden war! Aber er hatte als der Aelteste noch die letzten Jahre seines Großvaters verschönt, der mit ihm jeden Tag vor der Frühstücksmilch seine sechzehn Ahnen rekapitulirte und einen Fehler dadurch bestrafte, daß er den kleinen Burschen mit dem Schürzchen ‚Er‘ nannte. Er war als Page am Hofe aufgewachsen, wo er mit zehn Jahren um seines alten Namens willen sich stets erkoren sah, den höchsten Damen die Schleppe zu tragen. Gefühle und Ansichten lassen sich nicht wechseln wie ein zu eng gewordenes Kleid. Wenn die, welche über den wüsten Ravensburgk den Stab brechen, wüßten, was er gelitten hat, ehe er so wüst wurde, sie würden vielleicht so milde urtheilen – wie Sie.“

Er hatte gelassen gesprochen, dazwischen mit der ihm eigenen süffisanten Art die Gräfin Scultizka gegrüßt, die in einer roth ausgeschlagenen Eselsequipage, das Gebetbuch in der Hand, den Rosenkranz um das Handgelenk geschlungen, zur Messe nach der Waldkapelle fuhr. Und doch schnitten seine Worte tief in Hedwig’s Herz.

„Aber das Schicksal hat zurückgegeben, was es Ihnen früher entzog,“ erwiderte sie in tröstendem Tone. „Längst ist die Sequestration ihres Gutes aufgehoben. Und Sie haben eine Stellung, die Ihren Neigungen entspricht.“

„Glauben Sie, daß es nicht zu spät ist, ein neues Leben zu beginnen?“ fragte Ravensburgk, und der Klang seiner Stimme konnte seine tiefe Bewegung nicht verleugnen.

Hedwig schwieg bestürzt. Es kam ihr eine Ahnung, daß sie vor eine Entscheidung gestellt werden sollte.

Mit mühsam beherrschtem Tone fuhr Ravensburgk fort: „Glauben Sie, daß ein edles weibliches Wesen sich noch der Mühe unterziehen würde, einem Mann wie ich bin die Hand zur Umkehr zu reichen? Glauben Sie, daß die vergötternde Liebe und Dankbarkeit eines viel verkannten Menschenherzens wieder Liebe erwecken könnte? Vom Mitleid zur Liebe soll ja nur ein kleiner Schritt sein für hochherzige Frauenseelen.“

„Würde Ihnen Mitleid genügen?“ fragte Hedwig, leise den Kopf schüttelnd.

„Wer weiß!“ entgegnete er fast demüthig.

In Hedwig’s Herzen stieg Georg’s Bild auf. Trotz der bitteren Enttäuschung, die er ihr durch sein launenhaftes Benehmen bereitet hatte, wirkte die Erinnerung an ihn wie eine Erlösung. Was würde er für grimmige Augen machen, wenn ihm Mitleid statt Liebe gezollt werden sollte! Sie wußte auf einmal, was das allein Rechte war.

„Nein,“ sagte sie mit weicher Stimme, in die ihre Theilnahme für Ravensburgk hinein klang, „Mitleid kann einem charaktervollen energischen Mann auf die Dauer nicht genügen. Es ist auch nicht das Gefühl, mit dem sich ein Heim gründen läßt. Tiefe Liebe deckt vielleicht auch den Schleier über eine dunkle Vergangenheit. Aber ohne dieses göttliche Gefühl würde für beide Theile nur Beschämung aus dieser Verwechselung der Gefühle entspringen.“

Es war, als hätte sein Fuß gestockt. Aber im nächsten Augenblick schritt er so leicht und elegant wie immer weiter. „Mit solchen hoch gespannten Ansichten vereinsamt man im Leben,“ sagte er endlich herbe.

„Das Schicksal fürchte ich nicht,“ antwortete Hedwig in sicherem Tone. „In dem Altenhaus auf Grundleben ist Niemand verlassen gestorben.“

Ravensburgk lachte unmuthig auf. „Es könnte Ihnen genügen, Ihr Leben lang nichts weiter zu thun, als zwischen den zwei Drachenköpfen der Dachtraufe am Altenhaus in die langweilige Ebene zu schauen?“

„Wer sechs Geschwister hat, von denen das jüngste noch im Laufstühlchen herum rennt, braucht keine Sorge um eine nützliche Beschaftigung zu tragen,“ entgegnete Hedwig warm; „und vor den Drachenköpfen fürchte ich mich nicht. Wohl aber,“ fügte sie leise hinzu, „vor dem Drachen der Lüge, der die Menschen verleitet, sich und Andere zu betrügen.“

Sie sah bittend zu ihm auf. Sein finsterer Blick verging vor den Thränen, die in ihren Augen standen, vor dem wehmüthigen resignirten Zug um den lieblichen Mund.

Er bot ihr die Hand mit einem Lächeln, das wie der Abglanz längst vergangener Jugend die düsteren Züge verschönte, und sagte mit einer Stimme, die tief aus dem Herzen kam: „Nun, Freunde bleiben wir auf jeden Fall!“

Während Hedwig diese Entscheidung traf, sprengte von der andern Seite Georg Aufdermauer nach Jungbrunnen hinein.

In den finster hingebrüteten Tagen und schlaflosen Nächten der letzten Zeit war ihm der Gedanke gekommen, die Neigung zwischen Hedwig und Heino sei eine Vetternliebe, die in der Kinderstube zu beginnen und mit dem Eintritt in das Leben zu enden pflegt. Die Beiden hatten sich ja gar nicht um einander gekümmert, als er mit ihnen zusammen gewesen war.

Er fühlte sein Gewissen als Freund nicht mehr belastet durch seinen Wunsch, das reizende Kousinchen Heino’s für sich zu gewinnen.

Und was vielleicht die alten Perückenstöcke, die Eltern, in ihrer aristokratischen Beschränktheit geplant hatten, darum brauchte sich ein vernünftiger Mann nicht zu kümmern, wenn es ihm gelang, diese Vorurtheile bei dem liebenswürdigen Mädchen durch seine persönlichen Vorzüge zu besiegen. Im Gegentheil! Das war eine gute That.

Er erinnerte sich mit Vergnügen ihres Erröthens bei seinem Anmarsch, ihrer Verwirrung, als er die Laufgräben gegen die Festung eröffnete; und von neuem Muth beseelt, beschloß er noch einmal einen Streifzug zu unternehmen, bevor er sich gänzlich aus dem Felde schlagen ließ.

Er kam zunächst als Entsatz für den Geheimen Medicinalrath, den Frau von Blachrieth seit einer Stunde blockirt hatte, um ihm alle Mängel und Tücken seiner Quelle zu klagen. Der würdige Herr benutzte Georg’s Ankunft zu seinem Rückzug, indem er ihr mit wichtiger Miene die Weisung gab, morgen einen Becher weniger zu trinken.

Auch Frau von Blachrieth wendete sich sichtbar beeifert dem neuen Ankömmling zu. „Gott sei Dank, daß Sie endlich einmal wieder sich sehen lassen, Herr Hauptmann. Ich hatte mir von Ihrer Freundschaft thätigeren Antheil an uns versprochen.“

„Die Heuernte hielt mich daheim fest,“ entgegnete Georg, mit gespanntem Blick den Kurplatz überfliegend. „Wo ist Ihr Fräulein Nichte? Ich möchte auch sie begrüßen.“

„Ach, lassen Sie doch Hedwig,“ antwortete Frau von Blachrieth verdrießlich. „Sie wird mit Ravensburgk promeniren, wie jetzt immer. Um sie bin ich nicht in Sorge. Aber Heino! Ich hatte so bestimmt darauf gerechnet, daß Sie ihn von dem ewigen Dichten abziehen würden.“

„Aber das ist doch einmal sein Metier,“ erwiderte Georg ungeduldig und spähte hinüber in die Promenade.

„Ich bin ja auch nicht gegen das Dichten,“ rief Frau von Blachrieth ganz verzweifelt; „aber der Stoff ist’s, der mich ängstigt, der Stoff!“

Ist das eine verdrehte Frau! dachte Georg wüthend. Laut sagte er: „Vom Stoff verstehe ich gar nichts und werde mich niemals in etwas mischen, was mir unklar ist. Ich bitte deßhalb gehorsamst, in dieser Angelegenheit nicht auf meine Dienste zählen zu wollen. Mein Kompliment, gnädige Frau.“ Er drehte sich um und marschirte ab.

Dort drüben unter den Kastanien hatte er sie entdeckt. Im Sturmschritt eilte er vorwärts.

[363] Er kam gerade an das letzte Boskett, um hinter demselben mit anzusehen, daß Ravensburgk Hedwig’s Hand innig drückte und so weich zu ihrem empor gerichteten Antlitz niederlächelte, wie er es dem spöttischen verlebten Mann gar nicht zugetraut hätte.

Er drehte sich abermals auf dem Absatz um und eilte mit langen Schritten davon. „Satteln! wir reiten nach Haus,“ befahl er seinem Reitknecht, der eben beschäftigt war, abzusatteln. Ein paar Minuten später sprengte er seinem Haus Aufdermauer wieder zu. Was half es ihm nun, daß seine Vermuthungen in Bezug auf das Verhältniß Hedwigs zu Heino richtig gewesen waren? Er hatte zu lange Zeit gebraucht, um darüber ins Klare zu kommen. Hedwig hatte sein Fortlaufen übelgenommen, Ravensburgk war täglich von früh bis spät mit ihr zusammen gewesen, und diese verwirrte Frau, die ihn aus seinem Himmel vertrieben hatte, fand sich nun ganz leicht in die anderweitige Verheirathung der Nichte. Er hätte mit dem Kopf gegen seine Weinterrassen rennen mögen.

Nach und nach kam ein düstrer Trotz in ihm zur Herrschaft. Nun, wenn sie so einen Jeden nimmt, kann ich mich auch trösten, murrte er, während sein Pferd langsam zu seinem Haus emporstieg.

Erst als Hedwig sich wieder vollständig gefaßt hatte, kehrte sie zu der Tante zurück. Sie wollte um Alles in der Welt nicht, daß diese eine Ahnung von dem Vorgang bekam und die Angelegenheit so lange von allen Seiten beleuchtete, bis man nicht mehr wußte, wie dieselbe eigentlich beschaffen war.

„Mein Gott, wo bleibst Du?“ klagte Frau von Blachrieth ganz aufgelöst. „Es wäre mir so erwünscht gewesen, wenn Heino mit seinem Freund den Abend verlebt hätte; aber es kümmerte sich Niemand um ihn.“

Hedwig wurde ganz blaß. „Der Hauptmann? Wo ist er denn?“ und ihre Blicke suchten in dem Menschengewimmel.

„Wie soll ich das wissen?“ erwiderte Frau von Blachrieth ärgerlich. „Wahrscheiulich ist er wieder fort.“

Hedwig spähte in alle Gänge.

Vergebens. Nirgends zeigte sich die hohe Gestalt. War der noch fernher klingende Hufschlag der Galopp des starken Eisenschimmels, den er zu reiten pflegte?

„Wir wollen nun auch gehen,“ fuhr Frau von Blachrieth verdrießlich fort. Dort kommen diese – wie heißen sie doch? Ich will nicht, daß sie sich mir vorstellen lassen, und mag auch Heino nicht in Verlegenheit bringen. Er braucht doch nun einmal ein Modell zu seiner Dichtung. Mein armer Sohn! Er ist übel dran, daß er in seiner nächsten Umgebung nur der alltäglichsten Prosa begegnet.“

Um das vergötterte Kind nicht anklagen zu müssen, verhehlte die alte Dame geflissentlich den wahren Grund ihrer Verstimmung: die Sorge, Heino könne eine Mesalliance eingehen, und rückte mit weiblicher Verschlagenheit die ganze Angelegenheit in ein anderes Licht, wobei noch ein versteckter Vorwurf Hedwig traf.

Diese ging, ohne den Angriff zu bemerken, mit zitternden Knieen nach Haus, sank in einen Fauteuil und schloß die Augen. Es wurde hohe Zeit, daß die Vergnügungsreise, welche die Tante ihr gütig angeboten hatte, zu Ende ging.

„Mein Gott, was fehlt Dir?“ rief Frau von Blachrieth und strich mit ihren nervösen Händen über Hedwige Gesicht.

„Nur ein paar Stunden Ruhe bedarf ich,“ sagte diese sanft, aber entschieden, und zog sich in ihr Zimmer zurück.

Frau von Blachrieth und Leonore waren wie Mond und Sonne. Die Erstere verschwand, wenn die Letztere erschien.

Heino spielte die Rolle des Morgensterns. Er geleitete das aufsteigende Tagesgestirn.

„So heiß es auch ist,“ sagte er, „es hilft nichts, ich muß heute nach Burg Falkeneck. Ich verschob den Ausflug immer wieder, um einen kühlen Tag abzuwarten; aber ich komme nicht vorwärts. Ich muß Anregung, Stimmung sammeln, unmittelbare Eindrücke haben. Ich fühle tief, wie der wirkliche Schauplatz der Ereignisse, wenn er auch in Trümmern liegt, auf meine Phantasie wirken muß. Der Blick auf Wald und Fluß herab wird immerhin ein ähnlicher sein wie der, den der sehnsüchtige Liebhaber, die nixenhafte Hausfrau genossen.“

„Nehmen Sie uns mit,“ bat Leonore. „Ich kenne jedes Winkelchen der Burg und könnte Ihnen eine zuverlässige Führerin sein.

„Welch ein entzückender Gedanke. gemeinsam mit Ihnen an dem Werk zu arbeiten!“ rief er.

Das angeschlagene Thema fluthete weiter.

„Eine Kahnfahrt nach Falkeneck,“ jubelten die Damen.

Heino widersprach entsetzt. Er sehnte sich, endlich einmal mit Leonoren allein zu sein.

Aber die allgemeine Begeisterung ließ sich keinen Damm entgegen setzen. Die Stunde der Abfahrt wurde verabredet.

„Herr von Ravensburgk, werden Sie auch von der Partie sein?“ rief Baron Pölz dem Vorüberschreitenden zu.

„Wohin?“ fragte dieser.

„Nach Falkeneck, Herr von Blachrieth sucht Inspirationen,“ lautete die Antwort.

„Wozu?“ fragte Ravensburgk.

„Zu meiner Dichtung,“ erwiderte Heino.

„Warum?“

„Wohin? Wozu? Warum?“ parodirte Leonore. „Bilden Sie sich zum Fragezeichen aus?“

Ravensburgk warf ihr einen nachlässigen Blick unter den tief gesenkten buschigen Brauen zu. „Nein; aus allem Fraglichen mache ich mir nichts.“

„Ich bin an einen Punkt gekommen, wo ich nicht weiter weiß,“ vermittelte Heino.

Ravensburgk’s Lippen umspielte ein leiser Hohn. „Dann würde ich die Sache abbrechen,“ entgegnete er scharf. „Uebrigens begreife ich nicht, was Sie noch hinzudichten wollen. Der Ritter Falkeneck zog, nachdem er erfahren hatte, daß er eine Mesalliance eingegangen war, zu einer Kreuz– und Bußfahrt aus, die Nixe versank. Damit ist die Sache ganz korrekt zu Ende geführt.“

„Vor diesem Schluß graut mir,“ wendete Heino ein. „Ich möchte eine glückliche Lösung für den Konflikt finden.“

Ravensburgk schüttelte den Kopf. „Alle Nixensagen nehmen ein trauriges Ende. Von den Sirenen will ich schweigen, da sie keine deutschen Gestalten sind. Aber Loreley lockt gleich ihnen die Männer mit süßem Gesang ins Verderben, Undine löst sich in einen Bach auf, Melusine kehrt unglücklich in ihr feuchtes Element zurück, und Ilse sitzt, von Heinrich dem Finkler verlassen, traurig in Vollmondnächten auf ihrem Stein. Ganz natürlich! Die Wassergeister stammten zwar von den alten Göttern ab; aber sie waren heruntergekommen, und wer einmal in den Pfuhl hinabgetaucht ist,“ fügte er mit ausbrechender Bitterkeit hinzu, „für den giebt es kein Emporkommen mehr.“ Dann schloß er in wegwerfendem Tone: „Wenn Sie die Sage durchaus anders als bisher beenden wollen, so lassen Sie die Wasserjungfer den Erlkönig heirathen. Dann bleibt das Gelichter unter sich.“




So glänzend und wechselnd die Bilder waren, die in Jungbrunnen sich aufrollten, so unscheinbar und gleichförmig verlief das Leben in Himmelgarten.

Die Schwestern zogen am frühen Morgen aus dem gemeinsamen Schlafsaal, wo die langen Reihen schmaler weißer Betten standen, in den Betsaal, dessen weiß getünchte Wände nur ein Bild des auferstehenden Heilandes schmückte. Das Lied, mit dem sie den Tag begannen, zählte ihnen die Pflichten auf, welche sie zu erfüllen hatten, und sagte ihnen, was eine ledige Schwester zu thun habe, wenn die Frage sie verunruhige, wozu sie in Zukunft berufen sein könne. Die schlichten Schlußverse lauteten:

„Dann überläßt sie sich dem Herrn
Als seine Magd in Allem gern
Und bleibt indeß auf ihren Stand
Gerad und aufrichtig gewandt.“

Und nun begaben sich Alle an ihr Geschäft im Haushalt, in den Schulstuben und den Zimmern fur Handarbeit. Geräuschlos vollbrachte Jede das ihr obliegende Werk. Sie hießen nicht umsonst „die Stillen im Lande“.

Vor ihrem altmodischen verschnörkelteu Schreibpult saß Schwester Jakobine und sah die Schaustücke durch, welche an sie, als Vorsteherin des Schwesternhauses, kamen.

Da verlangte eine Gemeine am Rhein eine Schwester, welche das Abhaspeln der Seidenkokons verstand. Aus Schlesien kam die Anfrage nach einer in der Oekonomie bewanderten, in Thüringen wurde eine Vorsteherin für den Kinderchor gesucht. Auch ein Brief des Missionars aus Grönland war dabei, welcher eine Lebensgefährtin begehrte, die „nach Jesu Ruf und Gnadenwahl bereit war, vereint mit ihm durchs Jammerthal zu wallen“.

[364] Gesammelten Geistes prüfte sie die Gaben der ihr anvertrauten Schäflein und machte danach ihre Vorschläge.

Aber es lag ein Zug von Sorge in ihrem Antlitz, der nichts gemein hatte mit den Entscheidungen, die zu treffen waren.

Was fehlte ihrem Neffen? Er wurde immer bleicher und stiller. Die Kur in Jungbrunnen hatte er aufgegeben und auf ihre Bitte, dorthin zurückzukehren, mit einem entschiedenen stummen Kopfschütteln geantwortet. Seine weiche Tenorstimme hatte so müde und traurig in der Betstunde geklungen, als er den Vers anstimmte: „Hüter, ist die Nacht nicht hin?“ Was konnte den jungen Bruder, dessen unsträfliches Leben klar vor Aller Augen lag, aus seinem Frieden gescheucht haben? Sie wußte keine Antwort.

Da griff sie nach ihrer Ziehbibel. Das Futteral aus geblümtem Papier, die vergilbten Blätter zeigten, wie lange und oft schon in Bedrängniß zitternde Hände Rath und Trost in ihr gesucht hatten.

Auch heute that sie treulich ihren Dienst. Wenn der Spruch, den Jakobine zog, auch keinen Aufschluß gab, so stellte er sie doch in seiner schlichten Erhabenheit auf den höchsten Standpunkt, unter den unmittelbaren Schutz des Herrn, daß Sorge und Kummer unter ihren Füßen lag, wie das Gewölk unter dem Gipfel des Berghauptes, das seine Stirn im klaren Aether badet.

Aber für jeden Menschen kommt einmal der Augenblick, in welchem selbst der erhabenste Berather ihm nicht mehr Beistand zu leisten vermag. Dann muß er für sich allein den Kampf in seiner Seele ausfechten, das Wort der Erlösung in sich finden.

Johannes wandelte heute ohne seinen Freund Thomas a Kempis nach dem waldigen Berge hinüber, auf welchem der verfallene Bergfried von Falkeneck emporragte.

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aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 22, S. 377–383

[377] Die hohen Ahornbäume und Buchen auf dem Wege nach Falkeneck schirmten Johannes vor der Sonnengluth; frische Waldesluft wehte ihn an, ein Moosteppich breitete sich weich über den Weg.

Die ganze Gegend war ein Himmelgarten gegen das Land, in dem er bis dahin seine Mission erfüllte. Und doch legte sich ein wehmüthiger Ausdruck auf sein Antlitz, als er dachte, daß ihn seine Glaubensbrüder zurückberufen hatten, damit er sich von den Prüfungen erhole, die ihm unter den wilden Völkern auferlegt worden waren. Sie hätten daran denken sollen: wohin der Mensch sich auch wenden mag, ein Kreuz ist überall für ihn gezimmert und wartet schon auf ihn. So tapfer er einst im Wüstensande vorwärts geschritten war, so müde wandelte er heute den wonnigen [378] Waldpfad; so freudig er einst am Marterpfahl dem Tod ins Auge schaute, so traurig sah er jetzt ins Leben hinein.

Er war auf dem Gipfel des Berges angekommen. Die Ruinen der Burg Falkeneck erhoben sich vor ihm.

Neben dem Burgthor stand eine breite Linde statt des Thorwartes, das Wappen lag zerbröckelt in blühenden Feldnelken; den geblendeten Falken überspannen braune Flechten. Hinter der tiefen Wölbung breitete sich der von hohem Gras überwachsene Hof aus, auf dessen höchstem Punkte der schlanke Bergfried sich erhob. Scharen von Thurmfalken umkreischten ihn.

Aus den Trümmern des Banketsaales, dessen leere zerbröckelnde Fenster gelb blühender Mauerpfeffer auspolsterte, schallten lachende Stimmen. Eine Gesellschaft mußte sich dort niedergelassen haben.

Johannes schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Er folgte dem Rande des Wallgrabens, der, wie eine vernarbte Erdwunde, von Thymian überwachsen, um die Burg sich zog, und schritt nach der halb zerfallenen Kapelle hinüber, die weit hinaus auf einem felsigen Vorsprung erbaut war.

Hier waltete Stille. Nur fernes leises Rauschen tönte aus dem Thale herauf. Es war die Stimme der Lora, die den Fuß des Berges umfloß als natürliche Schützerin der Burg.

Aus den schmalen Rundbogenfenstern waren die Schlußsteine gefallen, die dicken Wände geborsten, das Deckengewölbe war eingestürzt. An seiner Stelle spannte sich der Himmel über dem heiligen Raum aus.

Die Natur hatte von dem Gotteshaus Besitz ergriffen. Den morschen halb in die Erde vergrabenen Weihkessel füllten Regentropfen, in denen der Stieglitz sein buntes Gefieder badete. Aus dem Boden, der einst so heiße Thränen getrunken, als der Falkenecker hier gekniet und seine sündige Verbindung gebeichtet hatte, sproßten frische grüne Halme auf. Selbst die Gruft, in welche der Ritter endlich mit all seinem Leid sich zur Ruhe gelegt hatte, war gesprengt, die Platte, die sie für ewige Zeiten verschließen sollte, geborsten, und aus dem Spalt schaute die dunkle Krone eines Fliederstrauches heraus.

Johannes schritt die mit Moos überwachsenen halb eingesunkenen Stufen empor, die zu dem Altar führten. Dieser war zusammengebrochen. Ueber seinen Trümmern träumte eine hohe schlanke Birke ihren sonnigen Lebenstraum. Hier hatte vor grauen Jahren der Burgkaplan gestanden, der dem Ritter die Bußfahrt in das gelobte Land gebot. Auch jener Priester mußte einst allem Lebensglück entsagen. Aber sein Name war vergessen; er hatte an dieser Stätte gestanden im Namen des Herrn.

Und das Kreuz, dem er einst Lebensfreude, Namen, Willen geopfert hatte, erhob sich noch siegreich über den Verfall dort oben auf dem östlichen Giebel. Ein wilder Rosenstrauch hatte sich daneben angesiedelt und umflocht es mit seinen rosigen Blüthen.

So standen sie innig umschlungen: eines der Gebilde der Natur, deren träumerische Seele nur von unbewußter Daseinsfreude erfüllt ist, und das Svmbol dessen, der mit hehrem Geist den Gedanken faßte, sein Leben zu opfern um die Menschheit zu retten.

Und wie Johannes für die Rose die Zeit kommen sah, da sie, von der Hitze verdorrt, vom Sturm entwurzelt, welkte und verging, so sah er das Kreuz stehen durch die Jahrtausende und die Arme ausbreiten, so lange noch eine Sünde zu vergeben, eine Seele zu erlösen war.

Ein leises Rauschen in den Büschen des verwachsenen Einganges, Schritte, von dem langen Gras des Bodens gedämpft, kamen heran.

Johannes hörte die Stimme, welche zu vergessen er hier herauf gewandelt war, sagen: „Vielleicht finden wir in der Kapelle die Offenbarung, die wir suchen.“

Da stand sie im Thürbogen, die er nicht wieder sehen wollte, im lichtblauen Kleid, das blonde Haar lang nachwallend, eine Seerose an der Brust. Sie bemerkte den Bruder Johannes nicht. Ihr Antlitz war dem jungen Dichter zugewendet, der ihr folgte.

Der innige Blick aus seinen braunen Augen verschmolz mit dem ihren; er reichte ihr stützend die Hand, während sie über die zerbröckelten Stufen schritt. Wie sich die beiden feinen Hände in einander fügten, flog ein heißes Roth über die jungen schönen Gesichter.

Einen Augenblick blieb Johannes regungslos stehen. Dann trat er unter der Birke hervor.

Leonore schaute zu ihm auf. Ihr Fuß zauderte vor den Altarstufen. Aber als er mit mildem Ernst sie grüßte, sagte sie rasch: „Welch glückliche Fugung, daß wir Sie treffen! Vermag irgend ein Mensch das erlösende Wort zu finden, so sind Sie es. O sagen Sie: Wenn Sie an der Stelle des Priesters stünden, der einst hier den Richterspruch fällte, würden auch Sie dem Ritter ewige Trennung von der armen Lora auferlegen?“

Heino fühlte sich unangenehm berührt, daß einem Dritten die Aufgabe gestellt wurde, die zu lösen ihm allein zukam. Sein Gruß war kühl.

Johannes erwiderte ihn gelassen und wandte sich an Leonoren. „Wir können uns nicht mehr zurückdenken,“ sprach er, „in die Anschauungen einer finstren Zeit, welche das Wasser von verwünschten Geistern belebt wähnte, die vergeblich nach Erlösung schrieen. Aus jenen Ansichten ging der uu<rtheilsspruch des Priesters hervor.“

Um Heino’s Lippen spielte ein überlegenes Lächeln. „Der Dichter vermag es. Doch, um Fräulein Paloty’s Wunsch zu erfüllen: Nehmen Sie an, die Lora sei ein irdisches Weib gewesen, von dunkler fluchbeladener Herkunft, die sie verhehlte, um den Mann ihrer Liebe zu erringen. Wie würde sie diese Schuld abzubüßen vermögen?“

„Nennen Sie eine dunkle Herkunft eine Schuld?“ rief Leonore vorwurfsvoll. „War es nicht genug, daß die Lora Reichthum, Schönheit, ein treues Herz dem Ritter zubrachte?“

„Nicht die dunkle Herkunft war die Schuld der Lora, sondern der Betrug, den sie an dem Ritter von Falkeneck verübte,“ antwortete Johannes.

„Aber die Liebe soll Alles vergeben,“ entgegnete Leonore stürmisch.

„Die wahre Liebe würde auch vergeben haben,“ erwiderte Johannes. „Die Liebe des Ritters war jedoch zu schwach, um diese Prüfung zu bestehen.“

Heino lachte unmuthig auf. „Schwach? Er hatte die große Leidenschaft, die alle Schranken durchbricht.“

„Leidenschaft ist nicht Liebe,“ sagte Johannes.

„Vom kirchlichen Standpunkt aus allerdings nicht,“ entgegnete Heino. „Wir Dichter sind aber etwas Heiden geblieben. Wir empfangen am liebsten die Weihe von jenen heitren Gottheiten, die den seligen Rausch kennen, den die Liebe verhängt.“

Er war gereizt. Der Herrnhuter machte richtig die Sache nur noch verwickelter, indem er die Hauptschuld der Lora abnahm und auf den Ritter wälzte, und mit welcher unerschütterlichen Gelassenheit sich diese durchdringenden Augen in die seinen senkten, als wollten sie auf dem Grund seiner Seele lesen! Heino’s Brauen zogen sich nervös zusammen.

Mit dem Ahnungsvermögen der Liebe fühlte Leonore seine Verstimmung heraus. „Ich hatte so fest geglaubt, daß Sie helfen könnten,“ sagte sie niedergeschlagen zu Johannes.

Er wandte sich zu ihr. Und als er wieder denselben rathlosen Blick auf sich gerichtet sah, der von ihrem Begegnen in Himmelgarten her in seinem Gedächtniß haftete, wurde der Ausdruck des blassen Gesichtes unendlich mild, und er antwortete: „Ja, ein versöhnender Abschluß läßt sich finden. Denn auch die Leidenschaft kann geläutert werden zu der tiefen ewigen göttlichen Liebe, die in jeder Prüfung erstarkt, die über Wahnglauben und Vorurtheil der Zeit und der Menschen sich siegreich erhebt und die Kraft hat, ein geliebtes Wesen aus Nacht und Schuld zu sich emporzuziehen in lichte reine Regionen. Und ich glaube, es müßte eine herrliche Aufgabe für den Dichter sein, ein Lied von dieser Liebe zu singen.“

Die Worte hallten in der Kapelle wider, als gäben die alten Mauern gern den vertrauten Klang zurück.

Leonore neigte sich tief und ehrfurchtsvoll vor Johannes; aber ihre Lippen vermochten nur zitternd zu flüstern: „Ich danke Ihnen, o, ich danke Ihnen.“

Heino zog gemessen den Hut. „Ich bin Ihnen sehr verbunden für den Wink, wenn ich auch nicht weiß, ob ich der Dichtung diese Wendung gebeu kann.“

Auch Johannes nahm den Hut ab. „Möchten Sie die Kraft dazu finden,“ erwiderte er in dem ihm eigenen halblauten Ton, der so weit trug und doch immer gedämpft klang. Er ging ruhig an ihnen vorüber und verließ die Kapelle. Heute wie vor einem Jahrtausend hatte der Priester hier das letzte Wort gesprochen.

Leonore schritt durch den mit Trümmern bedeckten Burghof wie auf Wolken. „O,“ sprach sie, „nun muß Ihr Werk gelingen. Und wenn die arme Lora erlöst ist, dann wird sie mit ihrem goldenen Zauberstab die Burg in alter Herrlichkeit erstehen lassen. Statt der grünen Eberesche wird dort am Bergfried wieder die Fahne in den Farben der Falkenecks wehen, die das Blau des Himmels mit dem Gold der Erde vereint. Hier am Thorbogen wird das Wappen neu aufgerichtet werden. Aber der Falke soll, [379] von der Kappe befreit, mit hellem Auge in die Sonne schauen, wie es seine edle Art war in alter glücklicher Zeit.“

„Dazu ist wenig Aufsicht vorhanden,“ unterbrach Ravensburgk, der ihnen eilig entgegen kam, ihre begeisterte Rede. „Baron Pölz, der eben noch nachgekommen ist, erzählt, daß Falkeneck wahrscheinlich jetzt schon hinter Schloß und Riegel sitzt.“

Leonoren’s Fuß stockte. „Wer?“ fragte sie mit athemloser Stimme.

Niemand gab Antwort. Die ganze Gesellschaft drängte sich um Baron Pölz, welcher berichtete: „Es gab einen kleinen Auflauf in Jungbrunnen. Der Kroupier Faucon, den man als Herrn von Falkeneck bezeichnet, ist von dem Bankpächter maßlos heftig nach seinem Namen gefragt und, als er nicht gänzlich seine edle Abkunft verleugnen wollte, aus dem Dienst entlassen und ihm gedroht worden, daß er als Schwindler angezeigt werden solle. Da soll er ein Attentat auf Dornheim gemacht haben, mit einem Dolch auf ihn eingedrungen sein.“

„Ist Dornheim verwundet?“ fragte Frau Paloty, indem sie die Mamille fester um die fröstelnden Schultern zog.

„Unkraut verdirbt nicht,“ erwiderte Pölz. „Er ist heil davon gekommen.“

„Was ist Ihnen?“ fragte Heino erschreckt Leonoren, die leichenblaß war und nach einer Stütze griff.

Ihre Mutter trat ruhig zu ihr und flüsterte ihr zu: „Fasse Dich! Auch meine Kraft hat eine Grenze.“ Laut sprach sie dann: „Es ist nichts, Leonore hat zu heiß gebadet. Aber sie bedarf Ruhe. Herr von Pölz, darf ich Sie bitten, uns Ihren Wagen zu geben, damit wir rasch nach Jungbrunnen zurückfahren können? Sie nehmen dafür unsere Equipage, die noch nicht angespannt ist.“

Leonore saß zusammengesunken auf einem uralten Steinbänkchen, das vielleicht einst für Bettler auf dem Schloßhof aufgestellt worden war. Als Heino besorgt ihr den Arm bot, um sie nach dem Halteplatz der Wagen am letzten Aufstieg hinab zu führen, erhob sie sich wie träumend.

Warum war ihr, als sehe sie Heino nur wie aus weiter Ferne, als sie seinem Abschiedsgruß dankte?

Wenige Minuten später rollte der Wagen langsam den alten Burgweg hinab. Und jetzt sank auch Frau Paloty in sich zusammen.

Heino sah ihnen tief verstimmt nach, und es verbesserte seine Laune nicht, als ihn die Gräfin Schwuggensee mit einem fünfeckig gerathenen Eichenkranz krönen wollte.

Auch die übrige Gesellschaft fühlte sich unbehaglich. Der Präsident beklagte die auf dem unebenen Boden umgefallenen Weinflaschen; die Fräulein von Gokel waren in einen mit Nachtschatten überwachsenen, Keller gestürzt, und der ‚Sohn seiner Mutter‘ hatte sich beim Aufstieg zur Burg mit Shawls und Mänteln sämmtlicher Gräfinnen und Baronessen so überbürdet, daß er den ganzen Nachmittag sich nicht wieder erholen konnte.

Während man in allen Sprachen klagte, als solle der Thurmbau von Babel sich erneuern, mit Grashüpfern Krieg führte und ängstlich nach den drohend herabhängenden Giebeln und Zinnen empor lugte, versammelte Ravensburgk die Herren von altem Adel, welche sich in der Gesellschaft befanden, um sich.

„So wird denn also wirklich die Sache an die große Glocke geschlagen,“ sagte er. „Das widerwärtige Gerücht, das wie ein übel riechender Nebel hier herum zog, nimmt feste Gestalt an und verwandelt sich in ein Aktenstück. Der letzte Sprosse eines der ältesten edelsten Geschlechter sinkt bis zum professionsmäßigen Spieler herab und fällt nun auch noch der rücksichtslosen Justiz in die Hände. Wie wird die Presse diesen Fall einmal wieder ausbeuten. Wie wird der Bourgeois auf seiner Bierbank salbadern über das Sinken des alten Adels! Aber so weit dürfen wir es nicht kommen lassen. Ich wenigstens werde mich sofort nach Jungbrunnen begeben, um zu sehen, wie man den äußersten Skandal abwenden kann.“

Man stimmte ihm allseitig zu, und die Gesellschaft verließ in kleinen Gruppen den Burghof und stieg zum Halteplatz der Equipagen hinab.




In der Mittagsstunde des anderen Tages begab sich Ravensburgk im die Wohnung Dornheim’s.

Eine Anzahl Herren von Familie hatte sich auf seine Veranlassung entschlossen, für den heruntergekommenen Freiherrn von Falkeneck einzutreten.

Nach Ravensburgk’s Erkundigungen war eine gerichtliche Anzeige des Attentates noch nicht erfolgt. Es sollte nun ein Druck auf den Spielpächter ausgeübt werden, daß er keinen Strafantrag stellte, und man wollte eine Summe deponiren, mit welcher der sogenannte Faucon nach Amerika auswandern konnte. Ravensburgk war mit den Verhandlungen betraut worden.

Er traf den Banquier nicht zu Haus. Auf seine Frage, wann er denselben sprechen könne, rief der Portier einen Kammerdiener herbei.

Der alte weißhaarige Mann in tadellos schwarzer Kleidung berichtete mit leiser Stimme, daß sein Herr jeden Augenblick aus dem Bad zurückkommen könne, und als Ravensburgk den Wunsch aussprach, ihn zu erwarten, öffnete er demselben den Salon, rückte ihm einen Sessel zu und verschwand mit lautlosen Schritten.

Ravensburgk war ein wenig überrascht. Solche Kammerdiener gab es sonst nur in den vornehmsten Familien.

Auch der Salon mit seinen dunklen Draperieen, den in einfachem Stil gehaltenen Möbeln, zeigte nichts von der geschmacklosen Ueberladung, der Prahlerei eines Geldprotzen.

Sogar den Landschaften, die in nicht allzu reicher Zahl die Wände schmückten, lagen nur unscheinbare Motive zu Grunde: ein Stück altes Gemäuer mit einem Fliederbusch, ein trübes Wasserauge, von Weiden umstanden.

Und war das ein Altarschrein, der dort an der Hauptwand hing? Seine äußeren Wände waren aus Ebenholz gearbeitet und mit verschlungenen Arabesken verziert, welche durch eingeschlagene silberne Stifte gebildet wurden. Die Art der Arbeit gefiel Ravensburgk durch ihre anspruchslose Eleganz.

Einer der Stifte schien gelockert. Als er denselben aber mit leisem Drucke wieder in das Holz einzupassen versuchte, schlugen plötzlich die Flügelthüren auf.

Ein eigener halb pfeifender, halb zischender Laut drang durch Ravensburgk’s Zähne bei dem Anblick, der sich ihm bot.

War es möglich? Durfte er seinen Augen trauen?

Er trat einen Schritt zurück, er strich sich über Stirn und Augen – sie war und blieb es.

Das goldige Haar, die blauen strahlenden Augen, diese Gestalt, die an die zierliche Schlankheit des Rehes erinnerte, war nicht zu verkennen. und die Beschäftigung, bei welcher sie gemalt worden war, bekräftigte ihren Zusammenhang mit diesen Räumen.

Neben ihr auf einer vortrefflich dargestellten Marmorkonsole lag ein Spiel verstreuter Karten. Mit der einen Hand schien das schone Mädchen dieselben sorglos bei Seite zu schieben, die andere hielt statt der gern gewählten Blumen oder des gebräuchlichen Buches – das Coeur–Aß.

„Verdammtes Höllenkind!“ murmelte Ravensburgk zornig, „hast Du das arme Herz so fest in Deiner Hand? Gott sei ihm gnädig!“

Er drückte die Thür wieder zu. Aber noch ehe er die auf ihn einstürmenden Gedanken, die sich an diese Entdeckung knüpften, ordnen konnte, ließen sich leichte Schritte vernehmen.

Dornheim trat ein.

Zu jeder andern Zeit hätte Ravensburgk der vornehmen Haltung, der gelassenen Miene, der feinen Form, in welcher Dornheim ihn begrüßte, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber die Entdeckung, die er eben gemacht, hatte ihn vollständig seiner sonst unerschütterlichen Kaltblütigkeit beraubt.

Mit ungemessenem Hochmuth über den Spielpächter hinweg blickend, trug er sein Anliegen wie eine harte Forderung vor.

Als er ihm die zarten Standesgefühle des blauen Blutes auseinander setzte, wurde sein Blick durch eine Bewegung Dornheim’s auf diesen gezogen. Er blieb überrascht an ihm haften.

Dornheim hatte sich aufgerichtet. Wie ein Ebenbürtiger stand er ihm gegenüber. Und ebenbürtig war auch der Hochmuth, mit dem er jetzt aus den halbgeschlossenen Augen Ravensburgk ansah und erwiderte: „Mein Herr, ich verstehe und achte Ihre und Ihrer Standesgenossen Besorgniß, bedaure aber unendlich, sie nicht von Ihnen nehmen zu können. Der Angriff des Schwindlers auf meine Person ist gänzlich bedeutungslos, und die Auzeige, welche ich dem Gericht zu machen gedenke, wird desselben nicht erwähnen. Ich bin aber meiner Ehre, – ja wohl, meiner Ehre,“ betonte er und ein Blick von Stahl traf Ravensburgk, „schuldig, daß der wahre Name meines ehemaligen Kroupiers zu Tage kommt. Ich würde dem Grundsatz meines ganzen Lebens untreu werden, wollte [382] ich diesen Herrn Faucon schonen. Indessen sagen Sie doch Ihren hochgebornen Absendern, daß es ein wohlfeiles Mittel sei, den lästigen Standesgenosseu hilflos im fremden Lande auszusetzen, wo er nichts thun kann als am Wege sterben, und daß sie sich nicht wundern dürfen, wenn bei solchem eigensüchtigen Verfahren, das den Verlornen sich nur aus den Augen schaffen möchte, auch ihre verkommenen Angehörigen keine Rücksicht mehr auf Sie und Ihre Empfindungen nehmen.“

Mit eiskalter Verachtung in jedem Zuge seines Gesichtes erhob sich Ravensburgk. Ohne ein Wort zu erwidern, verabschiedete er sich von Dornheim in einer Weise, als wische er denselben mit einer Bewegung seiner röthlichen Augenwimpern von der Erde weg. Dann schritt er hinaus.

Zornroth wandelte er in die einsamen Anlagen am Fluß hinaus, wo ihm um diese Zeit Niemand begegnete. Er suchte seine Gedanken zu ordnen. Der Falkeneck’schen Affaire mußte man ihren Lauf lassen; da war nichts mehr zu thun.

Um so rascheres Handeln machte sich nöthig dieser Person gegenüber, über deren wahre Verhältnisse ihm eben ein so grelles Licht aufgegangen war. Die Paloty, mit der sie wie mit einer Dame der Gesellschaft verkehrt hatten, war die Geliebte des Spielpächters. O, sie hatte ihm auch als Lockvogel gedient. Der Abend fiel ihm ein, wo sie unter mysteriösen Reden mit Heino vereint gespielt hatte.

Vielleicht war der Spieler ihrer überdrüssig und wollte sie mit einem vornehmen Mann verheirathen – es gab ja solche Lumpe – oder sie hatte das abenteuernde Leben satt und streckte ihre dreisten Hände nach einer Freiherrnkrone aus.

Blachrieth mußte Alles erfahren. Aber es widerstrebte Ravensburgk, einen Kavalier wie ein Backfischchen zu warnen. Auch stand er ihm nicht so nah, um ihm ohne peinliche Verlegenheit diese beschämende Enthüllung zu machen.

So war er, in Gedanken und Ueberlegungen versunken, weiter und weiter gegangen und sah sich plötzlich im Lora-Grund.

Nun wollte ich doch, der Wunsch des guten Präsidenten hätte sich erfüllt, und es stünde eine Restauration da, dachte er. Ich habe verteufelten Hunger. Vielleicht ist bei dem Fährmann eine kleine Erfrischung zu bekommen, die ebenso gut ist wie die Kollation, die ich mit dem Prinzen August auf der Bärenjagd in Galizien eingenommen habe.

Er schritt nach dem Holzhäuschen hiuüber.

Aber wie das erstemal fand er statt des Knechtes den Herrn.

Am Landungsplatze saß auf einer Steinbank Georg, die Büchse neben sich gelehnt. In tiefe Gedanken versunken starrte er das Boot an, das sich vor ihm leise an seiner Kette schaukelte, während sein Hund, den Kopf auf das Knie seines Herrn gelegt, aufmerksam in dem düstren Antlitz desselben zu lesen suchte.

Ravensburgk athmete auf. „Sieh da!“ flüsterte er für sich, „der intime Freund Blachrieth’s, der Artilleriehauptmann a. D. Nun, den Herrn von der Bombe soll mir das Schicksal nicht umsonst in den Weg geführt haben. Er mag die Lunte anzünden; das gehört zu seinem Metier.“

Mit höflichem Gruß trat er zu Georg heran.

Fast entsetzt sprang dieser auf. Es war auch ein gar zu wunderbares Zusammentreffen. Eben hatte er in Gedanken alle Teufel aus der Hölle geflucht, daß sie ihm den alten Sünder, der ihm die erkorene Braut vor der Nase wegschnappte, einmal vor die Klinge bringen sollten, und sofort trat er zwischen den Kastanienbäumen hervor.

Ravensburgk fand sein Erschrecken zwar etwas zu nervös für solch einen Landbewohner und Kanonier, hielt sich aber nicht weiter damit auf, sondern drückte ihn auf die Bank zurück, nahm neben ihm Platz und theilte ihm in kurzen Worten die Lage der Dinge mit.

Georg hörte ihm mit steigender Bestürzung zu. Die Erinnerung an den Vorgang, den er von seinem Balkon aus am Morgen nach Leonoren’s Ankunft wahrgenommen hatte, erwachte und bestätigte das intime Verhältniß der Dame zu Dornheim. Er konnte sich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß die Situation eine ernste war.

„Wir sind es Blachrieth schuldig, ihm so schnell als möglich die Augen zu öffnen,“ schloß Ravensburgk. „Sie sind sein bester Freund. Wollen Sie mit ihm sprechen?“

Georg sah ihn finster an. „Nach Frau von Blachrieth’s Aeußerungen stehen Sie der Familie naher als ich.“

Ein Schatten lief über Ravensburgk’s Gesicht. Dann erwiderte er in gleichgültigem Tone: „Frau von Blachrieth ist eine etwas konfuse Dame. Hat sie das gesagt, so können Sie annehmen, daß ich in demselben Augenblick der Familie ferner denn je stand. Ich würde mir in dem Fall, daß Sie es nicht auf sich nehmen wollen, Blachrieth aufzuklären, selbst dazu schreiten. Aber ich glaube, es würde ihm später unangenehm sein, wenn ich dem Ausbruch seiner Gefühle beigewohnt hätte.“

Georg erhob sich. Er konnte diesen Freundschaftdienst nicht verweigern, so schwer er ihm auch fiel.

Aber er schwor sich zu: er wollte nun herausbringen, wie es kam, daß das reizende Mädchen bald mit dem Einen, bald mit dem Andern in Beziehung gebracht wurde, und warum sie mit Thränen in den Augen Händedrücke austauschte. Wenn sie keinen vernünftigen Grund dafür angeben konnte, dann mußte die Liebe zu ihr mit Stumpf und Stiel aus seinem Herzen ausgerottet werden. Diesen barbarischen Entschluß faßte er, während die Hoffnung in ihm wieder lustig empor wuchs.

Er lud Ravensburgk zu seinem Diner ein, was dieser annahm unter der Bedingung, daß Georg einer Einladung zu seinem morgen stattfindenden Abschiedsdejeuner folgen würde.

Nach Georg’s Zusage stiegen beide zum Haus Aufdermauer hinauf und rollten gegen Abend in Georg’s leichtem Wagen nach Jungbrunnen hinab.




In jener vertrauenden freudengewissen Stimmung, wie sie die letzte Stunde des Glückes so oft mit sich bringt, rief Heino seinem Freunde Gruß und Willkommen zu, als dieser in sein Zimmer trat.

Auf seinem Schreibtisch lagen Notizen zu dem Manuskript der Lora-Sage, angefangene Gesänge. Blumen mit bunten seidenen Bänderm zu Bouquets zusammengefügt, blühten neben seinen Büchern. Ein Krystallkrug, den der eingeschliffene Namenszug als Leonoren’s bisherigen Trinkbecher bezeichnete, stand halb gefüllt neben einer Flasche Rheinwein. – Alles deutete auf sie und auf den Kultus hin, der ihr hier errichtet worden war.

Und als Georg das Zimnter verließ, lagen die Blumen zertreten am Boden, das böhmische Glas in Scherben, und zusammengebrochen stützte Heino das todtenblasse Antlitz auf zerknitterte Papiere.

Die letzte Stunde des Glücks war vorüber.




Das Abschiedsfest, welches Ravensburgk dem ihm bekannten Herrenkreis gab, nahm einen wilderen Charakter an, als die Blasirtheit der Eingeladenen hätte vermuthen lassen.

Als die Zeit des Soupers kam, war die Gesellschaft noch beim Dejeuner. Es war scharf getrunken worden; das bezeugten die vielen leeren Flaschen auf dem Büffet, und noch immer wurden die schlanken Spitzgläser rasch geleert und auf den Wink des vollkommen kühl blickenden Gastgebers wieder gefüllt.

Man besprach die nächsten Pläne. Der Eine ging zu seiner Gesandtschaft nach Petersburg, der Andere zum Manöver, der Dritte zum Wettrennen, Dieser machte eine Hochzeitsreise nach Italien, Jener gedachte mit einer berühmten Tänzerin nach Paris auszufliegen. Pikante Anekdoten, Zweideutigkeiten, Toaste, Gläserklingen und lautes Gelächter wirbelten durch einander und bildeten einen wüsten Knäuel.

Die leichtfertigsten Worte, die wildesten Trinksprüche, das tollste Gelächter kamen aus Heino’s Munde und trieben Georg einen leisen Fluch, Ravensburgk ein Lächeln über die Lippen.

„Es ist Zeit, brechen wir auf,“ sagte Georg, der bei großer Mäßigkeit im Sprechen ungestraft im Trinken mit den Andern hatte Schritt halten können.

Aber sein Plan, Heino dem zügellosen Treiben zu entreißen, schlug fehl. Die Gesellschaft beendete zwar das Dejeuner, aber nur, um sich zu Lakrony zu verfügen.

Die Dämmerung war angebrochen, die Brunnenpromenade längst vorüber, die Kolonaden und der Kurgarten leer. Erhitzt, den Geruch des genossenen Weines ausathmend, in nachlässiger Toilette und mit dunkel glühenden Köpfen traten die Herren in den Salon der Konditorei, in welchem verschiedene Brunnengäste bei ihrem Thee oder einer Schale Eis die Zeitungen lasen.

Heino’s erster Blick traf auf Dornheim.

[383] Das Lachen, mit welchem er der Besorgniß in Georg’s Zügen antwortete, fiel diesem schwer aufs Herz. Heino setzte sich nur ein paar Schritte von Dornheim und wendete demselben das Gesicht zu, welches durch eine bleifarbene Blässe, das Zittern der Oberlippe, den unstät flackernden Blick der sonst so schönen Augen entstellt war. Er hatte sich Kognak geben lassen; aber seine Finger waren wie gelähmt, und er griff mehrmals fehl, ehe es ihm gelang, das Glas zu fassen.

Den Spielpächter unverwandt anstarrend, sagte er mit heiserer Stimme:

„Also man besteht darauf, alte edle Namen in den Schmutz zu treten! Es genügt nicht, die Träger auszusaugen, herabzuziehen. Nein, sie sollen auch öffentlich an den Pranger gestellt werden.“

Dornheim horchte auf. Seine Stirn färbte ein leises Roth. Aber nachdem er mit einem Blicke aus seinen halb geschlossenen Augen die berauschte Gesellschaft überflogen hatte, legte er ruhig seine Zeitung hin, trank ohne Hast seinen Thee aus und erhob sich, um zu gehen.

Als er an Heino vorüber schritt, rief dieser mit lauter Stimme den anderen Herren zu:

„Der Spielpächter hat noch abzurechnen mit seinem Kroupier im Kotillon.“

Dornheim war stehen geblieben.

„Da ist nichts mehr zu thun,“ murmelte Georg, die Arme kreuzend.


Mit fahlem Blick sah Heino an Dornheim vorüber, und laut, in schneidendem Tone rief er dem Baron Pölz zu:

„Sie waren falsch unterrichtet über diese Paloty. Sie ist nichts als die Coeurdame eines Kartenkonigs oder –Buben.“

Todtenstille trat ein.

Nur Dornheim war mit einem Schritt dicht vor ihn getreten. Seine Augen sprühten.

„Lügner!“ rauschte es über die schmalen Lippen.

Im nächsten Augenblick sauste Heino’s erhobener Stock nach Dornheim’s Gesicht.

Georg’s starke Faust hielt ihn auf.

„Sind das die Formen,“ rief er, von heißem Zorn überwallt, „in welchen man eine Ehrensache ausficht?“

Damit warf er das Heiuo entrungene Rohr bei Seite.

Heino wurde von seinen Bekannten umringt und aus der Konditorei hinaus gezogen.




Am andern Morgen herrschte eine schwüle und doch erregte Stimmung auf der Brunnenpromenade. Die Badegäste raunten sich geheimnißvoll zu; verstörte und schadenfrohe Gesichter schauten unter den grauen Filzhüten, hinter den duftigen Schleiern hervor.

Leonoren’s Name ging von Mund zu Mund.

Ahnungslos erschien sie.

Daß Heino gestern nicht zu sehen gewesen war, hatte sie sich mit dem Abschiedsfest Ravensburgk’s erklärt. Heiter wie immer folgen ihre Augen über die Gesellschaft.

Aber sie empfing nur kalte Grüße.

Die Damen von Gokel traten schnell an einen Verkaufstisch, als sie vorüber ging; sie hörte, daß sie das Wort. „Coeurdame“ murmelten.

Sie faßte Frau von Tromsdorf ins Auge, um sie zu grüßen. Diese wandte ihr den Rücken.

Der Bergrath Müller wandelte an der Seite der Kontesse Schwuggensee vorüber. Sie schien Luft für Beide zu sein.

Frau von Giera fehlte, ein Fall, der noch nicht dagewesen war.

Nur Mister Montagu stellte sich an der Seite auf, ließ sie vorüber passiren, indem er sie, den Mund weit offen, wie immer, mit dreisten Blicken musterte, und Baron Pölz lüftete mit einem zweideutigen Lächeln den Hut.

„Was bedeutet denn das?“ fragte Leonore bestürzt ihre Mutter.

Diese antwortete mit einem Achselzucken.

Leonore sah sich um. Sie musterte die in Gruppen lebhaft sich unterhaltende Gesellschaft, konnte aber die Lösung des Räthsels nicht finden.

„Was liegt denn nur heute Empörendes in den Zügen aller dieser Menschen?“ fragte sie sich. „Wo ist Heino? Wenn er doch käme, mich hielte. Mir ist, als sänke ich tief, tief hinab.“

Da öffnete sich plötzlich die Thür des Lora-Pavillons.

Ein alter Mann in der schwarzen Tracht eines Kammerdieners stürzte heraus; sein weißes Haar flog im Morgenwinde, als er auf sie zu eilte.

Die Befremdung, mit der sie ihm entgegen blickte, verschwand nach seinen ersten athemlos ihr zugeraunten Worten.

Sie stand wie vom Blitz getroffen und starrte ihn an, bis er seinen hastigen kurzen Bericht mit den Worten schloß:

„Vor zwanzig Minuten sind sie Alle in den Höllenschlund gefahren.“

Da hörte sie nicht mehr.

Sie flog durch die verwundert und mißbilligend vor ihr aus einander weichenden Menschen. Sie eilte nach dem Platze, wo die Droschken hielten. Mit raschem Blicke hatte sie die kräftigsten Pferde ausgewählt. Zwei Worte an den Kutscher. Sie stieg ein, und in vollem Galopp ging es dem Höllenschlund zu.

Sie stand im Wagen. Ihre Augen waren starr, gerade aus gerichtet. Wie ein Uhrwerk wiederholte ihr Mund das Wort:

„Schneller! schneller!“

Ihre Glieder bebten wie im Frost, trotz der warmen Sommerluft. Vor ihren Augen lag ein trüber Schleier, trotz der strahlenden Beleuchtung der Morgensonne.

Da jagten sie über die Kettenbrücke. Wie eine riesige graue Schlange wand sich der Nebel über der Lora hin, duckte sich zusammen und bäumte sich auf, wie die Schlange, die zum Sprunge ansetzt.

„Sei ruhig, Du kannst mich noch haben,“ murmelte Leonore mit klappernden Zähnen.

Da sausten sie in den Wald hinein, den sie mit Heino hoch zu Roß durchzogen hatte, in den er – und noch ein Anderer – jetzt vor ihr gefahren waren.

Ringsum glitzerten helle Thautropfen sie an, als bezeichne ein Thränenregen den Weg. Sie drückte die eiskalten Hände an ihre glühende Stirn, sie preßte sie auf das wild schlagende Herz.

„Vorwärts, schneller!“ keuchte sie wieder.

„Die Pferde stürzen, wenn sie noch mehr getrieben werden,“ widersetzte sich der Kutscher, ließ aber doch die Peitsche durch die Luft sausen.

Da tönte schon der Schrei des Raubvogels aus dem Höllenschlund heraus. Kreiste er über einem bereits Gefallenen?

Wie ein zähnefletschender Teufel stieg in ihrem schwindelnden Gehirn die Frage auf: Welchen von Beiden möchtest du preisgeben? Da ist sie am großen Scheideweg.

Seitwärts halten mehrere Wagen. Sie springt aus der Droschke und eilt im Fluge hinab in den Grund.

Da fällt ein Schuß.

Die Kniee brechen unter ihr. Aber sie rafft sich empor. Durch Gestrüpp und Sumpf drängt sie vorwärts. Die Dornen zerreißen ihr Kleid, ihre Hände; das Wasser des Sumpfbodens überfluthet ihre Füße, die, vom einbrechenden Moorboden festgehalten, nur mühsam weiter eilen können.

Jetzt ist die Lichtung des Waldes erreicht. Dort stehen die beiden Männer sich gegenüber. Heino hat die Pistole gehoben.

Der Andere schaut mit furchtlosem Blicke der Mündung der drohenden Waffe entgegen.

Sie will rufen. Die athemlose Brust versagt ihr den Laut.

Da – fällt ein zweiter Schuß. Der Ranch verfliegt.

Heino’s Arm sinkt mit der abgefeuerten Waffe.

Noch steht Dornheim. Im nächsten Augenblick aber wankt er. Seine Hand faßt nach der Seite. Mit einem unterdrückten Stöhnen sinkt er zusammen.

Sie stürzt zu ihm hin.

Aus ihrer athemlosen Brust reißt sich mit wildem Aufschrei ein einziges Wort, das wie der Schlag eines Hammers auf alle Herzen fällt: „Vater, mein Vater!“

Sie kniet neben ihm; sie will ihn aufrichten. Aber ihre Kraft ist erschöpft. Sie sinkt zusammen. Ihre Hände schlingen sich um seinen Hals, ihr Kopf gleitet an seine Brust, über das goldene Haar rieseln die Tropfen des entströmenden Blutes.

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aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 23, S. 394–398

[394] Der Arzt und der Chirurg eilten herzu und leisteten dem Verwundeten, der bewußtlos geworden war, Beistand.

Heino, der vorwärts stürmen wollte, wurde von Ravensburgk zurückgezogen.

„Genug der Kopflosigkeiten!“ zürnte dieser ihn an. „Die Tochter des Spielers ist für Sie so verloren, wie seine Geliebte es gewesen wäre. Jetzt gilt es, den Verstand zusammen zu nehmen.“

Heino hörte nicht. Er starrte entsetzt auf Vater und Tochter.

Leonore war aus ihrer Ohnmacht erwacht. Langsam kam ihr die Erinnerung wieder. Mit verwirrtem Haar, todtenbleichem Antlitz kniete sie neben dem Verwundeten.

Der Wind raschelte im dürren Rohr, das Wasser gurgelte, und der wilde Schrei eines Falken tönte aus der Luft herab.

Der Arzt hatte unterdessen seine Untersuchung beendet und erhob sich.

„Es ist zu hoffen, daß die Kugel keine edlen Theile verletzt hat,“ sagte er. „Aber die zarte Konstitution des Verwundeten, seine augenscheinlich schwache Lebenskraft stellen die Heilung in Frage und machen die größte Vorsicht nöthig. Es ist recht unangenehm, daß wir so weit von Jungbrunnen entfernt sind. Eine verrückte Idee, die Duelle in der Nähe einer Burgruine und einer Herrnhutergemeine auszufechten.“

„Unsere Gemeine ist bereit, jeden Hilflosen bei sich aufzunehmen,“ sagte eine Stimme.

Die fahlen Weiden theilten sich. Bruder Johannes trat aus ihnen hervor, noch athemlos vom raschen Gang. Der Hall der Schüsse hatte ihn auf seinem Morgenspaziergang erreicht und hergetrieben.

Leonore wandte sich zu ihm. Sie hob die gefalteten Hände zu ihm empor.

„Ja, Bruder Johannes, nehmen Sie uns auf. Und damit Sie kein Aergerniß in Ihrer Gemeinde erregen, wenn der Pächter der Spielbank dort einzieht, so sagen Sie ihr: der letzte Freiherr von Falkeneck bittet um ein Asyl auf dem ehemaligen Grund und Boden seiner Väter, bei der Brüdergemeine Himmelgarten. Als meine Legitimation wollen Sie einstweilen den Siegelring der Falkenecks gelten lassen. Das Wappen, welches in den Sapphir geschnitten ist, werden Sie als dasselbe erkennen, welches droben halb versunken am Thore liegt.“

Sie zog den Ring mit dem Sapphir von der Hand und bot ihn dem jungen Prediger dar.

Eine Todtenstille herrschte.

Bruder Johannes neigte sich; aber nicht vor Leonoren, nicht vor dem bewußtlosen Freiherrn. Seine Augen glitten über Alle hinweg nach dem fernen Stückchen blauen Himmel hinüber. Meinte er das Rauschen von Engelsfittichen zu vernehmen?

„Die Gemeine,“ antwortete er, „übt mit Freuden Samariterdienste, sei es am namenlosen Spieler oder am Freiherrn. Aber sie wird Gott für Seine Fügung preisen, daß Er ihr gestattet, den Dank für einst empfangene Wohlthaten dem Hause Falkeneck abtragen zu dürfen.“

Noch einmal wollte Heino auf Leonoren zustürzen, und diesmal hielt ihn Ravensburgk nicht davon ab. Der stand seitwärts gewendet, und seine geballte Faust zeigte, wie er mühselig gegen eine furchtbare Erschütterung rang.

Aber Leonoren’s Gestalt schnellte empor. Hoch aufgerichtet stand sie neben ihrem Vater. Ihre Hand hob sich wie zur Anklage gegen Heino, ein heißer Zorn flammte aus ihren Augen, ihre Lippen öffneten sich. Doch die Verwünschung, die auf ihnen zu schweben schien, blieb ungesprochen.

Johannes hatte das Antlitz ihr zugewendet. Sein Blick fiel ernst und mahnend auf sie herab.

Da sank der erhobene Arm, die zuckenden Lippen schlossen sich; ihr Haupt beugte sich demüthig.

Und ohne ein Wort zu sagen, trat der Priester mit einem leisen Schritt zwischen sie und die Welt.

Georg zog Heino mit sich zurück.

„Das Mädchen hat mehr Verstand als Du,“ sagte er streng, obwohl selbst in tiefster Seele erschüttert. „Ueber einen niedergeschossenen Vater hinweg drückt man sich nicht zärtlich die Hände.“

Er warf einen Blick auf den langsam zum Bewußtsein zurückkehrenden Falkeneck und sah dann nach seiner Uhr.

„Noch wissen wir nicht, welches Ende es mit Deinem Gegner nimmt, und so lässig sonst die Badepolizei in dergleichen Dingen zu verfahren pflegt, so muß sie bei dem Aufsehen, welches der ganze Vorfall erregt hat, schließlich doch Notiz davon nehmen. Mein Wagen steht Dir bis zur nächsten Eisenbahnstation zur Verfügung. Wenn Ihr die Pferde ordentlich auftreten laßt, kannst Du noch bequem den Kurierzug nach der Schweiz erreichen. Ich gebe Dir heute Abend nach Zürich, Hôtel Bauer au lac, telegraphisch Nachricht über Dornheim’s Befinden. Morgen folgt ebendahin ein Brief nach.“

Heino preßte die Hand stöhnend vor die Augen. Aber er ließ sich doch von Georg zu dessen Wagen ziehen.

Dieser nÖthigte ihm noch seine Brieftasche auf, versprach Leonoren nach Kräften beistehen zu wollen, gab seinem Kutscher die nöthigen Befehle und kommandirte dann energisch:

„Fort!“

Mit keinem Blicke beachtete Leonore Heino’s Entfernung. Stark und sanft half sie ihren Vater auf die Trage betten, welche der Arzt aus dem Badeorte mitgebracht hatte und die unterdessen von den Dienern zusammengeschraubt worden war. Zärtlich streichelte und küßte sie die schlaffe bleiche Hand des noch immer halb Bewußtlosen.

„Um meinetwillen bist Du dem Tode entgegen getreten,“ flüsterte sie unter heißen Thränen. „Um Deinem Kinde ein glückliches glänzendes Leben zu schaffen, ließest Du Dich von ihm verleugnen, trugst einsam die Schmach der verachteten Stellung. Und ich Verblendete nahm das ungeheure Opfer an. Ich habe es in dieser Stunde furchtbar bezahlt.“

Die Diener wurden herbeigerufen, um den Verwundeten nach dem nahen Himmelgarten zu schaffen.

Der kleine Zug setzte sich in Bewegung. Neben der Trage mit dem Verwundeten gingen Leonore und Johannes.

Der Arzt folgte.

Wie immer hatten die heiteren Götter der Heiden die Unglücklichen verlassen; der Gott der Christen war zu ihnen getreten.


Mit schwerem Herzen fuhr Georg in einem der harrenden Wagen nach Jungbrunnen zurück. Er mußte Frau von Blachrieth von dem Vorgefallenen in Kenntniß setzen. Als er in einiger Entfernung von der Wohnung ausstieg, meinte er Hedwig’s Kopf an einem der Fenster zu sehen. Sie trat ihm auch schon im Vorgarten entgegen und winkte ihn unter das Zeltdach.

„Es geht etwas vor,“ sprach sie rasch, indem sie ihn durchdringend anblickte. „Diese ganze Nacht ist ein Hin- und Hergehen im Hause gewesen; Heino hat seiner Mutter weder eine Gute Nacht, noch einen Morgengruß geboten. Nur mit der größten Mühe habe ich die Tante beruhigt und unter dem Vorwand, daß der Brunnen ihr bei der Aufregung schaden könnte, sie zu Hause gehalten; denn ich war überzeugt, daß ihrer unter den Badegästen eine Alteration harrte.“

Georg mußte ihrer Umsicht Beifall zollen. Dann erzählte er die Ereignisse der letzten Tage.

Hedwig wurde bleich. Thränen traten in ihre Augen.

„Das arme Mädchen!“ sagte sie leise im Tone tiefsten Mitgefühls. „Wie hat Heino es über das Herz bringen können, sie in der furchtbaren Stunde zu verlassen?“

„Aber sie wollte ja nichts mehr von ihm wissen,“ entschuldigte ihn Georg.

Hedwig schüttelte unwillig den Kopf.

„Das durfte ihn nicht abhalten, mit nach Himmelgarten zu gehen und der unglücklichen Familie beizustehen, damit Leonore wenigstens an seiner Reue sah, daß seine Liebe zu ihr echt gewesen ist.“

„Ich habe ihn auch mit fort gedrängt,“ bekannte Georg, dessen selbstgerechtes Wesen vor den klaren Augen des jungen Mädchens sichtlich abnahm.

[395] „Das thut mir um Ihretwillen leid,“ sagte Hedwig, „wenn auch Heino nicht dadurch freigesprochen wird. Ich habe früher besser von Ihnen gedacht und hätte nie geglaubt, daß Sie der Unbeständigkeit das Wort reden würden.“

Georg hatte sich geduldig abkanzeln lassen. Jetzt unterbrach er sie. „Eine Strafpredigt wegen Unbeständigkeit wollte ich Ihnen halten, gnädiges Fräulein. Denn jedes Mal, wenn ich nach Jungbrunnen kam, proklamirte Sie Ihre Frau Tante mit einem Anderen als Verlobte.“

Hedwig sah ihn überrascht an. Jetzt wurde ihr Alles klar.

„Ja, ja,“ sagte Georg, droheud in ihr Antlitz blickend, welches ein feines Roth überzog. „Erst war Heino der Glückliche.“

Hedwig schüttelte den Kopf.

„Alte Leute vergessen, wie man in der Jugend fühlt. Ebenso gut könnte ein Bruder seine Schwester heirathen.“

„Das zweite Mal war’s Ravensburgk,“ fuhr Georg inquisitorisch fort, „und mit dem drückten Sie sich recht ordentlich die Hände.“

Hedwig sah ihn ernst an.

„Um einen Schmerz zu mildern, den man einem Menschen zufügen muß, ist es nicht zu viel, wenn man ihm von Herzen die Hand schüttelt,“ sagte sie nachdrücklich, wandte sich um und schritt ihm voran in das Zimmer ihrer Tante.

Eine kurze Zeit darauf tönte ein Schrei. Die Klingel wurde gezogen; der Diener in die Apotheke, die Jungfer nach frischem Wasser geschickt.

Frau von Blachrieth war in allen Zuständen. Sie fiel in Ohnmacht, vergoß Thränenströme und bekam einen Sprechkrampf. Sie schalt über die leichtsinnige Spielerstochter, die darauf ausgegangen sei, alle Männer zu verführen; über Hedwig, die durch ihre Gleichgültigkeit Heino zu jener hingetrieben habe; über Georg, der um das Duell gewußt und es nicht vereitelt hätte. Sie beklagte sich, die an dem einzigen Kinde dieses entsetzliche Schicksal erleben müsse, ihren Bruder, dessen Wünsche in Bezug auf Hedwig nicht in Erfüllung gegangen seien, und vor Allem ihren Sohn. Heino mit seinem ehrlichen, nie eine Lüge ahnenden Sinn, seinem weichen Herzen das für alle Menschen schlug, seinem geraden Charakter, der sich immer geben mußte, wie er fühlte – er war der eigentliche Märtyrer, das Opferlamm, welches dieser Schwindlerin geschlachtet wurde.

Als sie endlich über das Aufsehen jammerte, welches dieser Vorfall erregen werde, den Schaden, den Heino’s Ruf als Dichter, Mann und Mensch dabei nehmen könne, verließ Georg mit den unmuthigen Worten das Zimmer:

„Aber gnädige Frau, Heino ist doch keine Dame.“

„Gott sei Dank, daß er geht,“ klagte die Trostlose; „er schreit, als kommandire er seine feuernde Batterie.“

„Gott sei Dank, daß er kommandieren kann,“ seufzte aus tiefster Brust Hedwig, indem sie ihm folgte.

Draußen bewährte Georg sein Talent für das Kommandiren. Er befahl, daß eingepackt werde, damit die Abreise der Frau von Blachrieth am nächsten Morgen vor sich gehen konnte, und sendete Heino’s Diener, mit dessen Gepäck, einigen beruhigenden Zeilen und allen Bedürfnissen für eine längere Reise versehen, nach Zürich.


Auch in der Paloty’schen Wohnung wurde eingepackt. Von ihren alten Bekannten ließ sich Niemand sehen. Selbst Frau von Giera ging am Lora-Flügel vorüber, indem sie das von der Freundin erhaltene kostbare mit Türkisen besetzte Schirmchen schützend gegen sie gerichtet hielt.

Die blasse Frau beachtete es nicht. Sie hatte nur Augen und Ohren für den Arzt, der in seinem Coupé aus Himmelgarten zurückkehrte und zuerst bei ihr vorfuhr; für den Geschäftsführer ihres Gemahls, der sich bei ihr melden ließ.

In gefaßter Haltung fuhr sie dann nach der Herrnhutergemeine hinaus.


Wie ein Schuß unter die Sperlinge war die Nachricht von den Vorgängen im Höllenschlund unter die Badegäste gefahren. Alles stiebte durch einander oder aus einander.

Große Reisewagen wurden aus den Remisen gezogen und bepackt. Die Damen der engeren Gesellschaft, welcher Leonore mit ihrer Mutter angehört hatte, fanden für besser, dem ungeheuren Skandal sich durch die Flucht zu entziehen.

Die drei Fräulein von Gokel schnürten ihr Bündelchen. Sie priesen die wunderbare Führung, daß das Ereigniß mit der gänzlichen Entleerung ihrer Kasse zusammen fiel und ihnen einen Vorwand bot, sofort abzureisen.

Frau von Tromsdorf folgte verdrießlich ihrem Beispiel. Sie kehrte abermals unverrichteter Dinge von einer Badereise zurück. Es war nicht Fifi’s specieller Fall, sich zu verloben.

Auch der nach Juchten duftende Reisewagen der Frau von Nihiloff fuhr, mit vier Pferden bespannt, vor.

„Mit dem Amüsement ist es für diese Saison vorbei,“ sagte sie. „Nitschewo![1] wir gehen nach Nizza.“

„Heino!“ rief der Papagei diesmal ungebeten, während er neben dem Heiligenschrein, der im Schlafzimmer gethront hatte, in den Reisewagen gesetzt wurde. Er machte Niemand mehr eine Freude damit.

„Fräulein Leonore!“ jammerte Vera, während sie hinein gehoben wurde. Mademoiselle legte ihr den Finger auf den Mund. Maman befahl die Abfahrt.

Mitten in die verstörte Gesellschaft trat am Abend während der Brunnenpromenade, schon im Reiseanzug Ravensburgk, wenn auch einen Schein bleicher als sonst, doch ruhig wie immer.

„Wozu der Lärm?“ sprach er mit Mephistopheles. „Es ist doch nichts Außergewöhnliches, daß der Sprößling eines alten Geschlechtes verschuldete Güter ererbt und diese Schuldenlast, den Traditionen seiner Familie gemaß, als flotter Officier in einem vornehmen Regiment noch erhöht, bis ihm die Wucherer die Kehle zuschnüren und er seinen Abschied nehmen muß. Das ungewöhnliche in dem Fall Falkeneck ist nur, daß er auch noch als professionsmäßiger Spieler sein Standesgefühl so rein erhielt. Was mag er, der um seines nicht ganz ehrenwerthen Metiers willen seinen Namen abgelegt hatte, gelitten haben, als dieser elende Faucon sich geheimnißvoll mit demselben schmückte! In dieser Angelegenheit hat sich Falkeneck ganz als Edelmann benommen. Und welche Selbstüberwindung hat es ihn wohl gekostet, sich von der einzigen geliebten Tochter freiwillig zu trennen, um es ihr zu ermöglichen, in die Kreise wieder zurückzukehren, denen er einst angehörte! Die Tochter muß die Liebe des Vaters ebenso warm erwidert haben. Denn um ihm nahe zu sein, sind die Damen in jedem Jahre zur Saison hierher gekommen. Ziehen wir das Resumé der Ereignisse, so können wir sagen: Wir haben mit einer Freiin von Falkeneck eine brillante Saisoa verlebt; und wenn auch dieselbe damit abschloß, daß zwei Herren von Familie um eines Mißverständnisses willen ein paar Kugeln mit einander wechselten, so hat das Duell doch glücklicher Weise keinen tödlichen Ausgang genommen.“

„Ein dunkler Punkt bleibt immer,“ sagte naserümpfend Frau von Giera, „Frau Paloty. Ich hatte immer das Gefühl, daß sie nicht zu uns gehörte. Und sie war mindestens sehr einfach.“ So sagte man damals anstatt beschränkt.

„Frau Paloty ist die Gemahlin des Freiherrn von Falkeneck,“ betonte Ravensburgk kategorisch. „Sie ist die schöne Tochter eines armen, aber nicht unbekannten böhmischen Komponisten, die er geheirathet hat, weil sie die Einzige war, die ihm treu blieb, als seine Standesgenossen, alle seine Freunde und Freundinnen ihn in der Noth verließen, wie das bei den Gesellschaftsratten von je zum guten Ton gehört hat. Sie hat ihren Familiennamen wieder angenommen, als ihr Gemahl wünschte, daß sie die Tochter in die Welt begleiten sollte. Sie ist keine bedeutende Frau; aber, meine Gnädigste, wir können nicht Alle bedeutend sein.“

„Wie mag es bei Blachrieth’s stehen?“ fragte der Präsident.

Ravensburgk’s Augen und Lippen schlossen sich einen Augenblick. Er wußte es ganz genau. Als er vorhin dort gewesen war, um seine Dienste anzubieten, hatte er den Hauptmann Aufdermauer als Höchstkommandirenden vorgefunden, und Hedwig war ihm mit rothen Wangen entgegen gekommen und hatte unter schüchtern bittenden Blicken versichert, daß Alles bestens geordnet sei.

„O,“ erwiderte er dem Präsidenten mit seinem spöttischen Lächeln, „da drüben herrscht jetzt vollständige Klarheit über alle Gefühle. Ich wünsche allerseits, daß das Bad gut bekommen möge.“

Nachdem er so der Gesellschaft vorgeschrieben hatte, wie der Vorgang aufzufassen war, und diese über die annehmbare [396] Formel aufathmete, warf er sich in den leichten, offenen Wagen und fuhr nach der nächsten Eisenbahnstation ab.

Mit überlegener Gründlichkeit winkte er Abschiedsgrüße. Aber als das Bad hinter ihm lag, drückte er den Hut tief in das finster gewordene Gesicht. Er mußte sich sagen, daß ihn diesmal sein Scharfsinn nach allen Seiten im Stich gelassen hatte.


Es war noch früh am andern Morgen, als der Reisewagen der Frau von Blachrieth von dannen rollte, der Eisebahnstation zu.

Der Hainberg lag noch in blauen Duft gehüllt. Aber um das braune Gestein der Weinberge zerflatterten schon die Nebelwölkchen, von der aufgehenden Sonne rosig angestrahlt. Die Lerchen stiegen singend empor, und aus dem Lora-Grund drang das eintönige Rauschen des Wassers.

Da hielt an einem Grenzsteine ein stattlicher Reiter. Die hohen Stiefel, der knapp zugeknöpfte Rock gaben ihm ein ritterliches Ansehen.

Hedwig fuhr aus der Ecke empor, in der sie träumerisch gelehnt hatte.

Georg grüßte lächelnd, erstattete kurz den günstigen Bericht über den Verwundeten, den er aus Himmelgarten erhalten und bereits nach Zürich telegraphiert hatte, und flüsterte Hedwig zu, daß sie auf seinem Grund und Boden sei und er ihr, wie sich für den Vasallen seiner Herrin gegenüber zieme, bis an die Grenze das Geleit geben werde.

Das führte er auch aus, ohne von Frau von Blachrieth etwas Anderes als ein roth geweintes Gesicht und eine halb leidende, halb beleidigte Verbeugung zu gewahren.

Als der Grenzstein erreicht war und Georg sich verabschiedet hatte, da schaute Hedwig noch lange zu ihm zurück, wie er, ihr nachblickend, die Hand an der Mütze, unter seinen dunklen Waldbäumen hielt, hoch und stolz wie diese.

Und sie mußte sich bezwingen, daß sie der Tante nicht jubelnd gestand, wie sie am Tage des Jammers beim Einpacken vieler zarter Häubchen dem Hauptmann Georg Aufdermauer die Erlaubniß gegeben hatte, bei ihrem Vater um ihre Hand zu werben.


Ein Jahr war verflossen, seitdem Georg als Fährmann Hedwig nach seinem Grund und Boden übergeholt hatte.

Ganz wie damals strahlte die Sonne goldig vom blauen Himmel und gleißte goldig aus den Wellen der Lora wieder, flüsterte der Wind in den alten Bäumen des Hainberges, duftete die Weinblüthe an dem Gelände.

Aber für Georg hatten sich die Zeiten geändert. Das dachte er mit warmer Freude, während er, die Büchse über die Schulter gehangen, begleitet von den Jagdhunden, dem Hause Aufdermauer zuschritt. Die Schwalben schossen pfeifend um das schwere, mit kräftiger Hauswurz besetzte Dach; gastlich rauschte der große Brunnen unter den alten Lindenbäumen ihm entgegen. Es war Alles, wie es bei einem echten deutschen Hause sein muß.

Georg’s Blicke flogen über die tiefen kleinen Fenster hin, die in der Abendsonne funkelten, aber aus keinem derselben schaute ein rosiges Gesichtchen, von keinem Erker wehte ihm ein weißes Tuch entgegen.

„Das Nest scheint leer zu sein; ist das Vögelchen ausgeflogen?“ sprach er für sich, indem er durch das niedrige offene Fenster des untersten Stockes in die kühlen Vorrathskammern blickte.

In diesem Augenblick wurde dieses durch eine Hand leise zugeschoben, daß sein Kopf nicht zurück konnte.

„In sein eigenes Haus geht man durch die Thür, nicht durch das Fenster,“ sagte eine helle neckende Stimme hinter ihm.

Von den Wirthschaftsgebäuden her war eine junge Frau ihm nachgeschlichen, ohne bemerkt zu werden, und hatte ihm den Streich gespielt.

„Warte, Schelm!“ rief Georg, vorsichtig den Kopf aus der Falle ziehend, während sein Hund zutraulich die braune Nase in Hedwig’s Hand schob und durch Schwänzeln zu erkennen gab, daß auch er den Scherz verstehe. „Warte, Du sollst Deiner Strafe nicht entgehen.“

Damit wollte er sie umfassen und küssen.

Sie aber trat abwehrend zurück.

„Das schickt sich ja gar nicht unter freiem Himmel,“ sagte sie lachend, „und überdies erwartet Dich Jemand.“

„Dürfte wahrhaftig vorderhand zu viel sein.“

„Aber, Georg, siehst Du denn nicht ein –“

„Ich sehe ein, daß ich an Dir genug habe, daß Du immer allerliebst warst und mit jedem Tage hübscher geworden bist.“

„Bin ich auch hübscher geworden?“ fragte eine klanglose tiefe Stimme, und ein eleganter Herr trat aus der Hausthür.

„Herr von Ravensburgk!“ rief Georg ganz verblüfft.

„Nennen Sie es immerhin einen Schwabenstreich, bei jungen Eheleuten ein paar Stunden einzukehren,“ sprach Ravensburgk ernster und weicher als sonst, „aber lassen Sie auch meine Entschuldigung zu. Auf dem Wege nach Baden-Baden mußte ich Jungbrunnen passiren und, dort angelangt, stürmten die Erinnerungen an die vorjährige Saison mit solcher Macht auf mich ein, daß ich der Versuchung, ihrer Frau Gemahlin mein Kompliment zu machen und noch einmal eingehend über die damaligen Ereignisse zu plaudern, wie jeder Versuchung Zeit meines Lebens – unterlag.“

„Sie sind herzlich willkommen,“ sagte Georg, „wenn Sie sich mit Wohnung, Küche und Keller des altmodischen Hauses Aufdermauer begnügen wollen. Auch mit der Stunde des Soupers müssen Sie sich nach der ländlichen Gewohnheit richten, welche das Feierabendläuten als Signal dazu festgesetzt hat. Wer mit Sonnenaufgang sein Tagewerk beginnt, muß es mit Sonnenuntergang schließen.“

Unter dem steinernen Laubengang wurde die Tafel gedeckt, mit Silbergeschirr besetzt, das des alten Hauses würdig war durch Größe und Schwere, und ein Mahl aufgetragen, welches zeigte, daß der Herr des Hauses auch regierte über die Thiere des Waldes, die Früchte des Feldes, die Vögel unter dem Himmel, die Fische im Wasser, und daß seine junge Frau nicht umsonst durch Küche und Milchkeller, Garten und Gewächshaus mit dem Schlüsselbund geklappert hatte.

Ein weicher Abendhauch strich durch den Bogengang. Die Baumwipfel des Hainberges drüben standen regungslos, als wären sie im Einschlummern.

Der letzte Sonnenschein ließ die Ruine Falkeneck in rothem Lichte erglühen. Allmählich verglomm es. Dunkel und öde erhoben sich die stolzen Trümmer. Fernher tönte durch die Stille der dumpfe Hall eines abbröckelnden Mauerstückes, und leise rauschte im Grunde die Lora.

„Nun, was ist denn aus der großen Verwirrung von damals hervorgegangen?“ fragte Ravensburgk. „Die Menschen pflegen sich ja doch nach jedem Zusammensturz ein neues Heiligthum, ein anderes Luftschloß oder abermals ein trauliches Nestchen zu zimmern. Sie haben verständigerweise das Nest gewählt. Nun möchte ich aber auch wissen, wie die Anderen ihr Leben wieder aufgebaut haben.“

Hedwig deutete hinüber, wo zwischen einem Einschnitt der Berge das Thürmchen des Bethauses von Himmelgarten sich in die blauen Schleier der Dämmerung hüllte.

„Dort ist die Stätte, wo Leonorens Heiligthum steht. Während ihr Vater unter ihrer treuen Pflege genas, wurde seine Beziehung zur Spielbank gelöst, die Betheiligung des letzten Falkeneck an derselben mit einer großartigen Stiftung für das Armenbad gesühnt. Als er dann geheilt war und die Aerzte ihm für den Winter einen Aufenthalt in Italien verordneten, da erklärte Leonore fest, daß sie nicht wieder in die Welt hinaus ziehen werde. Sie wolle bei denen bleiben, die ihr in ihrem tiefen Fall die Hand geboten hätten, und sich ein Heim unter ihnen zu erringen suchen. So ist das lange getrennte Ehepaar zusammen nach Italien abgereist, von da nach Wildbad und dann in die Schweiz gegangen, wo der Patient sich vollends erholen soll. Leonore aber lebte sich unter der Anleitung der Schwester Jakobine in der Gemeine ein. Wenn am nächsten 13. August die Erneuerung der Brüdergemeine gefeiert wird und neue Mitglieder aufgenommen werden, dann soll das Los auch entscheiden, ob das letzte Kind des Hauses Falkeneck sich hinfüro zu den Schwestern zählen darf.“

„Leonore in der Herrnhutergemeine!“ rief Ravensburgk lachend.

„Und warum nicht?“ entgegnete Hedwig sanft, aber ernst. „Im Augenblick, da Alles ihr zerbrach, fand sie dort eine Stütze, die nicht wankte. Heino liebte sie nur als die, welche er in ihr sah, nicht als die, welche sie war. Der Bruder Johannes aber [398] glaubte auch an den Götterfunken, in der Seele des gebrochenen Weltkindes und fachte ihn an zu einem neuen geläuterten Leben.“

Ravensburgk nickte.

„Der alte Kreuzritter hat schon eine Umkehr gehalten, der Stifter von Himmelgarten ebenfalls. So etwas liegt zuweilen in der Familie und erbt fort. Bei uns sind es die schönen Stimmen.“ Er lachte sein dumpfes tausendjähriges Gelächter. Dann fragte er: „Sehen Sie Fräulein von Falkeneck in Himmelgarten?“

„Gewiß,“ entgegnete Hedwig. „Die Schwester Leonore hat fleißig mitgearbeitet an den Möbelbeschlägen, die ich für den alten Familiensaal im Eckthurme habe im Schwesternhause sticken lassen, und ihr feiner Geschmack ist mir dabei sehr zu Statten gekommen. Auch hat sie den Musikunterricht im Kinderchor übernommen, da die bisherige Lehrerin nach Grönland abgegangen ist, um den dortigen Missionar zu heirathen. Und mit tiefer Bewegung habe ich sie im Betsaal beobachtet, wie ihre Augen schwärmerisch an dem jungen Prediger hingen, während er in seiner einfachen herzergreifenden Weise das Evangelium verkündigte. Wer weiß, ob sich nicht bald die rosa Bänder ihres Häubchens in blaue wandeln und sie mit ihm geht, wenn er wieder als Missionar hinaus zieht.“

Es dämmerte. Im alten Eckthurm stimmte ein Heimchen sein Lied an. Die Diener brachten Windlichter und Cigarren.

Ravensburgk blies einige blaue Wölkchen in die Abendluft. Dann fragte er weiter:

„Und wie hat Heino sich mit seinem Schicksal abgefunden?“

„Er lebt in tiefster Zurückgezogenheit auf seinem Gute, verhätschelt und angebetet von seiner Mutter,“ sagte Georg. „Er thut auch besser, er baut eine gute Kartoffel als ein schwaches Gedicht. Lieber Gott! Er wünschte sich ein Schicksal, damit sein Genius sich befreien könnte. Aber wenn nichts in der Nuß ist, kommt auch nichts heraus, wenn sie aufgeklopft wird.“

„Etwas ist doch herausgekommen,“ entgegnete Hedwig. „Aus seinen freilich tief niedergeschlagenen Briefen geht hervor, daß ihn die Erlebnisse des vorigen Jahres auf den Weg zur Selbsterkenntniß und Selbstbeschränkung geführt haben.“

„Seine Poesieen sind schnell aus der Mode gekommen,“ sprach Ravensburgk. „Dagegen macht jetzt ein Gedicht von einem gewissen Viktor Scheffel großes Aufsehen und erlebt Auflage über Auflage. Es heißt: Der Trompeter von Säkkingen.“

Hedwig zog ein kleines Notizbuch aus dem Schürzentäschchen und schrieb den Titel auf. „Das wollen wir uns verschreiben.“

„Und wissen Sie, der aus der Welt kommt, nichts Neues zu erzählen?“ fragte Georg.

„Nun,“ sagte Ravensburgk, „um mich zu revanchiren für Ihre interessanten Mittheilungen, will auch ich ein Geschichtchen zum Besten geben; aber nur im tiefsten Vertrauen. Unser Gesandter beim Bundestag, der sonst nur über Menus, Toiletten und Liebesintriguen zu berichten wußte, meldete es vor Kurzem ganz konsternirt. Der jetzige preußische Gesandte, ein Herr von Bismarck, macht sich sehr mausig in Frankfurt. Der österreichische Gesandte, Graf Thun, der ja natürlich etwas voraus hat, pflegt in den Sitzungen zu rauchen. Da zieht eines Tages dieser Herr von Bismarck eine Cigarre aus seinem Etui, zündet sie sans façon an und raucht mit dem Grafen Thun um die Wette.“

Georg hatte aufgehorcht, sich aufgerichtet. Einen Augenblick starrte er vor sich hin. Dann sprach er: „Ein Trompeter hat den süßlichen Singsang in Grund und Boden geblasen, der Bismarck dem Bundestag unter die Nase geraucht. Es kommt eine neue Zeit; ich wittre Morgenluft.“ Er winkte dem Diener zu. „Eine Flasche Auslese, Schwarzsiegel. Verstanden?“

Als die Flasche gebracht war, schenkte er feierlich drei Gläser voll, stand auf stramm, als stehe er seinem Kommandeur gegenüber, erhob das Glas und sprach mit einer Stimme, die den ganzen Lora-Grund zu füllen schien: „Auf daß ich noch einmal, und sei es auch als alter Landwehrmann, zu des Vaterlandes Ehre kommandiren darf: ,Feuer!‘“

Hedwig setzte erschrocken das Glas hin und sah ihn an.

„Ich glaube gar, Du fürchtest Dich!“ rief Georg. „Vorwärts! Angefaßt!“

Da raffte sich die junge Frau zusammen: „In Gottes Namen!“ Und sie stieß herzhaft an.

Ravensburgk hatte dem Vorgang mit seinem leisen skeptischen Lächeln zugeschaut. Nun stand er auf und knöpfte seinen Rock zu. „Die Luft weht kühl,“ sagte er. „Es wird Zeit für den alten Raben, daß er von dannen zieht.“

Er drückte Georg die Rechte, neigte sich tief über Hedwig’s dargebotene Hand und stieg gravitätisch in den vorgefahrenen Wagen.

„Schwager, ein lustiges Stück,“ rief er im Davonrollen. Und während der Wagen in der Nacht verschwand, schmetterte es hell in die Luft hinein: „Ich hab’ mein Sach auf Nichts gestellt! Hurrah!“

Georg und Hedwig saßen noch eine Weile vor dem alten Hause. Georg rauchte seine Cigarre aus, und sie sprachen von den Arbeiten des kommenden Tages.


  1. Das schadet nichts!