Die Gartenlaube (1897)/Heft 4
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Nr. 4. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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(3. Fortsetzung.)
Aenne wünschte nichts sehnlicher, als unbemerkt von der Mutter ihre Stube zu gewinnen, um sich zu fassen. Aber es gelang ihr nicht.
Die Frau Rätin, die eine kleine Meinungsverschiedenheit mit ihrem Manne gehabt hatte, saß mit hochrotem Kopf in der Küche beim Quittenschälen, und der Zorn über die verlorene Schlacht gegen den Eheherrn fand einen willkommenen Ableiter in Aennes langem Ausbleiben. „Sie soll nur kommen! Es ist zu toll, die eine Stunde des erlaubten Spazierengehens auf zwei auszudehnen. Alles muß man allein besorgen, keinerlei Hilfe hat man von dem großen Mädchen! Wozu ist sie denn da? Um der Mutter zu helfen doch selbstverständlich – statt dessen wird gebummelt mit Tante Emilie, die eigens für den Zweck erschaffen zu sein scheint, um die mütterliche Erziehung über den Haufen zu werfen!“
Frau Rätin erhob sich, legte das Messer in die Schüssel mit den zerschnittenen Quittenstückchen und riß die Thür nach dem Flur sperrangelweit auf, um die Ausbleiberin ja nicht zu übersehen. Sie zündete noch zum Ueberfluß die kleine Oellampe neben der Hausthür an, was sonst nur bei festlichen Gelegenheiten geschah. Kaum hatte sie wieder Platz genommen, als die Schelle ging und Aenne auf die Schwelle trat.
Wie eine Rakete schoß die gestrenge Mama aus der Küche. „Na, da sind wir ja!“ rief sie. „Es ist alles mögliche, daß du schon kommst! Nun bitte, mein Fräulein, bemühe dich hierher und hilf! Ich muß mich zu Tode plagen, und andere Leute bummeln!“ Aenne wäre an jedem anderen Tage der kleinen scheltenden und im innersten Herzen so guten Mutter um den Hals gefallen, hätte sie ausgelacht und allerlei Possen getrieben – heute, in ihrer furchtbaren Erregung, fühlte sie, wie ihr das heiße Blut zu Kopfe stieg, und zum erstenmal gab sie eine trotzige Antwort. „Du redest mit mir, als sei ich die Karoline, Mama! Ich werde doch wohl das Recht haben, ein Viertelstündchen länger zu bleiben, wenn das Wetter so schön ist.“ Damit holte sie ein Messer aus dem Kasten und begann mit zitternden Fingern bei der Arbeit zu helfen. Frau Rätin aber war es, als habe die Posaune des Jüngsten Gerichts geblasen – das war noch nicht dagewesen!
„Hör’ mal,“ keuchte sie, „weißt du auch, daß du – daß du den Respekt vergißt gegen deine Mutter? Nicht eine Minute länger hast du zu bleiben, als wir dir es erlauben! Weiß Gott, heute muß die Verrücktheit in der Luft liegen (sie dachte an den Herrn Rat dabei), aber ich will euch Raison beibringen, und vor allem dir, die – du – –“
[54] Der Aerger erstickte ihre Worte. Sie hatte ja keine Ahnung, die erzürnte Frau, wie schwer verwundet das junge Herz da vor ihr war, daß es vor allem der zartesten Pflege, der größten Schonung bedurfte, eine solche Seelenkennerin war diese Frau nicht, die nie einen Herzenskonflikt durchzumachen gehabt hatte und ganz behaglich zu erzählen pflegte, sie habe ihre erste Liebe geheiratet und auch sonst nichts Schweres erlebt als ein wenig kleine Alltagsnot.
Sie erstarrte daher fast, als das schöne Gesicht Aennes sich trotzig emporhob, und die zuckenden Lippen die bittern Worte sprachen. „Nun, du wirst ja nächstens keinen Aerger mehr über mich haben, Mama, ich gehe ja bald aus dem Hause.“
„Was sind das für Redensarten?“ rief die ergrimmte Frau, „was soll das bedeuten? Auf der Stelle komm’ mit zum Vater, daß er dir einmal klar macht, wie du dich gegen mich zu betragen hast, du undankbares Kind du!“
Aenne legte das Messer hin. „Das bedeutet, daß morgen“ sie machte eine Bewegung nach der Seite, wo des Oberförsters Haus lag – „der Günther kommen wird, er will mich heiraten.“ Mit diesen Worten ging die arme kleine Aenne stolz wie eine Königin aus der Küche und hinauf in ihre Stube.
Frau Rätin saß da mit offenem Munde. Freude darüber, daß ihr Lieblingswunsch sich erfüllen sollte, Reue über ihren Zorn, Verwunderung über des allzeit freundlichen Kindes schroffes Wesen wirbelten ihr im Kopfe. Sie wußte kaum, was sie that. Die Quittenschalen in ihrer Schürze rollten, als sie aufstand, zur Erde, sie achtete dessen nicht, sie lief über den Hausflur und fiel wie eine Bombe bei ihrem lesenden Mann ins Zimmer. „May, May, ich bitte dich, so hör’ doch nur, die Aenne – –“
Der Herr Rat, dem ebenfalls der eheliche Zwist noch in den Gliedern lag, schrie ein „Zum Donnerwetter, was giebt’s denn schon wieder?“ Er wurde aber nach der hervorgestammelten Erklärung ebenso still wie ein eben noch schreiendes Sechswochenkind, das die Flasche im Munde fühlt.
„Wirklich, Alte – wahrhaftig? Herrgott, das wäre ein Glück! Und sie will? Sie ist doch ein prächtiges, verständiges Mädel, die Aenne! Wo steckt sie denn? Sag’ doch, sie soll herkommen, sie soll erzählen, wie’s geschehen ist! Er lief durch die Stube und schrie in den Hausflur hinaus. „Aenne, Aennchen, komm’ herunter, Kind, in mein Zimmer!“
Aber niemand antwortete, und Frau Rätin sprach von erregten Nerven, von Erschütterung, und man wolle sie in Ruhe lassen. Nach einer halben Stunde werde sie hinaufgehen und die „kleine Braut“ – ihr ganzes Gesicht verklärte sich dabei – herunterholen.
In diesem Augenblick kam Tante Emilie nach Hause und wurde von dem freudestrahlenden Elternpaare in die Stube gezogen.
„Wer hat nun recht, Emilie?“ sagte triumphierend der Rat und schlug der Erstaunten auf die Schulter.
„Was ist denn geschehen?“
„Denk’ doch, die Aenne“, fiel die Rätin ein „du hast zwar immer den Kopf geschüttelt, wenn ich sagte, sie nimmt den Günther doch noch – und nun“
„Aenne – den Günther? Nein, das glaube ich nicht, ist nicht möglich!“ erklärte ganz blaß die alte Dame.
Der Rat lachte. „Eben hat sie es ihrer Mutter anvertraut.“
„Da steht mir der Verstand still,“ erklärte Tante Emilie.
„Na, weißt du, Schwester, mir ging’s auch beinahe so, und doch ist es Thatsache!“
Die Ungläubige aber verließ still das Zimmer und pochte oben an Aennes Stubenthür. „Aenne, mach’ auf, ich bin’s!“
„Komm’ nur herein!“ scholl es.
In dem winzigen Mädchenstübchen brannte die Stearinkerze im Messingleuchter auf der Kommode. Aenne stand davor und hielt ein geleertes Kästchen in der Hand im Ofen knisterte etwas, verwelkte Blumen und dergleichen.
„Aber, traut’stes Aennchen,“ fragte die alte ehrliche Seele, „was machst du für Sachen? Das ist doch ein schlechter Spaß!“
„Du meinst – meine Verlobung?“
„Mit – Günther?“
„Ja, freilich, so ist’s doch!“
„Erbarmen, Goldkindchen! Das ist ja, um auf die Akazien zu klettern!“ schrie sie außer sich, „du liebst ihn ja überhaupt gar nicht!“
„O!“ sagte Aenne, „das weißt du doch nicht, Tante.“
„Schrecklich ist’s! Eine ganz verschrobene Marjell bist du – du wirst kreuzunglücklich!“
„Aber, Tante, das weißt du doch ebenfalls nicht! Ich heirate, wie so manches Mädchen, weil einmal geheiratet werden muß. Ich bin doch auch nicht besser als die andern! Und was für Ansprüche soll ich denn machen?“
„Ja, wenn ich dich nicht so genau kennte, Kindchen –“
„Du kennst mich eben gar nicht so genau, Tante. Paß auf, wie gern du noch hinüber kommst in die Kinderstube, in der mein Leben von nun an verfließen wird, so drei, die brauchen Pflege! O, ich werde so viel zu thun haben, daß ich mich gar nicht mehr zu besinnen brauche auf etwas – sie machte eine Bewegung mit dem Arm „das weit hinter mir liegt. Na, und nun gratuliere mir, Tante, und sage den Eltern, heute möchten sie mich nur allein lassen und – ich wäre glücklich, wenn sie eine rechte Freude an der Geschichte hätten. – Gute Nacht, Tantchen! Und wenn’s Mama etwa gar das Herz abdrückt, so habe ich nichts dagegen, wenn sie herumschickt, den künftigen Schwiegersohn zum Punsch zu bitten; nur ich, ich möchte allein sein heute.“
„Ich werde mich hüten, das letztere zu bestellen,“ erklärte Tante Emilie, „ich will vielmehr den lieben Gott bitten, daß er dir bis morgen deine klare Vernunft wieder schenkt, denn ehe du den Günther nimmst, eher –“
„Tantchen, verschwör’ dich nicht – daran ist nichts mehr zu ändern!“ rief Aenne noch durch den Thürspalt. Dann schloß sie hinter der alten Frau, die langsam die Treppe hinunterging, die Thüre ab, drehte den Schlüssel zweimal herum und setzte sich mit finsteren Augen und untergeschlagenen Armen auf den Stuhl am Fußende des Bettes. Sie starrte zum Ofen hinüber, in dem die armseligen Reliquien ihres Liebestraumes verglimmten, und verfolgte jedes Fünkchen mit trotzigem Herzeleid und kam sich vor wie eine Heldin.
Einige Tage später stand Heinz Kerkow an dem Bette, auf dem seine tote Mutter lag. In der Hand zerknüllte er noch den Brief, den er soeben erhalten und nur flüchtig gelesen hatte, als die Schwester ihn mit besorgter Miene in das Krankenzimmer rief. „Heinz, komm’ doch, Mutter sieht plötzlich so verändert aus!“
Er war da gerade zurecht gekommen, um noch einmal die zwei treuesten Augen der Welt auf sich gerichtet zu sehen und die Hand zu erfassen, die bald so erstarrt in der seinen ruhen sollte. Nun lag die Schwester schluchzend auf den Knien vor dem Bette der Toten und er stand da und – fühlte nichts, gar nichts.
Ganz gedankenlos ballte er das Papier noch fester zusammen, eine Karte mit Goldschnitt, auf der zu lesen stand, daß Medizinalrat May und Frau sich die Ehre geben, die Verlobung ihrer Tochter Aenne mit dem herzoglichen Oberförster Herrn Hermann Günther ergebenst anzuzeigen – –
Was ging ihn das an? Er wandte sich plötzlich und verließ das Sterbezimmer, setzte sich in der Wohnstube auf das altmodische Kanapee und senkte die Stirn in die Hand. Die Schwester kam endlich zu ihm und erinnerte, daß er die Meldung des Todes der Mutter auf dem Standesamt persönlich zu erstatten habe, und es sei doch leider Gottes noch so mancherlei zu besorgen, das zu übernehmen sie ihn bitten müsse.
Er stand auf, zog die Uniform in die Taille und ging, das zerknüllte Papier blieb auf dem Fußboden liegen. Hedwig von Kerkow hob es auf und glättete es mechanisch – eine Verlobungsanzeige, und unten in der Ecke von Mädchenhand zierlich gekritzelt.
„Lieber Heinz! Sie sind mir zuvorgekommen, ich wollte Sie überraschen, nun waren Sie doch eiliger als ich. Ich gratuliere Ihnen hiermit herzlichst und wünsche, daß Sie ebenso glücklich sind im Besitz Ihrer lieben Braut wie ich in dem meines Bräutigams. Mit schönem Gruß Ihre alte Freundin Aenne.“
Hedwig Kerkow dachte ein Weilchen nach – sie hatte nie etwas von einem Wesen gehört, das Aenne hieß. – Sie ließ das Papier achtlos liegen und griff zum Taschentuch, um die wieder aufquellenden Thränen zu trocknen.
Dann kam Heinz zurück, und die Geschwister saßen beisammen in der dämmerigen Stube. Hin und wieder redeten sie [55] ein paar kurze Worte von der Verstorbenen und von der unglücklichen Schwester, und ob diese in ihrem Zustand wohl die Nachricht zu begreifen vermöge. Und wieder ward es still. Endlich sagte Hedwig. „Gottlob – Heinz, daß die Mutter deine Verlobung noch erfahren hat, es war der letzte Lichtstrahl für sie!“
Er nickte.
„Wird Toni zum Begräbnis kommen, Heinz?“
„Ich weiß nicht. – ich hoffe es nicht.“
„Du hoffst es nicht?“
„Ich meine, ich glaube es nicht, sie ist noch im Dienst und –“
„Aber zum Begräbnis wird Durchlaucht sie doch ohne weiteres beurlauben?“
„Ja, aber ob sie noch rechtzeitig hier sein kann –“
„Hast du ihr denn nicht telegraphiert?“
„Nein!“
„Aber warum denn nicht?“
Er blieb die Antwort schuldig, und dann kam die Totenfrau.
Er konnte seine Braut hier nicht sehen, er wollte nicht – nur wenigstens hier nicht Komödie spielen, im Angesicht des Todes! Toni hatte übrigens gar nicht daran gedacht, zu kommen. Sie schickte einen Kranz aus Palmen, weißen Rosen und Frauenhaar, vermeldete, daß die Herzogin warmen Anteil nehme und daß Tante Gruber ihr erzählt habe, wie liebenswürdig und gut die Verstorbene gewesen und wie schade es sei, daß sie dieselbe nicht noch kennengelernt habe. Dann ein Gruß an die Schwester.
Heinz hatte gedacht, der Brief würde etwas darüber enthalten, daß Hedwig dereinst eine Zufluchtsstätte in seinem Hause finden sollte, er hätte so gern dem armen Mädel diesen Hoffnungsstrahl für die Zukunft bei der Rückkehr vom Kirchhofe in das öde verlassene Zimmer gebracht – aber nichts davon! Und das als Antwort auf den Brief, in dem er Hedwigs Lage geschildert – – –“
„Was meinst du, Heinz, fragte am Abend die Schwester, „kann ich es wagen, die Wohnung zu behalten bei meinen unsicheren Einnahmen? Wenn ich gesund bleibe und alle meine Schülerinnen behalte, so dürfte es vielleicht langen, um die lieben Räume nicht verlassen zu müssen. – Es würde mir so schrecklich schwer werden, hier hinauszugehen, Heinz,“ fügte sie wie entschuldigend hinzu und sah ihn an mit den vom Weinen rotgeränderten bittenden Augen, als erwartete sie eine Aufmunterung von ihm.
„Freilich, Hede,“ antwortete er, „auf alle Fälle und selbst, wenn dir eine Schülerin absagt oder Krankheit dich hindert! Aengstige dich nur nicht, ich werde schon sorgen – auch für Ottilie – plage dich darum nicht –“
„Ach, Heinz, wenn ich dich nicht hätte!“ Sie ging hinüber zu ihm, legte den Kopf an seine Wange und begann wieder leise zu schluchzen.
„Kind, du nimmst es zu schwer. Tausend Mädel haben noch weniger als du, nicht einmal ein Talent, wie es dir so nett weiter hilft – denk’ mal, wenn du nun nicht maltest, wenn du, wie Ottilie, unter fremden – –“
„Wir sind aber auch gar nicht erzogen, um dergleichen schwierige Lage so mir nichts dir nichts zu überwinden!“ stieß sie hervor. „So herausgerissen aus dem glänzenden Leben, bei Papas Tode dann nichts haben, gar nichts! Ja freilich – ein Justizrat mit glänzender Praxis kann leben wie ein Fürst, und wenn er dann fort muß und hat nichts gespart – –“
„Hedwig, weine nicht! Wir haben kein Recht, dem Toten Vorwürfe zu machen, und, nebenbei, es hülfe ja auch nichts.“
„Ich will ja nichts mehr sagen, Heinz, nur leid thut es mir, daß Mama nicht noch dein Glück erleben konnte. – – Hattet ihr schon von der Hochzeit gesprochen?“
„Ja!“ antwortete er kurz.
„Und wann sollte – –?“
„Weihnachten.“
„Auch jetzt noch?“
„Ja – ja – ich glaube, Toni will es auf jeden Fall.“
„Ich finde es auch richtig, Heinz, und Mama würde es ebenfalls wünschen, daß die Trauer um sie nicht zwischen euch trete. Ihr lebt zudem recht still für euch in dem kleinen Breitenfels.“
„Wir werden zunächst reisen, nach Tonis Wunsch.“
„Ach!“ Sie sah ihn an mit stiller Bewunderung. „Wie herrlich!“ – Welch ein Glück hatte der Heinz! O, wer auch einmal an eine Reise hätte denken dürfen gar eine Reise mit dem einzigen, den man liebt!
„Wohl nach Italien?“ fragte sie leise.
„Ja, Kind, ich glaube nach Neapel.“
„O, Heinz, wie fallen Geschwisterlose doch verschieden! Ottilie – und du!“ flüsterte sie. Sie weinte von neuem.
Er hatte nicht verstanden. „Und dann – ja dann, dann will ich arbeiten, um zu vergessen, daß ich –“
Er hielt inne. Wozu sollte er der armen gequälten Schwester anvertrauen daß es ihn schrecklicher denn Bettelbrot zu essen dünkte, von dem Gelde seiner Frau zu leben, Hede würde ihn nicht einmal verstehen. „Ich meine arbeiten, um die Kriegsakademie zu erreichen, das ist alles, was ich wünsche!“
Heinz bezahlte am andern Morgen bar die Kosten des Begräbnisses, kleine Posten, die noch ausstanden, die erste Rate der Pension in der Irrenanstalt und übergab seiner vor Dankbarkeit ganz gerührten Schwester außerdem einen Hundertmarkschein für die nächste Vierteljahrsmiete. Angesichts der ganz leeren Kasse seiner alten Mama hatte er an einen Geldverleiher seiner Garnison geschrieben und umgehend die geforderte Summe erhalten, rückzahlbar nach seiner Verheiratung. Er konnte doch schließlich der alten Frau kein Armenbegräbnis zu teil werden, kannte seine Schwester nicht dem Nichts gegenüber lassen, er mußte borgen, es gab keinen Ausweg!
Dann traten sie noch einmal an das Grab der Verstorbenen und drückten sich feuchten Auges die Hand, und dann stand das arme Mädel allein auf dem Perron und sah dem Schnellzuge nach, der ihren Heinz entführte – dem Glück entgegen, wie sie meinte. Eine Unmasse Grüße und ein winziges von ihr gemaltes Täßchen mit dem Kerkowschen Wappen hatte sie der unbekannten Schwägerin durch ihn gesandt.
Es war dunkel, als Heinz auf der Station ankam, von der aus er zu Wagen nach Breitenfels fahren mußte. Ein paar Schneeflocken taumelten in der Luft und schneidend kalt wehte der Wind von den Bergen herüber. Eine wunderliche Stimmung überkam ihn heute abend, als er nach dem Platz ging, wo der Wagen ihn erwartete. Er dachte beständig an ein rosiges Antlitz unter dichtem blonden Haar, das ihm lieb und vertraut entgegen lächeln würde bei der Heimkehr von dieser traurigen Reise, zu ihm sagen würde: ‚Heinz, mein armer Heinz!‘ – Nun hatte sich dieser Mund schon gewöhnt, „Hermann“ zu sagen, hatte das Küssen gelernt von eines anderen Mannes Lippen und seine Besitzerin hatte ihm kurz und bündig mitgeteilt, daß sie besagten Hermann schon lange im Herzen trage, daß mithin ihr ganzes holdes Wesen, die Thränen, die sie geweint, ihr Lächeln – nur Lüge und Verstellung gewesen waren, von A bis Z. Er konnte sich also beruhigen ihretwegen! Nun ja, oder es that ihm weh, weil er das reizende frische Geschöpf schier närrisch lieb gehabt – gehabt, natürlich! Er sagte das letzte halblaut vor sich hin, indem er mechanisch nach dem Gefährt ausspähte. Dort stand zwar ein solches, aber es war ein Hofwagen und er hatte doch einen simplen Einspänner bestellt bei dem einzigen Wagenverleiher in Breitenfels – ein solcher war nicht da. Was in aller Welt mochte nur passiert sein?
Da kam der Diener, der am Schlag gewartet, ihm entgegen und nahm ihm respektvoll grüßend die Handtasche ab. Er ließ es verdutzt geschehen – sollte Toni ihm entgegengefahren sein?
„Ist der Wagen für mich?“
„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“
„Ist – ist er leer – ich meine, ist jemand gekommen?“
„Frau Baronin von Gruber.“
Er war mit ein paar großen Sprüngen an dem Schlag, den er hastig öffnete. „Du, Tante?“ rief er hinein. „Ja – was hat das zu bedeuten?“
„Steig nur ein, Heinz – eine Unterredung unter vier Augen, nichts weiter. Guten Abend, mein lieber Junge! Ich habe deiner viel gedacht, armes Kerlchen – gottlob, daß du das schwerste hinter dir hast!“
Der Bediente schloß die Thür des Coupées, sprang auf den Bock und der Wagen setzte sich in Bewegung.
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[57] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [58] „Na, Tante, dann schieß’ los,“ sagte er mit einem Anflug seines alten Humors, „was giebt’s?“
„Du wirst dich wundern, Heinz,“ klang die Stimme der Hofdame aus der Dunkelheit und ganz gepreßt zu ihm herüber. „Ich wollte dich vorbereiten, du hättest sonst eine allzu große Ueberraschung gehabt – es bereiten sich große Dinge vor –“
„Ist’s um Toni?“
„Ja und nein – also kurz gesagt. Ihre Durchlaucht ist untröstlich, Toni hergeben zu sollen; sie behauptet, Toni sei die einzige, die so deutlich und scharf accentuiere beim Vorlesen, daß sie jedes Wort, trotz der vorgeschrittenen Taubheit, verstehen könne, und da – –“ die Sprecherin machte eine Pause.
„Da wünscht Hochdieselbe, die Verlobung rückgängig gemacht zu sehen?“ fragte er und wunderte sich, daß es wie ein Aufatmen über ihn kam.
„I Gott bewahre! Wie kannst du nur bei der frommen gemütstiefen Fürstin einen solch sträflichen Egoismus voraussetzen? Nein, im Gegenteil, sie wünscht, daß ihr je eher je lieber heiratet, aber – daß ihr in ihrer Nähe, in Breitenfels bleibt.“
„Da wünscht eben Ihre Durchlaucht etwas Unmögliches,“ antwortete er trocken. „Oder – soll ich Kommandant von Breitenfels werden? Eine Charge, die ganz neu geschaffen werden müßte und – in Anbetracht des bedeutenden hier garnisonierenden Truppenteils – –“
„Laß doch den Spott, Heinz! Den Rock müßtest du natürlich ausziehen siehst du, aber, bitte – keine Ironie! Uns fehlt schon seit langer Zeit der Hofmarschall, der laut Bestimmung der Hofhaltung Ihrer Durchlaucht zukommt. Auf dem Papier ist er auch stets geführt, nur daß Excellenz die kleine unbedeutende Funktion neben seinem Kammerherrndienst noch übernommen hatte. Der gute Axleben ist nun aber so decrepit geworden, daß man ihm das wohl nicht länger zumuten kann, und so kam Ihre Durchlaucht auf die Idee –“
„Ihre Durchlaucht kam darauf?“
„Nun ja – das heißt, ich hatte vorher mit Toni darüber geredet.“
„Ach so!“
„Kurz und gut, Heinz, dein Glück wäre doch gemacht, wenn du zugreifen wolltest! Denke dir – den Titel Hofmarschall, eine Wohnung im Schloß, Equipage, alle Jahre so und so lange Urlaub. – Gott, das Gehalt ist ja so enorm nicht, aber immer noch besser als eine Lieutenantsgage!“
„Und meine Braut ist natürlich entzückt von der Idee!“ „Das kannst du doch denken! Durchlaucht hat ihr versprochen, jedes Jahr ein paar Wochen in der Residenz zu verleben, ihr begleitet sie natürlich, ihr könnt dort ein allerliebstes Haus machen. Ich habe Toni zugesagt, dir die Sache praktisch zu unterbreiten, und sie hofft, daß du ihr diesen ersten Wunsch erfüllen werdest. Heinz, ich will dir gestehen, wir sind so entzückt von diesem Plane, daß –“
„Ich bin gar nicht davon entzückt,“ unterbrach er sie schroff, „und denke nicht im entferntesten daran, meinen Dienst zu quittieren! Ich liebe meinen Beruf mit einem guten Teil ehrlicher Begeisterung, und nur der Notwendigkeit gehorchend, würde ich ihn verlassen haben, das heißt – du verstehst mich – wenn mir die Mittel, weiter zu dienen, eines Tages gefehlt hätten, es war ja nahe daran! Diese Notwendigkeit ist aber durch meine Verlobung mit Toni Ribbeneck geschwunden, so bleibe ich!“
„Du – du bleibst?“ Diese Worte voll maßlosesten Erstaunens trafen jetzt sein Ohr.
„Ich bleibe,“ wiederholte er, „und wenn meine Braut mich liebt, was ich ja eigentlich kaum zu hoffen wage, so geht sie mit mir dorthin, wohin mich mein Beruf führt.“
„Aber du rasest gegen dich selbst, mein lieber Heinz!“
„Mitnichten! Ich brauche frische frohe Arbeit so notwendig wie die Luft, die ich atme, ich passe den Teufel! zu solchem Beruf, ich bin ein Soldat und keine Hofschranze!“
„Herrgott – frische frohe Arbeit, sagst du! Die wirst du ausgiebig haben bei deinen Pirschgängen.“
„Die Befriedigung einer Passion ist keine Thätigkeit, wie man sie nötig hat für seine Gemütsruhe – ich möchte nicht leben ohne Pflichten.“
„Du hast doch deren in deiner Stellung!“ rief sie gereizt. „Welch pedantische Auffassung, Heinz!“
„Die Pflichten eines Hofmarschalls in Breitenfels,“ sagte er leise, „ausgezeichnet, Tante, und worin bestehen sie? Im Whistspielen, im Aufstellen der Gästelisten für eure illustren Theeabende und im Honneurmachen bei denselben. Nimm’s nicht übel, Tante, die Gräfin Arnstein sowohl wie die Frau Hofprediger gelangen auch, ohne daß ich ihnen meinen Arm am Eingang der fürstlichen Gemächer anbiete, zu dem Sessel der Durchlauchtigsten – eure Idee ist eine Kateridee!“
„Aber – wenn sich Toni darauf kapriziert, wenn sie –“
„Dann muß sie sich eben einen andern suchen, der mit ihr zugleich den Hofmarschall übernimmt,“ unterbrach er brüsk und hatte ein riesig erleichterndes Gefühl in sich. Er mußte es darauf ankommen lassen, duckte er sich in dieser Angelegenheit, so war seine Autorität ihr gegenüber für alle Zeiten untergraben! Sie durfte doch nicht denken, weil sie ein paar Kröten besaß, daß der Mann, den sie sich damit gekauft hatte, ihr Spielzeug sei? Lieber – das Schlimmste!
„Und wenn Toni,“ scholl es wieder aus der dunklen Ecke des Wagens, „wenn sie ihre Freiheit thatsächlich deiner Tyrannei und Engherzigkeit vorzieht, wie dann?“
„Liebe Tante, du scheinst überhört zu haben, was ich eben sagte.“
„Hast du das große Los gewonnen oder hinterließ deine Mutter unerwartet ein Vermögen?“ stieß die Baronin zitternd hervor.
„Keins von beiden, ich bin mir der jammervollen Lage meiner pekuniären Schwierigkeiten vollständig bewußt.“
„Nun, dann verstehe ich dich nicht.“ Und sie setzte sich so ostentativ zurück, als wollte sie sagen. Mache was du willst, mit dir ist nicht zu reden!
„Es thut mir bitter leid, Tante Christiane.“
„Ich ersuche dich, wenigstens heute abend nicht mehr die Sache zum Austrag zu bringen. gehe in dein Zimmer, ohne Toni zu begrüßen, und ich werde versuchen, dich glaubhaft bei ihr zu entschuldigen. Sie erwartet dich in meinem Salon zum Thee, und du hast wahrscheinlich Kopfweh oder dergleichen – sie muß es gelten lassen.“
„Ich habe keine Kopfschmerze und fürchte mich nicht vor Auseinandersetzungen – je eher, je besser!“
„Nun denn, meinetwegen!“ Die Baronin wickelte sich nach diesen Worten in ihren Pelz und würdigte ihren Neffen keines Wortes weiter. Der Wagen kroch langsam bergan, dann huschte der Schein der ersten Petroleumlaterne der Residenz durch die Fenster des Coupes und Heinz schaute hinaus. Oben angelangt, setzten sich die Pferde wieder in Trab. Der junge Offizier sah Licht schimmern durch die Läden des Mayschen Hauses, beim Oberförster war alles dunkel – natürlich saß er bei der Braut!
Heinz biß sich auf die Lippen, daß es schmerzte. Der hätte ebensogut eine Kindermagd heiraten können, weiter suchte er doch nichts, und diese reizende kluge süße Aenne vergräbt sich in solche Prosa! Und er, er sollte hier bleiben und das mit ansehen, wie der plumpe Gesell ihr den Staub von den Schmetterlingsflügeln streift und sie in eine häßliche Puppe zurückverwandelt, die dumpf hinleben muß in dem ewigen Einerlei seines mit Kindergeschrei erfüllten Hauses? Nie – nie!
Nun hielt der Wagen vor dem Eingang des Schlosses und die Baronin verließ, von Heinz unterstützt, das Gefährt. Mit einem sehr kühlen Kopfnicken verabschiedete sie denselben im Treppenhause des zweiten Stockes, und er stieg die dritte Treppe empor, um sein Zimmer aufzusuchen an dessen Schwelle ihn der Bursche empfing. Es war behaglich warm in dem riesenhaften, ziemlich schmucklose Raum, und auf dem Tische brodelte der kleine Alfenidkessel neben der Arrakflasche und dem Punschglas.
„Briefe gekommen?“
„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“
Er trat an den Tisch und betrachtete ein großes graues Couvert, das in ungelenken Schriftzügen seine Adresse trug. Es hatte ihn, dem Vermerk nach, zuerst in seiner Garnison gesucht und war dann hierher nachgesendet worden. Aus Berlin? Was mochte das sein? – „Ich danke, Scholze,“ sagte er dann, „ich gehe nachher noch zur Frau Baronin hinunter, mache den Waffenrock zurecht! Dann warf er sich in einen der mit grün und weiß gestreiftem Kattun bezogenen Fauteuils nahe der Lampe und erbrach das Schreiben.
[59] „Gnädigster Herr Leutnant!“ begann er mühsam zu entziffern. „Besinnen sich gnädigster Herr Leutnant noch auf die dicke Marien? Ich habe Ihnen doch so oft als kleinen Jung’ die Butterstullen gemacht zum Schulfrühstück und auch Bratäpfels in Winterabends in die Kochmaschine und haben Sie doch immer viel auf mir gehalten dazumal. Auch was die liebe gnädige verstorbene Frau Mama ist, hat mir immer so gern gehabt bis zu ihrem Ende, was nun doch so rasch gekommen ist.
Gnädiger Herr Leutnant, wir sind, mein Mann und ich, tief betrübt und es ist gewiß keine Unbescheidenheit, wenn ich in die Trauertage mit eine kleine Frage hervortrete, es ist man weil davon sehr viel abhängen thut für meinen Mann und mir, und weil wir doch fünf Kinder haben und August, was der Aelteste ist, Oktober in die Lehre kommen soll bei Schuster Finken in die Nollendorferstraße, wo seine Kundschaft ist. – Nun geht unser Grünkeller mit Bier und Butter jawoll ganz gut, aber die Zinsen von die gnädige Frau Rätin können wir doch nicht gut entbehren, indem daß dieselbigen nun schon anderthalb Jahre nicht bezahlt sind. Ich habe nicht gewagt, gnädige Frau von Kerkow dran zu erinnern, weil ich weiß, daß sie ihre alte unterthänigste Dienerin nicht vergißt, nu aberst jetzt, wo ihr der Tod so rasch genaht ist, möchte ich doch fragen, ob gnädige Frau vielleicht etwas hinterlassen hat über Rückzahlung der 1500 Mark, was unser Gespartes ist und die ausständigen Zinsen. Ich bitte Herrn Leutnant vielemal zu verzeihen und die Briefe, worin gnädige Frau uns bat, sie das Geld zu borgen lege ich mit bei im unterthänigsten Vertrauen und der Bitte, wenn’s möglich wäre und es Herrn Leutnant und dem gnädigen Fräulein keine Ungelegenheit macht, uns doch gütigst zurückzugeben indem wir es doch sehr nötig haben.
Marie Schulze geb. Artner.“
Ganz mechanisch nahm er den Brief seiner Mutter und entfaltete ihn:
In größter augenblicklicher Verlegenheit wende ich mich an Dich, treue Seele, und bitte Dich und Deinen Mann, mir fünfhundert Mark zu leihen zu fünf Prozent. Ich kann Dir nicht sagen – weshalb oder wozu, und verspreche, daß ich es pünktlich am nächsten ersten Januar wieder zurückzahle.
Bertha von Kerkow.
Dann noch ein Brief. Jetzt sind es tausend Mark, die die Mutter haben will und die ihr die treue Seele giebt, das ehemalige Dienstmädchen, das sich bei harter Arbeit groschen- und sechserweise das Sümmchen zusammengespart hat – –. Mein Gott, das hatte er doch nicht gedacht! Stand es denn so furchtbar mit der alten Frau Und wozu hatte sie denn –?
Er sah auf das Datum des letzten Briefes und eine jähe Blutwelle stieg ihm zu Kopfe. Ja, das war vor drei Jahren gewesen, als er Schulden halber – recht thörichte leichtsinnige Schulden, die einzigen, die er auf solche Weise gemacht! – sich an die Mutter wandte und sie bat, ihm jene mythenhaften fünfhundert Thaler zu schicken, die ihm zur Konfirmation ein Pate geschenkt hatte, und die ihm immer als starker Trost im Hintergrunde erschienen, wenn er einmal ein bißchen über die Stränge schlug. Na, schlimmsten Falles nehme ich die fünfhundert Thaler vom Onkel Heinrich, hatte er sich stets vorgeredet.
Ja, damals hatte er das Geld verlangt und auch bekommen, aber – es war längst nicht mehr dagewesen, in irgend einer Not hatte es die Mutter wohl verbraucht für sich und die Schwestern. Arme Mutter – was mochte sie gelitten haben! Sie hatte geborgt, geborgt von der ehemaligen Köchin!
Ja, die muß alles wieder erhalten – freilich – sofort! Er würde an Wolf schreiben und noch ’mal borgen; eine nette Summe, die da schon zusammengekommen ist – zahlbar nach der Heirat!! Er riß die Uniform auf und stürmte im Zimmer hin und her ein Zug von Ekel glitt über sein Gesicht. Was war aus ihm geworden! Einer, der Schulden macht auf das Geld seiner künftigen Frau, viel Schulden!
Ja freilich, er ist nicht der einzige, Hunderte giebt es, die thun’s kaltblütig, aber er, ach, er hatte doch noch Ideale gehabt!
Und dann will er noch heiraten und sich als den Gebieter aufspielen? Es darauf ankommen lassen, ob sie sich seinem Willen beugt oder nicht, er, der so mit Haut und Haar der Gnade ihres Geldbeutels verfallen ist. Lächerlich! Was soll er denn für ein Gesicht machen, wenn ihm nach der Hochzeit etwa, wenn man von der Reise zurückkommt – die Schuldscheine präsentiert werden! Als sogenannter Hofmarschall – jeder alte abgelebte Hofschranze könnte den Posten ausfüllen – war er doch vielleicht imstande, aus eigener Kraft abzuzahlen, als Offizier nie! Er lachte bitter auf. Na, denn zu! Es ist ja ganz gleich, als was man seine Sklavenketten schleppt, als Soldat oder als Beamter, verpfuscht war das Leben doch einmal!
Er trat nach wenigen Minuten bei seiner Tante ein, mit hartem Gesichtsausdruck. Toni Ribbeneck saß in einem der tiefen Fauteuils am Kaminofen und sah ihm fragend und neugierig entgegen. Frau von Gruber erhob sich und verließ das Zimmer. Sie mochte nicht anhören, wie er die Rolle des Gebieters spielte, „der dumme Junge“, wie sie ihn innerlich wütend nannte. Sie erhaschte nur noch den Anblick einer wenig zuvorkommenden Begrüßung seitens der Braut, die, von Frau von Gruber auf eine mögliche Enttäuschung hinsichtlich des Hofmarschalls vorbereitet, die Miene einer tyrannisierten Frau aufgesetzt hatte.
Um so erstaunter war sie, als nach zehn Minuten die junge Dame in das Zimmer kam, in das sie sich zurückgezogen hatte, und ihr mit triumphierender Miene sagte: „Aber, liebste Frau von Gruber, was redeten Sie denn. Er ist ja ganz einverstanden, wie ein Lamm ist mein guter Heinz! Er hat sich wahrscheinlich nur gesträubt, weil Sie als Tante ihm die Sache plausibel machen wollten. Sobald ich die Rede darauf brachte, erklärte er, sich meinen Wünschen fügen zu wollen.“
„Wahrscheinlich!“ stotterte die alte Dame ganz verblüfft. Und als sie gleich darauf vor ihm stand, der am Tische saß und gedankenlos in einem Album blätterte, sagte sie nicht ohne Aerger. „Es freut mich, Heinz, daß du Tonis Wunsch erfüllst.“
„Es ist ja doch schließlich ganz egal“, antwortete er, den Deckel zuklappend, und in dem Blick, mit dem er zu ihr aufsah, lag etwas so Trostloses, Müdes, daß sie erschrak.
„Du bist krank, Heinz, das Unglück zu Hause hat dich angegriffen, nicht wahr, Toni, wir entlassen ihn – du mußt dich ausruhen Heinz!“
„Aber nein,“ rief die junge Dame, „ich habe mich so gefreut auf heute abend! Wovon soll er denn müde sein. Nicht wahr, Heinz, du gehst noch nicht, wir plaudern noch. Bist du gar nicht neugierig, wo wir wohnen sollen. Hier im Schloß –“
„Ist das auch bereits bestimmt?“ unterbrach er sie scharf.
„Ja, natürlich! Durchlaucht ist zu reizend, zu rührend, als ob sie eine Tochter verheiratete, so lieb. Hier über uns, deine Zimmer gehören mit dazu, die Aussicht nach dem Platz und der Stadt!“
„Ach!“ machte er, und dann kam ihm zu Sinn, wie es nun doch so komme, daß er die Oberförsterei täglich vor Augen haben müsse, aber vielleicht gewöhnte er sich auch daran wie an alles andere Schwere, Trostlose. Und plötzlich fragte er wie aufatmend, daß doch noch ein Lichtstrahl bei der Sache für ihn sei: „Die Wohnung ist groß.“
„Denke dir – zehn Zimmer! Durchlaucht ist rührend,“ wiederholte Toni.
„Dann wird ja wohl eines dabei sein, in dem meine Schwester wohnen kann. Sie muß eine Heimat bei uns haben.“
Toni antwortete nicht, aber Frau von Gruber, in welcher der Familiensinn stark entwickelt war, nickte ihm zu „Das ist recht von dir, Heinz!“
„Aber wird Durchlaucht gestatten?“
„Durchlaucht wird gestatten“, sagte er laut und bestimmt. „Wenn sie sich den Luxus eines verheirateten Hofmarschalls gönnt, so muß sie auch dessen verwaiste Schwester dulden. Uebrigens, das lasse meine Sache sein, liebe Toni, ich selbst werde mit Durchlaucht darüber sprechen. Von dir setze ich voraus, daß du so menschlich und edel denkst, um einem armen Mädchen, das lange die Sonne nicht gesehen hat, ein paar warme Strahlen zu gönnen.“
„Gewiß!“ antwortete sie, aber ihre rosige Laune war verschwunden und man trennte sich ziemlich kühl.
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Wie unsere Bilder hier oben und S. 65 zeigen, giebt es zwei Methoden für das Eissegeln, die eine, bei der man als Schlittschuhläufer vermittelst eines Segels die Hilfe des Windes in Anspruch nimmt, die andere, bei welcher der regelmäßige Segelsport auf dem flüssigen Element auf die feste Eisdecke übertragen wird. Das Eissegeln des Schlittschuhläufers ist eine sehr hübsche Unterhaltung, aber als reinen Sport kann man es wohl nicht gelten lassen. Bei jedem eigentlichen Sport muß die persönliche Leistung genau kontrollierbar sein. Nun kann die Leistung allerdings auch hier genau gemessen werden, sie läßt sich aber nicht abschätzen im Vergleiche mit anderen. Denn die Hauptarbeit besorgt hier das Element, der Wind, und nicht der Läufer, und immer wird der die bessere Leistung aufzuweisen haben, der den stärkeren Rückenwind als Helfer gehabt hat. So kann man auch einen Schwimmerrecord nicht gelten lassen, der in fließendem Wasser erzielt worden ist, denn da entscheidet nicht mehr die Kraft des Schwimmers, sondern der Umstand, wie reißend eben die Strömung war.
Viel sportlicher ist da schon das Segeln mit dem Eisboot. Man könnte glauben, daß auch vom Segeln überhaupt das eben Gesagte gilt, da ja auch dort dem Winde eine sehr wichtige Rolle zugeteilt ist, aber das stimmt doch nicht ganz. Es giebt da von einfachen lateinischen Segel bis zu den komplizierten Zusammenstellungen ganzer Segelsysteme mancherlei Abstufungen, und es erfordert viel Sachkenntnis, Erfahrung, Gewandtheit und kaltes Blut, Geistesgegenwart und die Fähigkeit raschen Entschlusses und raschen Handelns, um die Herrschaft über sein Boot zu behaupten. Wer nun in diesen Erfordernissen besser seinen Mann stellt, der wird auch eine bessere Leistung aufweisen und somit sind da allerdings die Vorbedingungen für den sportlichen Wettbewerb gegeben. Natürlich muß man für die Eisboote gewaltige Flächen zur Verfügung haben. Der Sport ist in Deutschland vielfach eingebürgert, so recht zu Hause ist er aber in Canada, das überhaupt für den Wintersport vielfach tonangebend war. Ursprünglich bestanden die Segelboote aus einem Balkendreieck, das auf drei Kufen gestellt wurde. Die beiden vorderen Kufen waren fest und standen parallel zu der Achse des Fahrzeuges, während die dritte beweglich war und als Steuer diente. Inzwischen ist der Bau der Segeljachten vielfach verbessert worden. Unsre Illustration, Seite 65, stellt das neueste System derselben dar, welches zuerst auf den großen Flüssen und Seen Nordamerikas in Anwendung kam, jetzt aber schon häufig an Deutschlands Küsten und auf größeren Binnengewässern angetroffen wird. Dieselben sichern ein Fock- und Gaffelsegel. Am Heck, dem hinteren Teil des Fahrzeuges, befindet sich ein mit Boden versehener Platz, von wo aus das Steuer in halb liegender Stellung geführt wird. Die auf unsrer Illustration im Vordergrunde befindliche Jacht liegt hart am Winde und läuft daher nur auf der rechten vorderen und auf der beweglichen Steuerkufe.
Eine der primitivsten, aber auch der lustigsten Winterunterhaltungen ist die Hörnerschlittenfahrt. Man braucht nur einen solchen Schlitten und die beschneite Anhöhe dazu, dann setzt man sich auf und fährt in die Tiefe, daß es nur so eine Lust ist! Geht es schief, dann wird man in den weichen Schnee geworfen, und das ist nun gerade auch kein Unglück. Die liebe Jugend treibt überall dieses Wintervergnügen mit ganz besonderer Vorliebe. Wäre es nicht schon sehr lange erfunden, jeder rechte Junge müßte es für sich erfinden. Der Rutschberg ist etwas Unentbehrliches für die Jugend, und an vielen deutschen Schulen besteht die gute Sitte, einen künstlichen Rutschberg von beträchtlicher Höhe zu erbauen, wenn die Natur nicht ausgeholfen hat. Es heißt freilich nach jeder Thalfahrt, den Schlitten wieder hinaufschleppen aber es lohnt sich, die Sache ist zu lustig!
Der jüngste Wintersport in Deutschland ist der Schneeschuhlauf. So recht in Schwung gekommen ist die Sache erst seit einigen Jahren, aber sie hat sich schon weite Kreise erobert. [61] Vorläufig ist der Ski nur noch ein Sportmittel, aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Auch die Radfahrerei begann als Sport, warum sollte nicht auch sie sich aus dem Sportmittel ebenfalls zu einem Verkehrsmittel entwickeln. Ein „Genußmittel“ ist er jedenfalls jetzt schon, und es ist ein prachtvolles Vergnügen, auf den unförmlichen Schneeschuhen dahin zu fliegen. Freilich, Schnee muß es geben, sonst fühlt sich der Schneeschuhmensch wie der Fisch auf dem Trocknen, er ist furchtbar unbeholfen und förmlich wehrlos, aber gebt ihm sein Element, und er schießt dahin wie ein vom Bogen geschnellter Pfeil! Die Schneeschuhe sind zu uns aus Norwegen gekommen, wo sich die Bauern damit nicht nur eine Unterhaltung, sondern auch für ihr Land und für ihren Winter ein unentbehrliches Kommunikationsmittel geschaffen haben. Bei der Wahl der Schneeschuhe kommt es sehr auf die richtige Länge derselben an. Als einfache Norm bei der Auswahl gilt: so hoch einer mit gestreckt erhobenem Arm und gestreckten Fingern reichen kann, so lang hat der Schneeschuh zu sein, der ihm passen soll.
Am vergnüglichsten ist auch beim Skilauf die Thalfahrt, und die Sprünge, die thalwärts gemacht werden, haben schon eine ganz erstaunliche Spannweite gewonnen. Man erzählt von norwegischen Springern, daß sie bis zu dreißig Metern weit gesprungen seien von einer Höhe herunter, die etwa der eines dreistockhohen Hauses entsprechen würde. Wir halten das nicht für „Ski-Latein“, der kolossale Schuß, die günstigen Terrainverhältnisse und die weiche Schneedecke lassen auch diese Angaben als vollkommen glaubwürdig erscheinen, zumal auch schon auf deutschem Boden Leistungen vollbracht worden sind, die nicht allzuweit zurückstehen hinter den erwähnten.
Alle diese Unterhaltungen sollte man der Jugend nicht wehren, sie ihr vielmehr nach Thunlichkeit leicht zugänglich machen! Dabei ist es ja beinahe überflüssig, zu sagen, daß das Uebermaß schadet. Das ist selbstverständlich, und es schadet überall. Die Schule verlangt heutzutage viel von unserer Jugend, und da muß durch Spiele im Freien auch dem Körper sein Recht werden. Was ein rechter Junge ist, hat seine Freude an der Bethätigung seiner Körperkraft, und kommt er dann nach Hause vom Eise oder von sonst einem Uebungsplatz, dann hat er etwas sehr Gutes erreicht, er ist müde wie ein Hund, hungrig wie ein Wolf und er schläft wie ein Gott. Und das alles ist ihm sehr gesund, schon deshalb, weil es ihn von anderen minder nützlichen Gedanken abbringt. Lassen wir ihm also getrost auch die Begeisterung für seine Spiele und Leibesübungen im Freien!
Fragt einen Schneeschuhläufer, welches der schönste Sport ist! Er wird lachen. Wie kann man da noch fragen?! Man frage sie alle, die Anhänger von Unterhaltungen in Eis und Schnee, und dann lese man sich Antwort ab von ihren leuchtenden Augen! –
Alle Rechte vorbehalten.
(3. Fortsetzung.)
Gretel saß in ihrem Bettchen und spielte ungeschickt mit dem bunten Wollschäfchen, das ihr der kleine Karl von Seedorf, des Herrn Hauptmanns achtjähriger Sohn, gestern mitgebracht hatte. Sie freute sich, wie die weichen farbigen Fäden in dem blassen Frühlingssonnenschein glitzerten. Daß vor drei Tagen die reichste Sonne der Liebe, die uns armen Menschen auf dieser Erde leuchtet, für sie erloschen war, davon verstand sie noch nichts. Nur zuweilen mischte sich ein verlangendes Wort in ihr kindisches Geplauder – „Mama!“, und sie sah mit großen blauen Augen fragend auf die beiden schwarzgekleideten Frauen, die vor ihrem Bettchen saßen. Es war ein Erinnern, ein flüchtiges Empfinden in ihrer jungen Seele, als ob es doch nicht in Ordnung sei, daß Luise sie nicht mehr wie früher hinüber brachte zu der schönen weißen Mama, die so still in ihrem weißen Bette lag, die ihr so weich über die Löckchen streichelte und so sanft und leise zu ihr sprach. Aber dann ließ die gute Luise das bunte Schäfchen ein paarmal auf der Decke springen, und die Erinnerung verflog wieder vor dem neuen, unerhört reizvollen Schauspiel. Und so spielte sie sich in den Schlaf.
Das Mädchen stand auf und ging mit leisen Schritten ab und zu, Unwesentliches besorgend, um nur nicht immer so unthätig sitzen zu müssen neben der seltsamen greisen Frau, die ihren Rosenkranz zwischen den Fingern rinnen ließ und dazu aus großen, thränenlosen Augen in die Ferne starrte. „Man sollte meinen, sie wäre schon über allen Schmerz hinaus,“ dachte das Mädchen. Und Frau Margarete Klämmerlein nickte, als hätte sie einen unausgesprochenen Gedanken erraten. Ihr Schmerz war nicht wie der der andere, denn er war ihr ja nichts Neues mehr. Sie hatte das alles schon einmal erlebt, o, nicht einmal! viel hundert. und tausendmal, in schlaflosen Nächten und am achten Tage, wenn sie längs ihrer Gartenmauer wandelte und die bunten Kressenblüten zu zählen schien Da hatte sie am Sterbelager ihrer einzigen Tochter gesessen, sie hatte ihr zum letztenmal das Kindchen gereicht und ihr letztes Atmen belauscht, bis es ganz still stand. Den herbsten, heiligsten Schmerzensdienst, den ein Mutterherz vollbringen mag, hatte sie so viel Jahre lang alltäglich im Geiste neu verrichtet, weil sie sich ihm das eine Mal, wo sie ihn wirklich erfüllen sollte, versagt hatte. Nun war er gleichsam zum zweitenmal an sie herangetreten, als sie vor drei Wochen von der Krankheit ihrer Enkelin erfuhr und sie beim ersten Wiedersehen als unheilbar erkannte, und diesmal hatte sie dem Dienste nicht gefehlt. Sie war ein ungelehrtes Weib und verstand es nicht, ihre Empfindungen verstandesmäßig zu [62] zergliedern, aber unbewußt empfand sie auf dem Grunde ihres Jammers eine dumpfe Genugthuung. Zeiten und Personen verwirrten sich ihr, und wie sie jetzt scheinbar bis zur Teilnahmlosigkeit erschöpft vor dem Bettchen Gretels saß, war es ihr, als sei dies Kind, dessen Schlummer sie bewachte, ihre Enkelin, und jene, deren Augen sie vor drei Tagen zugedrückt, sei ihre Tochter gewesen.
Unterdes nun stand draußen auf dem großen Friedhof eine Schar dunkelgekleideter Männer entblößten Hauptes einen gelben Sarg und eine offene Gruft. Die Frühlingssonne glitzerte so fröhlich in den Beschlägen des Sarges wie daheim auf den Messingknäufen an Gretels Bettchen. Es roch nach Veilchen und frischem Grün, an den Birken schimmerten schon Blütenkätzchen, und als der Prediger seinen Segen gesprochen und die ersten Erdbrocken dem Sarge nachkollerten, strich eine Amsel vom Zweige ab und flog mit hellwerbendem Ruf über die Gräber hin.
Nun hatten die Freunde und Nachbarn längst jeder seine drei Schollen Erde ins Grab geworfen aber noch zögerten die Arbeiter, das traurige Werk zu vollenden, sie blickten unschlüssig nach dem Leichengefolge, das einige Schritte abseits harrte, und dann wieder auf den Witwer, der noch immer am Grabe kniete und, die Hände vor den Augen, herzbrechend schluchzte. Als er sich endlich auf das leise Zureden des Doktor Ritter erhob und wankend am Arme des Freundes davonschritt, öffneten sich die Reihen der Leidtragenden wie auf ein heimliches Kommando zu einer Gasse und schlossen sich hinter den beiden wieder paarweise. Es sah aus, als wollten sie den Ueberlebenden geleiten wie zuvor die Tote, anders als bei manchem recht vornehmen Begräbnis, wo die Menge unverzüglich nach Erledigung der Sache so eilfertig und anteillos auseinanderläuft wie aus der Börse oder aus dem Theater. Das wenigstens ist ein unbestreitbares Vorrecht der Armen, daß sie aus ihrem letzten Gange in angenehmer Gesellschaft bleiben; es geht keiner mit ihnen, der nicht gut Freund ist und es redlich mit ihnen meint. Und es gab viele, die es redlich mit Hans Bardolf und seinem Weibe meinten, aber freilich hatten sie beide es nie gelernt, ihre Liebe und Freundlichkeit nach dem Beutel zu verteilen, und es gab unter all den Männern im schwarzen Rock vielleicht keinen, den ein Finanzminister mit reiner Freude angeschaut hätte.
Zwei sehr ungleiche Paare machten den Schluß: ein Setzer und ein Drucker aus der Zeitungsdruckerei, deren geistiges Futter Hans Bardolf bis vor acht Tagen zurechtgeschnitten hatte und hinter diesen neben dem jungen Hausarzte der neue Chef Hans Bardolfs, der Hauptmann Wunibald von Seedorf, mit dem Eisernen Kreuz an dem Uniformrock. Die beiden Arbeiter hatten einen großen Kranz auf den Sarg niedergelegt, mit einem mächtigen Seidenband, auf dem einen Zipfel stand ‚Ruhe sanft‘ und auf dem anderen. „Die Setzer und Drucker der A.-G. Städtischer Anzeiger“. Der Drucker war ein großer starker Mann mit einem graubärtigen Gesicht von etwas schläfrigem Ausdruck, sein Begleiter war noch ziemlich jung, schmächtig und blaß, er sah nachdenklich aus und trug eine große grellrote Krawatte.
„Weißt du, Kiehnike,“ sagte der Drucker langsam, „inwendig magst du so rot sein wie es dir paßt, aber zu dem Fall konntest du deine Gurgel auch ’mal schwarz gehen lassen!“
„Det verstehste nich, Müller,“ erwiderte der Setzer ruhig. „Partei is Partei, die rote Binde is gewissermaßen mein Feldgeschrei, un dat darf ick mir nich rauben lassen. un ick hab’ och keine andere. Un warum och nich? So’n armer Studierter wie unser guter Doktor da vorn is ja och man nur en Proletarier, un es is sein Schade, wenn er sich für die Protzen abrackert, statt zu der Partei zu kommen.“
„Na“, meinte der Drucker, „jetzt ist er ja auch fertig mit ihnen! Dem Herrn Assessor soll er nett die Wahrheit gesagt haben! Die können lang’ warten, die Blauen, bis sie so einen wieder kriegen.“
„Jawohl,“ versetzte der Jüngere, „un det freut dich, weil du schwarz bist un dich mit’n Himmel vertrösten läßt. Na, du wirst och noch klug werden.“
Der Hauptmann war bis dahin schweigend neben seinem Begleiter hergegangen, nach einem passenden Zuspruch suchend, denn er hatte das Gefühl, als ob ein Arzt beim Begräbnisse eines seiner Patienten einigen Trostes wohl bedürfe. Aber da er selber durch das Unglück Bardolfs herzlich betrübt war, fiel ihm nichts Rechtes ein. Schließlich, als sie schon nahe am Thore waren, blickte er noch einmal zurück über den stillen, mit schönen Baumgruppen und Rasenstreifen bestellten Raum und sagte: „Wissen Sie, mein verehrter Herr Doktor, eigentlich ist der Friedhof hier doch die einzige halbwegs auflandige Lokalität in diesem gottverlassenen Heiden- und Kohlennest!“
Er war kein unkluger Mensch, der Hauptmann von Seedorf, und wenn ihm das geschäftliche Mißgeschick bisher mit so bedauerlicher Treue gefolgt war, so lag das nur daran, daß er so ganz einseitig für den Frontdienst begabt und erzogen war und gar nicht für den Verdienst. In den sechs Jahren seiner Invalidität hatte er ungefähr ebensoviel „Lebensstellungen“ erledigt: er war in jede mit einer unbestimmten, aber starken Hoffnung eingetreten, daß sie ihn in stand setzen werde, seinem Sohne einige Rittergüter zu hinterlassen, und beim Abschied von jeder war er versucht, zu sprechen wie König Franz nach der Schlacht bei Pavia: „Tout est perdu“ – „Alles verloren“; aber jedesmal hätte er auch hinzusetzen können wie der ritterliche König: „fors l’honneur!“ – „außer der Ehre!“ Bei alledem hatte er seinen mutterlosen Knaben frisch und brav erzogen, wenn auch nach seiner Weise, und wenigstens etwas hatte Zinsen unter seinen Händen getragen. das mütterliche Vermögen des Knaben, denn es war nicht in den väterlichen Unternehmungen angelegt, sondern in guten preußischen Staatspapieren, und der Hauptmann von Seedorf hätte eher Steine geklopft als diese Papiere angetastet. So schlimm war es zum Glück noch nie gegangen. die Pension war noch immer unverpfändet, selbst für die Erziehung Karls hatte das Erbe seiner Mutter noch mit keinem Pfennig herhalten müssen, und eben jetzt war der Hauptmann wieder einmal fest überzeugt, mit seinem pädagogischen Plane die goldführende Ader endlich getroffen zu haben.
Die vorläufige Einrichtung hatte allerdings die paar tausend Mark, die ihm von seiner letzten Erbtante Ende des Sommers zugefallen waren, so ziemlich verschluckt, und die Jahresmiete für das große altfränkische Haus in der Vorstadt mit dem weitläufigen, schlecht gepflegten Garten dahinter war eigentlich etwas höher, als er sich’s veranschlagt hatte, aber dafür hatte man eben auch Platz, und den braucht man für eine Anstalt, die sich naturgemäß erweitern und zu einer ordentlichen kleinen Kriegsakademie auswachsen will. Da war unter anderem vorn im Hausflur rechts das Sprechzimmer des Herrn Hauptmanns mit der Aufschrift. „Direktion“, und gegenüber für Doktor Hans Bardolf die „Subdirektion“; das Klassenzimmer im Erdgeschoß und der Speisesaal im oberen Stock – die Küche lag etwas weit ab, im Souterrain – waren von einer Größe und Ausstattung, als sollte sich das ganze künftige Offizierscorps eines Regiments hier ausbilden und satt essen, und die Haushälterin des Herrn Hauptmanns hatte eine großartige „neue Garnitur“ erhalten und sah sich von einem ganzen kleinen Stabe weiblicher Adjutanten umgeben. Selbst Hans Ritter wußte nichts einzuwenden, als ihm der Hauptmann zum Schlusse ihres Rundganges durch die Anstalt erklärte. „Sehen Sie, es ist alles fix. und fertig, militärisch adrett, und wenn uns jetzt zu Ostern die Schüler gleich dutzendweise überfallen sollten, wir sind auf alles gerüstet.
Es war eine unüberwindliche Eigenheit Hans Ritters, daß er es nicht übers Herz brachte, erwachsenen Männern seine Bedenken gegen ihre Unternehmungen unaufgefordert auszusprechen. Er war allzu geneigt, eher an seiner Einsicht in fremde Verhältnisse als an der Sachkenntnis derer zu zweifeln, die er achtete, und der Hauptmann von Seedorf hatte sich seine Achtung sehr schnell gewonnen, weil er in ihm einen Ehrenmann erkannte, der es einmal wirklich gut mit Hans Bardolf vorhatte. So fiel es dem Hauptmann auch nicht allzu schwer, ihn von der Ansicht abzubringen, daß es am besten für Bardolf sei, einstweilen die bisherige Wohnung aufzugeben und Gretel mit dem Mädchen zur Urgroßmutter ziehen zu lassen. „Glauben Sie mir, es thut nicht gut,“ sagte der Hauptmann. „Es mag ja sein, daß es dem armen Kerl jetzt fürs erste hölleneinsam in der verwaisten Wohnung seines Glückes vorkommt, aber nehmen Sie so einem unglücklichen Witwer auch noch die Stätte und das Pfand seiner verlorenen Liebe weg, dann ist er erst recht einsam, und dann stehe ich auch nicht für den besten ein. Ich kann da aus Erfahrung sprechen. Als mich das damals so hintereinander traf, erst invalid und dann ein halbes Jahr danach Witwer – na, wenn ich da nicht den Jungen alle Tage [63] vor Augen gehabt und manchmal ein bißchen Kindermädchen gespielt hätte, dann stände ich jetzt vielleicht nicht mehr ganz so lebend vor Ihnen. Lassen Sie also die Familie nur hübsch beieinander, das Kind wird ihm besser thun als alle Trostpredigten, die man sich halten lassen kann und die man sich selber hält! Herrje, mir thät’s ja selber leid, wenn ich das niedliche Krabbelchen mit seinem rotgoldigen Lockenköpfchen nicht mehr zu sehen bekäme! Ist doch mein Junge schon mit seinen siebeneinhalb Jahren ordentlich verliebt in diese fünfzehnmonatige Dulcinea! Na, das hat er von mir, ich hab’ allezeit die kleinen Wickelpuppen gern gemocht, und wenn ich’s vorher nicht gethan hätte, würde ich’s im Kriege gelernt haben, denn, mein verehrter Herr Doktor, das kann ich Sie versichern, wenn man so im Schnee gelegen hat und nachher verwundet im Lazarett liegt, und dabei immerfort denken muß. was macht das Kind zu Hause, kann es wohl schon ‚Vater!‘ sagen und wirst du es auf dieser Erde jemals von ihm hören – da hat man hinterher ein Herz für jedes Kleine, das sich noch seiner gesunden zwei Eltern erfreut – und für die anderen erst recht! – Also wie gesagt, lassen Sie das bleiben und reden Sie auch der würdigen alten Dame zu, daß sie ihm den Kopf nicht heiß macht!“
Es fiel nicht schwer, Frau Klämmerlein von ihrem Wunsche abzubringen, als ihr auch Hans Ritter zuredete, denn dieser nach Ansicht der meisten seiner Kollegen so völlig unpraktische Mensch war für die alte Dame längst das unfehlbare Orakel in allen wichtigen Fragen geworden. Somit reisten die beiden ohne das Kind ab und Haus Bardolf fand sich zum erstenmal allein in den engen Zimmern, die ihm jetzt so weit und öde, so trostlos öde und kalt vorkamen. Luise hatte ihm Speise und Trank hingesetzt, er rührte es nicht an und saß still, ganz starr immer auf den einen leeren Stuhl an der anderen Seite des Tisches hinschauend. Da weckte ihn ein helles Kinderlachen im Nebenzimmer auf. Die kleine Gretel war wieder wach und spielte im Dunklen mit ihrem Wollschäfchen, das neue Spielzeug ließ sie nicht ruhig schlafen.
„Sie versteht es noch nicht; sie ist noch so klein“, sagte die gute Luise schüchtern und wandte sich ab, um zu weinen.
Ja, sie versteht es noch nicht. Erst später, allmählich wird sie von anderen erfahren was sie besaß und so früh verlor. Aber ganz verstehen wird sie es erst noch viel später, wenn sie ihre eigenen Kinder heranwachsen sieht und sich freut, für sie sorgen zu können! Alsdann wird sie erkennen, wie viel ärmer sie war als ihre Kinder – und sie wird sie um so inniger lieben.
Der Tag, der den glücklichen Doktor Hans Mohr zum Gatten von Fräulein Beate und zum Mitleiter der Musteranstalt für Töchter der gebildeten und besitzenden Kreise machte, fiel genau drei Jahre nach jenem Tage, an dem sich das morsche geistige Band des Hansebundes vor der Erscheinung eines jungen schlanken Mädchens mit blonden Flechten und in hellen Kleidern sacht und still gelöst hatte. In diesen drei Jahren war Hans Mohr recht weit gekommen, und er hatte gewiß allen Grund, zuversichtlich auszusehen, während er am offenen Fenster des Gasthofs die weißen Handschuhe vorsichtig anzog und drunten auf dem Markte die Augustsonne fröhlich auf seinem Denkmal glitzerte.
Es war ein ganz ansehnliches Denkmal. Die Bronzebüste des berühmten Volkserziehers wurde von allen alten Leuten des Städtchens für sprechend ähnlich erklärt, und nur ein Teil der weiblichen Einwohnerschaft fand die Toilette der Idealfiguren etwas mangelhaft, die nach bewährtem Brauche den Sockel auf den drei inschriftfreien Seiten belebten. links die Pädagogik, rechts die Philanthropie und hinten, mit dem Gesicht nach dem Spritzenhäuschen der Stadt, die Aufklärung, alle drei in ärmellosen langen Frauenhemden, die aber auf der Schulter mit einer Fibula geschlossen und überaus zerknüllt waren, also antik. Dem Gesicht nach war es dreimal dieselbe Dame, aber sie hatten jede ihr Symbol bei sich, die Pädagogik erklärte einem artigen Kinde das Abc, die Philanthropie drückte ein zerlumptes Kind an sich und die Aufklärung hatte gar kein Kind, sondern eine Fackel und einen Heiligenschein, so daß nur ein ganz unkundiger Mensch die drei miteinander verwechseln konnte, übrigens hatte Doktor Mohr die Bedeutung einer jeden in seiner Festrede bei Enthüllung des Denkmals gründlich angegeben und erklärt. Und am Abend jenes weihevollen Tages, der sehr passend in den wunderschönen Monat Mai fiel, hatte man auf dem Festkommers auch Hans den Festredner und Fräulein Beate als eben verlobtes Paar ausgerufen und gefeiert. Die Frau Direktor hatte bis dahin noch im stillen gewünscht, die Entscheidung ein wenig weiter hinauszuziehen; aber auch Fräulein Beate hatte ihre Frühlingsempfindungen, und so hatte sie den Freund mit Hilfe ihrer Festtoilette auf eigene Faust zur Erklärung veranlaßt und ihn mit sich verlobt, eine halbe Stunde nach der Enthüllung der großväterlichen Büste. Dagegen hatte nun wieder die Frau Direktor durchgesetzt, daß die Hochzeit in die Ferien verlegt wurde, weil sich sonst durch Bewirtung der Schülerinnen und der Lehrpersonen die Kosten erheblich und unnötig erhöht haben würden.
Eine sehr modern und vornehm ausgestattete Karte im offenen Umschlag setzte Doktor Hans Ritter von der vollzogenen Vermählung in Kenntnis. Es ist zu hoffen, daß er nicht mehr erwartete, jedenfalls warf er die „Drucksache“ nach einer halben Minute nachdenklichen Betrachtens beiseite, um sich wieder einer anderen Postsendung zuzuwenden, die er eine Viertelstunde zuvor durch den Geldbriefträger erhalten hatte. Diese so ungleich erfreulichere Sendung aber hatte er im Grunde nur seiner manchmal bis an Unordnung streifenden Zerstreutheit zu verdanken. Denn als er – ungefähr zur Zeit von Fräulein Beatens Verlobung – endlich den ersten Band Manuskript von seiner „Kritischen Würdigung etc.“ dem Professor Isaak Bernstein zur freundschaftlichem Begutachtung überreicht hatte, war er sehr erstaunt, als ihm der Professor acht Tage darauf einen Teil des Manuskripts zurückbrachte und sagte. „Nun, ich hab’ Ihr Buch noch nicht ganz durch, lieber Kollege, was ich gelesen hab’, hat mir Freude gemacht, ’s ist ein gelehrtes Buch, ’s ist ein gründliches Buch, und ’s ist gar nicht geschrieben, wie ein deutscher Philosoph sonst schreibt, man kann’s beim ersten Lesen verstehen, wenn man Herz hat, denn es steckt viel Herz drin! Wenn ’s Buch herauskommt, werden die Philosophen sagen: er schreibt wie ein Dichter, er ist noch zu jung, und die Journalisten werden sagen. Gott, es wär’ was geworden, wenn er nur nicht so gelehrt wär’. Nun, lassen Sie sie sprechen, lassen Sie sie kritisieren, denn dazu sind sie da! – Aber das hier, das hab’ ich heute gelesen, es gehört nicht hinein, und es ist auch nicht vollständig, wenn Sie das Ende dazu finden können, so geben Sie’s mir, und wenn Sie noch mehr von der Art haben, so möcht’ ich recht schön bitten, geben Sie’s mir auch, denn warum? ’s ist nicht schlecht, ’s ist gut, und es interessiert mich.“
Daraufhin hatte Hans Ritter dem alten Herrn denn wohl schließlich seine Novellenversuche und einiges in Versen anvertrauen müssen, der alte Herr hatte sie gelesen, sehr verständig und eingehend mit ihm besprochen, und zuletzt hatte er zwei Erzählungen ausgesondert, die er für druckreif erklärte – „und Sie werden sie loswerden; denn warum? ’s ist Wein, guter Wein, und von einer Sorte, wie sie jedermann gern trinkt. Schicken Sie sie ein! Nun, warum wollen Sie sie nicht einschicken. Weil Sie nicht wissen, wie man’s macht? Nun man giebt sie eben auf die Post, mit einem kleinen Briefchen, ’s kommt an. – Wissen Sie was?“ fügte er nach einigem Zögern bei, während er sich beiseite wandte und irgend etwas zwischen den Bücherregalen zu suchen schien – „schicken Sie sie an den Herausgeber der ‚Iris‘, Herrn Doktor Julius Alexander Stein, er wird’s nehmen, denn er kennt seine Leute. – Aber Sie dürfen ihm nicht sagen, daß ich Sie an ihn gewiesen habe.“
Das hatte Hans Ritter versprochen und war dann schnell zu einer anderen Frage übergegangen, denn er hatte die Verlegenheit des Professors bemerkt und kannte ihren traurigen Grund. Der Doktor Julius Alexander Stein war der jüngere Bruder des Professors Isaak Bernstein, und er hatte sich taufen lassen. Seitdem war er für den strenggläubigen Bruder tot. Isaak Bernstein sprach nicht übel von seinem Bruder – er mied es überhaupt, von ihm zu sprechen, er schrieb nicht an ihn und nahm keine Briefe von ihm an; und es war ein unwidersprochenes Gerücht, daß irgendwo auf einem jüdischen Friedhof weit hinten im Osten ein offenes Grab sei mit einem namenlosen Leichenstein davor, angelegt im Auftrag Isaak Bernsteins – das „wartende [64] Grab“, das den wahrhaft Gläubigen verkündet, daß Einer aus dem Hause dessen, der es errichtet, abgefallen vom Glauben und geistig gestorben ist für das Volk des Herrn.
Nach einigem Bedenken hatte Hans Ritter das Manuskript wirklich an den Doktor Julius Alexander Stein abgesandt, er hatte sich gelobt, nun weiter nicht daran zu denken, und wie jeder junge Autor hatte er unablässig daran gedacht, mit einer Spannung, die erst nach Ablauf der vierten Wartewoche allmählich in eine dumpfe Ergebenheit überging. Und nun, da die Ergebenheit schon längst zur Gewißheit des Mißgeschicks geworden war, hatte ihm dieser reizende Geldbriefträger heute die Antwort gebracht. „Mit Vergnügen acceptiert … Honorar beiliegend … weiteren Anerbieten stets mit Interesse entgegen sehend. etc.“ Das Honorar betrug den dritten Teil seines Jahresgehalts von der Bibliothek aber das war es ja nicht allein, es war vor allem sein erstes Honorar, und nur wer einmal ein erstes Honorar empfangen hat, wird ermessen können, mit welchem inneren Beben Hans Ritter diese blauen Scheine befühlte und betrachtete – als ob sie von Rafael persönlich gemalt und ihm gewidmet wären! In dieser Stimmung hätte ihn selbst eine schriftliche Liebeserklärung von Fräulein Beate nicht zu erschüttern vermocht, wie viel weniger die gedruckte Anzeige von ihrer Vermählung!
An den Doktor Hans Bardolf gelangte nicht einmal eine solche gedruckte Karte, und das lag daran, daß sich Hans Mohr verrechnet hatte, als er mit Beate und ihrer Mutter zusammen zwei Tage vor der Hochzeit die Liste der Adressaten anstellte. „Hier, dies sind die Bekannten, denen ich die Anzeige schicken muß“, sagte er, „es sind zweiundfünfzig, bitte, mein Engel, willst du nicht einmal nachzählen?“ Der Engel nahm die Liste und zählte sehr sorgfältig, mit dem Bleistift in der Hand, dann sagte er mit einem reizenden Lächeln. „Du hast Dich verzählt, liebster Hans, es sind nur einundfünfzig“. Der liebste Hans sah noch einmal nach, und da war ein Name ganz fein mit einem spitzen, harten Bleistift durchgestrichen. „Ach ja,“ sagte er, „ich habe mich verzählt. Es sind wirklich nur einundfünfzig.“
So erfuhr der Doktor Hans Bardolf die große Neuigkeit erst einige Tage später, in der Nachschrift zu einem Briefe Hans Ritters, den ihm die kleine Grete sehr sorgsam und selbstbewußt überreichte, als sie am Nachmittag mit Luise, Kinderwagen, Puppen und sonstigem Zubehör vor der Veranda im Garten des Seedorfschen „Instituts“ anrückte, denn das war jetzt ihr gewöhnlicher Spielpark, und sie wußte unter Anleitung Luisens und Karl von Seedorfs schon recht geschickt herumzustolzieren, während die Väter auf der Veranda Kaffee tranken und ihre Cigarren rauchten. Auch der Hauptmann von Seedorf lernte den Inhalt des Briefes einschließlich der Nachschrift kennen und hielt mit seiner Meinung nicht zurück. „Wissen Sie, lieber Doktor,“ sagte er, „ich will natürlich gegen Ihren ehemaligen Freund gar nichts gesagt haben – na, und Sie haben ja auch im Grunde nichts mit ihm gehabt, wenn ich klar sehe, so ist er von Ihnen und dem Doktor Ritter so ganz sachte abgerückt, wie ein Marodeur oder meinethalben auch ein Maroder, der sich unterwegs auf dem Marsch so still ins Kornfeld drückt, aber das muß ich sagen, wenn alle Ehen im Himmel geschlossen werden, dann muß er da oben schlecht angeschrieben stehen, denn ohne triftigen Grund straft einen der Herrgott nicht mit so einer Frau! Sie kennen sie ja wohl nur aus den Erzählungen Ihrer lieben seligen Frau, und die hätte ja selbst dem Teufel möglichst viel Gutes nachgesagt, aber meine Selige war von etwas minder sanftem Gemüt, und die kannte das Fräulein schon länger, denn sie hat ja mit ihr zwei Jahre lang zusammen in der Schule gesessen, in den obersten Klassen, wo die Häkchen schon zu Haken werden. Dieses angenehme Wesen hat alles, nur kein Gemüt und keine Ehrlichkeit. – Na, ich bin gespannt, was da für eine Rasse herauskommt! Obzwar man das nie verschwören soll, denn es ist kurios, wie unser Herrgott manchmal mit dem Erbschaftsgesetz umspringt. Da sehen Sie sich einmal meinen Jungen an! Ich hab’ gut, ihm eine Soldatenmütze aufsetzen und die braunen Haare rund kurz scheren, deshalb sieht er sich doch nicht einmal um, wenn eine Militärmusik vorbeizieht, aber einen Ameisenhaufen zu besehen oder ein krankes Kaninchen zu pflegen, dafür läßt er sein Leben, und mit Ihrem kleinen weißen Mädel spielt er wie eine Bonne. Na, ich werd’ denn wohl sehen müssen, wie er sich weiter macht, meinethalben mag er dann Arzt werden oder Bauer, denn das sind doch noch die zwei gescheitesten Berufe, wenn einer keinen Grips fürs Militärische hat. – Ich wollte nur, die Bengels, die man uns ins Haus schickt, hätten etwas Grips dafür, fuhr er seufzend fort. „Uebrigens, lieber Doktor, ich habe mir heute einen Ueberschlag gemacht, weil ich doch morgen aufs Land gehe – wir haben doch besser abgeschnitten als ich dachte, und wenn wir im nächsten Halbjahr nur fünf mehr kriegen, dann habe ich zu Ostern sogar einen baren Ueberschuß, vorausgesetzt, daß ich einige laufende Rechnungen aufs nächste Jahr hinübernehme.“
Doktor Hans Bardolf war zu wenig Finanzmensch und in diesem Augenblick angesichts seines blühenden, lachenden Kindes auch zu ausschließlich glücklicher Vater, als daß ihm ein Zweifel gegen das Seedorfsche Budgetsystem gekommen wäre, und so konnte er mit ganz reinem Gewissen die Einladung des Hauptmanns annehmen, „daraufhin nach dem Abendbrot einmal ausnahmsweise ein paar Flaschen zu trinken.“ Aus den paar Flaschen wurden vier, sie tranken auf den Doktor Hans Ritter, sie tranken mit feuchten Augen auf ihre Kinder, die nun längst friedlich in ihren Bettchen schlummerten, und zuletzt brachte der Hauptmann sogar in perlendem Champagner höchst ernsthaft die Gesundheit der „würdigen alten Herrschaften“, des Herrn Professor Bernstein und der Frau Margarete Klämmerlein, aus. Der Champagner war aber, wie er vorher ausdrücklich erklärt hatte, keine Verschwendung, denn er war ihm von einem durchgebrannten Zögling an Zahlungsstatt geschickt worden und „kostete also keinen Pfennig“.
Am 31. Januar 1897 feiert man in allen deutschen Landen den hundertsten Geburtstag eines Heiligen der Tonkunst, Franz Schuberts. Es gewährt eine besondere Genugthuung, gerade diesen Mann so allgemein gefeiert zu sehen, dessen Leben ein fortgesetzter Kampf mit Drangsalen war. Wie viel leichter würde es dem Frühgeschiedenen geworden sein, Sorge und Not zu ertragen, hätte er in seiner Naivität und Bescheidenheit ahnen können, daß man ihn als Schöpfer unvergänglicher Musikwerke immerdar aufs innigste verehren werde. Vor allem sind es seine Lieder, mit welchen er sich unserem Volke ins Herz gesungen hat, weil in denselben überaus reizvolle Melodien und Ursprünglichkeit der Tongedanken oft mit der Einfachheit des Volksliedes verbunden sind. Gerade diese künstlerische Schlichtheit, die sich mit zauberhafter Gewalt in die Seele unseres Volkes hineingeschmeichelt hat, ist ein Lichtmal der Genialität Schuberts.
Wie die Quelle aus der Erde hervorbricht, weil sie nicht anders kann, so entströmten seiner glänzenden Begabung die Tongedanken, und zwar in einer Fülle, Neuheit und Unmittelbarkeit, an welcher sich so manche Tonsetzer der Gegenwart erbauen könnten, die durch verblüffende Dissonanzen, durch unruhige Sprünge aus einer Tonart in die andere, durch Absonderlichkeiten in der Instrumentation sowie durch den Mangel an geschlossenen Melodien den Beweis erbringen wollen, daß sie etwas ganz Besonderes bedeuten, während das gequält Neue und erzwungen Originelle in ihren Kompositionen doch nur ein Beweis des Mangels an wahrlich schöpferischer Kraft ist.
Franz Schubert wurde als Sohn eines Schullehrers zu Wien in dem Hause (IX. Nußdorferstraße Nr. 54) geboren, welches unsere Abbildung vorführt. Er sah in seiner Jugend wenig „Bratentage“, der Besitz einer Semmel und der Genuß einiger
[65] [66]Aepfel gehörten zu den kühnsten Wünschen seiner Knabenzeit In einem Briefe an einen älteren Bruder bemerkte er: „Du weißt aus Erfahrung, daß man doch manchmal eine Semmel und ein paar Aepfel essen möchte, um so mehr, wenn man nach einem mittelmäßigen Mittagsmahle nach 8 1/2 Stunden erst ein armseliges Nachtmahl erwarten darf.“ Daran knüpfte der kleine Franz die Bitte, der Bruder möchte ihm doch monatlich ein paar Kreuzer zukommen lassen, „damit er in seiner Klause glücklich und zufrieden sein könne“. Wie rührend ist diese Sehnsucht nach „Glück“!
In der Jugend lebte Schubert von seiner Sopranstimme; er sang nämlich auf Kirchenchören und wohnte dafür in einem Konvikt, wo die Kost schmal bemessen war. Nach dem Verluste seiner Stimme entschloß er sich, Lehrer wie sein Vater zu werden. Er wurde richtig auch Schulgehilfe und weihte als solcher drei Jahre lang die Elementarschüler der Lichtenthaler Vorstadt in die Geheimnisse des Abc ein. Wenn seine Schüler über die Anfangsgründe alles Wissens stolperten, so wurde der lebhafte Franz jähzornig und handgreiflich. Zum Künstler geboren fand er in dem Lehrerberuf keine Genugthuung und suchte darum durch um so fleißigeres Komponieren innere Befriedigung sich zu verschaffen. Geregelten Unterricht im Generalbaß empfing er von Rucziszka und Salieri. Schon als dreizehnjähriger Knabe hatte Schubert mehr musikalische Einfälle als Notenpapier, welches in der Menge, die er brauchte, für ihn unerschwinglich war. Damals war es ein Mitschüler im Wiener Konvikt, der ihn mit Notenpapier versah, so daß das Komponieren jetzt flott von statten gehen konnte. Er schuf schon zu dieser Zeit Lieder, Messen, Sonaten, kleine Opern, ja selbst eine Symphonie, doch vernichtete er bald das Geschaffene wieder, weil es ihm nicht genügte. Waren es doch nur Kompositionsversuche „zur Uebung“.
Ein anderer Förderer Schuberts war ein Student, Namens Franz von Schober. Diesem imponierte die ungewöhnliche Begabung des jungen Tondichters, und als er ihn eines Tages besuchte, fand er ihn beim Korrigieren von Schulaufgaben. Der Student verschaffte nun dem in ein trauriges Joch gespannten Schulgenossen eine Freiwohnung und entriß ihn einer Thätigkeit, für die er nicht berufen war.
Der Weg zur Selbständigkeit ward Schubert so erschlossen. Wenn nur Frau Sorge nicht gewesen wäre, die ihm mit zäher Treue stets zur Seite ging! Schubert bewarb sich um mehrere Aemter, die ihm noch Muße zu künstlerischer Arbeit gelassen hätten, so auch mal eines in Laibach, welches ein Jahresgehalt von 450 Gulden abwarf. Er wurde jedoch trotz der Empfehlung des k. k. „Hofmusikgrafen Moritz Dietrichstein, des Intendanten der kaiserlichen Hofkapelle, abgewiesen. Kein Wunder, daß unter diesen Umständen der junge Musiker sich fast beständig in Geldverlegenheiten befand! Der Verfasser dieser Zeilen unterhielt sich vor einigen Jahren in München mit dem Generalmusikdirektor Franz Lachner über Schubert, mit welchem der Münchner Komponist von Jugendzeiten her befreundet war. Der musikalisch etwas reaktionär angehauchte Verfasser der Oper „Katharina Cornaro“ erzählte bei dieser Gelegenheit, daß ihm Schubert einmal bekümmert gesagt habe: „Was wird mit mir armem Musikanten in der Zukunft werden? Ich werde wohl im Alter, wie Goethes Harfner, betteln müssen!“
Zuweilen hatte Lachner selber für Schubert sich verwendet, und zwar bei Verlegern. Beide Komponisten waren große Naturfreunde und wollten eine Gebirgsreise miteinander unternehmen. Der Wille zum Reisen war also da, aber leider kein Geld. Da fragte Lachner den kleinen dicken Freund, welchen W. Chezy, unartig genug, einen „Talgklumpen“ genannt hatte, ob er denn nicht wieder einige frischkomponierte Lieder auf Lager habe. Schubert übergab ihm einen ganzen Strauß seiner herrlichen Lieder. Lachner eilte damit zu einem Verleger. „Schuberts Lieder gehen nicht!“ meinte dieser verdrießlich. Lachner wies aber auf die Vortrefflichkeit der mitgebrachten Lieder so eindringlich hin, daß der Verleger sich endlich dennoch entschloß, ein Honorar von 15 Gulden für die melodischen Herrlichkeiten Schuberts anzubieten. „Legen Sie noch 5 Gulden zu!“ bat Lachner. „Niemals!“ gab der Verleger mit der Härte eines Despoten zurück. Die beiden Freunde traten nun mit dem für sie ungewöhnlich großen Vermögen von 15 Gulden eine Reise ins Hochland an. Die Eindrücke und Stimmungen, die ihn auf diesem Ausflug beglückten, wußte Schubert sogleich in erquickende Töne umzusetzen. Ohne diesen innigen Verkehr mit der Natur hätte er seinen Liedern wohl auch nicht jene feinen tonmalerischen Accente geben können, durch welche sie so oft entzücken. So hat Schubert, um nur eines anzuführen, in seinem Liede „Die Forelle“ die rasche und zierliche Bewegung der Fische in schnell und graziös dahingleitenden Tonarabesken der Klavierbegleitung wunderbar geschildert. Einer ähnlich beredten Tonmalerei begegnet man in so manchem Lied der prächtigen Cyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, ich erinnere z. B. an „Die Post“, in deren rhythmischer Bewegtheit sich das Vibrieren der Liebeserwartung, die Bewegtheit der Empfindung, der Rhythmus des erregten Herzens treu spiegeln. Alles ist da in melodischen Wohlklang getaucht. Das Volkslied in Kunstverklärung!
Man bewundert bei Franz Schubert mit Recht die gesunde musikalische Urkraft und die Ursprünglichkeit in allen seinen Tonwerken. Nie hat er ein Anlehen bei anderen oder bei sich selbst gemacht. Es strömten ihm musikalische Gedanken mit derselben Leichtigkeit und Unmittelbarkeit zu, mit welcher man atmet.
Franz Schubert wird als Begründer der musikalische Romantik bezeichnet. Vielleicht mit Unrecht! Allerdings hat er Texte von Dichtern der romantischen Schule in Musik gesetzt. Allein mit vollem Grund könnte man Schubert einen Klassiker nennen, der Mustergültiges, Vorbildliches, Unvergängliches ebenso geschaffen hat wie Mozart und Beethoven. In seinen Liedern klingt nie eine krankhaft romantische Stimmung an, die Trauer spricht sich zwar in ergreifender Form, aber nie in weichlicher Empfindelei aus. Sie erhebt sich mitunter zu tragischem Pathos, winselt aber nie in romantischer Hilflosigkeit.
Arm zu sein, Entbehrungen zu erleiden und dabei lebend und schaffensfroh zu bleiben, ist ein seltener Charaktervorzug, und diesen besaß Schubert. Seine Freunde, Lustspieldichter Bauernfeld und der Maler Schwind, wußten viel darüber zu erzählen. Meist hatten zwei von ihnen kein Geld und der [67] Dritte gar keines. Gleichwohl trugen sie ihre Armut mit Grazie und Heiterkeit. Ihre Gütergemeinschaft bezog sich auf Hüte, Stiefel, Krawatten und Röcke. Sie nächtigten zuweilen in derselben Stube, wobei sich besonders Schwind durch seine stoische Bedürfnislosigkeit auszeichnete, denn er legte sich, bloß in eine Decke gehüllt, auf den Boden; sein gutes Gewissen schob er sich als Ruhekissen unter den Kopf. Nach einem solchen gemeinschaftlichen Nachtlager machte Schubert einmal Morgentoilette und lachte unbändig. „Warum lachst du?“ „Nun, weil meine Socken so viele Löcher haben, daß ich nicht weiß, in welches ich eigentlich hineinfahren soll!“
Daß Not erfinderisch macht, bewiesen sich die drei frohlebigen Freunde oft genug. Als sie einen Pfeifenkopf brauchten, schnitzten sie ihn aus einem Brillenfutteral zurecht, stopften ihn mit Tabak und der Rauchgenuß begann.
Wie rasch und mühelos Schubert komponieren konnte, hat er oft bewiesen. Eines Tages fand er bei einem Freunde einen Band Gedichte liegen. Es waren die von Wilhelm Müller, welche den Liederkranz „Die schöne Müllerin“ enthielten. Er nahm das Buch mit nach Haus und am nächsten Morgen waren die ersten Müllerlieder fertig komponiert. Goethes Ballade „Der Erlkönig“ hat er nur einige mal durchgelesen, und dann setzte er sie in Musik in so kurzer Zeit, als man braucht, um die Noten aufs Papier zu werfen. Zu den lieblichsten Eingebungen Schuberts gehört das „Morgenständchen“ zu Worten Shakespeares. Von diesem wird erzählt, daß es als Improvisation in dem Garten des Währinger Wirtshauses „Zum Biersack“ unter jener Kastanie entstanden sei, die unser Bild auf Seite 66 darstellt. Robert Schumann meinte von Schubert, er hätte allgemach die ganze poetische Litteratur in Töne umgesetzt – „wo er hinfühlte, quoll Musik hervor,“ Aeschylus und Klopstock, so spröde zur Komposition, gaben nach unter seinen Händen. Schubert schuf in der That so viel, daß er mitunter seine eigenen Musenkinder nach kurzer Zeit nicht mehr wiedererkannte; so hörte er sein eigenes Lied, welches von einem Freunde in eine andere Tonart übertragen wurde, in einer Gesellschaft an und rief erfreut aus. „Schaut’s, das Lied is nit uneb’n, von wem is’ denn das?“
Verwöhnt wurde der bescheidene Tonpoet durch gesellschaftliche Anerkennung nicht, oft, wenn seine Lieder von einem beliebten Sänger vorgetragen wurden, fand dieser Beifall, während der am Klavier sitzende Komponist gänzlich unbeachtet blieb. Dafür wurde Schubert als Walzerspieler sehr geschätzt; auf Hausbällen improvisierte er oft stundenlang entzückende Tanzweisen. Improvisationen, die ihm gefielen, spielte er wiederholt, um sie dem Gedächtnis einzuprägen und dann zu Papier zu bringen.
Zu den Beschützern Schuberts gehörte auch Graf Johann Esterhazy, welcher ihn als Musiklehrer seiner Tochter Karoline nach Zelesz in Ungarn berief und ihm zwei Gulden für die Unterrichtsstunde bezahlte. Franz verliebte sich in seine schöne Schülerin, die sich jedoch zur Gegenliebe für den unansehnlichen Komponisten mit dem unschönen Mund und der Stumpfnase nicht entschließen konnte. Als ihm einmal Komtesse Karoline scherzend vorwarf, daß er ihr noch kein Musikstück zugeeignet habe, erklärte der verliebte Komponist. „Wozu denn? Ihnen ist ja ohnehin – alles gewidmet.“ Ein originelles Liebesgeständnis! Sechzehn Jahre nach Schuberts Tode vermählte sich Gräfin Karoline mit dem Major Grafen Folliot von Crenneville. Jetzt genießt sie die Auszeichnung, an der Seite eines Unsterblichen immer wieder genannt zu werden. Der Schönheit des Fräuleins Karoline ist es zu danken, daß Schubert einige seiner innigsten Lieder im Hause ihres Vaters komponierte. Doch das liebenswürdige Mädchen war dort nicht allein seine Muse, auch die Köchin des Grafen Esterhazy war es, freilich in anderem Sinne, indem sie am Küchenherde ungarische und slavische Volksweisen sang. Das von ihr Gesungene kam als musikalischer Grundstoff im „Divertissement a la Hongroise“ (Op. 54) zur Geltung. Dieser sangeslustigen Kennerin von Volksweisen hat der Komponist noch manches Thema zu Klavierstücken, ja selbst zu symphonischen Sätzen zu verdanken gehabt.
Schubert hat, wie ein jedes künstlerische Genie, mit dem größten Eifer gelernt und sich in jeder Art bemüht, die Formen der Tonkunst genau zu beherrschen.
Schon als Knabe besaß er einen solchen Lerneifer, daß er bald mehr wußte als seine Lehrer, die dann bescheiden erklärten, „Franzi lerne alles vom lieben Gott.“ Dies erinnert an jene naive musikgeschichtliche Versicherung, daß die erste Sängerin Eva, der erste Gesangsprofessor unser Herrgott und das erste Konservatorium für Musik das Paradies gewesen sei. Schubert horchte besonders auf die Tonwerke von Haydn, Mozart und Beethoven hin und erbaute sich an denselben. In einem Zeitraume von siebzehn Jahren – Schubert starb am 19. November 1828 – schrieb er eine Reihe von Opern und Operetten, acht Symphonien, gegen sechshundert Lieder, ferner Messen, Chöre aller Art, Sonaten und Quartette,Trios und Duos und eine große Menge von Klavierwerken. Auch diese Fruchtbarkeit ist ein Wahrzeichen der Genialität. Schuberts Klavierwerke gehören zum ehernen Bestand einer jeden wohlangelegten musikalischen Hausbibliothek. Wer kennt nicht die feinen Eingebungen in den Schubertschen Impromptus – wen hat das vierte derselben in F-moll (3/8 Takt) durch seinen rhythmischen und melodischen Reiz nicht bestrickt? Daß Schubert ein Krösus an Tongedanken war, erkennt man auch in seinen Phantasien, Rondos, Scherzos, in seinem Allegro patetico, in seinen Adagios und Variationen. Wo man in den Tonwerken Schuberts hinblickt, da schimmert Gold.
Vierzig Jahre nach dem Tode Schuberts wurde im Wiener Stadtpark das schöne Denkmal enthüllt, das seine Gestalt sitzend, nach dem Modell von Kundtmann, in carrarischem Marmor darstellt. Zur Feier der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstags hat die Stadt Wien sich zur Ehrensache gemacht, eine Franz Schubert-Ausstellung zu veranstalten, welche gegen 2000 Gegenstände, die auf Schubert und seine Zeit Bezug haben, umfaßt.
Gedenktage, wie der am 31. Januar 1897 zu Ehren Schuberts, sollten aber in Zukunft auch Sühnfeste werden. Es giebt auch heute glänzend veranlagte Komponisten, denen im Leben kein Stern leuchtet. Würde sich’s nicht empfehlen den Ertrag von Festkonzerten, welche an solchen Gedenktagen veranstaltet werden, hochstrebenden und Tüchtiges leistenden Jüngern der Tonkunst zuzuwenden, welche im Leben mit ähnlichen Bedrängnissen kämpfen müssen wie Franz Schubert?
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Der Kleinste von der Lemurensippe. (Mit Abbildung.) Lemuren hießen bei den alten Römern böse Geister der Verstorbenen, die in den Nächten spukten und die abergläubischen Menschen vielfach beunruhigten. Der Name Lemuren wurde in der Neuzeit von der Wissenschaft einer Tierfamilie aus der Ordnung der Halbaffen beigelegt, deren Mitglieder viel Gespenstisches in ihrer äußeren Erscheinung und ihrer Lebensart aufweisen. Einst, in grauer Vorzeit, waren diese Geschöpfe auf der Erde zahlreicher vertreten. Heute begegnen wir mehreren Arten derselben nur noch auf den südasiatischen Inseln, Madagaskar und dem Festlande von Afrika. Sie sind zumeist Nachttiere und erwecken durch ihr Treiben die Scheu der Eingeborenen, welche an die sonderbaren Gestalten allerlei abergläubische Vorstellungen knüpfen. In den Urwäldern, wo sie in den Baumkronen ihr Wesen treiben, pflegen einige der Lemurenarten beim Einbruch der Dunkelheit einen Höllenlärm anzuschlagen, der den Neuling in der Wildnis oft genug mit Grausen erfüllt. Andere wieder schleichen lautlos von Ast zu Ast, der Beute nach. Ohne das geringste Geräusch gleitet das Nachtgespenst von Ort zu Ort, während seine ungewöhnlich großen Augen wie feurige Kugeln leuchten. Trotz der unheimlichen Erscheinung sind die Tiere dem Menschen nicht gefährlich und als Mitglieder einer eigenartigen Sippe für den Naturforscher von höchstem Interesse. Zumeist nähren sie sich von Früchten und Insekten, aber auch von kleinen Vögeln, die sie mit großem Geschick fangen und deren Nester sie plündern.
Auch der Zwergmaki, den unsere Abbildung darstellt, gehört zu dieser Tierfamilie. Er ist der kleinste unter den Halbaffen, seine Leibeslänge beträgt nur 14 bis 15 cm, die Schwanzlänge 16 bis 17 cm, sein weicher Pelz ist oben grau und ändert je nach der Jahreszeit etwas in der Färbung ab; der Bauch ist weiß. Die Augen umgiebt ein bräunlicher Ring, ein weißer Streif zieht über die Nase, die Rückenmitte zeigt eine dunkle Längsbinde. In dem kleinen Kopfe sitzen zwei große Augen nahe bei einander, die Ohren lassen sich, wie bei den Ohrenmakis, zusammenfalten. Der Zwergmaki ist ein Nachttier, welches während des Tages zusammengerollt in einer Astgabel oder einer Baumhöhle ruht, nach Einbruch der Dämmerung aber sehr lebhaft wird und äußerst geschickt in den Zweigen sich bewegt. Seine Nahrung besteht aus saftigen Früchten, Vogeleiern und Insekten. Er lebt in den dichten Urwäldern des nördlichen und östlichen Madagaskar und verläßt selten oder nie die Kronen der Bäume, in denen er ein rundes, zierliches Nest aus Moos und dünnen Zweigen baut. Während der trockenen Jahreszeit hält er in einem Astloche eine Art von Winterschlaf. Ueber die Lebensweise dieses eigentümlichen Tieres weiß man bis jetzt noch recht wenig, auch die Beobachtung desselben in der Gefangenschaft wird dadurch erschwert, daß der Zwergmaki erst gegen 8 Uhr abends munter wird. Im Berliner Zoologischen Garten, wo sich das Tierchen seit längerer Zeit sehr wohl befindet, giebt man ihm gekochten Reis, Obst, Aniskuchen und täglich einige Mehlwürmer. P. Matschie.
Ein Erfinder um jeden Preis. James Watt, der große Schöpfer der Dampfmaschine und Dutzender von anderen technischen Neuerungen, dessen Talent Humphrey Davy eines Tages zu dem Ausspruch hinriß: „Man bestellt bei Watt Erfindungen, wie man beim Schneider einen Rock bestellt“ – dieses Genie des Erfindens beschränkte seine schöpferische Gabe keineswegs auf die Technik. Er war vielmehr ein so gewandter und hinreißender Geschichten-Erfinder und -Erzähler, wie nur einer je auf englischem Boden gefunden wurde. Eine Freundin seiner Mutter, bei der er als Jüngling einmal zu Besuch weilte, erzählte, daß James Unterhaltungen und phantastische Geschichten, die er Abend für Abend im Kreise dieser befreundeten Familie vortragen mußte, bald das ganze Haus in einen Zustand von Erregung und Schlaflosigkeit versetzten. Man lauschte dem Erzähler Stunde für Stunde, ohne es zu merken, ließ die halbe Nacht auf diese Weise verstreichen und war dann für den Rest derselben zu aufgeregt, um Ruhe zu finden. Watt behielt diese Gabe des Fabulierens bis in sein Greisenalter, und wäre er nicht ein so großer Ingenieur gewesen, er wäre gewiß ein Romandichter von Ruf geworden. Wie Walter Scott mitteilte, passierte dem 82-jährigen Watt noch folgende heitere Geschichte. Er hatte wieder einmal eine Tafelrunde durch eine seiner lebenswahren und nur zu wahrscheinlich erfundenen Erzählungen in Verwunderung gesetzt, als einer seiner Zuhörer, was für gewöhnlich niemand wagte, schüchtern bemerkte: „Sollten Sie uns da vielleicht eine von Ihnen erfundene Geschichte erzählen?“ – „Dieser Zweifel setzt mich in Erstaunen“, erwiderte lächelnd Watt, „ich habe ja seit zwanzig Jahren nichts anderes gethan, wenn ich das Glück hatte, die Abende mit Ihnen zuzubringen. Bw.
Blindekuh. (Zu dem Bilde S. 56. und 57.) Wenn Alter und Jugend sich in demselben Raum unterhalten sollen, pflegt ersteres zu kurz zu kommen – das war in der „guten alten Zeit“ auch schon so. Drüben am Spieltisch sitzt das gräßliche Ehepaar mit seinen Gastfreunden. Herüben in der Saalmitte sollten sich die jungen Fräulein bemühen, den über Tisch noch etwas schüchternen Imker Franz zum Auftauen zu bringen. Erst wurde, fein sittig im Kreise sitzend, ein Pfänderspiel beliebt und die älteren Herrschaften wandten sich beruhigt ihrer eigenen Partie zu. Plötzlich, als sie eben im besten Zuge sind – ein Knall, ein Fall, Springen, Schreien und Gelächter … ein Blindekuhspiel im Salon als ob man draußen auf der Dorfwiese wäre! Befremdet wendet die Gräfin-Mutter den Kopf nach dieser geräuschvollen Belustigung, aber der Vater des offenbar gänzlich aufgetauten Imkers sieht voll Vergnügen, wie die zierliche Komtesse seinen Herrn Sohn im vollsten Sinne „am Bändel“ hat, während ihre Freundinnen, die frischen Pfarrtöchter, die unter dem „altmodischen“ Kleid ihre ganze ländliche Heiterkeit mit ins Grafenschloß bringen, ihn nach Herzenslust zupfen und necken. Die ganze Scene in ihrer harmlosen Fröhlichkeit steht eigentlich im Widerspruch mit der feierlichen Pracht des Saales, aber sie wirkt nur um so anziehender. Der Künstler hat es verstanden, uns ein Stückchen unbefangener Natürlichkeit im „Zeitalter der Unnatur“ zu zeigen, und er thut es mit so viel Frische und Anmut, daß sein Bild sicherlich beifällige Betrachter finden wird. Bn.
Inhalt: [ Inhalt von Heft 4/1897 – z. Zt. hier nicht dargestellt. ]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.