Die Gartenlaube (1897)/Heft 5
[69]
Nr. 5. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
|
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.
Alle Rechte vorbehalten.
(4. Fortsetzung.)
Im Mayschen Hause herrschte gehobene Stimmung; Frau Rätin war einfach selig in ihrer Stellung als künftige Schwiegermutter und Großmama.
Das neue Paar hatte bei den Hofbeamten Brautvisite gemacht, auch bei den Bekannten im Städtchen, die Besuche waren erwidert worden, und mittags von zwölf bis ein Uhr hatte ununterbrochen die Hausthürklingel geschellt. Briefe von allen Erden und Enden waren angelangt, und im Auftrage Ihrer Durchlaucht war eines Nachmittags Frau von Gruber erschienen, um die Glückwünsche der hohen Frau zu übermitteln nebst einem Strauß Orchideen aus den herzoglichen Gewächshäusern. Frau von Gruber war eine volle Viertelstunde lang geblieben und hatte sich sehr herzlich gezeigt, wie Frau Rätin allen versicherte, die es hören wollen.
Nach des Oberförsters Wunsch sollte die Hochzeit schon um Weihnacht stattfinden, spätestens anfangs Januar, und deshalb hatte Frau Rätin die Aussteuer für Aenne ganz energisch in Angriff genommen. In der Eßstube rasselte heute bereits die Nähmaschine; eine ältliche dicke Person mit großer runder Brille auf dem Stumpfnäschen saß zwischen Bergen weißer Leinwand,
[70] und Tante Emilie war zum Heften kommandiert. In der Küche stand Aenne neben der Mutter, angethan mit einer großen, weißen Küchenschürze, und horchte mit ernsthaftem Gesicht auf die praktischen Lehren für ihren künftigen Hausfrauenberuf.
„Immer erst einen Probekloß kochen – verstehst du, Aenne? Falls er auseinander fällt, kann man die Masse noch fester machen. – Unsinn, Kind, ein richtiger Kloß muß mit der Hand gedreht werden, thu doch nur nicht so zimperlich, was soll denn dein künftiges Dienstmädchen von dir denken?“
Aenne erwiderte kein Wort, sondern folgte den Weisungen der Mutter mit dem nämlichen undurchdringlichen Gesicht, wie sie es schon seit dem Tage ihrer Verlobung zeigte.
„Und heute nachmittag müssen wir hinüber gehen, Aenne, ich bekomme sonst keinen Schimmer von dem, was du an Tischwäsche und Handtüchern brauchst. Er sagt zwar, es ist noch genug da von der ersten Frau, das mag ja auch sein, aber man muß doch selbst sehen. So um Drei herum, habe ich sagen lassen an die Stübken, würden wir kommen. – Ein Glück ist’s doch, Aenne, daß du dich nur gleich so hineinsetzen kannst in die fertige Wirtschaft, denn, wo die Jungens so viel kosten – Vater hätte gradezu Geld borgen müssen für deine Ausstattung!“
Aenne blieb stumm.
„Morgen mittag könnt ihr ja dann noch die letzten paar Brautvisiten machen, hast du übrigens eine Ahnung, wann Günther heute heimkommt?“
„Ich habe ihn nicht gefragt, Mutter.“
„Ach, so was! Ich weiß gar nicht, wie du bist, Aenne! – Aber Kind, wie du ungeschickt den Kochtopf anfaßt! Hast du dich verbrannt? Na, das ging noch ’mal so. Ja, was ich sagen wollte, Aenne, ich habe die Kleinen zu Mittag herüber bitten lassen, sie essen so gern Klöße, und du mußt dich jetzt doch etwas mehr um sie kümmern, finde ich. Die Aelteste ist doch eigentlich recht scheu dir gegenüber. Was mag das nur sein? Manchmal denke ich, das Kind hat so dumme Stiefmuttermärchen gelesen oder erzählen hören, meinst du nicht auch? Aber so – –“
Das Klingeln der Hausthür unterbrach den Redestrom der geschäftigen Frau. „Herrgott, schon wieder Besuch? Aber ich wüßte gar nicht, wer da noch kommen sollte, sie waren ja schon alle hier!“
Sie nickte Aenne Stillschweigen zu und schlich zur angelehnten Küchenthür hinüber, um zu horchen, wer da sei. Eine Männerstimme fragte nach Frau Rätin und dem Fräulein; das junge Dienstmädchen antwortete, daß die Damen zu Hause seien, die Herrschaften möchten nur eintreten in die „gute Stube“, sie wolle es gleich melden.
Aenne stand plötzlich mit sonderbar kühlem, blassem Gesicht da, Frau Rätin kam eilig zurück zu ihrem brodelnden Kessel.
„Der Heinz Kerkow, Aenne! An den habe ich gar nicht mehr gedacht! Geh’ nur immer hinein! Sobald es die Klöße erlauben, komme ich nach.“
Langsam band Aenne die Küchenschürze ab, wusch sich die Hände und streifte die Aermel ihres rotbraunen Wollkleides herunter. Als sie die Küche verließ, wo das Dienstmädchen ganz aufgeregt der Frau Rätin erzählte, daß sich die Braut vom Herrn Lieutenant aber fein gemacht habe, trug sie ihre alte freundliche Miene zur Schau, nur daß sie den Kopf ein bißchen stolz in den Nacken gebogen hatte.
„Er muß glauben, daß ich glücklich bin, daß ich nie an ihn gedacht habe – es gilt, Aenne, es gilt, beiße die Zähne auf einander!“ sagte sie sich. Als sie die Hand auf den Drücker legte, kam sie einen Augenblick ein Grauen an vor dem Wiedersehen und ein Zweifel an ihrer Standhaftigkeit, aber das ging vorüber, sie öffnete rasch und trat ein.
Heinz Kerkow hatte ebenfalls seine ganze Energie aufgeboten, um diesen Besuch endlich auszuführen. Erst hatte er ihm von Tag zu Tag aufgeschoben unter allerhand Vorwänden – es wurde ihm so unsagbar schwer, das Mädchen wiederzusehen, von dem er genau zu wissen meinte, daß es ihn liebte, trotz ihres Schreibens von Glück und Brautjubel; dann hatte er sich gesagt, daß ein Verzögern die Qual nicht mindere, und hatte sich, seinem raschen Temperament entsprechend, entschlossen, sofort hinunter zu gehen. Eigentlich wollte er allein ihr gratulieren, einen Besuch machen wie in alten Tagen, aber da war es Toni plötzlich eingefallen, daß sie der kleinen May auch gratulieren müsse und daß sie außer dem etwas mit dem Medizinalrat zu besprechen habe, und so waren sie beide gekommen.
Aenne erblickte beim Eintreten die Hofdame vor einem der Photographiealbums, die auf der Plüschdecke des Sofatischs lagen; Heinz stand am Fenster, nach dem Schlosse hinaufstarrend.
„Wie liebenswürdig, gnädiges Fräulein, Herr von Kerkow“, sagte sie unbefangen und lächelte, wobei ein rosiger Hauch über ihr Gesicht flog. Und indem sie neben Toni auf dem Sofa Platz nahm und Heinz Kerkow den Sessel neben sich anwies, wandte sie das Gespräch auf den Verlust, den der junge Offizier durch den Tod seiner Mutter erlitten. „Wie leid thut es mir, Herr von Kerkow – solch ein schwerer Schlag gerad’ in die glücklichste Zeit des Lebens! Sie müssen nämlich wissen, Fräulein von Ribbeneck, daß Ihr Herr Bräutigam und ich uns schon seit den Kinderjahren kennen, daß ich ein bißchen eingeweiht bin in seine Familiengeschichte und daher ermessen kann, was dieser Verlust für ihn bedeutet. Und Ihre Schwestern, Herr von Kerkow? Was wird denn nun aus Fräulein Hedwig? Sie kann doch nicht allein bleiben, sie ist noch viel zu jung dazu.“
„Sie sind sehr freundlich,“ antwortete er mit einer Stimme, die fast heiser klang. „Meine älteste Schwester ist seit kurzem schwer erkrankt, unheilbar, und Hedwig ist allein geblieben, bis auf weiteres.“
„Ganz allein?“ rief Aenne, „aber das ist ja traurig!“
„Ehrlich gestanden“, mischte sich Toni ein, „das kann ich nicht finden. Tausende von Mädchen leben in noch schwereren Verhältnissen allein.“
„Gewiß!“ gab er zu, „sie stirbt nicht daran!“ Aber es geschah mit einem so müden Ton, daß Aenne erschrak. Sie hatte bis jetzt nicht gewagt, ihn anzusehen, nun that sie es. Er hielt den Helm auf dem Knie und zwischen seinen Brauen stand eine Falte, die Aenne nicht kannte in diesem frischen, sonst so lachenden Antlitz. Er sah den Blick und raffte sich auf, weshalb sollte denn dieses ruhige freundliche Mädchen, das wie das verkörpertes Glück aussah, erfahren, wie es um ihn stand? Ihrem Schreiben hatte er nicht geglaubt, ihrem Wesen mußte er glauben, sie war wie getaucht in lächelndes Glück und rosige Glut.
„Haben Sie schon gehört, Fräulein May, daß ich mich bei Ihrer Durchlaucht als Stütze der Hausfrau verdingt habe?“ fragte er nun, sein Unbehagen über die künftige Stellung mit leichtem Spott verbergend.
Sie sah ihn verständnislos an, Toni zog ein Gesicht, sie fand den Witz absolut nicht nach ihrem Geschmack.
„Sie sehen in mir,“ fuhr er sich verbeugend fort, „den künftigen Hofmarschall Ihrer Durchlaucht der Frau Herzogin von Breitenfels. Wissen Sie, was das heißt? Das heißt Hand-, Küchen-, Kellerverwalter sein, Gesellschaften arrangieren, auf die unsterblichen Schimmel ein Auge haben sowie auf sämtliches Personal des Haushaltes, die Fleischer-, Bäcker- und sonstigen Rechnungen kontrollieren, Konzerte veranstalten, hohen Gästen entsprechend einen längeren Küchenzettel entwerfen, kurz – ein Mädchen für alles!“
Aenne hatte ihm einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen. Einen Augenblick, einen einzigen, hatte sich ihr Gesicht verfärbt – hier wollte er bleiben? Das hieße ja für sie ein immerwährender Schmerz, ewige Unruhe, unausgesetzte Qual! – „Wirklich?“ fragte sie.
„Gewiß!“ bestätigte Toni, „finden Sie es nicht reizend von Durchlaucht? Die Herzogin will mich nicht von sich lassen, rührend ist sie! Dort droben, wo Heinz jetzt logiert, wird unsere Wohnung hergerichtet. – Nehmen Sie sich in acht, Fräulein May, wir können der künftigen Frau Oberförsterin mit dem Feldstecher die ganze Wohnung ausspähen, fügte sie scherzend hinzu.
„O, das freut mich, daß Sie hier bleiben,“ log Aenne; weiter kam sie nicht – es war so namenlos schmachvoll, dieses Komödienspiel! Zum Glück trudelte jetzt die freudestrahlende Frau Rätin ins Zimmer. Sie gehörte zu den kleinbürgerlichen Frauen, die überschwengliche Höflichkeitsphrasen für solche Gelegenheiten aufgespeichert haben, und so hörte man in den nächsten fünf Minuten nichts weiter als die Schlagwörter. Ehre – Glück – Freundlichkeit – zu gütig – reizend etc.
[71] „Wie schnell das gekommen ist,“ fuhr sie fort, Aennes Platz neben der Hofdame einnehmend, „vor vierzehn Tagen hatte noch niemand eine Ahnung von einer Verlobung. Wissen Sie, gnädiges Fräulein, an dem Konzertabend, wo Aenne das Lied sang von der Abendsonne – ja, damals dachte niemand an ein solches Ereignis, und am andern Tage gleich zwei! Ueberrascht waren wir, gnädiges Fräulein, ich sage Ihnen – überrascht über alle Begriffe!“
Aenne stand wie auf Kohlen. „Mütter sind immer überrascht, selbst wenn sie ganz genau wissen, wie es um das Herz der Tochter steht,“ sagte sie gezwungen lachend.
„Glauben Sie es nicht,“ verteidigte Frau Rätin ihre Mutterwürde, „ganz allein hat sie die Geschichte mit sich ausgemacht, und steht dann da plötzlich vor einem: „Mama, ich habe mich verlobt, Basta! – Jawohl, du Trotzkopf'!“
„Frau Rätin“, unterbrach die Hofdame gelangweilt, „ist der Herr Doktor zu sprechen?“
„Gewiß, er hat ja eben noch Sprechstunde“, erwiderte die lebhafte Frau und erhob sich sofort, um Fräulein von Ribbeneck den Vortritt vor einigen andern Patienten zu verschaffen, und nach kaum einer Minute streckte sie den Kopf zur Thür hinein. „Mein Mann läßt bitten, gnädiges Fräulein.“ Toni flüsterte ein „Auf Wiedersehen“ und verschwand.
Aenne und Heinz standen sich allein gegenüber. die Frau Rätin war vermutlich wieder in die Küche geflogen zu ihren Klößen. Eine lange Pause herrschte, keiner von ihnen fand ein Wort. Endlich sagte er mühsam scherzend – er hatte sich erhoben und war vor sie hingetreten.
„Also, das ist Aenne, die liebe lustige Aenne als Braut?“
Sie ging darauf ein. „Und das ist Heinz von Kerkow als Bräutigam?“
„Ja!“ sagte er kurz und nickte ihr ernsthaft zu. „Wie freue ich mich, Aenne, daß Sie so glücklich sind,“ sprach er dann herzlich.
„Sehr bin ich es, sehr!“ versicherte sie eifrig.
„Und so ernsten Pflichten gegenüber – drei Stiefkinder? Arme kleine Aenne!“
„Darauf freue ich mich gerade ganz unbändig,“ rief sie fröhlich.
Er sah sie lange und forschend an, blieb aber stumm. Sie ward ein wenig rot unter der Lüge, sprach dann aber hastig weiter:
„Heinz – ach pardon! – Herr von Kerkow, ich muß Ihnen noch etwas sagen. Vorhin, als von Ihrer Schwester die Rede war, wurden Sie so traurig – bitte, bitte, schreiben Sie ihr, daß wir sie mit offenen Armen aufnehmen wollen, ich kann für meine Eltern einstehen. Lassen Sie sie zu uns kommen, lassen Sie sie nicht so allein jetzt! Sehen Sie,“ fuhr sie erregt fort, in den Fehler aller Leute fallend, die einen andern um jeden Preis etwas glauben machen wollen, den Fehler der Uebertreibung, „sehen Sie, Heinz, wenn Ihre Braut sich ein wenig sperrt in dieser Angelegenheit, so kann man ihr das nicht verdenken – sie fürchtet eben den dritten im Bunde, den Jemand, mit dem sie Ihr Herz ein wenig teilen müßte. Ich aber, Heinz, bin nicht Ihre Braut und infolgedessen auch nicht eifersüchtig, ich würde mich so unbeschreiblich freuen, die Schwester meines Jugendfreundes bei mir zu haben!“
Er sah ganz starr zu ihr hinüber. Was war denn das? Was sollte das heißen? Glaubte sie nötig zu haben, ihm mit klaren Worten zu sagen, daß sie ihn nie geliebt? Mein Gott, davon mußte er wohl auch so überzeugt sein! „Ich danke Ihnen, Fräulein Aenne, ich glaube auch alles, was Sie mir da sagen, glaube es gern,“ antwortete er, „seien Sie versichert, es thut mir jedes Wort wohl, befreit mich von Sorgen, die ich mir arroganterweise gemacht hatte! Was nun aber Hedwig anbetrifft, so muß ich leider für jetzt Ihre Freundlichkeit ablehnen, ein solcher Trauergast würde in Ihr frohes Haus nicht passen – Später, wenn Sie als junge Frau Oberförsterin drüben wohnen und Hedwig in unserem Hause ein Heim gefunden hat, dann nehmen Sie sich ihrer, bitte, ein wenig an ich werde Ihnen sehr dankbar dafür sein!“
Sie hatte ihn recht verstanden, denn sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, also – er war doch in Sorgen um sie gewesen! Ob er jetzt sich überzeugt hat, daß sie ihn niemals geliebt hat? Weiterlügen, mehr lügen! stürmte es in ihr, sie suchte nach einer Antwort und fand keine. Wie erlöst eilte sie gleich darauf der Thüre zu, an der sich der Drücker bewegte, ohne daß jene aufging. Sie öffnete, und ihr fröhliches „Ei! ei! Was kommt denn da?“ ließ den jungen Offizier in seiner Wanderung durch das Zimmer einhalten.
Drei Kinder kamen über die Schwelle, das jüngste, ein Mädel mit krauser blonder Lockenfülle, dick und pummelig wie der Apfel, den es in der Hand hielt, nahm Aenne gleich auf den Arm und küßte es. Der Bub im Sammetkittelchen mit Lederschurzfell, Papierhelm und hölzernem Säbel war die Miniaturausgabe des Oberförsters, derb, untersetzt, mit trotzigen blauen Kinderaugen, die verwundert von Aenne zu Heinz schauten. Die Aelteste, ein mageres Kind von sieben Jahren mit spitzem altklugen Gesicht und straff zurückgekämmtem weißblondem Haar, hielt in jedem Arm eine Puppe, sie machte einen Knix vor dem fremden Herrn und sah ihn ebenfalls mit unverhohlener Neugier aus hellen wimperlosen Augen an.
Aenne hatte sich mit ihrer Last auf den Fenstertritt gesetzt und barg ihr Gesicht in das krause Blondhaar des Kindesköpfchens. Der Junge stand ihr zugewandt und beobachtete sie stumm.
Heinz, den in diesem Augenblick der ganze große Schmerz seiner verlorenen Liebe überfiel, betrachtete irgend eins der Bilder an der Wand. Er konnte sie nicht tändeln sehen mit dem Kinde dieses andern, er konnte sie überhaupt nicht mehr sehen, es ging über seine Kräfte. Mehr als ein bestimmtes Maß von Elend kann der Mensch nicht ertragen! Sie hatte ihn nie geliebt, nun gut, aber er liebte sie desto mehr, wie sehr, das fühlte er in diesem Augenblick erst.
Und Aenne spielte ihre Komödie weiter und hatte ein Gefühl dabei, als müßte irgend etwas in ihrem Herzen zerreißen, als müßte sie schreien. „Glaube mir, glaube mir! Du mußt mir glauben! Siehst du denn nicht, daß ich beinahe sterbe an den Lügen?“
Da klang auf einmal eine Kinderstimme durch das stille Zimmer, eine grollende freche Jungenstimme: „Warum küßt du denn heute Mariechen immerzu?“
Aennes Gesicht tauchte erschreckt empor. „Was meinst du damit, Hermänne,“ fragte sie streng, „ich küsse das Mariechen doch alle Tage?“
„Das ist ja gar nicht wahr!“ rief der Junge, „und wenn sie auf deinen Schoß will, setzt du sie immer wieder auf den Boden.“
„Du bist ein ganz ungezogenes Kind, Hermann! Agnes, bitte, nimm deinen Bruder und geh mit ihm hinaus!“ rief sie.
Aber die ältere Schwester ließ ihren Bruder nicht ohne weiteres tadeln. „Ja,“ sagte sie mit ihrer ganzen altklugen Wichtigkeit, „und einen Schnitz hast du ihm auch nicht an die Peitsche machen wollen, und Puppenkleider willst du auch nicht nähen für meine Lucie, und Fräulein Stübken sagt auch, du verstellst dich bloß, du hättest uns gar nicht lieb, weil du nie mit uns spielst!“
Aennes Lachen machte den unartigen kleinen Mund verstummen. „Na, nun aber rasch hinaus!“ rief sie, „geht zu Großmama in die Küche, ihr armen dummen Gören – faßt das Mariechen ordentlich an, damit es nicht hinfällt!“
„So!“ Sie hatte die Kinder aus der Thüre geschoben und lachte noch immer, sie wußte es selbst kaum. Ganz mechanisch setzte sie sich wieder auf den Fenstertritt und sah scheu zu Heinz hinüber, der dies kurze Zwischenspiel gar nicht bemerkt zu haben schien. Er stand noch immer vor dem Bilde, die Zähne aufeinander gebissen. „Kinder und Narren – –“ sagte er still für sich.
Sie atmete auf. Nein, er hatte ihr armes blutendes Herz nicht gesehen, von dem die Kinder soeben erbarmungslos den Schleier gerissen den sie so sorglich darüber gebreitet hielt. „Ihre Braut bleibt recht lange beim Vater“, bemerkte sie möglichst ruhig.
Er wandte sich langsam zu ihr. Sie saß da, die Arme verschränkt, den Kopf, wie erschöpft, an die Spiegelkonsole gelehnt, die Schultern emporgezogen, als fröstelte es sie, das Gesicht blaß und wie verfallen.
[72]
[73] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [74] „Es ist kalt in diesem Zimmer“, beantwortete sie seinen verdunkelten Blick, in dem der ganze grenzenlose Jammer um sie beide lag.
„Benachrichtigen Sie, bitte, meine Braut, ich sei vorausgegangen in den Marstall, Fräulein May,“ sagte er plötzlich. „Ich habe nämlich augenblicklich die Aufgabe, mich in meinen Beruf möglichst rasch einzuleben.“
Ehe sie sich noch erheben konnte, hatte er sich verbeugt und das Zimmer verlassen. Sie sah ihm nach, wie er über den Platz schritt, und dann blickte sie in der Stube umher, als habe sie dieselbe nie vorher gesehen. Da ertönte von draußen ein gellendes Geschrei des kleinen Mariechen und die Stimme der Mutter. „Aenne, bekümmere dich doch um die Kinder!“
Sie ging hinaus und hob das schluchzende Kind auf den Arm.
Die Oberförsterei, die nur durch einen Baumgarten von dem Hause des Medizinalrats getrennt lag, war eins der stattlichsten Gebäude des Platzes. Die Herzöge von Breitenfels hatten stets der Jagdpassion in hohem Maße gehuldigt. Ehemals, als Breitenfels noch ein selbständiges Land bildete, hatte in diesem Gebäude der Oberforstmeister gewohnt; nun, nachdem schon seit hundert Jahren die beiden Herzogtümer verschmolzen waren, bestand diese hohe Charge nicht mehr in Breitenfels und der Oberförster bewohnte das Gebäude. Die alten Mauern des zweistöckigen Giebelhauses bargen herrschaftliche Räume mit stuckverzierten hohen Plafonds, parkettierten Fußböden und breiten Flügelthüren. Im Flur hingen alte lebensgroße Oelbilder fürstlicher Jäger und unzählige Geweihe, und die schöne breite Treppe schmückte ein kunstvolles schmiedeeisernes Geländer.
An diesem Nachmittag war zu Ehren des erwarteten Besuches über die roten, frisch gescheuerten Fliesen des Hausflurs verschwenderisch Sand gestreut, und ein durchdringender Geruch von Räucherpulver quoll den Eintretenden entgegen. Aenne, die mit der Mutter das Haus ihres Verlobten betrat, fuhr fast zurück vor dieser süßlichen schweren Luft, die sich betäubend um ihren schmerzenden Kopf legte.
Aus der Wohnstube rechts kam der Oberförster ihnen entgegen, hinter ihm drängten die Kinder nach. Der große Mann war sichtlich bewegt und streichelte leise die Hand des jungen Mädchens, die er behutsam in seinen Arm genommen hatte, sie zu küssen wagte er nicht in Gegenwart so vieler. „Kommen Sie herein, Mamachen, legen Sie im Zimmer ab – tritt ein, Aenne,“ bat er einfach.
Fräulein Stübken, die jetzt im schwarzen Kleid und zierlichen Schürzchen auf der Schwelle erschien, zeigte sich sehr dienstbeflissen bei Abnahme der Sachen. Es war schon ein wenig dämmerig in dem großen Gemach, in das der einfache Hausrat gar nicht zu passen schien, aber der Feuerschein des Ofens spielte traulich auf dem altersbraunen Fußboden, der Kaffeetisch war mit blendend weißem Tuch bedeckt und aus der großen weißen Porzellankanne quoll ein würziger Duft entgegen.
„So, Frau Schwiegermama, nun wollen wir zuerst gemütlich Kaffee trinken. - Fräulein Stübken, wo haben Sie Ihre Waffeln? – Kommt, Kinder – wer von euch will auf der andern Seite der neuen Mama sitzen?“
Es meldete sich keines, und so zog er die Aelteste heran. „Hier, Aenne, ich hoffe, sie wird dir bald eine kleine Stütze werden. Sei artig, Agnes, und präsentiere Großmama den Kuchen!“
Man saß dann und genoß den Kaffee. Fräulein Stübken machte die Wirtin und nötigte überflüssig viel. Ganz besonders aufmerksam war sie Aenne gegenüber, was diese absolut nicht zu bemerken schien. Aenne hatte durch die Kinder erfahren, wie die Hausdame ihres Bräutigams über sie dachte, zürnen that sie ihr nicht, denn es war ja die Wahrheit, aber sie ignorierte sie. Wozu auch ihr gegenüber lügen? Es war ja genug, daß sie Heinz belog!
Die Stübken, eine Dame von ungefähr dreißig Jahren, etwas mehr geputzt als sonst nötig und mit höchst moderner Haarfrisur, hatte einen verkniffenen Zug um den Mund, wie er den unglücklichen Geschöpfen, die vom Schicksal von einem Hause in das andere gejagt werden, von denen jede Brotherrschaft fordert, daß sie sich mit „aller Liebe“ ihrer Aufgabe widmen, so oft eigen ist. Aenne, welche seit ihrer Verlobung für die Arme, die sich nun wieder eine andere Stellung suchen mußte, inniges Mitleid gefühlt und erst seit heute mittag über die Charaktereigenschaften dieser Dame sich Gedanken gemacht hatte, faßte sie genauer ins Auge und meinte, daß sie älter und verfallener als je aussähe, und daß sie vielleicht gehofft habe, Günthers Frau zu werden.
Hätte er sie doch genommen! fuhr es ihr plötzlich durch den Sinn, und dann erschrak sie über diesen Gedanken. Was hätte sie dann gethan, wenn Günthers Arme nicht mehr für sie offen gewesen wären? Wie hätte sie dann beweisen können, daß Heinz ihr gleichgültig, ach, so gleichgültig war?
„Ich denke, Fräulein Stübken, Sie zeigen, solange es noch hell ist, den Damen die Wohnung und die Schränke,“ sagte Günther endlich, der seine Braut zuweilen angesprochen hatte, ohne mehr als eine kurze Antwort zu erhalten.
Man erhob sich, Fräulein Stübken hing den Schlüsselkorb an den Arm und schritt voran; den Kindern wurde bedeutet, artig zu sein. Man wanderte durch mehrere Räume, alle, höchst dürftig möbliert, machten einen mehr als unwohnlichen Eindruck. Die „gute Stube“ war geradezu schauerlich, die Möbel aus Birkenholz mit grellgeblumtem Wollstoff überzogen, der Teppich mit kohlkopfgroßen Rosen im Muster; der Kaiser, die Kaiserin, der Herzog und die Herzogin, Bismarck und Moltke blickten als empörend schlechte Oeldruckporträts von den Wänden. In einer Ecke befand sich ein aus Holz geschnitztes schiefes Rauchtischchen, in dessen Rillen und Kerben dicker Staub lag, Die Vorhänge, steif gestärkt und viel zu sehr mit Waschblau gefärbt, und vor dem Spiegel die herkömmliche Sturzuhr mit Glasglocke darüber, vollendeten die Ausstattung.
„Schrecklich!“ dachte Aenne, und die Eltern und Günther hatten allen Ernstes ausgemacht, daß sie keine Aussteuer an Möbeln gebrauche! Erst gestern hatte auch der Vater das gütige Geschick gepriesen, daß Aenne sich so nett und warm in das behagliche Nestlein setzen könne. Zum erstenmal überfiel sie eine herzbeklemmende Angst vor dem Lose, das sie sich erwählt, und drohte sie fast zu ersticken. Wie öde, wie kalt war es hier!
„Ein bißchen ungemütlich hier, Kind,“ flüsterte die Mutter, „macht, weil nicht geheizt ist! Eine Frauenhand kann da mit ein paar Kleinigkeiten viel thun, mit ein paar Blumentöpfchen lassen sich Wunder erzielen.“
Ja freilich, Mama hatte recht, das war es. Wärme fehlte, ein bißchen Sonne und Blumen!
Fräulein Stübken forderte jetzt die Frau Medizinalrätin auf, in die Schrankkammer zu treten, sie habe ein Verzeichnis der Wäschestücke in jedes Fach gelegt.
„Und ich will dir indessen meine Stube zeigen,“ sagte der Oberförster zu Aenne, „Mama holt uns dann ab, wenn sie hier fertig ist.“
Einen Augenblick stockte ihr Fuß, dann ging sie mit. Sie war seit dem Abend im Walde noch nicht wieder mit ihm allein gewesen, sie hatte es vermieden. In diesem Augenblicke fand sie indes keinen passenden Vorwand und es war ja schließlich auch thöricht, danach zu suchen. So ging sie denn neben ihm durch den großen Flur und betrat die Schwelle des Zimmers, das der Wohnstube gerade gegenüber lag. Der letzte falbe Tagesschein erhellte es nur noch notdürftig, und auch hier spielten die Flammen im Ofen. In ihrem Schein lagen mehrere Hunde auf der Diele, die, durch den Eintritt einer fremden Person beunruhigt, sich knurrend aufrichteten. Auch hier eine spartanische Einfachheit, soweit Aenne sehen konnte, ein riesenhafter Schreibsekretär an der Wand, drüben, nahe beim Fenster, davor ein Ohrenstuhl, ein mächtiges Sofa, über dessen Lehnen Fuchsfelle gebreitet waren. Unmassen von Tierbildern in Kupferstich an den Wänden, zwischen ihnen noch Geweihe, ein Gewehrschrank, ein Kleiderschrank und unter der Decke blauer Tabaksrauch.
„Kuscht euch!“ befahl er den Hunden, und dann zog er seine Braut zum Sofa hinüber. „Komm', Aenne, setze dich!“ Er hatte etwas Unbeholfenes in seinem Benehmen, und Aenne fühlte, wie seine Hand zitterte. Mechanisch folgte sie seiner Aufforderung und drückte sich in die äußerste Ecke des mit schwarzem Leder überzogenen Kanapees. Er setzte sich neben sie und nahm wieder [75] ihre Hand, und als er fühlte, daß auch sie leise zitterte, sagte er weich:
„Hast du Angst vor mir, mein kleines Mädchen?“
Sie antwortete nicht.
„Mußt auch nicht,“ fuhr er treuherzig fort, „ich bin dir so gut, so sehr gut; es thut mir weh, wenn du dich fern von mir hältst. Fasse ein wenig Vertrauen zu mir, Aenneken, willst doch mein guter Engel werden – hast mich doch lieb?“ Er hatte ihren Kopf an seine Brust gepreßt, seine große Hand drückte ihren Scheitel wie ein Riesengewicht.
Sie konnte nicht antworten, sie wußte weiter nichts zu thun, als es still zu dulden.
„Siehst du, Kind,“ fuhr er leise fort, „es ist mir ja selbst ein Wunder, daß du Ja! gesagt hast. Ich bin nicht verblendet über mich, ich bin aus kleinen Verhältnissen herausgekommen, habe hart gearbeitet in meiner Jugend, scherwenzeln und glatte Worte machen habe ich nicht gelernt. – Schön bin ich auch nicht, und drei Kinder hängen an mir – das einzige, womit ich dich gewinnen könnte, ist ein Herz voll Liebe und Treue für dich, Kind, und daß du dies herausgefunden hast, das ist mir eben so wunderbar, wo ich es doch immer versteckt habe vor dir, denn ich meinte, du seiest zu gut für mich! – – Oder ist es Mitleid gewesen, Aenne, mit mir und meinen Kindern? Sag' 'mal ehrlich, Aenne, habe den Mut – Ja? War’s Mitleid? Ich nehme es dir nicht übel – ich wollte dich schon längst fragen.
Sie schüttelte leise den Kopf.
„Nein?“ forschte er und es klang wie Jubel und er bog sich hinunter und küßte sie. „Wenn du jetzt ‚Ja!‘ gesagt hättest, Aenne, wenn du – er war aufgesprungen und ging im Zimmer umher, dann setzte er sich wieder neben sie und hob sie auf seine Kniee, als sei sie ein Kind – „Weißt du, was ich geworden wär', wenn du Ja! gesagt hättest? – Nein, Aenne, ich lasse dich nicht fort, bleib' ruhig – weißt du es? – Ein einsamer Mann wäre ich wieder geworden, denn ich hätte dich freigegeben in der nämlichen Minute! Komm, Mädel, du sollst es wissen, warum! Nicht um meinetwillen – dein Mitleid wäre für mich immer noch ein großes Glück – um deinetwillen, Aenne, denn – – und nun sage ich dir etwas, das außer dir kein Mensch weiß, vielleicht auch verstehst du es gar nicht, denn um das ganze Elend zu begreifen, muß man die Erfahrung hinter sich haben.“
Sie war aufgesprungen, sie wollte ausrufen „Ich will dein Geheimnis nicht, denn ich liebe dich ja nicht!“ aber er zog sie wieder auf sein Knie, und dann sagte er langsam wie mit gebrochener Stimme. „Ich habe meine erste Frau nicht geliebt! – Aenne, weißt du, was das heißt? Nein, das weißt du nicht – Gott mag's jedem ersparen, denn wenn's eine Hölle giebt auf Erden, ist es dies!“
„Eine Hölle auf Erden“ hatte er gesagt. Sie machte sich heftig los und stand auf; er ließ sie, es war, als sei er in alten schweren Gram versunken, so still saß er da und starrte vor sich hin. Und sie war zum Fenster geflüchtet und ihre Blicke hingen an einem Licht, das schimmerte im Erkerbau des Schlosses, drei Treppen hoch. – – Ihr war zu Mut, als müßte sie ersticken vor Angst und hinter ihr redete jetzt der Mann aus dem Dunkel, als spräche er mit sich selber:
„Und wenn man die so ansieht, mit der man zusammen geschmiedet ist, mit Ketten, die tausendmal drückender sind als eiserne, wenn man bei allem, was sie thut, denken muß, wie ist das nun wieder dumm und ungeschickt! Wenn man an dem ganzen unseligen Geschöpf nur Tadelnswertes findet, wenn es gar nichts recht machen kann wenn einem schon die Fingerspitzen kribbeln, tritt sie nur ins Zimmer, wenn man das Antlitz, von dem man wünscht, es nie gesehen zu haben, jeden Mittag bei Tische sich gegenüber erblickt, wenn man der Elenden fluchen möchte für jeden Dienst, den sie einem leisten muß, wenn man aufwacht des Morgens und ihr Gesicht ist das erste, das einen ansieht, vorwurfsvoll und bittend, und man fühlt statt Mitleid – Zorn in sich! Wenn man froh ist, sobald die Hausthür hinter uns zuschlägt – wenn – –“
Er stand auf, kam herüber zu ihr und zog sie zärtlich an sich. „Ach, du hast viel zu thun, Aenne, du mußt alles wieder gut machen, was schwere lange Jahre mir angethan haben!“
„Aber weshalb – –?“ stieß sie hervor.
„Weshalb ich sie nahm, Kind? Ach, Aenne, wie soll ich dir das sagen, wie kommt das zuweilen? Der eine thut es aus Gedankenlosigkeit, der andere in der Laune einer unseligen Stunde, der dritte aus Trotz. Verstehe mich um Gotteswillen nicht falsch, es liegt mir nichts ferner, als die Mutter meiner Kinder noch im Grabe zu tadeln. Sie war des Oberförsters Nichte, droben in Brotterode, war älter als ich – ich jung, ehrgeizig und arm. Ich kannte keine andere und sie wollte mich, sie liebte mich, sie stellte sich mir in den Weg, wo immer ich ging, und die Leute, die redeten von einer guten Partie, von einer braven häuslichen Frau, von Einleben auch ohne Liebe und sagten, daß die leidenschaftslosen Ehen die glücklichsten wären! – – Dummes Zeug! Es geht nicht ohne Liebe, ohne Leidenschaft – sag’ ich!“ rief er heftig. „Nein! Oder – es sind Menschen ohne Herz, Puppen, die am Draht tanzen, Tiere sind’s! Und darum, Aenne, wenn ich vergehen sollt’ um dich – ohne deine Liebe ertrüg’ ich’s nicht – um deinetwillen! Und nun schweigen wir von meiner Johanna sie ruht aus von vielen Enttäuschungen, ist auch wohl nicht glücklich gewesen mit mir, obwohl ich glaube, sie wußte nicht, was sie entbehrte. Ich habe es ihr wenig gezeigt, wie es um mich stand. Aber, siehst du, Aenne, gerad' in dem stillen gleichgültigen Nebeneinander, in dem unterdrückten Schmerz – da liegt das Elend!“
Und wieder zog er sie an sich. „Aenne“, sagte er leise und innig. Und ihr war es, als drehte sich alles um sie in rasendem Wirbel, sie fühlte nichts als ihre eigene ungeheure Schuld diesem Manne gegenüber, wenn sie jetzt schwieg – und sie konnte nicht reden! Sie hatte Liebe verleugnen können, Liebe heucheln diesem gegenüber – nie!
„Ich muß dir etwas sagen“, rief sie, angstvoll sich an ihn schmiegend, „ich muß –“ Und dann brach sie in ein leidenschaftliches thränenloses Schluchzen aus und blieb dennoch stumm.
In diesem Augenblicke wurde die Thür geöffnet und Lampenschimmer fiel herein. Frau Rat und Fräulein Stübken sahen nur noch, daß der Oberförster seine Braut im Arme hielt, ihr Weinen war jäh vorüber.
„Wir müssen wohl heim,“ sagte die Mutter freundlich, während Fräulein Stübken, die die Lampe auf den Tisch gestellt hatte, das Zimmer verließ. „Einen Augenblick setze ich mich noch; natürlich, lieber Hermann, ist’s Zeit, ich will Ihnen die Ruhe nicht nehmen. Dies ist auch ein nettes Zimmer,“ fuhr sie fort, Aenne Zeit lassend, sich zu sammeln, ohne im mindesten Neugier zu verraten „und das da ist wohl Ihre liebe selige Frau?“ erkundigte sie sich leise und deutete auf ein Bild über dem Schreibtisch, eine Photographie in schwarzem runden Holzrahmen.
Er schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, das ist ein früh verstorbener Bruder von mir, der Theologie studierte.“
„In Ihrem Zimmer kein Bild der Verstorbenen?“ stotterte Frau Rat. „I Spaß, da ist’s ja!“ Und nun erhob sie sich und schritt zu dem Tischchen hinüber, auf welchem eine Wasserflasche stand, ein Leuchter und Zündhölzchen. Aber als sie die Lorgnette nahm, um es zu betrachten, war es nur ein schon gedruckter Spruch:
und darunter:
„Ein schöner Spruch, nicht wahr?“ rief er heiter. „Ich denke, er soll so recht extra für uns erdacht sein, und behaglich wollen wir es uns machen in dem alten Bau! Sie haben freie Hand, liebe Mutter, können schalten und walten wie Sie wollen, denn ich werde selten daheim sein in der nächsten Zeit. Wenn der Herzog kommt, so ist – –“
„Kommt Hoheit?“ unterbrach die Rätin neugierig, „ich meinte, er wolle in diesem Jahr Breitenfels nicht beehren?“
„Uebermorgen ist er da.“
„Mit großem Gefolge?“
„Nur Jagdgäste, die Herzogin ist nach dem Süden gereist.“
„Ohne Theater?“
„Ei bewahre! Das hielte Hoheit nicht aus. Diesmal ist’s das Opernpersonal, das er mitbringt. Da soll mein kleiner Schatz ordentlich Musik hören, mein Sitz steht dir immer zur Verfügung. Woher ich das weiß? Ich erfuhr das alles aus [76] einem Briefe vom Jagdjunker Zerbau. - Mit dem ‚Freischütz‘ fangen sie an.“
Man war unter diesen Gesprächen aus der Oberförsterei hinaus und bis an die Maysche Thür gelangt. „Ich sage dir noch gute Nacht, Aenne,“ flüsterte er, „aber ich muß erst mit den Kindern essen.“ Dann trennten sie sich.
Am späten Abend noch, als der Medizinalrat und Tante Emilie schon die Ruhe gesucht hatten und Aenne sich auch von der Mutter zu trennen im Begriff war, die im Zimmer noch allerlei zu ordnen und zu kramen hatte, fragte das Mädchen beim Gutenachtkuß, stockend und die Farbe wechselnd. „Mama, weißt du nicht, ob Günther mit seiner ersten Frau zufrieden lebte?“
Die Rätin schob die Brille auf die Stirn und sah ihre Tochter groß an. „Du willst wohl gar auf eine Gestorbene eifersüchtig werden?“ rief sie. „Fange doch solchen Unsinn gar nicht erst an, Kind!“
„Eifersüchtig, Mama, nein! Mir ist nur, als ob ich ’mal gehört hätte, es sei da nicht so ein strahlendes Glück gewesen.“
„Strahlendes Glück! Kleines Schaf, wie stellst du dir denn eigentlich die Ehe vor? So viel ich weiß, sind die Leute rechtschaffen miteinander ausgekommen. Glück? Was heißt denn Glück? – Zu dummes Zeug!“
„Ich habe mich noch immer nicht richtig ausgedrückt, Mama – Ob sie sich lieb hatten, meinte ich.“
„Na, Gott – natürlich! Oder meinst du, ein Mann weint so bitterlich wie er über die Frau im Sarge, wenn sie ihm gleichgültig war?“
„Das könnte am Ende Reue gewesen sein,“ bemerkte Aenne nachdenklich.
„Worüber Reue? Etwa darüber, daß er Geduld mit ihr hatte, als sie an der Schwindsucht zu kränkeln begann, lange Geduld? Daß er sie drei Monate hindurch Tag und Nacht auf dem Siechbette gepflegt hat wie eine Diakonissin, und daß er das Mariechen, bei dem ihr Leben schließlich erlosch, aufzog wie eine Kinderfrau? Ich meine, der hat wahrlich nichts zu bereuen! Wie kommst du auf solchen Schnack, Aenne?“
„Geduld hat er mit ihr gehabt, Mama?“ wiederholte das Mädchen langsam. „Glaubst du, er würde auch mit mir Geduld haben?“
„Wollen’s hoffen!“ gähnte Frau Rätin, die ihr Kind nicht verstand, „stelle sie nur nicht zu sehr auf die Probe! Weißt du was? Wenn deine Hochzeit vorüber ist, thue ich ein Dankopfer – mir graut vor der nächsten Zeit!“
„Mir auch,“ sagte Aenne leise und ging aus dem Zimmer. Droben saß sie dann auf ihrem Bette und grübelte. „Sagen muß ich es ihm und bitten will ich ihn, daß er mich dennoch nimmt. Ich will mir Mühe geben,“ flüsterte sie und preßte die Hände zusammen, „er darf mich nicht verlassen, er soll auch mit mir Geduld haben!“
Und dann erinnerte sie sich seiner Beschreibung des öden trostlosen Lebens neben der ungeliebten Frau. „Eine Hölle“, hatte er gesagt! Und sie wollte trotzdem diese Schwelle überschreiten? Sie versuchte, es sich vorzustellen ob sie ihn immer würde ertragen können, ihn und die Kinder. Und sie streckte die Hände aus wie abwehrend und schlug sie gleich darauf vor ihr glühendes Antlitz.
„Ich will nicht, ich kann nicht!“ stöhnte sie. Und nun dachte sie an Heinz, und die Röte der Erregung wich der Blässe des starren harten Trotzes.
„Es muß sein!“ sagte sie, „es muß sein!“
Alle Rechte vorbehalten.
Ueber Hygieine der Kleidung für weitere Kreise zu schreiben, ist gar keine leichte Aufgabe. Einem Reisenden, der uns über ferne bisher unerforschte Länder berichtet, wissen wir Dank für die kleinste Aufklärung. Aber, was uns am nächsten liegt, worüber wir selbst vielfache Erfahrungen gesammelt haben, darin sind wir in Bezug auf Erkenntnis auch um so anspruchsvoller, und wir vergessen da nur zu leicht, daß die Wissenschaft, sie unwandelbarer Eigenschaften und Wirkungen der Dinge gerichtet, kann dem augenblicklichen Bedürfnis, und wenn es noch so dringend wäre, kein Zugeständnis machen. Es geht ihr deshalb wie dem Arzt am Krankenbett. Der Patient verlangt um jeden Preis sofort nach einem Rezept, wenn auch sein Fall noch so verwickelt, die Diagnose noch so unklar und erst durch weitere Beobachtung zu enträtseln ist.
Ein solches Rezept kann die wissenschaftliche Hygieine in der Bekleidungsfrage vorerst nicht geben. Wohl aber kann sie gewisse Grundlagen der Beurteilung aufzeigen, kann uns belehren über die Funktionen der Kleidung, die Eigenschaften der verschiedenen Kleidungsstoffe und ihr Verhalten zum Körper, was alles für die Auswahl einer rationellen Bekleidung entscheidend in Betracht kommt. Da die Wissenschaft also wenigstens nicht mit ganz leeren Händen zu erscheinen braucht, sondern auch dem Praktiker schon einiges recht Beachtenswerte zu bieten vermag, so habe ich mich gerne entschlossen, einer Aufforderung der Redaktion der Gartenlaube entsprechend, von der Hygieine der Kleidung und ihrem gegenwärtigen Stand hier kurz zu berichten.
Vielleicht wird man von vornherein den Einwand erheben, wie es denn möglich sei, an die Kleidung, ein wechselvolles, so sehr der Mode unterworfenes Ding, überhaupt einen wissenschaftlichen Maßstab anzulegen? Vom tyrannisierenden Einfluß der Mode, der schon aus dem regelmäßigen Absatzbedürfnis unserer Bekleidungsindustrie erklärlich ist, der Hauptsache nach aber in bestimmten tieferen Trieben und Bedürfnissen der Menschennatur wurzelt, überzeugen wir uns allerdings Jahr für Jahr, und schwer fällt es dem Einzelnen, sich diesem Einfluß ganz zu entziehen. Aber, wenn wir von gewissen etwas weitgehenden Launen und Absonderlichkeiten namentlich in der Kleidung unserer Damenwelt absehen, so geht doch ein stetiger Grundzug durch die wechselnden Gestalten der Mode. „So malerisch,“ sagt Max Rubner in einer seiner vortrefflichen Abhandlungen über die Kleidung, „die faltenreiche griechisch-römische Gewandung war und so sehr ihr ein echter individueller Reiz durch die Geschicklichkeit des Trägers verliehen werden konnte, so war doch die für die Toilette selbst bei dem Manne erforderliche Zeit so groß, daß sie nur unter bestimmten Kulturbedingungen sich halten konnte.“ Unsere Kleidung dagegen „schreitet in unverrückbarem Ziele von dem Malerischen und Schönen mehr und mehr zu dem Praktischen und Zweckmäßigen. Sie braucht und darf nie ganz in dem letzteren Ziele aufgehen, denn sie wird immer ein Schmuck für Mann und Weib bleiben.“
Prüfen wir unsere Modeerlebnisse im Laufe der letzten Jahrzehnte, so verhält es sich in der That nicht anders; und es ist auch keine Gefahr, daß ein grundsätzlicher Umschwung erfolgen sollte. Eine Zeit, die unter dem Zeichen des Verkehrs steht, kann niemals mehr zu ganz und gar unpraktischen Moden zurückkehren. Menschen, die gewohnt sind, sich täglich so und so oft in Straßenbahn- oder Eisenbahnwagen hineinzuquetschen, deren Zeit überhaupt gemessen ist und ausgenutzt werden muß, werden
[77]
sich nicht leicht mehr zu faltigen, schwer zu drapierenden Gewändern versteigen. Und noch eines kommt in der Gegenwart dazu, das sind die mehr und mehr auch auf die Kleidung sich äußernden Einwirkungen des Sportwesens, die, auch die Frauenwelt nicht unberührt lassend, unmerklich zu knapperen, einfacheren, zweckmäßigeren Formen hindrängen. Das Reizvolle soll und darf ja damit keineswegs aufgegeben werden, wenn die Kleidung sich unter Vermeidung von viel Ueberflüssigem hauptsächlich nur der schützenden Umhüllung der Körperformen befleißigt, ebensowenig als bei einem Gebäude die wohlgefällige Architektur der inneren Zweckmäßigkeit der Konstruktion hindernd im Wege zu stehen braucht. Wir dürfen also wohl annehmen, daß die Mode auch fernerhin im allgemeinen die Richtung auf das Zweckmäßige beibehalten wird und daß die wissenschaftlichen Erwägungen, die wir heute anstellen, daher auch für die Zukunft Geltung haben werden. Außerdem bleiben ferner die Kleiderstoffe im großen und ganzen bezüglich ihres Wärmeverhaltens etc., die nämlichen; endlich aber zeigt sich die Unterkleidung, dasjenige, was wir auf der bloßen Haut tragen und was daher auf unsere Gesundheit von besonderem Einfluß ist, glücklicherweise von der Herrschaft der Mode bis zu einem hohen Maße überhaupt unabhängig.
Vom hygieinischen Standpunkte drängt sich nun vor allem die grundsätzliche Frage auf, ob denn gute warmhaltende Kleidung wirklich einen nachweisbaren Nutzen gewährt, ob es nicht etwa zweckmäßiger und richtiger wäre, sich abzuhärten und sich mit dünner leichter Kleidung auch in der winterlichen Jahreszeit zu begnügen? Was müssen wir denn in dieser Beziehung eigentlich als das hygieinische Ideal betrachten? Verdient etwa jener ehemalige amerikanische Schiffskapitän Nachahmung, der nach Aufgeben seiner nautischen Thätigkeit in Neufundland sich ansiedelte und hinfort in jenem gar nicht milden Klima aus hygieinischen Rücksichten in Adams
[78] Kostüm, nur mit einer kleinen Anstandsverbesserung versehen, dahinlebte?
Aehnliche Fanatiker, Wasser- und Luftmenschen, giebt es gelegentlich an allen Orten und so ist die Frage wohl berechtigt, was sich vom Standpunkte der Hygieine hierüber sagen läßt. Ist nicht schließlich die warmhaltende Kleidung ein reiner Luxus, eine bloße Annehmlichkeit, die wir uns besser versagen würden, um nicht der Verweichlichung anheim zu fallen?
Unser Organismus, wie derjenige aller Warmblüter, besitzt in der That die wunderbare Fähigkeit der Wärmeregulation d. h. unter den extremsten äußeren Temperaturbedingungen strebt er mit Erfolg, die gleichbleibende Blutwärme von etwa 38°C mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrecht zu erhalten. Nicht wie ein lebloser Gegenstand, ein Stück Felsen beispielsweise, erleidet er bei sinkender Außentemperatur sofort auch eine entsprechende Abkühlung, und ebensowenig steigt seine Innentemperatur ohne weiteres, wenn die äußere Wärmeeinwirkung im Sommer oder in einem heißen Klima oder einem überheizten Zimmer einmal auch beträchtlich über die Norm sich erhebt. Im Gegenteil, höchst zweckmäßig arbeitet unsere Organisation diesen äußeren Störungen des inneren Gleichgewichts regulierend entgegen, indem sie beispielsweise bei äußerer Kälteeinwirkung von selbst und ohne unser bewußtes Zuthun, auch ohne daß wir anfangen, durch Gehen, Laufen, Turnen usw. uns zu erwärmen, mit einer Steigerung der inneren Wärmeerzeugung antwortet. Sie erreicht dies durch eine Erhöhung der im Körper stattfindenden Verbrennungsprozesse, wobei hauptsächlich die dem Körper zugeführten Nahrungsstoffe, unter gleichzeitiger Mehraufnahme von Sauerstoff, in gesteigertem Maße verbraucht werden. Umgekehrt vermindern sich diese Verbrennungsvorgänge von selbst im Körperinnern bei steigender Außentemperatur, wodurch auch in diesem Falle der Ausgleich zustande kommt.
Thatsächlich kann also der Mensch seine gleichbleibende Innentemperatur auch unter ziemlich beträchtlichen Schwankungen der äußeren Wärme aufrecht erhalten, sofern ebenjener Regulationsmechanismus, den man gewöhnlich als die „chemische Wärmeregulation“ bezeichnet, tadellos arbeitet. Ein gewisses Maß an dieser regulatorischen Fähigkeit zu besitzen, ist jedenfalls zur Gesundheit ganz unerläßlich. Wessen Wärmeregulation nicht prompt bei äußeren Abkühlungen in Thätigkeit tritt, läuft stets Gefahr, sich intensiv zu erkälten. „Abgehärtet“ ist dagegen derjenige, dessen chemische Wärmeregulation genau und sicher funktioniert, und wir müssen unbedingt darauf bedacht sein, unter den verweichlichenden Einflüssen des Kulturlebens diese Fähigkeit nicht ganz einschlummern zu lassen, sondern sie stets in Uebung zu erhalten. Wer viel im Freien bei jeder Witterung sich zu bewegen durch seinen Beruf ohnehin gezwungen ist, der Landmann, Förster, Gärtner, Soldat, solche Berufsklassen werden ganz von selbst ihre Wärmeregulation stets in Uebung erhalten, da die viele Luft, welche trotz der Kleidung an ihrer Körperoberfläche vorbeistreicht, stets einen abhärtenden Einfluß ausübt. Frische Luft ist überhaupt das beste, naturgemäßeste Abhärtungsmittel; darin liegt unter anderen einer der Hauptgründe, weshalb die Jugendspiele im Freien so dringend der Pflege bedürfen, daß diese allein das naturgemäße Gegengewicht darstellen gegenüber dem der Gesundheit weniger förderlichen Aufenthalt im Schulzimmer oder in der Stube der Eltern. Auch muß ich bei dieser Gelegenheit das Radfahren als ein Mittel, den Körper mit viel Luft in ausgiebigste Berührung zu bringen und dadurch zu kräftigen rühmend erwähnen. Vielleicht erleben wir es noch, daß ein Hygieiniker der nächsten Zukunft auch das Fliegen als ein geradezu ideales Mittel in dieser Hinsicht preist.
Anderseits am meisten der Gefahr der Verweichlichung durch ungenügende Regulationsthätigkeit ausgesetzt sind die Angehörigen derjenigen Berufsarten, die mit vorwiegendem oder dauerndem Aufenthalt in geschlossenen Räumen verknüpft sind. In den Großstädten, im Groß- und Kleingewerbe, aber auch auf dem Lande dort, wo Hausindustrie mit ihren meist so langen Arbeitszeiten, häufig noch dazu mit Hungerlöhnen, betrieben wird, gehört ein großer Teil der Bevölkerung hierher. Nicht jeder zeigt da die gleichen Anlagen, und bei manchem kommen die Schädlichkeiten weniger leicht oder gar nicht zum Durchbruch. Bei vielen anderen aber wäre ein Ersatz für die normale Uebung der Regulationsthätigkeit durchaus erforderlich, wenn nicht mit der Zeit nachteilige Folgen, namentlich auch eine Herabminderung der gesamten Widerstandsfähigkeit, eintreten sollen. Da ist denn, als eine Art von Aushilfsmittel, die Anwendung des kalten Wassers in Form von Waschungen, Abreibungen, Uebergießungen oder kurz dauernden Bädern am Platze, wodurch ohne viel Zeitverlust die Regulationsthätigkeit der Haut ständig in Uebung und bei Kräften erhalten werden kann. Das Wichtigste bei diesen abhärtenden Prozeduren - sonst verfehlen sie überhaupt ihren Zweck gänzlich - ist nur, daß der Wärmeausgleich auch wirklich sofort erfolgt, daß der Abkühlung sogleich die ausgiebige und ausgleichende Erwärmung nachfolgt. Wer das nicht sorgsam beachtet oder nicht zustande bringt, der wird mehr Schaden stiften als Nutzen.
Gerade die Kaltwasseranwendung hat nun aber auch bei manchen für das Extreme begeisterten Naturen zu kolossalen Uebertreibungen geführt, und da kommen wir denn zurück zu der Frage, ob die äußerste Abhärtung, die möglichste Unabhängigkeit von wärmender Kleidung hygieinisch als wünschenswert und als das Ideal zu betrachten sei. Die Antwort liegt in der besprochenen Art und Weise, wie der Körper die Kälteeinwirkung auszugleichen sucht. Er kann dies nur durch gesteigerte Verbrennung, erhöhten Verbrauch seiner Bestandteile, zunächst der zugeführten Nahrungsstoffe, eine Thatsache, welche durch die Physiologie, in neuerer Zeit namentlich durch die Forschungen von Professor Max Rubner und seinem Schüler Rumpel, in aller Strenge bewiesen wurde. Aber schon längst vorher hatte Liebig in seinen “Chemischen Briefen“ (1844) das gleiche vorausahnend erkannt. „Unsere Kleider,“ sagt er,„sind in Beziehung auf die Temperatur des Körpers Aequivalente für die Speisen, je wärmer wir uns kleiden, desto mehr vermindert sich bis zu einem gewissen Grade das Bedürfnis zu essen, eben weil der Wärmeverlust, die Abkühlung und damit der Ersatz an Speisen kleiner wird. Gingen wir nackt wie die Indianer, oder wären wir beim Jagen und Fischen denselben Kältegraden ausgesetzt wie der Samojede, so würden wir ein halbes Kalb und noch obendrein ein Dutzend Talglichter bewältigen können …“ Den kulturfeindlichen Zustand, zu dem derartige Extreme führen würden, charakterisiert letztere Wendung vortrefflich. Und das ist schließlich auch das Entscheidende. Nicht nur, daß warmhaltende Kleidung uns sparen hilft, daß wir mit einem geringeren Nahrungsbedürfnis auskommen, was für minder bemittelte Volksschichten, die durchschnittlich mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Nahrungsmittel aufzuwenden gezwungen sind, ökonomisch sehr ins Gewicht fällt, sondern die bessere Kleidung ermöglicht uns auch allein die unbeschränkte Hingabe an die Anforderungen des Kulturlebens. Ueberall in Bezug auf die künstlichen Existenzbedingungen, mit denen wir uns umgeben, auf Wohnung, Beleuchtung. Beheizung usw., trachten wir, die von außen kommenden Störungen, die Reibungen, welche unser Organismus zu überwinden hat, auf das thunlich geringste Maß zu beschränken; ebenso müssen wir aber die gleiche Aufgabe auch in Bezug auf die Wärmeökonomie unseres Körpers erfüllen, weil wir nur so unsere Kräfte für die höheren Aufgaben des Lebens frei zur Verfügung. behalten. Uebermäßige und andauernde Verdauungsarbeit, stete Wärmeregulationsthätigkeit etc. würden uns in dieser Beziehung ganz wesentlich behindern.
Auch ein anderer Gedankengang fuhrt zum gleichen Endergebnis. Unsere Kleidung erfüllt offenbar eine ganz ähnliche Rolle wie der Pelz der Tiere. Wie verhält sich's nun mit diesem? Sehen wir etwa, daß die Natur, diese große Lehrmeisterin der Zweckmäßigkeit, in Bezug auf das Haarkleid der Tiere nach den Grundsätzen der Abhärtungsfanatiker verfährt? Sehen wir vielleicht, daß sie trotz höherer Breiten mit dem Pelzkleid der Tiere knausert und knickert, um etwa den Tierkörper durch Abhärtung zu kräftigen? Keineswegs finden wir derartiges. Ueberall zeigt sich vielmehr die Dichte der Haarbekleidung nicht nur dem Klima des Landes, sondern sogar den wechselnden Jahreszeiten aufs genaueste angepaßt. Ja, das geht so weit, daß bei künstlichen Klimaänderungen, bei Verpflanzung von Tieren aus heißen Ländern in kalte und umgekehrt, die Natur sich bemüht, das Haarkleid entsprechend umzugestalten. So verloren Merinoschafe, die man an den Congo, nach dem Sudan und Tripolis einführte, in diesen heißen Klimaten ihre Wolle vollständig und [79] bekamen ein glattes Fell, ähnlich dem der Windhunde, während umgekehrt Kamele und Dromedare, von Afrika nach dem rauhen Hochland von Tibet verschickt, dort ein zottiges Fell erhielten. Das Naturgemäße in Bezug auf die Hautbekleidung ist also nicht planlose Willkür oder übertriebene Abhärtung, sondern maßvolles Anschmiegen an die jeweiligen klimatischen Bedingungen. Man darf wohl annehmen, daß die übertriebene Abhärtung in der Regel auch zu einer übertriebenen und vorzeitigen Abnützung führen würde. Erklärt doch schon Hufeland in seiner Makrobiotik, die richtige Kleidung für ein Mittel zur Verlängerung, schlechte Kleidung dagegen für eine Quelle der Verkürzung des Lebens. -
Wenn nun aber der Wert und Nutzen guter Kleidung für den Organismus unzweifelhaft feststeht, so führt dies ganz von selbst zu der Frage. was ist denn nun die beste Kleidung? Das ist nicht so einfach zu beantworten, es bedarf dazu einer Darlegung nach den einzelnen Aufgaben der Kleidung, aber die Hauptfrage ist jedenfalls: Welche Kleiderstoffe bieten uns den besten Wärmeschutz?
(Schluß folgt.)
Alle Rechte vorbehalten.
Bahnwächter-Romantik.
Man hat sich angewöhnt, die Eisenbahnen im allgemeinen als eine sehr prosaische, nüchterne Erfindung zu betrachten. Ihr gegenüber ist oft die Poesie der alten Landkutschen, des Posthorns und der behaglichen Langsamkeit früherer Tage hervorgehoben worden. Mag man über diesen Gegensatz denken und empfinden wie man will, wer das Leben der Eisenbahnbeamten kennt, der wird zugeben, daß auch in diesem scheinbar nüchternen Dienste die Romantik nicht zu fehlen braucht. Ja, sie ist längs der Schienenstränge gerade dort eingedrungen, wo man sie am allerwenigsten erwartet hätte - in die kleinen, schmucken Bahnwächterhäuschen.
Es giebt in der That eine Romantik des Bahnwächterlebens. Wie romantisch sind schon viele dieser winzigen Behausungen namentlich inmitten des Gebirges gelegen! Sauber sind die kleinen steinernen Hütten, und rings um sie grünt und blüht es. Da gedeihen die großen Trichter der goldgelben Kürbisblüten, die Geranien, die Rosen, die Päonien, die Astern auf dem schmalen Grunde rings um die reinlich getünchten Wände. Aus der Böschung des Bahndammes wächst das Futter für die Kuh oder die Ziegen des Wächters. Fast überall hat man ihm auch vom Eigentum der Bahn zu einem Nutzzins, der im Vergleich zu dem, was sonstwo für einen Grund gefordert wird, kaum nennenswert ist, ein Stück Boden überlassen. Vor Nahrungssorgen ist der Mann geschützt. Auch erhält er jährlich seine Kleidung, und außerdem wird sein Weib, das ihm in seiner Thätigkeit beisteht, besonders entlohnt. Hat er ein bestimmtes Alter erreicht, so giebt man ihm seine ganze Bezahlung als Ruhegehalt.
Wenn es viele Stellen giebt, an welchen der Dienst ein sehr anstrengender ist, so wüßte ich dagegen noch mehr, wo die Bahnwächter sich einer Art von Villeggiatur erfreuen. Zudem könnte man noch sagen, daß die Einsamkeit zur Festigung des Familienlebens beiträgt. Das Wirtshaus, das im Dorf oft störend einwirkt, fehlt da, und der Dienst fesselt buchstäblich Mann und Frau an die Scholle.
Das sind so Dinge, die jedem einleuchten - zur Romantik des Lebens gehören sie ja allerdings nicht. So will ich denn in nachgehendem einige kleine Züge und Vorkommnisse aus unseren südlichen Alpenländern erzählen, aus welchen der freundliche Leser ersehen wird, daß ein solcher Wächter doch nicht selten auch unter recht schwierigen Umständen versetzt wird und sich alsdann leicht eben soviel Gefahren gegenübersieht wie ein Vorposten vor dem Feinde.
Zu einer solchen schwierigen Pflichterfüllung gestaltet sich oft beispielsweise das Abgehen der Strecke während eines heftigen Schneegestöbers. Um sich davon ein Bild zu machen, muß man einmal während eines solchen die Lokomotive vorüberfahren gesehen haben. Die Farben ihrer wirklichen Erscheinung sind verschwunden, an ihre Stelle ist ein Gebilde getreten, welches in der Werkstatt eines phantasievollen Zuckerbäckers geschaffen worden zu sein scheint. Selbst der Schlot ist weiß. Und immer noch fällt der Schnee, gleichmäßig, unaufhörlich!
Im Wächterhaus sind die schweren Fensterläden zugemacht worden, damit der Sturm die Scheiben nicht eindrücke. In Zwischenräumen von je einer Minute prallt es von draußen her gegen das Gebäude an. Es bebt, wie die Schiffswand von der Sturzfee erschüttert wird. Die Lampe flackert, der Rand der Flüssigkeit im Glase zittert. Wer hinaus gehen will, bleibt eine Weile wie unschlüssig vor der Thür stehen, einem Badenden gleich, bevor er sich vom hohen Schwungbrett in die Wellen stürzt. Schaut man ihm nach, so sieht man ihn mit vorgebeugtem, gekrümmtem Körper dahinschleichen, wie jemand, der durch eine niedrige Höhle kriecht. Die Beinkleider werden ihm glatt an die Schenkel gepreßt, als ob er gegen einen reißenden Strom schwämme.
Noch schlimmere Gefahren bedrohen den Bahnwächter, wenn der Schnee nicht nur in Flocken, sondern von den umliegenden Höhen auch in rollenden Massen herabkommt und alles umwirft und zusammendrückt, was ihm im Wege steht. So kenne ich ein Wächterhaus auf der Hochfläche des Brenner, welches mit mancher Ritterburg die romantische Eigenschaft gemeinsam hat, daß von ihm nur einige Spuren von Grundmauern übrig sind. In diesem Wächterhaus habe ich einst gleich nach seiner Zerstörung geweilt. Das Dach war weggerissen, und über dem Stubenboden lag eine tiefe Decke festen Schnees. Mehrere große Schneefälle hatten auch den ganzen eisernen Ofen ausgefüllt. Unter allerlei zerbrochenem Hausgerät lagen porzellanene Isolatoren des Telegraphen, verwirrter Draht und die Trümmer einer - Kinderwiege. In geringer Entfernung von diesem Wächterhaus befand sich die Wohnung eines Bauern. Dort lag der Wächter tot mit einem weißen Tuche zugedeckt. Neben ihm das getötete Kind - um die von Glassplittern der Fensterscheiben verwundete Stirn ein grünes Kränzchen und in den zusammengefalteten Händen einen kleinen Strauß von künstlichen Blüten. Ein roter Vorhang dämpfte das Sonnenlicht zu milchrosigem Schein. Zu Füßen stand ein Weihwasserkessel. Man hatte die Toten hierhergetragen und aufgebahrt, die Andächtigen gingen ab und zu und beteten.
Wenige Stunden vorher war da folgendes zu sehen gewesen. Es war Nacht. Der Wind kam von Norden und jagte weite Schneedecken in Pulverstaub, mit breitem Geflock vermengt, über den Brenner - gleich einem breiten Strom. Das rote Auge des Zuges nahte - von fernher pfiff, schwirrte, donnerte und dröhnte es.
Der Zug brauste heran. „Ach Gott,“ rief der Wächter seinem Weibe zu, „der Zug fährt ja mitten in die Lawine hinein!“
Trotz der Hoffnungslosigkeit seines Unternehmens macht der Tapfere einen verzweifelten Versuch, das Unheil aufzuhalten. Er schwingt seine Laterne - dann ein erschöpfendes Rennen über Schneehaufen, die das Auge in der herrschenden Finsternis, geblendet von flirrendem Geflock und Lampenschein, nicht seht - jeden Augenblick gewärtig, daß die nachrollenden Massen ihn erschlagen oder ersticken, erreicht er den Zug und nötigt ihn zum Stehen! Die Maschine und ein Wagen können zwar vor dem Entgleisen nicht mehr bewahrt werden - die entgleisten Räder bleiben im Schnee stecken, die anderen stehen still! Die Menschen drinnen sind gerettet. Jeder weiß jetzt, daß eine niedergegangene Lawine den Weg sperrt, und dankt Gott im stillen, daß alles so gut abgelaufen. An den Bahnwächter, der gänzlich erschöpft von dem gefährlichen Lauf, atemlos da draußen im Schneesturme steht, denkt natürlich keiner der Reisenden im Zug. Sie wissen ja gar nichts von ihm und von dem, was er zu ihrer Rettung gethan!
Glücklich gelangte er in sein Häuschen zurück. Es kam aber später auf derselben Rutschbahn eine zweite Lawine. Von dieser wurden Vater und Kind erschlagen.
Leicht hätte dieser Wackere sich retten können, wenn er den ihm anvertraute Posten verlassen und sich dorthin geflüchtet hätte, wo jetzt sein Leichnam aufgebahrt war. Er ist, den sichern Tod im Auge, auf seinem Posten geblieben und untergegangen. -
Es ist in der Welt nicht so traurig, nüchtern und selbstsüchtig
[80] bestellt, wie man es uns oft vorsagt. Nicht nur im Rausche der Schlacht, im feierlichen, majestätischen Ernst des Krieges zeigt sich der Mann, sondern auch in jener Liebe und stillen Pflichttreue, die ihr Leben hingiebt für die Brüder!
Ich habe einmal am Tage nach einem Dammbruch, wenige Schritte vom Bahnkörper entfernt, mitten zwischen zusammengeschwemmten Gräsern und Getreidehalmen einen schwarzen Punkt gesehen. Es war der Kopf des ertrunkenen Wächters, der über das Wasser emporragte. Auch dieser hätte seinem Geschicke entgehen können, wenn er an irgend etwas anderes gedacht hätte als an den im nächtlichen Dunkel herannahenden Zug. Die Dammbruchstelle, deren jenseitigen Rand er noch glücklich erreichte, erweiterte sich aber unter seinen Füßen und er versank in der hereinrauschenden Flut, während der Zug vor ihm hielt …
In einem Abenteuer ganz besonderer Art zeigte sich bei Gelegenheit des Laibacher Erdhebens ein Bahnwächter des höchsten Lobes würdig. Er stand um Mitternacht, den von Triest nach Wien fahrenden Eilzug zu erwarten, vor seinem Haus, als ein Erdstoß die vordere Seite desselben zertrümmerte und auf den Bahnkörper hinwarf. Ohne sich weiter um seine Kinder zu bekümmern, welche heulend durch die Hinterthür sich auf das freie Feld hinaus in die dunkle Nacht flüchteten, waren seine Gedanken nur bei dem Zuge, der herannahte. Doch - welch Entsetzen! Er hatte, wie es die Wächter gewohnt sind, seine Laterne neben das Geleise gestellt. Jetzt lag sie infolge des Erdstoßes unter einem Schutthaufen. Er konnte also kein Haltesignal geben. Erreichte der Zug die Trümmer, so war derselbe mit all seinen Insassen verloren! In äußerster Angst lief er deshalb in der Richtung gegen Franzdorf hin dem Hause des nächsten Wächters zu. Er erreichte dieses gerade noch rechtzeitig, daß dieser mit seiner Laterne das Zeichen zum Halten geben konnte. Dann stürzte er erschöpft zusammen. Alle die Menschenleben im Zug wären ohne seine Aufopferung wahrscheinlich vernichtet gewesen.
Derartige Züge todesmutigen Heldentums einfacher Bahnwächter ließen sich noch viele erzählen, nicht nur aus den Alpenländern, sondern von überallher. Um aber diese Betrachtung heiter ausklingen zu lassen, will ich noch einer kleinen „romantischen Bahnwächtergeschichte“ Erwähnung thun, die sich vor längerer Zeit abspielte.
Der Herausgeber eines Lokalblattes war infolge einer Wette auf den Scherz eines Bekannten eingegangen, der ihm eine kleine Erzählung unter dem Titel „Kaiser Josef der Zweite und die Bahnwächterstochter“ lieferte. Die Erzählung wurde abgedruckt, und keinem der Leser fiel es ein, sich bei der Redaktion zu erkundigen, auf welche Weise dieser menschenfreundliche Monarch, welcher das Zeitliche im Jahre 1790 segnete, in eine solche Geschichte verwickelt werden konnte!
Niemand wunderte sich über die Zurückdatierung dieser Art von „Romantik des Bahnwächterlebens“, welche dem Verfasser sogar viel warme Anerkennung und den Wunsch nach einer Fortsetzung eintrug. Darauf mußte er nun allerdings - so schmeichelhaft die Sache auch für ihn war – verzichten!
(4. Fortsetzung.)
Als der Großvater die Großmutter nahm, hatte man in der Umgebung der Industriestadt stellenweise noch Reben gebaut und war bei ihrem saueren Safte, wie weiland Kurfürst Joachim bei der Kreszenz vom Berliner Kreuzberg, „oftmals sehr fröhlich gewest“; die Enkel bauten Rüben und tranken starkes Bier und Schnaps, und Hans Bardolf, obwohl er von Geburt ein Mainfranke und Landsmann des berühmten Steinweins war, that es auch, denn etwas muß der Mensch haben, zumal wenn er fleißig ist.
An Fleiß ließ es Hans Bardolf nicht fehlen. Er begrüßte jeden Auftrag zu Privat- und Nachhilfestunden während seiner freien Zeit als ein Geschenk Gottes, und wenn er abends müde nach Hause gekommen war, sein Kind geküßt und sein einfaches Abendbrot gegessen hatte, saß er noch spät bis in die Nacht, arbeitete an Uebersetzungen antiker Schriftsteller und sah Korrekturbogen gelehrter Werke durch. Es war eine sauere und trockene Arbeit, sie wurde von den Verlegern kärglich und gleichsam nach dem Quadratmeter bezahlt, aber er war froh, daß er auch sie gefunden hatte, denn sie half ihm wieder ein wenig, sich zum zweitenmal schuldenfrei zu machen und die winzigen Posten in dem Sparkassenbuch, das er seinem Kinde am ersten Geburtstag gekauft und selbst während der letzten Krankheit Emiliens nicht angetastet hatte, allmonatlich um eine Kleinigkeit zu mehren.
Aber mehr und mehr plagten ihn Gesundheitsstörungen, die dem kraftvollen, kraftbewußten Manne etwas Neues und Unheimliches waren. Zuerst im Frühsommer, nach einer garstig verregneten Wanderung mit anschließender Kneiperei in einem Bauernwirtshaus, hatte er es verspürt und auf „Rheumatismus“ angesprochen. Es war geschwunden und wiedergekommen, dann schien es sich auf die Eingeweide zu werfen – er mußte sich wohl „den Magen verstimmt“ haben. Eine Zeit lang bekämpfte er die Störung mit Hausmitteln, wie sie jeder Deutsche von akademischer Bildung kennt, Opiumbitter und andere als heilsam gerühmte Tränkchen von stark alkoholischer Mischung. Nun aber, gerade in den Ferien, die er so fleißig auszunutzen gehofft hatte, wurden auch edlere Teile rebellisch, starke Kopfschmerzen mit einer wunderlichen Mattigkeit verbunden, traten auf, das Gesicht brannte und vor allem wurden die sonst so scharfen Augen trübe und unsicher, vielleicht waren sie vom allzulangen Arbeiten bei Licht unwillig geworden. Er entschloß sich endlich, einmal den Augenarzt zu fragen. Die Untersuchung dauerte lange. Als Bardolf wieder aus dem Hause des Augenarztes trat, sah er sehr verstört aus. Er ging nach dem ferienstillen Institut und schlug in dem großen Konversationslexikon, welches der Hauptmann als Grundstock der Lehrbibliothek angeschafft hatte, gewisse Artikel nach, die er lange und ernst durchstudierte. Dann ging er zu dem Geheimen Sanitätsrat Dr. Leuxenberg, der erst vor kurzem als Direktor an das große Krankenhaus der Stadt berufen war. Von dessen Haus ging er langsam und gesenkten Hauptes vor die Stadt, auf den Friedhof, und dort, vor einem mit Blumen geschmückten Hügel, im trüben Scheine des einbrechenden Herbstabends, weinte er die bittersten Thränen seines Lebens. Es war ganz still rings um ihn, ab und zu flatterte ein dürres Blatt vom Baume, und keine andere irdische Kreatur als ein paar kleine Vögel im Gezweig sahen es, wie hier ein Mensch mit Gott rang.
Die gute Luise freute sich anfangs sehr, als sie sah, wie sorgfältig ihr Herr die Arznei gebrauchte und die zurückgezogene Lebensweise beobachtete, die ihm – wie er sagte – der berühmte Arzt gegen seine Erkältung verordnet hatte, auch schien es ihr, als ob es mit dem „Fluß aus den Augen“, wie sie es nannte, wirklich besser werde. Allmählich aber wurde sie mißtrauisch. Das ganze Wesen ihres sonst so guten Herrn war so wunderlich verändert, es war etwas Unstetes in ihn gekommen. Halbe Stunden lang saß er unthätig, vor sich hinbrütend, um dann wieder die Arbeit mit einem fieberhaften Eifer aufzunehmen. Und kein fröhliches Lachen mehr, nichts von der jugendlichen Leichtherzigkeit, die ihm sonst auch in geldärmster Zeit nie ganz ausgegangen war! Was sie aber am meisten beunruhigte, das war die neuartige, fast trübselige Zärtlichkeit, mit der er Grete betrachtete und liebkoste. Sie sah es vierzehn Tage lang mit wachsender Besorgnis an. Der Herr Hauptmann war verreist, sonst hätte sie diesem ihr Leid geklagt. Eines Abends aber wurde es ihr zu arg. Der Herr Doktor saß vor seinem Schreibtisch, auf dem inmitten eines kunstvoll gezogenen Epheustockes im dunklen Rahmen die Photographie der seligen Frau stand. Luise hatte das Kleine hereingebracht, damit es dem Vater den Gutenachtkuß gebe, und Gretel hatte dabei wie gewöhnlich auch der lieben Mama ein Kußhändchen zugeworfen. Als sich Luise dann mit ihr zum Gehen wandte, gewahrte sie zufällig einen so schmerzlichen, todwehen Ausdruck auf dem Antlitz ihres Herrn, daß sie vor Schrecken das Kind fast fallen ließ und als sie nachher zurückkehrte, saß er noch immer stumm und leidend vor dem Schreibtisch, seine Augen, auf das Bild gewandt, waren voll Thränen, und sein Körper bebte. Sie sagte nichts, aber in derselben Nacht setzte sie sich hin und verfaßte
[81][82] mit des Schreibens ungewohnten Händen einen langen Brief an den Doktor Ritter, abzugeben auf der königlichen Universitätsbibliothek.
Als Hans Ritter dieses Schreiben unter großer Bestürzung entziffert und bedacht hatte, wandte er sich sogleich brieflich an den Geheimen Sanitätsrat Doktor Leuxenberg; die gute Luise hatte zum Glück den Namen genannt, und Hans Ritter war kein ganz Fremder für den berühmten Arzt, dem er bei Beschaffung einiger seltenen medizinischen Werke bibliothekarisch behilflich gewesen war. Auch erwies sich der Geheime Sanitätsrat dafür nicht undankbar; denn trotz seiner vielen Amtsgeschäfte übersandte er umgehend die gewünschte vertrauliche Auskunft, zu der er sich verpflichtet fühlen mußte, nachdem er die edlen Beweggründe Ritters zu seiner Anfrage erfahren. Sie war nicht so lang wie Luisens Brief, aber Hans Ritter bedurfte noch mehr Zeit, um sie zu verstehen, denn der Geheime Sanitätsrat frönte der damals noch ziemlich verbreiteten Ansicht, daß die Handschrift eines Arztes gar nicht unleserlich genug sein könne, und der Brief bestand großenteils aus medizinischen und anatomischen Kunstausdrücken, zu deren Verständnis selbst die Sprachgewandtheit Hans Ritters nicht immer ausreichte.
Einige Stunden später meldete sich der Doktor Hans Ritter bei seinem Chef, der draußen vor der Stadt auf seinem Weingute Ferienruhe genoß. Es war kein großes Gut – nur ein schön und ziemlich hoch gelegenes Wächterhäuschen mit einem kleinen Stück Weinberg; der Professor Isaak Bernstein ließ es durch einen benachbarten Bauern bestellen und wenn die Trauben reif waren, zog er bei gutem Wetter alltäglich hinaus, um sie nach und nach aufzuessen, wobei er übrigens auch die Unterstützung werter Freunde und müder Wanderer nicht verschmähte.
Diesmal war er zum Glück allein. Er saß im milden Sonnenschein auf der Bank vor seinem Häuschen, gekleidet in einen langen schwarzen Hausrock von eigentümlich östlichem Zuschnitt und auf dem grauen, lockigen Haar ein schwarzseidenes Mützchen, und erbaute sich an der schönen Aussicht. In der linken Hand hielt er eine mächtige Weintraube, von der er mit Daumen und Zeigefinger der Rechten eine der großen, blauschwarzen Beeren nach der andern abzupfte und in den Mund steckte; einige abgelesene Traubenskelette am Boden zeugten davon, daß er diesem angenehmen Zeitvertreib schon eine Weile huldigte. Sehr freundlich und teilnehmend begrüßte der Professor Isaak Bernstein seinen Gast, nachdem er die Traube weggelegt und sich die kleinen, schöngeformten Hände sehr sorgfältig mit dem rotseidenen Schnupftuch abgewischt hatte.
„Ein schöner Tag heute,“ sagte er, „ein fröhlicher Tag, still und gesegnet, wie er einem alten Mann gut thut! Aber Sie sehen nicht so fröhlich aus wie der Tag. Nun, was ist’s denn lieber Kollege?“
„Herr Professor,“ begann Hans Ritter, „Sie sagten mir unlängst, daß man an vorgesetzter Stelle beabsichtige, den hiesigen Bibliothekstab um mehrere definitiv angestellte Beamten zu vermehren. Glauben Sie, daß ich Aussicht haben würde, dabei zu avancieren, falls ich auf die akademische Laufbahn verzichte?“
Isaak Bernstein blickte ihm gespannt ins Gesicht. „Nun,“ sagte er zögernd, „was soll ich sagen? Es ist so eine Sache. Die hohen vorgesetzten Behörden haben ihre eigenen Ansichten – sie haben ihre eigenen Männer bei alledem, wenn ich über einen Mann berichte, den ich so lange kenne, werden sie sich wohl halten an meinen Bericht. … Aber warum wollen Sie das?“
Hans Ritter zog den Brief des Geheimen Sanitätsrats hervor. „Wenn ich Sie an ein Gespräch erinnern darf,“ sagte er, „das wir vor einem Jahr über meine Aussichten hatten –“
„Nun, warum soll ich mich nicht erinnern?“ versetzte der Professor. „Und was ist anders geworden? Soll man gratulieren? Aber Sie sehen nicht aus wie ein glücklicher Bräutigam –“
Hans Ritter überreichte ihm den Brief mit kurzen Worten! und trat einen Schritt beiseite. Es war wohl noch eine Stunde bis zur Abenddämmerung, die Sonne leuchtete warm und klar über Thal und Strom, und über den jenseitigen Bergen lag ein wunderbar milder, weicher Silberduft, aber quer durch das lieblich stille Bild zogen sich jetzt langsam schwelende, mißfarbige Rauchstreifen von den Aeckern unterhalb des Rebenhanges hin, wo hochgehäuft das dürre, abgestorbene Kartoffellaub verbrannte.
Der Professor Isaak Bernstein hatte sich seit dem Tode Emiliens von Hans Ritter vieles über sie, ihren Gatten und ihr Kind berichten lassen, und eines, was ihm Ritter verschwieg, hatte er vielleicht zwischen den Zeilen manches seiner Gedichte gelesen. Während er den Brief halblaut las, wurde sein freundliches, faltenreiches Gesicht sehr ernst. Der alte Talmudist verstand sich auf den Inhalt dieses Briefes besser als Hans Ritter, und er nickte ein paarmal traurig bei den Schlußworten, welche klar besagten, daß es sich um eine lebensgefährliche Nierenentzündung handle. Dann faltete er den Brief sorgfältig zusammen, gab ihn zurück und ging einigemal nachdenklich auf und ab, bis er vor Haus Ritter stehen bleibend sagte. „Nun, Sie haben mir den Brief zu lesen gegeben, Sie haben ihn gelesen. Sie wollen aus Ihrer Docentenlaufbahn austreten und wollen machen, daß Sie ein sicheres Amt haben und ein gutes steigendes Gehalt, um für das kleine Mädchen sorgen zu können. … Soll ich Ihnen sagen, was die Welt dazu sagen wird? Oder soll ich Ihnen sagen, was ich davon denke?“
„Auf das Urteil der Welt bin ich in diesem Falle wirklich nicht gespannt,“ antwortete Hans Ritter mit einem trüben Lächeln, und der Professor Bernstein fuhr fort. „Dann kennen Sie auch das meinige, und ich brauch’s Ihnen nicht erst zu sagen. Denn warum? Die Menschheit braucht allerlei, sie braucht auch Professoren, sie braucht Philosophen, aber am nötigsten braucht sie gute Leute. Und also, wenn Sie 'mal was nötig haben, und der alte Professor Bernstein kann’s Ihnen geben, dann haben Sie’s auch. – – Nein, danken Sie nicht! Warum sollen Sie mir danken? Ich hab’ Ihnen ja noch nichts gegeben, nicht einmal eine Traube. Aber Sie werden keine Zeit haben, ich denke mir, Sie werden zu Ihrem Freunde reisen wollen – ich will Sie nicht aufhalten, und wenn Sie ein paar Tage ausbleiben ich will Sie gerne vertreten. Leben Sie wohl bis dahin – und der Allmächtige segne Sie!“
Hans Ritter hatte sich gegen Bardolf schon früher verschiedenemal der Notlüge schuldig gemacht. Während der nächsten Tage und noch bei mehreren Besuchen setzte er dieses Werk mit Eifer und, wie er hoffte, auch mit Erfolg fort. Es war erstaunlich, mit welcher Gewandtheit er, nachdem er dem Freunde das Geständnis seines Leidens entlockt, eine Reihe von schnellerfundenen Fällen gleicher Art aus seiner Bekanntschaft aufzuzählen wußte, die wieder ganz harmlos ausgeheilt seien. Wirklich schien es, als ob Bardolf sich dabei beruhigte.
Der Hauptmann, den Ritter bei seinem zweiten Besuche wieder in der Stadt fand und auch von dem Briefe des Arztes unterrichtete, bewährte sich wie immer als eine von Grund auf vornehme und ehrliche Seele. Bei aller Trauer freute er sich ordentlich, daß der überaus geringe Besuch seines Instituts in diesem Semester es ihm leicht machte, Bardolf sein Gehalt weiter zu zahlen, ohne ihn viel zu beschäftigen. „Wissen Sie,“ sagte er, „ich würde ihm am liebsten das bißchen Arbeit auch noch erlassen aber dazu kriegt man ihn ja nicht herum. Es ist jammerschade! Gerade jetzt hätte ich so eine glänzende Zukunft für ihn gehabt, denn es ist so gut wie sicher, daß ich zu Ostern die Chefredaktion einer großen militärischen Zeitschrift übernehme, wo ihm dann eine Stelle als Mitredakteur mit entsprechendem Gehalt sicher wäre. Den Krempel hier gebe ich auf!“
Für Laienblicke schien sich das Befinden Bardolfs kaum sehr zu verschlechtern. Als die Weihnacht herankam, bestand er darauf, persönlich Gretel und Luise zur Urgroßmutter zu bringen, wo die beiden dann einige Wochen bleiben sollten, während deren er im Hause des Hauptmanns sein Quartier hatte. Nach so viel Jahren brannte in dem kleinen Hause wieder der Weihnachtsbaum. Frau Klämmerlein konnte sich nicht satt sehen an Gretels Freude und an der ganzen Gretel, und Bardolf selbst schien von einer tiefen und großen Freude bewegt, daß er dies Fest mit seinem Kinde an der Heimstätte seiner Junggesellenjahre feiern durfte.
Am zweiten Feiertage abends reiste er zurück. „Auch der lieben Mama einen Kuß!“ sagte Gretel, als er sie zum Abschied küßte. „Ja, Kind, den will ich bestellen,“ erwiderte er. „Sei nur immer hübsch brav!“ Es lag etwas wunderbar Ruhiges und Hohes in seinen Zügen. Ritter begleitete ihn zur Bahn. Unterwegs fing Bardolf an. „Sag ’mal, lieber Freund, wir müssen doch einmal davon sprechen, du hast noch immer den Schein von mir, weißt du – –“
„Leider nicht,“ fiel ihm Ritter ins Wort. „Er ist mir, bald nachdem du ihn mir gegeben hattest, ins Feuer gefallen.“
Bardolf blieb stehen und guckte ihm ins Gesicht. „Das [83] sieht dir ähnlich!“ rief er, und es klang etwas von der alten fröhlichen Heiterkeit hindurch.
„Du solltest überhaupt von solch dummem Zeug gar nicht reden,“ versetzte Hans Ritter. „Ich bitte dich! Mir! Einem deutschen Novellisten, der Geld wie Heu verdient! Laß mich dir lieber noch ’mal persönlich danken, daß du uns euer weißes Mädel eine Zeit lang dalässest. So lange es hier bleibt, ist das Liebste bei uns, was ich habe.“
Bardolf hielt wieder inne und erfaßte die Hand des Freundes. „Ich danke dir!“ sagte er, „das hat wohlgethan.“
Nach einer Weile fing er an, von anderem zu sprechen. Es war ein lauer, regnerischer Winter; schwarze Weihnachten; die Straßen schlammig und der Himmel sternlos, von Wolken grau verhängt. „Sieh doch“ sagte Bardolf, „wie wundervoll die Sterne leuchten! So war es an unserem Verlobungsabend.“
Ritter blickte ihn erstaunt und gerührt an.
„Ja,“ fuhr Bardolf fort, „ist es nicht seltsam, daß meine Augen diesen Glanz heute wieder auf einmal so deutlich erkennen, deutlicher als je? Sie machen mir sonst doch neuerdings wieder so viel zu schaffen. Sogar den ‚Fuhrmann‘, da vorn im ‚Großen Wagen‘ meine ich heute wieder zu sehen. Ich zeigte ihn Emilie damals, sie konnte ihn nicht erkennen, aber sie war selig, daß ich so hell und scharf sähe. – Hier unten der Schmutz und dort oben die ewige Welt voll Licht und Klarheit,“ fuhr er fort. „Es ist wunderbar!“
„Ja, es ist wunderbar,“ wiederholte Hans Ritter leise.
Dann tauchten sie in das Menschengewühl des Bahnhofs ein, und bald darauf trennten sie sich vor der Waggonthür mit festem Händedruck und vielen herzlichen Grüßen.
Acht Tage darauf, in der Frühe des Morgens traten der Hauptmann und Hans Ritter aus dem Portal der Seedorfschen „Lehranstalt.“ Plötzlich und rapid, wie es der Geheime Sanitätsrat vorausgesehen, hatte es sich vollbracht. Als Hans Ritter am Abend zuvor auf das Telegramm des Hauptmanns herbeigeeilt war, hatte der Sterbende schon kein Zeichen des Erkennens mehr für ihn gehabt; und zwölf Stunden darauf war er gänzlich entschlafen, ohne die von den behandelnden Aerzten erwarteten Krämpfe und anscheinend ganz schmerzlos. Nur noch einmal während dieses langsamen Hinüberdämmerns waren über seine Lippen menschliche Laute gekommen, ein leises, zufrieden müdes Flüstern. „Sterben – – – schön – – –“.
Die Freunde hatten bei ihm gewacht. Nun traten sie hinaus auf die kaum erst belebte, schlüpfrig feuchte Gasse, und der Hauptmann von Seedorf sagte zum Abschied: „Na nun gehen Sie in den Gasthof und legen Sie sich eine Weile, lieber Doktor, zum Frühstück werde ich Sie wecken kommen. Uebermorgen ist das Begräbnis, natürlich mit Musik, vom Kriegerverein aus, und drei Salven übers Grab! Wenigstens im Grabe hat doch auch der Bescheidenste ’mal etwas davon, daß er mit dabei war.“
Es dauerte noch einige Tage nach dem Begräbnis, bis das Notwendigste, Vormundschaftsübernahme, Ordnung und Einteilung der fahrenden Habe in „Andenken- und Versteigerungswürdiges“ und dergleichen, erledigt war. Auffallend schön geordnet waren die Briefschaften und Papiere Bardolfs. Obenauf im Schreibtisch fand sich ein geschlossener Brief an Hans Ritter. Er hat aber niemand je gesagt, was darin stand.
Und nun saß er wieder im Eisenbahnwagen und fuhr heim zu seinem Heim, und zugleich zu dem Kinde, das nun ihm allein anvertraut war, und zwischen Wachen und Schlafen war es ihm, als hörte er immerfort zu dem eintönigen Rollen und Stoßen des Zuges die Worte der alten Frau, die sie damals im Schlafe gemurmelt, als er mit ihr von der ersten Geburtstags- und Weihnachtsfeier der Kleinen heimfuhr. „Nur recht weich betten, und recht warm halten!“
(Fortsetzung folgt.)
Ein Jubiläum der Polarforschung. (Zu dem Bilde S. 84) Schon vor drei Jahrhunderten drangen kühne Seefahrer in die Eiswüsten des nördlichen Polarmeeres vor, um längs der Nordküste Asiens einen Seeweg nach China zu finden. Zu diesem Zwecke wurde auch von Amsterdamer Kaufleuten im Jahre 1596 eine Spedition von zwei Schiffen ausgerüstet. Die eigentliche Seele des Unternehmens war der Obersteuermann Willem Barents, ein mutiger, in Polarreisen bereits erfahrener Mann. Die Expedition entdeckte nicht die Durchfahrt nach China, aber in der Geschichte der Polarforschung nimmt sie eine hervorragende Stellung ein, denn vor gerade dreihundert Jahren mußte ein Teil ihrer Mannschaft zum erstenmal in Polargegenden überwintern. Im Sommer des Jahres 1596 trennten sich die beiden Schiffe voneinander. Dasjenige, auf dem sich Barents befand, geriet nach Nowaja Semlja und wurde unter 76° nördlicher Breite vom Eise festgehalten. Gewaltige Eispressungen nötigten die Mannschaft, das Fahrzeug zu verlassen und den Winter auf dem Lande zuzubringen. Glücklicherweise fand man an der Küste Treibholz in Menge, aus dem ein Blockhaus errichtet wurde und das als Feuerungsmaterial verwendet werden konnte. Ein Teilnehmer der Expedition, Gerrit de Beer, hat später einen Bericht über diese Erlebnisse niedergeschrieben und eine schlichte Abbildung des Blockhauses gezeichnet, die wir im verkleinerten Maßstabe unsern Lesern vorführen. Schon im Oktober war die Kälte unerträglich. Das Feuer, das beständig auf dem Herde in der Mitte des Hauses unterhalten wurde, schien seine Kraft, zu erwärmen, eingebüßt zu haben. Die Schlafstätten bedeckten sich mit zwei Finger dickem Eise, die Strümpfe verbrannten, bevor die Füße warm wurden. Am 4. November verschwand die Sonne vollends, und es verstrichen 81 Tage völliger Nacht. Willem Barents hielt aber den Mut der Mannschaft aufrecht. Es wurden Ausflüge veranstaltet und Füchse gejagt, deren Fleisch Nahrung und deren Felle Kleidung lieferten. Auch allerlei Kurzweil wurde getrieben und am 6. Januar 1597 bei einem nur aus Mehl und Thran gebackenen Kuchen der Dreikönigsabend nach altem holländischen Brauch gefeiert. Im großen und ganzen war der Gesundheitszustand gut. Zur Stärkung nahmen die Holländer warme Bäder in einem großen, dazu eigens hergerichteten Weinfasse, das im Hause aufgestellt war.
Als der Sommer kam, traten die mutigen Seefahrer auf Booten die Rückfahrt nach dem Süden an. Sie begegneten russischen Fischern und wurden gerettet, aber von den siebzehn sahen nur zwölf die Heimat wieder und zu den Toten, die in den Eiswüsten des Nordens ihr Grab fanden, zählte auch der mutige Führer Barents.
Fast dreihundert Jahre später wurde das Haus, in dem die Holländer überwintert hatten, am 9. September 1871, vom norwegischen Kapitän Elling Carlsen wieder aufgefunden. Vieles war noch ausgezeichnet erhalten; rings um das Haus standen Tonnen und lagen Bären- und Walroßknochen in Haufen umher, als ob das Winterquartier soeben verlassen worden wäre.
Am „Kleinen Kiel.“ (Zu dem Bilde S. 69) „Der Kleine Kiel“, so heißt die durch schmale Zufahrt mit dem Kieler Hafen verbundene Wasserfläche, die seeartig sich tief in das Weichbild der Stadt hineindrängt. Jetzt der Stolz und die Zierde von Kiel, villenumgeben und gartenumblüht, mit schattigen Baumgängen eingefaßt, war dieser „kleine Hafen“ lange Zeit ihr Schmerzenskind, als er noch mit sumpfigen und schilfumrauschten Ufern in doppelt so großer Ausdehnung im Sonnenglanz dalag und an Abwässern so viel aufnahm, daß er zur Sommerszeit die fürchterlichsten Dünste aushauchte.
In neuester Zeit führt über den „Kleinen Kiel“ eine Brücke. Sie mündet nicht fern von dem einstigen Wohnsitze eines um den „Kleinen Kiel“ und noch um andere Dinge hochverdienten Mannes, des heimgegangenen Professors Thaulow, der mit rührender Sorgfalt und Liebe für die Bevölkerung des weiten Wasserspiegels mit allerlei in- und ausländischem Wassergeflügel sorgte. Zu all den stattlichen Schwänen und Gänsen und Enten und Entlein gesellt sich aber zur Zeit der Wintersnot noch eine andere Schar, das sind die wilden Möven von der See her, die hier bei ihren zahmen Vettern zu Gaste gehen möchten, und die, wenn Teiche und See zugefroren sind, gar zahm und zutraulich werden um eines Stückleins Brot willen, mit dem sie den grimmen Hunger stillen möchten - so zahm, daß sie, die ungestümen Flieger und ungebändigten Freibeuter, dem Fütternden gleich aus der Hand fressen. Es ist ein lieblich anmutiges und seltsam fesselndes Schauspiel, dies Flattern und Flügelschlagen, dies Drängen und Durcheinanderschwirren der Hunderte von kreischenden blütenweißen Möven! Kennen sie vollends Eine, die regelmäßig mit zarten Händen ihnen ihr Futter reicht, dann umschwirren sie die Mildthätige, wie einst die Tauben um Aschenbrödels Haupt flogen und flatterten. „Winterszeit – harte Zeit“ für den kleinen Mann unter dem gefiederten und ungefiederten Volk, aber „es muß doch Frühling werden!“ Da schlagen die Lindenbäume um den „Kleinen Kiel“ her wieder aus, und in den Gärten blühen Krokus und Hyazinthen, und die Schar der Möven läßt Brücke und Brackwasser und Stadt und Jungfräulein, und sie schreien einander zu vom Siege des Lichts und vom wiedereröffneten Fischfang da draußen, und in ungebändigter Freiheit und Frechheit brausen sie in weißem Geschwader über die See – „Frühling“!
Gefangene Germaninnen. (Zu dem Bilde S. 72 und 73.) Wehe den Besiegten! Grausenerregend gellt der Ruf durch den Gau Germaniens, der, inmitten stiller Berge gelegen, jahrelang der Segnungen des Friedens sich erfreut hat. Nun hat sich jäh das Schicksal gewendet. Unvermutet waren in denselben römische Legionen eingebrochen und die Schar der Krieger, die sich dem Feinde entgegenwarf, wurde trotz her tapfersten Gegenwehr von der Uebermacht aufgerieben. Auf der Walstatt liegen die Helden, und die Sieger durchziehen raubend und sengend das Land. In ihre Hände ist auch eine Schar germanischer Frauen und Jungfrauen gefallen. Man hat sie in ein halbzerstörtes Blockhaus geführt und hier sollen sie warten, bis über ihr Schicksal entschieden
[84]
wird. Wehe den Besiegten! Wer wüßte nicht, daß Rom den Nacken der Bezwungenen ohne Erbarmen zu beugen pflegt! So hat sich namenlose Verzweiflung der Herzen der unglücklichen Germaninnen bemächtigt. Sie haben alles, alles verloren! Ihre Gatten und Brüder sind gefallen, in Flammen ist ihr Heim aufgegangen - sie sind der Willkür der Sieger preisgegeben, und schon naht der römische Feldherr, um sie als Siegesbeute unter seine Krieger zu verteilen. In diesem furchtbaren Augenblick, in welchem alle Familienbande zerrissen werden, die Mutter von der Tochter und die Schwester von der Schwester getrennt werden soll, rafft sich die Königstochter empor und harrt mit ungebeugtem Stolz dem Schicksalsspruch entgegen. Voll hehrer Frauenwürde überragt sie ihre Genossinnen und gebietet Achtung dem Sieger. Mit verschränkten Armen schaut der Feldherr auf die durch die Größe des Unglücks verklärte Gestalt. Er hat einen neuen Kampf zu bestehen. Diese Frauen sind nicht wehrlos; sie heischen Mitleid von dem Gewaltigen, und nur ein roher Barbar könnte Freude an einer weiteren Demütigung der schon so Tiefgebeugten empfinden. Die Entscheidung lesen wir aus den Zügen des Feldherrn heraus. Das Unglück wird ihn entwaffnen, er wird von der rohen Kriegssitte abweichen, wird Großmut üben und seinem frischem Lorbeerkranz ein neues Reis hinzufügen.
San Lazzaro. (Zu dem Bilde S.77.) In der Lagune, deren Flut die zahllosen Kanäle Venedigs durchströmt, liegt in der Richtung nach dem offenen Meer, eine Reihe größerer und kleinerer Inseln verstreut, die von alters her zum Besitze der stolzen „Königin der Meere“ gehört haben. Die Geschichte Venedigs hat ihnen eine sehr verschiedene Bestimmung gegeben. Auf Murano erhielt die von der Stadt selbst betriebene Glasindustrie ihr Heim, nach San Michele verlegten die Venetianer ihren Friedhof, andere Inseln wurden mit Hospitälern und Klöstern besiedelt. Das kleine San Lazzaro hat im Laufe der Zeiten sowohl das eine wie das andere erfahren; als es seinen Namen erhielt, ward auf demselben ein Spital für Aussätzige errichtet, später trat das noch heute bestehende armenische Mechitaristenkloster an dessen Stelle. Armenische Mönche hausen dort in völliger Abgeschiedenheit von der Welt; aber für die armenische Welt, die noch heute wie vor Jahrhunderten ihr Christentum in den Ländern des Orients gegen den Islam in schweren Kämpfen behaupten muß, ist dieses stille Heiligtum ein Bollwerk von hoher Bedeutung, eine Art nationaler Akademie für die Pflege ihrer Religion, für die Herstellung ihrer Bibeln und Andachtsbücher in armenischer Schrift und Sprache. „Armenische Greuel“, grausame Verfolgungen der Armenier durch die Türken, wie sie auch gegenwärtig wieder die mitleidvolle Teilnahme Europas herausfordern, waren es, die zur Gründung dieses Asyls führten. Der Stifter desselben, Mechitar, stand seit 1702 an der Spitze eines armenischen Klosters auf Morea, als dort die Kämpfe der Türken gegen die Herrschaft der Venetianer ausbrachen, die für die ersteren siegreich verliefen. Nach der Zerstörung dieses Klosters durch die Türken im Jahre 1716 suchte er mit den Brüdern in Venedig Zuflucht und erhielt vom Senat die Insel San Lazzaro zur Errichtung eines neuen Klosters überwiesen. Was hier dann jene Flüchtlinge und ihre Nachfolger ins Leben gerufen haben, nötigt dem Besucher die höchste Achtung ab. Mit Staunen sieht man beim Durchschreiten der Bibliothek, welche Schätze christlicher Bildung dieses uns fremde Volk des Orients besitzt, erblickt man in der Buchdruckerei des Klosters die Mechitaristenbrüder bei der Arbeit am Setzkasten, um in den ihrem Volke verständlichen Lettern nicht nur Bibelausgaben und Gebetbücher, sondern auch Uebersetzungen klassischer Werke der ersten Dichter und Denker Europas herzustellen. Schlicht, freundlich und gewinnend ist das Wesen der Mönche, von denen einer immer bereit ist, fremde Besucher durch die Räume der Bibliothek, der Kirche und der Buchdruckerei zu geleiten und ihm einen Blick in den herrlichen Garten zu gewähren, der die anspruchslosen Gebäude umhegt. Die ganze Pracht der Vegetation des Südens findet sich hier entfaltet, üppiger Rosenflor rankt sich an riesenhaften Cypressen empor und der berauschende Duft blühender Orangen und Magnolien dringt über die Mauern, die nach dem Meer zu dies stille Heiligtum umgeben, in welchem die armenische Kirche im Schutze Venedigs wie Europas eine ungefährdete Zufluchtsstätte besitzt.
Wintermorgen in der Großstadt. (Zu dem Bilde S. 81.) Lange vor Morgengrauen erwacht an den Wintertagen die Großstadt, und schon in Nacht und Nebel eilt eine große Schar arbeitsamer Menschen ihrem Berufe nach. Der Milchwagen rasselt durch die Straßen, der Bäckerjunge trägt das Frühstück aus, der Plakatankleber entfaltet seine Thätigkeit und der Buchdruckerei entströmen die großen und kleinen Zeitungsträger. Geschäftiges Leben flutet bereits überall, wenn der Laternenmann die Straßenlampen auslöscht; und wenn die spät aufstehende Wintersonne durch Nebel- und Rauchwolken dringt und mit ihren matten Strahlen die Kirchtürme und Hausdächer vergoldet, haben schon gar viele ihr erstes Tagewerk vollbracht.
Morgenstunde hat Gold im Munde. Auf vielen jugendfrischen Gesichtern ist deutlich zu lesen, wie rüstige Arbeit frohen Sinn schafft. Leider aber bricht sich der matte Lampenschein am Wintermorgen in der Großstadt in so vielen matten, abgehärmten Augen! Wie groß ist nicht die Zahl der Armen und Schwachem, die in dem rauhen Wetter, notdürftig bekleidet, in harter Mühe ihr tägliches Brot verdienen müssen! In der strengen Winterszeit leidet der fleißige Arme doppelt Not, und doppelt groß sollte in dieser Jahreszeit die werkthätige Nächstenliebe sein. Helfen wir nach Kräften diesen Schwachen, die so gern arbeiten wollen, dann wird die Mildthätigkeit viele Thränen stillen und den düstern Wintermorgen verklären!
Junge Holländerin. (Zu unserer Kunstbeilage.) Wer es noch nicht weiß, warum die Holländerinnen so fest an ihren eigenartigen Häubchen halten, der kann es auf dem hübschen Bild hier sehen. Wie kleidsam umschließen diese duftigen Spitzenwände das Gesicht und die lockigen Stirnhaare! Seitwärts biegen sich die Enden wieder hinauf bis beinahe zu der großen, dicken Schmucknadel, die das Ganze befestigt. Wenn sich nun das Gesicht des hübschen Mädchens uns voll zuwenden würde, so sähen wir rechts und links zwischen den rosigen Wangen und der Spitzenhaube die beiden Scheiben von Goldfiligran hervorleuchten, die das „Holländerhäubchen“ vor allen anderen Kopftrachten auszeichnen und im Verein mit der Granatkette, dem Spitzentuch und der blütenweißen Schürze ein so kleidsames Ganzes ausmachen. Man begreift die Frauen, die einer solchen Tracht treu bleiben, aber auch die Künstler, welche uns heute, in der Zeit neu erwachter Liebhaberei für holländische Kunst, die „schöne Holländerin“ so gern auf ihren Bildern zeigen!
Inhalt: [ Inhalt von Heft 5/1897 – z. Zt. hier nicht dargestellt. ]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
- ↑ Wir übergeben den Lesern der „Gartenlaube“ hiermit eine der letzten Arbeiten unseres im Herbst vorigen Jahres verstorbenen geistvollen beliebten Mitarbeiters. D. Red.