Die Gartenlaube (1897)/Heft 6
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Nr. 6. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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(5. Fortsetzung.)
Wochen vergingen und es blieb alles beim alten. Aenne hatte ihren Verlobten nur selten gesehen, er war völlig in Anspruch genommen von seinem Beruf infolge der Anwesenheit des Herzogs, der ohne Günthers Begleitung keinen Pirschgang unternahm. Zu einer Aussprache hatte sie keine Gelegenheit gefunden, aber auch den Mut nicht. Wenn sie in seine Augen blickte, die stets einen Schimmer von Rührung und Zärtlichkeit bekamen, sobald sie auf ihr ruhten, preßte ihr die Angst den Mund zu. Was sollte dann werden, wenn er ihr antwortete: „Nein, Aenne, nein – laß uns auseinander gehen, ich weiß, was es heißt – ohne Liebe heiraten!“
Ja, was sollte dann werden? Weiter leben im Hause der Eltern? Unter den Augen von Heinz, in der Erfüllung der geringen Pflichten, die nicht den tausendsten Teil ihrer jungen Kräfte erforderten? Nein! Andere Arbeit brauchte sie, schwere Pflichten, die sie so in Anspruch nahmen, daß sie nicht Zeit fand, nach rechts und links zu sehen! Erst nach der Hochzeit wollte sie ihm alles sagen, dann mußte er sie behalten, mußte Geduld mit ihr haben!
Droben im rechten Flügel des Schlosses, den der Regierende zu Jagdzeiten bewohnte, schimmerte allabendlich die Reihe der hellen Fenster in die Nacht hinaus, und auf dem sonst so stillen Schloßplatz war reges Leben. An den Straßenecken klebten Programme: „Herzogliches Hoftheater zu Breitenfels“, vor dem Gasthofe droben hielten abends lange Reihen von mehr oder minder feinen Equipagen, denn die Bewohner der umliegenden Städtchen, Dörfer und Rittergüter kamen, um den Vorstellungen beizuwohnen, die für sie einen seltenen Genuß boten. Es war ja anerkannte Thatsache, daß das herzogliche Hoftheater über vorzügliche Kräfte verfügte.
Aenne saß beinahe jeden Abend in der Loge der herzoglichen Beamten auf einem der beiden Plätze, die dem Oberförster gehörten; den andern Platz nahmen abwechselnd Fräulein Stübken, die Mutter oder Tante Emilie ein; Aenne war es gleichgültig – wer. Sie sah und hörte nicht, was sonst um sie her geschah, sie ging völlig auf in den Tönen, und hier allein vergaß sie ihre ewig quälenden Gedanken.
Diese Plätze befanden sich in den Seitenlogen des zweiten Ranges des winzigen Theaterchens. Es war heiß dort innen und dunkel, Aenne merkte es nicht. Gegenüber, auf seiten der Herzogin-Mütter, sah sie in der Prosceniumsloge Abend für Abend die hohe Frau mit ihren Hofdamen, Frau von Gruber, Fräulein von Ribbeneck,
[86] und dem Kammerherrn. Heinz hatte sie nicht wieder erblickt, sie wußte nur, daß er sofort beurlaubt worden, daß er den Abschied eingereicht habe und sich mit unerhörtem Fleiß in seine neuen Pflichten einzuleben bemüht sei. Ihre Durchlaucht hatte das gnädig dem Medizinalrat anvertraut und auch, daß sie glaube, eine ganz vorzügliche Acquisition gemacht zu haben.
Es war, als ob sich alle die tobenden Wässer anschickten, ruhig und ehrbar in den Bahnen dahin zu fließen, die sie sich selbst gewählt hatten, als vernünftige Bächlein, die bestimmt waren, zu nützen und zu arbeiten, bis sie dereinst in dem großen Meere untertauchten.
Aenne erfuhr auch eines Tages, daß der dritte Weihnachtsfeiertag für die Hochzeit des Herrn Hofmarschalls ausersehen sei. Sie ertrug’s kaum, wenn von ihm die Rede war, aber sie nahm sich zusammen, nur erschien sie still, gedrückt und merkwürdig gleichmäßig. Die Mutter hielt das für die natürliche Folge des Brautstandes, dem Vater aber gefiel ihr Aussehen gar nicht. „Nervös“, sagte er, „sie wechselt zu oft die Farbe, und in ihren Augen flackert es, als hätte sie Fieber.“
Er verschrieb ihr Chinin und verordnete Spaziergänge.
„Nimm die Kinder mit, wenigstens die großen,“ schlug die Mutter vor, „es wird dich zerstreuen!“
In Aennes Herzen bäumte sich jäh etwas auf. Sie ertrug seit jenem Tage, wo der Junge und das Mädel nach Kinderart ihr ins Gesicht gerufen. „Du liebst uns ja gar nicht“, die kleinen Geschöpfe kaum noch, sie konnte sich zu keiner Liebkosung mehr aufraffen, sie fühlte sich erkannt von ihnen – Kinder sind größere Herzenskundige als man denkt – und so fiel die Antwort auf den Vorschlag der Mutter heftig ablehnend aus. Ob man ihr denn nicht noch die paar Wochen Freiheit gönnen wolle, fragte sie mit flackernden Augen, sie wünsche allein zu gehen, ganz allein, sogar ohne Tante Emilie!
Frau Rätin war sehr erschreckt ob dieses Ausbruches. „Herrgott, ja!“ sagte sie, „sei doch nur ruhig; an Kinder muß man sich erst gewöhnen ich weiß ja, aber was du gegen Tante Emilie jetzt hast, das ist mir unverständlich.“
„Na, laß sie doch nur, Schwägerin“ beruhigte diese, „wir beide wissen, wie wir dran sind miteinander – es wird auch wieder besser, gelt, mein Engelchen?“
Das „Engelchen“ antwortete aber nicht und ging allein spazieren im Schloßgarten, immer dieselben Wege, so ganz einsame und unbetretene, von denen sie wußte, daß sie niemand auf ihnen begegnen würde als höchstens einem der zahmen Rehe oder einem Arbeiter. Die todestraurige, spätherbstliche Natur, die so sehr ihrer Stimmung entsprach, schien sie zu beruhigen.
Auch heute war sie draußen. Von Unruhe gequält, hatte sie die Näherei auf den Tisch geworfen, müde, ihren Namen dutzendweise in die Taschentücher zu sticken die sie zur Aussteuer bekommen hatte. Hut und Mantel angethan und war ihrer Wege gegangen. Es war so um drei Uhr nachmittags eines trüben Novembertages, die Wolken drohten mit Schnee bei völlig windstiller köstlicher Luft. Der Parkweg, auf dem Aenne dahin schritt, führte bergan zu einem nicht mehr benutzten schloßartigen Lustbau, in dessen Räumen nur noch Gartengerätschaften und das Futter für das zahme Wild aufbewahrt wurden. Man hatte von dort eine reizende Aussicht über den großen Teich und die Baumpartien des Gartens bis zum Schloß hinüber, das sich von dieser Seite besonders stattlich darstellte. Hier oben, auf dem kleinen Platz vor dem „Luisenschlößchen“, stand sie still und betrachtete das liebliche Bild. Auf dem Turme wehte die Flagge des regierenden Herzogs, er gedachte in diesem Herbst lange zu bleiben, man sprach sogar davon, daß er das Weihnachtsfest hier verleben wolle. Wenn er abreiste – dann – das hatte ihr gestern abend Günther gesagt – dann war ihre Hochzeit.
„Es wird ja doch nichts daraus“, pflegte Tante Emilie zuweilen zu behaupten, und deshalb mied Aenne sie. Aus ähnlichem Grunde ging sie dem Fräulein Stübken aus dem Wege, die ihr immer mit einem so eigentümlich malitiös mitleidigen Lächeln entgegen trat, das sich zu mühsam beherrschtem Grinsen steigerte, wenn sie Aenne mit den Kindern zusammen sah, den Kindern, die der künftigen Mutter mit einer förmlich ostentativen Gleichgültigkeit begegneten und ebenso ostentativ jubelnd in Fräulein Stübkens Arme flüchteten.
Wieder stand sie da und grübelte. „Einen Ausweg, nur einen Ausweg!“ ohne die Lösung zu finden. Hinter ihr klangen jetzt Schritte, und als sich Aenne langsam umwandte, mit gerunzelter Stirn ob dieser Störung, erkannte sie in der eleganten Erscheinung, die auf sie zuschritt, die Diva des Breitenfelser Hoftheaters, Fräulein Jeannette Hochleitner eine schöne Blondine, sehr chic kostümiert und von jedermann im Städtchen gekannt, belobt und beklatscht.
„Gott sei Dank“, sagte diese mit klingender Stimme in unverkennbar österreichischem Dialekt, „endlich a menschlich’s Wesen! In dem Park kann ma ’s Gruseln lernen, an so a’m Tag! I bitt’, gnädig’s Fräul’n, erlauben ’s, in Ihrer Gesellschaft aus der Einsamkeit fortz’geh’n, denn i hab’ wirkli a sehr große Angst.“
„Sie fürchten sich?“ fragte Aenne, halb ungläubig, halb verlegen. „Aber hier ist’s völlig sicher und ich – ich habe meinen Spaziergang erst begonnen.“
„Ui jegerl! dös soll heiß’n – verschwind – i dank’ für di!“ lachte die Sängerin, „aber na, dös will i net! I bitt’ Euer Gnad’n, lass’n S’ mi hintendrein trotteln, i möcht’ a gern no a bisserl geh’n, und in der Windstille kann ma’s ohne Gefahr für die Kehl, und unsereins plauscht halt a gern a mal mit jungen Madeln. In dem Spuknest von Breitenfels, wo d’ Leut stumm z’ sein scheinen, verlernt man ja schließli ’s Reden!“ Und ohne Aennes Zusage abzuwarten, nahm sie ihre mit Seide gefütterten Röcke zusammen, um sie vor der Feuchtigkeit des Bodens zu schützen und schritt neben ihr, während sie weiter sprach.
„Gelten`s, Sie leben hier, gnä’ Fräul’n, ja? I’ seh’ S’ halt immer in der Loge von dem Herren Hofbeamten, da, wo der junge Dackel, der Sternitzki, seinen Platz hat. Sie kennen ihn doch, den Sternitzki, den Vorleser von Hoheit? I muß da immer naufschaun, denn, wissen S’, der Sternitzki sieht meinem Brüderl so ähnli, daß ’s rein zum Staunen is – mein gut’s Brüderl!“
„Sie sprechen österreichischen Dialekt, Fräulein Hochleitner, sind Sie aus Wien?“ fragte Aenne, um nicht ganz zu schweigen.
Das schöne Mädchen lachte. „Dös haben’S wirka raus g’fund’n? Na, dös ist schon a Kunst – ja, i bin aus Oesterreich. O, mein liebs Innsbruck, dös is a Stadt, da müssen S’ mal hinreisen! Wissen S’, dös ist so a Städterl für a Hochzeitsreisn – sagen S’ nur a mal Ihr’m Liebsten: Hör’, du muast mit mir nach Innsbruck, Schatzerl, oder i nehm’ di net, und dann –“
„Mein Bräutigam bekommt schwerlich Urlaub, und ich glaube auch nicht, daß eine Hochzeitsreise überhaupt in seinem Plane liegt“, sagte Aenne ruhig.
„Jesses Maria – Se san schon verlobt?“ rief die andere. „Du mein! I hab’ da nur so an Schlag ins Blaue nein ’than.So jung und wollen schon ’s Kreuzerl auf sich nehm’n?“ Sie schüttelte sich ordentlich. „Da hat Ihnen g’wiß das Mutterl zug’redt, fuhr sie fort „ja, so sind d’ Mütter. D’ meine hat’s a so mach’n woll’n mit mir, is a Aner daher komm’n wia i grad siebzehn war, und hat ihr vorg’redt von die schönen soliden Verhältnisse, in die i komm’n thät, und dös hat ihr ka Ruh’ net g’lass’n. Tag und Nacht hat s’ mir in die Ohr’n g’leg’n, und hat g’sagt ’Net wahr, Schani, du bist g’scheit, du thust ’n nehm’n! Denk’, du bist a arm’s Mad’l, ’s Vatterl kann d’r ka Geld hinter lass’n und der Fedor – das is mein Brüderl – der braucht a a ganz g’hörigs Stück in sei’m Wien bei die Student’n, und wer weiß, ob sich a Versorgung zum zweitenmal bietet. Net wahr, du nimmst ’n, Schani?“ „Aber i hab’ natürli net g’wollt und hab’ die Zung’n hinter ihm außerg’streckt, wie er gangen is, und hab’ g’sagt, er soll no a bissel wartn, i sei no z’ jung. Dann ist ’s Schreckliche kommen, mein arm’s Vatterl hat sich bei der Sektion einer Leich’ – er war Dokt’r – a Blutvergiftung –“
„Ihr Herr Vater war Arzt?“ fragte Aenne teilnehmend.
„Ja! Wundert’s Ihne gar, daß sein’ Tochter Opernsängerin worden is?“
„O nein,“ antwortete Aenne zögernd, „nur – mein Vater ist auch Arzt.“
„Da sind S’ wohl das Töchterl vom alten Medizinalrat May? Ja, na freili, jetzt erkenn’ i Sie auch ja, wissen S’, da müssen S’ mir das Patscherl geb’n, i hab’ ihn so gern, Ihr’n lieben Papa, er hat mir ja im vorigen Jahr so prachtvoll [87] kuriert – na, wie mi dös freut! Er is so gemütli am Krankenbett und macht gar Spaß, wann er a’m quält mit seine Instrumenter. Sehen S’, so war mein Vatterl auch, und dann hat er so arg schnell dran glaub’n müss’n, in drei Tag lebendig und tot! Und wie’s ein Vierteljahr her war, daß mir ihn begraben hatten, da is der G’wisse wieder komm’n, er hat’s ja guat g’wußt daß ka Vermög’n da war und die Witwe in Not is mit der Tochter, und da ging’s aufs neu über mein arm’s G’müt her. Ui, was hab’n mir d’ Leut’ zug’setzt! Ganz mürb’ haben’s mi g’macht, und endli hab i noch vierundzwanzig Stund’ Bedenkzeit verlangt, und da haben’s a Ruh’ geb’n und g’meint, nun hätten’s mi. Aber wie die vierundzwanzig Stund’ um g’wes’n sein, da haben’s nur a Brieferl g’fund’n, das i für mein Mutterl zum Abschied auf’n Tisch gelegt hatt’, und i bin derzeit schon in Wien g’wes’n bei aner Dam’, die mein Vatterl von schwerer Krankheit g’rettet hatt’. Da hab i dann das Brüderl hinkommen lass’n und hab’ ihm g’sagt. – so und so, und jetzt thust mi auf d’ Musikschul’ begleit’n, i will a Sängerin wer’n, will mi prüf’n lass’n. ’S wird ja doch wohl um Gott’s willen noch an andern Weg geb’n zum Fortkommen für a rechtschaffen’s Mad’l als das Heiraten.’ Er hat z’erst gar große Aug’n g’macht und g’fragt: „Von was willst studieren, Schani?“ ,A Freistellen muß i hab’n!’ is mein Antwort g’wes’n, sie wer’n do a Freistell’n hab’n für die Tochter von an braven Mann, der bei Königgrätz ist verwundet word’n? I bitt’ bei unserm Kaiser drum. – Na, kurz und gut, und da, schau’n S’ mi an, so bin i word’n! – Net wahr, ’s läßt sich ertrag’n?“
„Und Ihre Mutter?“
„War doch am End’ a vernünftige Frau und hat mein Brieferl mit Nutzen geles’n damals.“
„Was hatten Sie ihr denn geschrieben?“
„Gar net viel, nur das, daß i ’s für a Schand halten thät, wann’s Mad’l an Mann nähm’ ohne Lieb’, nur um a Versorgung z’ finden, oder aus Aerger oder sonst einer Ursach’, und daß i ka Lust hätt’, unglückli z’ wer’n und unglückli z’ mach’n, und daß ’s a noch and’re Möglichkeiten gab’, zu existieren, als unter der Haub’n. Sie hat’s mit der Zeit begriff’n, denn der Mann, der mi g’wollt hat, behandelt sein Weib schlecht; mei’ Tant’ in Innsbruck kann’s beobachten, sie wohnt net weit von ihm, so schräg gegenüber. Jetzt ist die Mutter ganz einverstand’n mit mir, führt a die Wirtschaft in der Residenz für mi, und ’s Brüderl besucht uns, wenn seine Kranken ihn fortlass’n von Innsbruck.“
Aenne blieb stumm eine ganze Weile; sie betrachtete nur mit großen forschenden Augen ihre Begleiterin, deren Geplauder gleich einer förmlichen Offenbarung für sie war. Als thue sich ein Vorhang vor ihren Blicken auf und zeige ihr, was dahinter lag – eine schöne leuchtende freie Welt! Herrgott, jene hatte ihr doch weiter gar nichts Besonderes erzählt als eine ganz einfache Geschichte, und doch umklang es sie wie eine frische schmetternde Fanfare, wie ein Frühlingslied! O, wer das auch könnte – ja, wer ihr das früher erzählt hätte! Wer so groß, so mutig wäre! – Aber das war nichts für sie! –
Sie senkte den Kopf und der graue Vorhang schnurrte wieder zusammen, und aus seinen Falten tauchten die vorwurfsvollen mißtrauischen Gesichter der Kinder auf, denen sie eine Mutter werden sollte, und Günthers Stimme meinte sie dabei herauszuhören „Weißt du, was es heißt – eine Ehe ohne Liebe? Eine Hölle auf Erden – das tiefste Elend!“
„Wie schau’n S’ denn aus?“ sagte jetzt das schöne Mädchen gutmütig, „die Augen sollt’ a Braut net machen!“
„Das ist auch sonst nicht meine Sache, ich bin eigentlich immer fröhlich,“ antwortete Aenne, gewaltsam ihre Gedanken zwingend, „ich habe nur heute ein wenig Kopfweh; aber sehr freut es mich, Sie, Fräulein Hochleitner, persönlich kennen. gelernt zu haben. Ich möchte – sie wurde plötzlich flammeud rot – „ich möchte Sie wohl erzählen hören von Wien in der Zeit Ihrer Studien und – sie stockte – „ich interessiere mich ja für Musik, ich singe selbst ein wenig.“
„Aber mit der größten Freud’, antwortete die Andere, „i bin so glückli, wann i plauschen kann – da will i Ihn’n an Vorschlag mach’n morgen geh’n mir wieder mitanander spazier’n, vielleicht a a mal a Stückerl in’n Wald, i hab’ den Wald gar so gern! Zeit hab’ i überviel, denk’n S’ doch, wir wärmen ja nur die alt’n Opern auf, für die ’s Theater die Dekorationen hat, sind so a bissel leichtes Zeug, wie’s Hoheit gern hat, wann die Gemahlin net da is, denn schau’n S’, Fräul’n May, sie is arg klassisch, die Frau Herzogin und Offenbach und Suppe sind ihr a Greuel – mir ja eigentlich auch, aber was soll man mach’n? Die Leonore in Fidelio’ ist mir a lieber, natürli, als die Eurydice in ‚Orpheus in der Unterwelt’! Na, i wollt’ nur sag’n, i hab’ freie Zeit und jetzt bestimm’n S’, wo mir uns morg’n treff’n woll’n, i freu’ mi schon darauf wie a Kind!“
„An der nämlichen Stelle wie heute,“ schlug Aenne vor.
„Schön, Sie halt’n a Wort, Fräul’n May? Um drei Uhr morg’n? Und heut abend, da schau’n S’ auf, die Rose Friguet wird Ihn’n an Blick in Ihr’n Schmollwinkel hinaufwerf’n – Sie kennen doch das ’Glöckchen des Eremiten’?“
„Ja, natürlich!“ sagte Aenne, „und heute kommt sogar mein Vater mit.
Die Damen trennten sich, die Oesterreicherin mit einem warmen „Tschau!“, Aenne mit einem freundlichen „Auf Wiedersehen!“
„Du hast ja ordentlich rote Backen, sagte die Rätin, von ihrer Arbeit aufsehend – sie nähte Knopflöcher in die Bezüge, als Aenne gerade zur Kaffeestunde wieder eintrat und sich mit den andern an den Tisch setzte. „Hast wohl Günther getroffen?“
„Nein“, sagte sie und ein leichter Schatten überflog ihr Gesicht, „aber es war ein schöner Spaziergang und ich freue mich auf das Theater heute abend.
„Ich möchte nicht alle Abend das Gesinge hören, meinte Frau Rätin verdrießlich, „und Gemütlichkeit hat man überdies kaum noch zweimal in der Wochen, das heißt, wo nicht gespielt wird. An Günthers Stelle hätte ich dir den Platz nicht ein für allemal gegeben ’s ist keine Vorbereitung für eine künftige Hausfrau, ewig im Theater zu sitzen und das dumme Zeug anzuhören – da giebt’s ja weiter nichts in den Opern als Liebeswahnsinn. Ich mein’ –
„Aber, Alte, sagte der Medizinälrat lachend, ereifere dich doch nicht! Bist selbst gern ins Theater gegangen, als du jung warst, und heute abend geht sie ja unter dem Schutze des Herrn Oberförsters.
Aenne wandte erstaunt den Kopf ihrem Vater zu. „Aber, Papa, ich dachte, du gingst mit?“
„Ja – nun sieh ’mal – Günther war vorhin hier – – der Herzog hat sich eine kleine Verletzung auf dem Pirschgang zugezogen, darum kehrten sie so früh zurück. So hat Günther grade Zeit heut’ abend, und da wollte Mutter eigentlich – –“
„Ich wollte, daß du zu Hause bleibst, natürlich, ergänzte Frau Rätin, „denn du wirst wohl annehmen können, daß Günther sich ’mal wieder nach einem gemütlichen Abend mit dir sehnt. Aber davon wollte er nichts wissen, wollte dir die Freude nicht verderben, sagte er. Er ist eben in den Fehler von so vielen Bräutigams gefallen – alles zu thun, was das liebe Herzchen will und ziehen sie dann als Ehemänner das entgegengesetzte Register auf, dann giebt’s ein Unglück. – Indessen, wer nicht hören will, muß fühlen!“
Aenne verteidigte weder sich, noch ihren Bräutigam, sie fragte nur nach einer ganzen Weile. „Papa, hast du nicht ’mal Fräulein Hochleitner behandelt?“
„Ja, im vorigen Jahr, als der Kollege – er nannte den Namen des Leibarztes Seiner Hoheit – „mit dem Herzog auf ein paar Tage nach Berlin verreist war. Ist eine ganze Wetterhexe, das Mädchen!“
„Und anständig?“ erkundigte sich Tante Emilie.
„Warum denn nicht?“ fragte Aenne.
„Mein Gott!“ machte Frau Rätin achselzuckend, als wollte sie sagen: Im allgemeinen haben die Damen des Hoftheaters kein Patent auf absolute Tugend genommen.
„I gar!“ meinte der Rat, „ich bekümmere mich nicht um solche Dinge.“
Aenne schwieg, aber langsam stieg ihr eine dunkle Röte ins Gesicht und sie sah eine ganze Weile ins Leere hinaus. Das Häkchen saß in ihrem armen zergrübelten Kopf und der graue Vorhang schien sich wieder ein wenig zu verschieben so daß ein goldiges Blitzen dahinter aufleuchtete.
Morgenlied im Blindenhause.
Ein neuer Tag beginnt den Lauf.
Den Menschen ging die Sonne auf,
Nur uns hat sie kein Licht gebracht,
Wir leben hin in ew’ger Nacht.
Nie sollen unsere Augen schau’n
Des Himmels Blau, die Blütenau’n,
Selbst uns’re Lieben seh’n wir nicht,
Uns lacht kein teures Angesicht.
Doch fühlen wir, wie weich und warm
Uns Liebe hält in ihrem Arm,
Wir hören ihrer Stimme Klang:
Dir, armes Häuflein, sei nicht bang!
Und horch, schon ruft uns in den Saal
Mit ernsten Tönen der Choral,
Wir tasten uns in Reih’ und Glied
Und singen unser Morgenlied.
„Preis dir, allgüt’ger Herre Gott,
Du läßt uns werden nicht zum Spott,
Ist unser Weg auch dunkel hier,
Er führt uns endlich doch zu dir –
Ein Morgen kommt, an dem dein Licht
Durch alle Schatten siegreich bricht,
Ein wundersel’ges Aufersteh’n,
Da wir zum erstenmale seh’n!“
Gesundheit und Kleidung.
Von Professor H. Buchner in München.
(Schluß.)
Aus der Erfahrung weiß man es längst, und die wissenschaftliche Untersuchung hat es bestätigt und näher erklärt, daß in Bezug auf den Wärmeschutz durch die Kleidung die lockeren, porösen Stoffe den Vorzug verdienen vor den dichten, weniger durchlässigen. Man hat gesagt, das rühre von dem größeren Luftgehalt der ersteren her, denn die Luft sei ein schlechter Wärmeleiter, und in der That kann ja kein Zweifel sein, daß der vermehrte Luftgehalt in diesem Sinne wirkt. Auf die Bedeutung der Porosität der Kleidungsstoffe hatte schon Hufeland hingewiesen, und Pettenkofer, dessen Forschungen für die Hygieine der Kleidung in jeder Richtung grundlegend waren, lehrte auch den Einfluß des Luftgehalts der Gewebe nicht nur für den Wärmeschutz, sondern namentlich auch für die Lufterneuerung an der Körperoberfläche verstehen und würdigen.
Ueber die Größe des Luftgehalts der verschiedenen Kleiderstoffe hat namentlich Rubner genaue Ermittelungen angestellt, welche ergeben, daß zwischen dem lockersten Stoff, dem Wollflanell, und anderseits den dichtesten Geweben, den glattgewebten Baumwoll- und Leinenstoffen, Unterschiede bis zum Siebenfachen bestehen. Unmittelbar an den Wollflanell reiht sich bezüglich des Luftgehalts der Baumwollflanell, dann folgen die Tricotgewebe aus Wolle und Baumwolle. Die Tricotgewebe aus Leinen zeigen einen weit geringeren Luftgehalt, und ebenso ist dies selbstverständlich der Fall bei den dichteren Kammgarngeweben.
Man könnte denken, daß die verschiedene Natur der Elementarbestandteile, der Woll-, Baumwoll-, Leinenfaser usw., hierbei eine wichtige Rolle spiele. Allerdings ist dies der Fall, aber nur in indirektem Sinne, indem die Art der Herstellung, die Lockerheit des Gewebes von der Natur der verwendeten Elementarbestandteile wesentlich beeinflußt wird, da bekanntlich die Wollfaser von Haus aus eine ganz hervorragende Eignung zur Herstellung lockerer Gewebe besitzt, während die gleiche Eigenschaft der Leinenfaser fast vollständig abgeht. Wie groß der Unterschied im Luftgehalt durch die verschiedene Herstellungsart bei gleichem Grundstoff werden kann, ergiebt sich am auffälligsten bei der Baumwolle, die als Baumwollflanell einen fünffach größeren Luftgehalt aufweist als anderseits bei ihrer gewöhnlichen Verarbeitungsweise als glattes Gewebe, als Schirting oder Barchent.
Selbst die lockersten Kleidungsstoffe, welche unsere Technik erzeugt, erreichen übrigens an Porosität und demgemäß an Leichtigkeit bei gleichzeitig großem Wärmeschutz noch lange nicht dasjenige, was in dieser Beziehung der natürliche Pelz der Tiere leistet. Der durchschnittliche Luftgehalt der Pelzbekleidung übertrifft immer noch nahezu ums Doppelte denjenigen des Wollflanells. Der Wärmeschutz ist trotz dieses lockeren Baues ein mächtiger, und dabei bleibt das Gesamtgewicht dieser natürlichen Bekleidung ein verhältnismäßig ungemein geringes. Beim Hund beispielsweise beträgt das Gesamtgewicht der glatt abrasierten Haare nur 1,4 Prozent vom Körpergewicht des Tieres, während unsere Winterkleidung reichlich 10 Prozent vom Körpergewicht ausmacht, ohne wesentlich mehr zu leisten als der Pelz der Tiere.
Die porösen Stoffe würden uns einen noch höheren Wärmeschutz gewähren, wenn die Luft in den Poren des Gewebes sich in vollständiger Ruhe befände. Die geringe Leitungsfähigkeit der Luft für Wärme würde dann noch weit mehr zur Geltung kommen. Aber die Luft in unseren Kleidern ist nicht ruhend.
Infolge der Temperaturunterschiede zwischen der Körperoberfläche und der umgebenden Außenluft, sowie infolge der Atembewegungen des Brustkorbes kommt es vielmehr zu fortwährenden Strömungen, zu einem fortwährenden Wechsel in der Kleiderluft. Wie wichtig dieser Luftwechsel für unser Wohlbefinden ist, davon können wir uns durch einen Versuch leicht überzeugen, wenn wir zwischen die Schichten der Kleidung (nicht unmittelbar auf die Haut!) ein Stück dünnen Guttaperchastoffes einlegen. Es entsteht dadurch bald ein unbehagliches Gefühl, das nicht bloß auf Zurückhaltung von Wärme beruhen kann, sondern einer lokalen Behinderung der Wasserdampfabgabe von der Hautoberfläche entspringt.
Die Porosität der Kleiderstoffe besitzt also weitere Vorteile, indem sie die erforderliche Ventilation an der Körperoberfläche ermöglicht. Wir produzieren an unserer Hautoberfläche nicht nur Wasserdampf, sondern auch, wie Rubner gezeigt hat, Kohlensäure, und es läßt sich nach dem Kohlensäuregehalt der Kleiderluft sogar messend bestimmen, ob die Hautventilation genügend ist oder nicht.
Unsere Kleiderstoffe bestehen aus tierischen oder pflanzlichen Fasern, und die Eigenschaften sind daher auch von der Beschaffenheit des Grundmaterials abhängig. Bei den Wollstoffen lehrt die Erfahrung, daß sie bei Berührung mit der bloßen Haut sofort das Gefühl der Wärme erzeugen, im Gegensatz zu baumwollenen und namentlich zu leinenen glattgewebten Stoffen. Die Ursache dieser Verschiedenheit liegt jedenfalls zum Teil in dem beträchtlich geringeren Wärmeleitungsvermögen der Wollfaser, zum Teil aber ist sie noch in ganz anderen Dingen begründet.
Rubner hat nämlich auf die hygieinisch wichtige Oberflächenbeschaffenheit der verschiedenen Gewebe hingewiesen, d. h. auf die verschieden große Zahl von Berührungspunkten welche ein Unterkleidungsstoff mit der unterliegenden Hautfläche besitzt, weil hiervon die Größe der Wärmeleitung abhängt; je weniger Berührungspunkte, um so weniger wird das betreffende Gewebe dem Körper an Wärme entziehen können, um so wärmer muß es selbst für unsere Empfindung erscheinen. Das gilt namentlich, wenn der Stoff von Schweiß durchnäßt ist; wenig elastische Gewebe von großer Kontaktfläche, wie z. B. glattes Leinengewebe, klatschen im durchnäßten Zustand der Haut fest an und erhöhen dabei in enormem Maße den Wärmeverlust. Ganz anders ist dies dagegen bei wollenen Geweben. Auf dem Wege von
[89][90] mikroskopischer Durchschnitte läßt sich zeigen, daß bei allen Wollgeweben die Zahl der Berührungspunkte mit der Haut eine verhältnismäßig geringe ist. Gleichzeitig sind diese Gewebe, der Natur der Faser entsprechend, sehr elastisch und legen sich auch im durchnäßten Zustand der Haut nicht dicht an. Dies alles erklärt zum guten Teil, weshalb die wollenen Gewebe für Unterkleidung sich solcher Beliebtheit erfreuen.
Aber auch aus Leinen – selbstverständlich ebensogut aus Baumwolle – lassen sich Gewebe mit geringer Kontaktgröße, mit wenig Berührungspunkten an der Oberfläche herstellen, welche daher in dieser Hinsicht die Vorzüge der Wollstoffe teilen. Zwar scheint es technisch kaum möglich, die Leinenfaser dauernd in einem aufgelockerten Zustand festzuhalten und daher zu einem gleichmäßig lockeren Gewebe wie die Wolle zu verarbeiten. Aber die geringe Kontaktgröße läßt sich auf einem Umwege erreichen, indem man gitter- oder netzförmige Gewebe herstellt, mit großen, millimeterweiten Zwischenräumen zwischen den sich kreuzenden Fadensträngen. Schon die grobe Leinwand, das sogen. Bauernleinen, verhält sich übrigens in Bezug auf den Hautkontakt günstiger als das gewöhnliche glatte Leinen. Besonders geringe Kontaktgröße aber bieten solche Stoffe, die nach Art der sogenannten „Frottierstoffe“ gewebt sind, welche eigentlich die Bestimmung haben, um nach Bädern die Haut in energischer Weise nicht nur trocken zu reiben, sondern durch den mechanischen Reiz zugleich zur Reaktion anzuregen. Diese Frottierstoffe bestehen aus einer wohl meist baumwollenen, einfach glattgewebten Grundlage, auf welcher senkrecht bürstenartig abstehende dicht gedrängte starke Leinenfäden hervorragen. Denkt man sich die letzteren mit ihren Endigungen an der Hautfläche anstehend, so erhalten wir einen Stoff, der nur an verhältnismäßig wenig Punkten mit der Haut in Berührung tritt, während zwischen den bürstenartigen Leinenfäden eine große Menge von Luft eingelagert bleibt, welche die Ventilation an der Hautoberfläche erleichtert. Freilich wird man nur mit einem gewissen Schauder daran denken, daß ein solcher Frottierstoff überhaupt als Unterkleidungsstoff Verwendung finden könnte, und in der That kann es sich ja nur um Ausnahmefälle, nicht um ein normales Tragen handeln. Aber eben für solche Ausnahmefälle, nämlich für verschleppte Fälle von katarrhalischen Zuständen der Luftröhre, bei denen große Empfindlichkeit gegen Erkältungen besteht, habe ich Unterjäckchen aus derartigem, übrigens nur einseitig, nicht wie gewöhnlich doppelseitig hergestellten Leinenfrottierstoff schon manchen Personen mit Nutzen empfohlen. In solchen Fällen scheint häufig das fortgesetzte Tragen wollener Unterkleidung, anstatt zu nützen, allmählich eine Verweichlichung und noch größere Empfindlichkeit der Haut zu erzeugen, während sich dann die genannten leinenen Auskunftsmittel besser bewähren.
Die an sich so wichtige Oberflächenbeschaffenheit der Kleidungsstoffe gewinnt, wie erwähnt, noch eine besondere Bedeutung dann, wenn die Stoffe infolge von Schweißbildung durchnäßt sind. Ueberhaupt legen wir unwillkürlich bei den Unterkleidungsstoffen ein ganz besonderes Gewicht darauf, wie sich dieselben zur Schweißbildung verhalten. Fast bei aller nur etwas lebhafteren körperlichen Thätigkeit kommen wir dazu, wenigstens in geringen Mengen und wenigstens an bestimmten Hautstellen, die dazu veranlagt sind, Schweiß zu bilden. Da nun aber die wärmeschützende Funktion eines Kleiderstoffes im durchnäßten Zustand sich in ihr völliges Gegenteil verkehren kann, da ein durchnäßter Stoff, anstatt uns zu schützen, sogar die Wärmeabgabe gegenüber dem nackten Zustand noch erhöht, so kommt sehr viel darauf an, wie sich ein Stoff gerade in dieser Hinsicht verhält.
Auch hier hat nun die Erfahrung längs gewisse Vorzüge der wollenen Gewebe erwiesen, und es ist interessant, den näheren Gründen dieses günstigen Verhaltens der Wollstoffe nachzupüren. Man kann nämlich für das Maß der Schweißbildung und der von der Unterkleidung aufgesaugten Schweißmengen einen Anhaltspunkt dadurch gewinnen, daß man feststellt, wieviel Kochsalz beim Schwitzen in die Unterkleidung eingedrungen ist. Mit dem Schweiß wird ein Teil des Kochsalzes, das wir in der Nahrung aufgenommen haben. zur Wiederausscheidung gebracht, und so giebt der Kochsalzgehalt einen Maßstab für die Schweißmenge. In dieser Weise sind durch Rubners Schüler und Mitarbeiter Cramer Ermittelungen darüber angestellt worden, ob z. B. beim Tragen einer Wollsocke am einen, einer Baumwollsocke am anderen Fuße unter gleichen Bedingungen gleiche Schweißmengen produziert werden oder nicht. Da fand sich denn die auffallende Thatsache, daß wollene Bekleidungsstoffe – gleichviel, ob die Versuche bei Ruhe, mittlerer oder starker Arbeit angestellt wurden – immer um etwa 30 Prozent weniger Schweißbestandteile enthielten als baumwollene, seidene oder leinene. Das ergab sich am deutlichsten bei den Socken, aber im wesentlichen auch bei den Unterjacken.
Diese merkwürdige Erscheinung, die man zunächst gar nicht begreift – da doch unmöglich unter einer wollenen Socke überhaupt weniger Schweiß gebildet werden kann als unter einer baumwollenen oder leinenen – klärte sich auf, als Cramer die Versuche in der Weise modifizierte, daß er an dem einen Fuß eine Wollsocke und darüber eine Baumwollsocke anzog, am andern Fuß aber innen die Baumwolle und außen die Wolle trug. Bei wiederholten Versuchen stellte sich nun mit aller Sicherheit heraus, daß Baumwolle und Leinen, wenn sie unmittelbar auf der Haut getragen werden, fast den ganzen Schweiß aufsaugen und festhalten, während Wolle im Gegensatz hierzu einen großen Teil der Schweißbestandteile hindurch passieren läßt und an die überliegende äußere Schicht abgiebt.
Wir haben da also eine neue Eigenschaft der wollenen Unterkleidung, die aber offenbar mit einer längst bekannten Eigentümlichkeit der Wollstoffe zusammenhängt, mit der Eigenschaft, sich im Wasser schwer zu benetzen. Jede Hausfrau weiß aus Erfahrung, daß Wollflanell sich nur schwer mit dem Wasser befreundet, und wenn wir ein Flanellstückchen und zugleich Stückchen von Baumwoll- oder Leinenzeug auf Wasser werfen, so können wir uns jederzeit davon überzeugen, daß das erstere bei weitem länger an der Oberfläche schwimmen bleibt als letztere. Der Grund hiervon liegt nicht etwa im Fettgehalt der Wolle, denn das Gleiche zeigt sich auch bei gründlich entfetteter Wolle, sondern, wie ich nachweisen konnte, liegt die Ursache in einer besonders starken Verwandtschaft der Wollfaser zur atmosphärischen Luft, die infolgedessen so fest an den Fasern haftet, daß es dem Wasser schwer wird, dieselbe zu verdrängen und die Wolle zu benetzen.
Mir scheint dieser Zusammenhang der Dinge von Interesse, da er uns einen neuen Einblick in die Zweckmäßigkeit natürlicher Einrichtungen eröffnet. Offenbar ist die Wasserfeindlichkeit der Wollfaser, überhaupt der tierischen Fasern und damit der gesamten Pelzbekleidung der Tiere, für deren Wärmeökonomie von größter Bedeutung. Das Sprichwort von der „getauften Maus“ kennzeichnet treffend den Zustand, in welchen ein Tier bei vollständiger Durchnässung seiner Haarbekleidung gerät, als einen jammervollen. Die Wasserfeindlichkeit der Haargebilde zu erhöhen, ist die Natur in vielen Fällen schon durch Fettabsonderung bestrebt. Nachdrücklich und allgemeiner aber erreicht sie diese Aufgabe nicht durch Schaffung an sich wasserfeindlicher Stoffe, sondern indem sie den Haargebilden eine außerordentliche Anziehung für die atmosphärische Luft verlieh, womit der gleiche Zweck erfüllt werden konnte.
Kehren wir nach dieser kleinen Abschweifung zum Verhalten der Kleiderstoffe bei der Schweißbildung zurück, so begreifen wir jetzt auch die anfangs so überraschende Erscheinung der Weiterbeförderung der Schweißbestandteile durch die Wollstoffe. Ein Gewebe, das Flüssigkeiten so ungerne, so widerwillig, gleichsam nur gezwungen annimmt, weil seine Fasern mit einer fest anhaftenden Luftschicht überzogen sind, kann auf Flüssigkeiten auch nicht ansaugend und festhaltend wirken. Die eingepreßte Flüssigkeit verteilt sich daher ziemlich gleichmäßig durch den ganzen Stoff bis an dessen äußere Begrenzungsfläche, und wenn er hier von einem anderen gut aufsaugenden Stoff, von Baumwolle oder Leinen, unmittelbar bedeckt ist, so werden diese wasserliebenden Stoffe bestrebt sein, dem Wollstoff einen Teil seines Wassergehalts und damit auch der darin gelösten Schweißbestandteile zu entreißen. Damit hängt nun die bekannte Erfahrung zusammen, daß leinene Unterkleidung verhältnismäßig schnell beim Tragen verschmutzt, während wollene Unterkleidungsstoffe unter anderm auch deshalb sich so großer Beliebtheit erfreuen, weil bei ihnen selbst durch eine wochenlange Tragezeit die sicht- und riechbare Verschmutzung noch immer nicht zu einer unerträglichen [91] Höhe sich aufsammelt. Leinen und Baumwolle saugen eben begierig die ankommende Feuchtigkeit auf und halten den Schweiß und seine organischen Bestandteile in unmittelbarer Nähe der Hautfläche, gleich auf den innersten Schichten des Stoffes in konzentrierter Anhäufung fest, weshalb die bakterielle Zersetzung begünstigt ist. Bei der Wolle wird alles verteilt und ausgebreitet, der Nährboden ist weniger konzentriert, und es kommt daher weniger leicht zu wahrnehmbarer Zersetzung. Man könnte im Zweifel sein, welcher Zustand hygieinisch als der vorteilhaftere sich darstellt, da Leinenunterwäsche von selbst zu ihrer öfteren Reinigung drängt, während in der Wolle die Bedingungen der Zersetzung sich langsamer und allmählicher entwickeln. Ich glaube aber doch, daß dem Leinen der Vorzug in Hinsicht der Reinlichkeitspflege gebührt.
Noch ein weiterer wichtiger Schluß ergiebt sich aber aus dem geschilderten Verhalten der Wollstoffe. Wenn der Schweiß im Wollstoff gleichmäßig verteilt und nach außen abgeleitet wird, so muß die innerste Schicht des Gewebes, die unmittelbar an der Hautoberfläche anliegt, immer verhältnismäßig trockener und daher auch weniger wärmeentziehend bleiben als bei anderen Stoffen. Ein solches Gewebe, das bei Durchfeuchtung von der Körperoberfläche aus das Wasser immer wieder rasch nach außen leitet, wo es unmerklich verdunsten kann, wird demnach für unser Wohlbefinden ideal sein, und das erklärt denn, wie ich glaube, vollständig die allgemeine Wertschätzung, deren sich die wollenen Unterkleider erfreuen, namentlich bei allen denen, die viel körperlichen Anstrengungen und häufigem Temperaturwechsel ausgesetzt sind.
Es fragt sich aber doch, ob diese Vorteile gerade nur durch wollene Stoffe zu erreichen sind. Auch solche leinene und baumwollene Gewebe, die mit möglichst wenig Kontaktpunkten die Haut berühren, von denen oben die Rede war, werden ähnlich wirken können. Die wollenen Gewebe sind also auch in dieser Beziehung nicht unersetzlich, was um so wichtiger ist, als denselben, wie oben erwähnt, unter Umständen doch auch gewisse Nachteile anhaften. Jedenfalls kann und wird die Technik in dieser Beziehung noch weiter voranschreiten. Möglicherweise ist in diesem Sinne bereits der neuerdings von einer deutschen Firma durchgeführte Versuch der Herstellung von gemischten, d. h. aus allen drei Fasergattungen, Leinen, Baumwolle und Wolle, gleichmäßig bestehenden Geweben nicht ganz aussichtslos, nachdem diese Gewebe zugleich nach ihrer gitterförmigen Struktur eine bedeutende Luftdurchgängigkeit besitzen und daher auch der Anforderung der Hautventilation vollauf entsprechen.
Wie dem auch sein mag, so dürfte übrigens, auch nach den größten Fortschritten unserer Bekleidungsindustrie, kaum je der Tag anbrechen, wo ein einziger Idealgewebestoff alles beherrscht und alle anderen als unnötig verdrängt, sondern voraussichtlich werden je nach den Anlagen und Bedürfnissen des einzelnen immer etwas verschiedenartige Anforderungen erhoben werden müssen, und das Goethesche „Eines schickt sich nicht für alle“ wird voraussichtlich auch in der Hygieine der Kleidung seine Gültigkeit bewahren.
Es war am 25. August des Jahres 1518, als in Wittenberg auf einem Rößlein ein schlichter Reisender eintraf. Er war so zierlich gebaut, daß er für einen achtzehnjährigen Jüngling gehalten werden konnte, obwohl er schon sein einundzwanzigstes Lebensjahr überschritten hatte. Eher klein als groß im Wuchs, hielt er die eine Schulter höher als die andere. Schüchtern im Auftreten machte er einen unansehnlichen Eindruck, aber die großen hellen Augen unter der hohen gewölbten Stirn verliehen seinem Angesicht einen sinnigen, ernsten Zug, sie verrieten einem erfahrenen Beobachter, daß in dieser unscheinbaren körperlichen Hülle ein großer und klarer Geist wohnen müsse.
In der That war dieser Fremdling trotz seiner Jugend bereits ein hochberühmter Mann, und er war nach Wittenberg gekommen, um als Lehrer an der Universität zu wirken. Als Kurfürst Friedrich der Weise für den griechischen Lehrstuhl der neugegründeten Hochschule einen hervorragenden Gelehrten suchte und Umfrage in Deutschland hielt, konnte man ihm keinen besseren „Griechen“ nennen, als den jungen Philipp Melanchthon. Schon wenige Tage nach seiner Ankunft, am 29. August, hielt er seine Antrittsrede, in welcher er die notwendige Reform der Universitätsstudien predigte. Da gewann er die Herzen der Wittenberger, und vor allen hieß ihn Martin Luther willkommen, denn vom ersten Augenblick an erkannte er die hohe geistige Bedeutung des Mannes, der später zu seinem Mitarbeiter und Freunde wurde und von dem er so treffend gesagt hat, daß er ein Grieche, ein Lateiner, ein Hebräer, ein Deutscher war und nie ein Barbar!
Von jenem Tage an wurde Wittenberg zur zweiten Heimat Melanchthons, der er treu bis an sein Lebensende blieb, obwohl seine Wiege fernab von den Ufern der Elbe in der fröhlichen Pfalz gestanden hatte. In dem Städtchen Bretten, das heute an der Grenze zwischen Baden und Württemberg liegt, erblickte er am 16. Februar 1497 als Sohn des Waffenschmieds Schwarzerd oder Schwarzert das Licht der Welt. Seine Mutter war eine Nichte des berühmten Gelehrten Johannes Reuchlin, und dieser Verwandtschaft hatte es der kleine Philipp zu danken, daß ihm im väterlichen Hause eine für die damalige Zeit ausgezeichnete Bildung zuteil wurde. Mit zwölf Jahren bezog Philipp nach seines Vaters Tode die Universität Heidelberg, wo er Philosophie und die klassischen Sprachen studierte und so glänzende Fortschritte machte, daß er mit seinem fünfzehnten Lebensjahre Baccalaureus der freien Künste wurde. Seinen Familiennamen Schwarzerd übertrug er nach der unter den Gelehrten jener Zeit herrschenden Sitte ins Griechische und nannte sich fortan Melanchthon, welches Wort er später des Wohllauts wegen noch in Melanthon umwandelte. Bei der Nachwelt ist ihm jedoch der Name Melanchthon, unter dem er zuerst berühmt wurde, verblieben.
Bald nach der Erlangung des Baccalaureats bewarb er sich um die höhere Magisterwürde, die ihm das Recht geben sollte, als Lehrer aufzutreten, aber die Heidelberger glaubten ihm dieselbe versagen zu müssen, nicht etwa wegen mangelhaften Wissens, sondern wegen des „noch so jungen Ansehens“. Betrübt verließ Melanchthon Heidelberg und wandte sich nach Tübingen, wo er, siebzehn Jahre alt, die ersehnte Würde erlangte und aus dem Schüler zum Lehrer wurde. Der junge Magister bewegte sich aber keineswegs in den alten ausgetretenen Bahnen, er wollte frei forschen und zur freien Forschung anleiten, das erregte Mißstimmung, und diese und jene seiner Vorlesungen wurde bekrittelt oder gar verboten. Da kam ihm der Ruf nach Wittenberg wohl als eine Erlösung. Dort fand er die nötige Freiheit zur Entfaltung seines Wissens und Könnens, zum Ausreifen seiner reformatorischen Gedanken. Unter den großen Männern aus dem Zeitalter der Reformation stellt ihn die Geschichte auf den Ehrenplatz an die Seite Martin Luthers, dessen Freund, Mitarbeiter und Berater er war. Was er in dieser Hinsicht gethan, ist allgemein bekannt und wird unvergessen bleiben.
Heute, da der Tag seiner Geburt zum vierhundertstenmal wiederkehrt, da ein Melanchthonjubiläum in weiten Kreisen des deutschen Volkes gefeiert wird, erwacht auch das Verlangen, die Gestalt des großen Mannes, wie er lebte und wirkte, sich zu vergegenwärtigen, ihn bei seiner geistigen Arbeit zu belauschen, ihn in seinem Heim aufzusuchen und jene leisen Züge im Thun und Handeln ins Auge zu fassen, durch die man Einblicke in die Eigenschaften des Charakters und in die Tiefen des menschlichen Herzens gewinnt.
Melanchthon war ein Mann, dessen Sinnen und Trachten im vollen Umfang der Wissenschaft gewidmet war. Er dachte nicht daran, zu freien und einen Hausstand sich zu gründen. Als die Freunde ihn dazu drängten, erwiderte er. „Ich müßte meine Studien abkürzen und mich so meines höchsten Genusses berauben.“
Aber seine Freunde wollten ihn an Wittenberg fesseln und verheirateten ihn schon zwei Jahre nach seiner Uebersiedelung in die Elbestadt. Melanchthon „bekam“, wie er sich selbst ausdrückte, „Katharina Krapp“ zur Frau. Sie war die Tochter des Wittenberger Bürgermeisters, zart und zierlich wie ihr Gemahl und in gleichem Alter mit ihm.
Reichtum war dem jungen Ehepaare nicht beschieden, denn der Professor des griechischen Lehrstuhls an der Universität zu Wittenberg hatte Jahre hindurch einen Gehalt von nur einhundert Gulden. Sehr anschaulich schildert Dr. Paul Kaiser in seiner Jubelschrift „Philipp Melanchthon“ die schlichte Einrichtung des Gelehrtenheims. In dem Wohnzimmer bildete ein großer Kachelofen das Prunkstück, die Möbel waren derb, ein großer Eichentisch, ein paar Stühle und Truhen, und [92] das Geschirr, in dem die Speisen aufgetragen wurden, bestand in Steingut. Daraus aß die Gelehrtenfamilie mit Blechlöffeln.
Auch in der Kleidung wurde kein Staat gemacht. Der Gelehrte legte keinen Wert darauf – das thun die Gelehrten oft. Melanchthon pflegte nur einen Rock zu besitzen, den er im Winter mit Pelz füttern ließ, aber auch seine Frau mußte die Sachen zusammenhalten, denn während der ersten vier Jahre ihrer Ehe konnte er ihr kein neues Kleid kaufen.
Ein Arbeitstisch, hölzerne Stühle und einfache Büchergestelle bildeten die Ausstattung seines Arbeitszimmers, und erst in späten Lebensjahren vermehrte er dieselbe um ein Sofa, das er sein „Ruhebänklein“ nannte.
Trotz seiner Notdurft war er aber stets bereit, anderen zu helfen. Er entließ keinen Armen ohne eine milde Gabe und teilte selbst sein letztes Brotstück mit dem Bedürftigen. In späterer Zeit, als sein Gehalt auf zweihundert, dreihundert und sogar vierhundert Gulden gestiegen war, besserte sich seine Lebenslage, aber in noch größerem Maße wuchs seine Freigebigkeit. An seiner Tafel sammelte er jetzt bedürftige Studenten um sich. Bei so offenen Händen kam er natürlich oft in die ihm peinliche Verlegenheit, keine Unterstützung geben zu können, weil er selber alles verausgabt hatte. Da pflegte er Ringe, Becher und andere Wertsachen, die ihm von seinen Gönnern und Freunden geschenkt worden waren, zum Goldschmied zu tragen und sie zu verkaufen, um nur Almosen geben zu können. So handelte er bis an sein Lebensende und sein Schwiegersohn Peucer sagte zu den Freunden: „Schenkt ihm nur nichts, er giebt’s doch gleich wieder weg!“
Und wie er freigebig gegen die Armen war, so war er auch gastfrei gegen seine Freunde. Er hätte ihnen immer volle Krüge und Schüsseln vorsetzen mögen, obwohl er selbst äußerst mäßig lebte, ja so wenig aß, daß diese seine Enthaltsamkeit den ihm Nächststehenden oft Sorgen bereitete.
Vor allem dachte er aber an die Erfüllung seiner Pflichten als Lehrer. Die Studenten drängten sich in seine Vorlesungen „wie ein überströmendes Wasser“, aber bei dem Mangel an Vorbereitungsschulen, der damals in Deutschland herrschte, hatten die wenigsten die nötige Vorbildung, nur dem Vortrage des Meisters folgen zu können. Da ging Melanchthon über seine Pflicht hinaus, er zog die Schüler an sich heran, nahm sie in sein Haus und gab ihnen den fehlenden Elementarunterricht. Dabei war er bestrebt, in der Jugend die Lust zum Lernen zu wecken, und veranstaltete Aufführungen klassischer Stücke, zu denen er Vorspiele dichtete.
Um diesen Pflichten und Aufgaben zu genügen und das schwierige Werk der Reformation, das er auf seine Schultern geladen, um fördern zu helfen, wußte er dadurch Zeit zu gewinnen, daß er den Arbeitstag vor Sonnenaufgang begann und nach Sonnenuntergang beschloß. Er schlief nur vier bis fünf Stunden und schon gegen zwei Uhr morgens ging er leise, um die Hausgenossen nicht zu wecken, in sein Arbeitszimmer. Und noch freigebiger als mit Geld und Brot schaltete er mit den reichen Schätzen seines Wissens. Niemand, der ihn um Rat und Hilfe bat, ging unbefriedigt davon. Professoren und Magistern verbesserte er die Vorträge, die sie halten sollten, oder machte anderen ihre Schriften reif für den Druck.
Seine Kinder, er hatte zwei Söhne und zwei Töchter, liebte er aufs innigste und war untröstlich, als ihm der kleine Georg im Alter von zwei Jahren durch den Tod entrissen wurde. Gegen sieben Uhr morgens pflegte er im Familienkreise eine kurze Andacht zu halten, dann ging er zur Universität, von wo er gegen Mittag heimkehrte, und lebte nun eine Stunde lang ausschließlich seiner Familie.
Aus diesem regelmäßigen Lebensgang wurde er in späteren Jahren vielfach herausgerissen, da er, um die Sache der Reformation zu verfechten, zu allerlei Versammlungen und Disputen reisen mußte. Auch in diesem Wirkungskreise offenbarte sich die Güte und Milde seines Gemütes; der Streit war ihm im Grunde des Herzens zuwider und er war stets zur Versöhnung geneigt.
So kam die Zeit, wo er des Streites überdrüssig und lebensmüde wurde. Viele seiner besten Freunde, zwei seiner Kinder und seine Frau waren ihm im Tode vorausgegangen, und so rüstete sich auch er zu der großen Reise ins Jenseits. Am 19. April 1560 starb er in seiner Studierstube. Sein Schwiegersohn fragte ihn, ob er noch etwas wünsche. „Nichts als den Himmel, darum fragt mich nicht mehr!“ – gab er zur Antwort. Das waren die letzten Worte Melanchthons. Seine sterbliche Hülle wurde in der Schloßkirche zu Wittenberg gegenüber dem Grabmal Luthers beigesetzt.
„Deutschlands Lehrer“ heißt noch heute Melanchthon und sein Andenken wurde in verschiedenen Städten durch Denkmäler geehrt. Eine neue Ehrung wird ihm bei der vierhundertsten Wiederkehr seines Geburtstages erwiesen.
Das Haus auf dem Markte in Bretten, in dem Melanchthon das Licht der Welt erblickt hatte, wurde im Jahre 1689 von französischen Mordbrennern bis auf die Grundmauern verwüstet. Man hatte es wieder aufgebaut und mit zwei Gedenktafeln mit deutscher und lateinischer Inschrift versehen. Das schlichte Haus soll nun einem würdigeren Bau weichen. An seiner Stelle wird sich fortan ein neues Melanchthonhaus mit einem Melanchthonmuseum und mit einer Gedächtnishalle erheben. Dank der Opferwilligkeit der Stadt Bretten ist der Baugrund gesichert und am 16. Februar soll die Grundsteinlegung zu dem Bau erfolgen. Der Plan zu demselben wurde von Professor Vollmer in Berlin entworfen. Er zeigt an seiner Nordfassade reichen architektonischen Schmuck, während die mit einem Turm abschließende Südfassade und die beiden nahe an Nachbargebäude herankommenden Seiten ziemlich einfach gehalten sind. Die Nordfassade, die eine Höhe von nahezu 30 m erreicht, schließt mit einer sinnreichen und schönen Krönung ab, die von dem Wappenbild Melanchthons, Kreuz mit Schlange, überragt wird. Es ist zu erwarten, daß bei Anlaß der Jubiläumsfeierlichkeiten dem „Verein zur Errichtung eines Melanchthonhauses in Bretten“ weitere Mittel zustoßen werden, daß auf die Grundsteinlegung bald die Vollendung und Einweihung des Baues folgen werde, durch den nicht nur der Reformator, sondern auch der deutsche Schulmann Melanchthon geehrt werden soll.
Der niedersächsische Volksstamm, welcher die deutsche Nordseeküste bewohnt, ist ein wetterharter und wagemutiger Menschenschlag. Seefahrt und Fischerei bildeten naturgemäß von alters her einen seiner wichtigsten Erwerbszweige und im steten Kampf mit dem trügerischen Meer erprobte und stählte er seine körperlichen und geistigen Kräfte. Bis vor reichlich einem Jahrzehnt war die Schiffahrt, vor allem die transatlantische, die weitaus stolzere und vornehmere Schwester, der gegenüber die Hochseefischerei, wenn sie auch schon vielen Hunderten von Menschen mittelbar und unmittelbar als Erwerbszweig diente, nur ein dürftiges, unscheinbares Aschenbrödel darstellte. Erheblich anders ist das Bild geworden, seitdem der Riese Dampf, durch den ja auch die Schiffahrt erst groß geworden ist, in den Dienst des Fischfanges gezwungen wurde. Es war im Jahre 1884, als einer der Pioniere der deutschen Hochseefischerei, Herr F. Busse-Geestemünde, den ersten deutschen Fischdampfer, die „Sagitta“,d. h. „der Pfeil“, von der Weser aus auf den Fang ausschickte, und der damit abgeschnellte Probepfeil erwies sich als ein sehr guter Treffer. Das überaus günstige Ergebnis des ersten Versuchs spornte unternehmende Geschäftsleute zur Nachahmung an; die Zahl der deutschen Fischdampfer stieg von Jahr zu Jahr in immer schnelleren und größeren Sprüngen, und kaum ein Jahr wird noch vergehen, bis das erste Hundert voll ist.
Die erste Heimstätte hatte die deutsche Hochseefischerei in der Stadt Geestemünde an der Mündung der Geeste in die Unterweser gefunden, doch schon bald traten Hamburg und Altona und vor wenigen Jahren auch die Nachbarstadt Geestemündes, Bremerhaven, als Wettbewerberinnen auf. Während aber sonst die stolzen Handels- und Schiffahrtsemporien an der Elbe allen anderen deutschen Konkurrenten weit vorausgeeilt sind, haben sie auf dem Gebiete der Hochseefischerei den Häfen an der Unterweser bislang den unbestrittenen Vorrang lassen müssen und die Entwicklung der letzten Jahre hat das Gesamtbild stets noch mehr zu gunsten der letzteren verschoben. Gegenwärtig bringen in Geestemünde-Bremerhaven etwas über 75 Fischdampfer ihren Fang an den Markt, in Hamburg-Altona etwas über 20. Das Fischversandgeschäft steht in den Elbhäfen allerdings bisher nicht erheblich hinter dem der Weserhäfen zurück, da die jütländischen Fischereiplätze dem Hamburg-Altonaer Markt bedeutende Mengen von Fischwaren zuführen.
Dem jungen Riesen, welcher am Ufer der Weser emporgewachsen war, wurde bald das Kinderbett zu klein, er verlangte
[93]nach einem größeren Spielraum, auf dem er seine Kraft entfalten könnte. Die preußische Staatsregierung kam diesem Bedürfnis rasch entgegen und unterbreitete im Jahre 1891 dem Landtage eine Vorlage, in welcher für den Bau eines neuen in gewaltigem Maßstabe projektierten Fischereihafens bei Geestemünde die Summe von 5 700 000 Mark gefordert wurde. Nachdem der Landtag diese Mittel bewilligt hatte, wurde im folgenden Jahre das allen Scharfsinn unserer Wasserbautechniker in vollem Maße in Anspruch nehmende gewaltige Werk in Angriff genommen. Unter den denkbar schwierigsten Verhältnissen mußte ein großer Teil des gegen 70 Hektar umfassenden Bauterrains erst dem Weserstrom abgerungen werden, Sturmfluten der Jahre 1893 und 1894 zerstörten mehr als einmal in wenigen Stunden einen großen Teil dessen, was Menschen- und Maschinenkraft in Monaten mühsam aufgebaut hatte. Aber das Werk schritt der Vollendung entgegen, und im November vorigen Jahres konnte die unvergleichliche Anlage, der keine zweite, weder auf dem europäischen Kontinent noch in England, an die Seite gestellt werden kann, in glanzvoller Weise dem Verkehr übergeben werden. Nun flutet kraftvolles Leben in den weiten Räumen.
Wer von den Männern, die vor 25 Jahren den ersten tastenden Schritt auf der neuen Bahn gewerblichen Lebens thaten, hätte sich wohl eine solche Entwicklung träumen lassen! Welche Seltenheit bildete der Seefisch als Volksnahrungsmittel noch vor 10 oder 15 Jahren nur 10 Meilen landeinwärts von der Meeresküste! Heute führen tagaus, tagein allein von Geestemünde-Bremerhaven zwei lange, besonders für den Fischversand eingeteilte Eisenbahnextrazüge Tausende von Centnern der schmackhaften Meeresbewohner ins Binnenland. In hartem Ringen haben die wackeren Pioniere der Hochseefischerei sich Schritt für Schritt ihr Absatzgebiet erobert, zuerst Nordwestdeutschland, dann Mittel- und endlich auch Süddeutschland, Teile von Oesterreich und der Schweiz. In Hunderttausenden von deutschen Familien bildet jetzt schon der früher nur als seltene Delikatesse auf den Tisch der Reichbegüterten kommende Seefisch ein beliebtes, billiges und gesundes Nahrungsmittel. Viele unserer Leser wird es darum wohl auch interessieren, durch Wort und Bild einen kleinen Ueberblick darüber zu erhalten, wie der Fisch gefangen wird, und welche Zwischenstationen er noch zu durchlaufen hat, ehe er seiner Bestimmung zugeführt werden kann.
Die Dampfer, welche der Hochseefischerei obliegen, sind außerordentlich fest und seetüchtig aus Stahl gebaute zweimastige Fahrzeuge von etwa 30 m Länge, 6 m Breite und 3 m Tiefgang mit rund 100 Tons (à 1000 kg) Ladefähigkeit. Während die ersten deutschen Fischdampfer noch auf englischen Werften gebaut wurden, hat sich bald unsere deutsche Schiffbauindustrie dem vielversprechenden neuen Erwerbszweige zugewendet und auch auf diesem Gebiete Ausgezeichnetes geleistet. Joh. C. Tecklenborgs und G. Seebecks Werften in Geestemünde, Wenkes Werft in Bremerhaven und der „Bremer Vulkan“ in Vegesack bei Bremen sind die fast ausschließlichen Lieferanten der letzten 50 bis 60 deutschen Fischdampfer gewesen. Ein stattliches Kapital ist dadurch der deutschen Industrie zugeflossen, denn jeder Fischdampfer stellt voll ausgerüstet einen Wert von 100 000 bis 120 000 Mark dar. Seine Besatzung besteht außer dem Kapitän aus 1 Steuermann, 1 bis 2 Maschinisten, 1 Heizer, 1 Koch und 5 bis 6 Matrosen und Schiffsjungen. Nur eiserne, gegen Witterungsunbilden so gut wie unempfindliche Naturen sind geeignet, auf Fischdampfern zu fahren, denn der Dienst auf denselben ist so schwer und gefahrvoll wie auf keinem anderen Seefahrzeug. Die Nordsee heißt nicht umsonst in Schiffahrtskreisen die „Mordsee“, und gar manches Opfer hat sie auch von unseren Hochseefischern schon gefordert. Und bei jedem Wetter müssen die wackeren Gesellen hinaus aus den schützenden Flußmündungen, denn wenn irgendwo, so gilt bei der Hochseefischerei das Wort, daß Zeit Geld bedeutet. Im Sommer ist die Arbeit, wenn auch schwer, so doch erträglich, aber wenn zur Winterszeit oft alles, was vom Schiff über die Wasserlinie reicht, mit einer zolldicken Eiskruste bedeckt ist und der schneidende Nordwind die Sturzwellen über das Schiff hinwegfegt, dann ist es wahrlich kein Kinderspiel, bei dem beständigen Rollen und Stampfen des Schiffes die mächtigen Schleppnetze auszusetzen und nach beendigtem Fangzuge wieder an Bord zu holen.
Die Fangreisen der Fischdampfer dauern, je nach der Jahreszeit und den sonstigen Umständen, 5 bis 14 Tage; jede Reise bedingt an Unkosten durchschnittlich 800 bis 1200 Mark. Jährlich macht jeder Fischdampfer 35 bis 45 Reisen und der Ertrag derselben
[94] beläuft sich je nach den Glücksumständen und dem Geschick des Kapitäns auf 50 000 bis 80 000 Mark.
Im Sommer erstrecken sich die Reisen weiter nordwärts, bis nach der schottländischen, norwegischen und jütländischen Küste, ja seit einigen Jahren bis nach Island hinauf. Im Winter bleiben die Dampfer meist mehr in der Nähe. Ein tüchtiger Fischdampferkapitän muß den Zug der Fische, soweit dies möglich, kennen, er muß wissen, wo zu jeder Zeit voraussichtlich die ergiebigsten Fischgründe und die in der betreffenden Jahreszeit begehrtesten und am besten bezahlten Fische sich befinden. Ist der Dampfer nach oft tagelanger Fahrt auf solch einem Fischgrunde angelangt, so wird die Maschine auf halbe Kraft gestellt, die mächtigen, an 30 bis 40 Fuß langen Fischbäumen oder den praktischeren „Scheerbrettern“ befestigten Netze werden seitwärts über Bord bis auf den Meeresboden gelassen, und der Dampfer treibt langsam vorwärts. Oft genügen einige wenige Netzzüge, um den Dampfer mit einer wertvollen Ladung von mehreren hundert Centnern zu füllen, ebenso oft verläuft aber auch ein mehrtägiges Fischen fast ergebnislos. Die aus dem Netz geholten, an Deck in buntem Gewimmel zappelnden Fische werden sofort ausgeweidet, sortiert und dann in den Schiffsraum befördert, wo sie sorgsam in Eis verpackt werden. Ist die Fangreise beendet, d. h., ist die in Aussicht genommene Zeit verstrichen oder sind die zur Verfügung stehenden Räume gefüllt, so geht es mit Volldampf dem Heimatshafen oder dem Platze, wo man eine besonders gute Verwertung des Fangs erwarten darf, zu; denn auch bei allen Vorsichtsmaßregeln und zur Anwendung kommenden technischen Hilfsmitteln bleibt der Fisch eine leicht dem Verderben ausgesetzte Ware, und hier heißt es in des Wortes eigenster Bedeutung „Frische Fische, gute Fische“.
Versetzen wir uns auf einen den Hauptmärkten an der Weser zusteuernden Fischdampfer! Helgoland wird in kurzem Abstande passiert, 2 bis 3 Stunden darauf der Rothesandleuchtturm und dann die anderen weseraufwärts liegenden Leuchttürme, von denen jeder der Reihe nach an die telegraphische Centralstelle in Bremerhaven meldet. „Eingesegelt deutscher Fischdampfer.“ Der Schiffsmeldeapparat, eine bisher nur in Bremerhaven-Geestemünde praktisch eingeführte Erfindung auf telegraphischem Gebiete, giebt die Meldung sofort und gleichzeitig an alle Interessenten, welche Anschluß haben, weiter. Nach zweistündiger Fahrt weseraufwärts kommen die Türme Bremerhavens und Geestemündes in Sicht.
Nehmen wir an, der heimkehrende Fischdampfer lenke, wie es die Mehrzahl thut, seinen Bug dem neuen Geestemünder Fischereihafen zu. Durch die von zwei kilometerlangen Schutzdeichen flanierte, 120 m breite Hafeneinfahrt, deren Lage bei Nachtzeit ein Leuchtturm mit elektrischem Licht anzeigt, steuert das Schiff in das Hafenbassin. 1200 m ist es lang und 80 m breit. Es ist vorläufig nur an seiner der Weser zugewendeten Westseite dem Verkehr nutzbar gemacht, doch kann auch die Ostseite ohne technische Schwierigkeiten ausgebaut werden.
Den Brennpunkt des Verkehrs bildet die gewaltige Auktions- und Packhalle, ein zweistöckiger Fachwerkbau, welcher sich in einer Länge von nicht weniger als 450 m und einer Tiefe von 20 m dem westlichen Hafenufer entlang zieht. Die durch eine Längswand abgeschiedene vordere Hälfte bildet einen einzigen, nur Auktionszwecken dienenden Raum, während die hintere Hälfte und das obere Stockwerk, in 50 Unterabteilungen von je 9 m Front geschieden, von den Versandgeschäften benutzt wird, um die Fische zum Weiterversand zu verpacken. Hinter der Halle erstrecken sich in gleicher Länge die mächtigen, Hunderttausende von Centnern fassenden Eishäuser. Ein großes, zweistöckiges Restaurationsgebäude, in welchem auch die Postverwaltung ihre Diensträume für Post und Telegraphie, sowie ein Seemannsheim und ein Heuerbureau ihr Unterkommen gefunden, schließt sich südwärts an. Diesem Bau folgt die Güterspedition mit drei großen Laderampen, denen sich ein weitverzweigtes Schienennetz anschließt. Den Beschluß bilden das Hafenmeisterhaus und das Seemannsamt. So enthält der neue gewaltige Bau alles Rüstzeug, um ein ungehemmtes Pulsieren des mächtigen Lebens, welches sich dort abspielt, zu ermöglichen.
Kehren wir zu unserem Fischdampfer zurück! Kaum hat derselbe an die Hafenkoje gelegt, so wird sein Fang, in große Weidenkörbe verpackt, mit Zuhilfenahme von Dampfwinden in .die Halle befördert. Ein solcher etwa 1 Centner fassender „Korb“ bildet die Einheit bei Bemessung der Quantität des angebrachten Fanges. Eine Fangreise, bei der 150 bis 200 Körbe heimgebracht werden, gilt als mittelgut, besonders, wenn größere Mengen Edelfische (Seezungen, Steinbutt, Rotzungen usw.) oder vorwiegend große Exemplare der betreffenden Fischgattungen sich darunter befinden. Oft trifft der Dampfer aber, wenn er stürmisches Wetter gehabt oder ein ergiebiger Fischgrund nicht hat gefunden werden können, mit nur wenigen Centnern ein. Glückliche Reisen haben dagegen öfter auch schon Fänge von 400 bis 500 Körben gebracht. Einige Reisen nach den unerschöpflichen Fischgründen bei Island, die allerdings auch eine Reisedauer von 12 bis 16 Tagen bedingen, lieferten sogar bis zu 800 Körben. Dementsprechend schwanken natürlich auch die finanziellen Erträgnisse einer solchen Reise von wenigen, die Betriebsarten lange nicht deckenden hundert Mark bis zu mehreren tausend. Als bisher in dieser Richtung unerreicht gilt eine Reise während der katholischen Fastenzeit des Jahres 1894, welche bei einem Fang von etwa 500 Körben einen Ertrag von etwa 11000 Mark lieferte.
Im kaufmännischen Verkehr, der mit den von beeidigten Auktionatoren geleiteten Versteigerungen in der Halle beginnt, wird natürlich nicht nach „Körben“, sondern nach Pfunden oder vielmehr Centnern gerechnet. Frühmorgens, im Sommer um 5, im Winter um 6 Uhr, beginnt das geschäftige Leben und Treiben in der Auktionshalle. Die Fänge der Dampfer werden nach der Reihenfolge des Eintreffens derselben jeder für sich versteigert.
Langjährige Erfahrung der Auktionatoren und der Käufer ermöglichen es, daß sich diese Verkäufe in einer für den Laien erstaunlichen Schnelligkeit abspielen. Und das ist nötig, finden doch an verkehrsreicheren Tagen 10 bis 15 Auktionen statt, die in wenigen Stunden beendet sein müssen. Ist eine derselben vorbei, so erscheinen sofort Angestellte der Käufer mit großen eisernen Rollwagen, um die erstandenen Körbe eilends in die Packräume zu bringen, wo sie in oft fieberhaft beschleunigter Arbeit versandfertig gestellt werden. Wieder dienen große Weidenkörbe zur Aufnahme der Fische, in Stroh und Eis sorgsam verpackt, sind sie imstande, auch im Hochsommer an den eigens hierfür eingerichteten Eisenbahnwagen weite Reisen bis nach Süddeutschland und weiter landeinwärts durchzumachen, ohne an Güte zu verlieren. Ist einer der vielen Rollwagen mit Körben voll bepackt, so wird er, wieder im Geschwindschritt, in die Expeditionshalle abgeschoben, wo sein Inhalt in bereitstehende Eisenbahnwaggons verladen wird. Kurz vor Mittag entführt ein Kurierzug die erste Fischladung ins Binnenland, im Laufe des Nachmittags folgt ihm ein zweiter.
Und wie wird der Markt zur Unterbringung solch gewaltiger Massen erschlossen? Wahrlich, nicht mühelos! Intelligenz, zähe Ausdauer auch bei lange erfolglosem Bemühen und großer Aufwand von Geldmitteln sind nötig gewesen, um dem Seefisch den Weg ins Innere Deutschlands zu bahnen, und sie sind noch ständig nötig, um das Absatzgebiet zu behaupten und weiter auszudehnen. Zehntausende und abermals Zehntausende von Offertenkarten und Tausende von Offerttelegrammen fliegen allwöchentlich von den Centralstellen des Seefischversands in alle Welt hinaus. Es gehört ein gutes Kombinationstalent, viel Erfahrung und – viel Glück dazu, die den binnenländischen Kunden zu bestellenden Preise richtig zu treffen, denn diese müssen festgesetzt werden, ehe die Ware am Markt erscheint, ehe der Absender weiß, wie viel derselben, welcher Art und in welcher Qualität sie eintreffen wird. Das ist es, was den Seefischhandel zu einer Art Lotteriespiel macht, bei dem es auch manche Nieten giebt.
Welche Bedeutung die Hochseefischerei schon jetzt für unser volkswirtschaftliches Leben gewonnen hat, sei zum Schluß noch durch einige Zahlen erläutert. Der Gesamtumsatz in Seefischen an der Weser betrug im Jahre 1895 34 968 104 Pfund im Werte von 3 454 676 Mark, während derselbe an der Elbe, in Hamburg und Altona, sich auf 2 998 502 Mark belief. Den ersten kühnen, erfolgreichen Anlauf hat die deutsche Hochseefischerei im verflossenen Jahrzehnt gemacht, schreitet sie auf der betretenen Bahn in gleichen Maße weiter, dann wird der frische Seefisch in wenigen Jahren das sein, was zu werden er verdient, ein Volksnahrungsmittel für ganz Deutschland.
[95]Die Hansebrüder.
(5.Fortsetzung.)
Fünfundzwanzig Monate war Grete alt, als sie völlig zur Waise wurde. Sie fing eben an, von sich in der ersten Person zu sprechen und es kostete viel gute Worte von seiten ihrer Hüterinnen und manchen großen Thränenstrom von ihrer Seite, bis sich dies kleine, kaum erwachte Ich mit dem neuen, dunklen Verlust aussöhnte. Daß die Mama – die wirkliche, nicht die im Bilde – zu den Engeln gereist sei und erst „nächstens“ wieder kommen werde, war ihr schon geläufig, aber sie wollte es nicht einsehen, warum nun ihr Vater der Mama nachreiste; zum wenigsten hätte er sie doch mitnehmen sollen!
Aber nach etlichen Tagen war sie auch darüber getröstet. Vater und Mutter hatten ihr durch den lieben Paten sehr schönes Spielzeug und eine ganz wunderbare Menagerie geschickt, lauter Tiere aus Biskuit, die vor denen im Bilderbuch den großen Vorzug haben, daß man sie zur Belohnung aufessen darf, sobald man gelernt hat, wie sie heißen. Und sehr umsichtig unterstützte das in den Himmel zurückgekehrte Christkindchen die Trostmittel des Paten dadurch, daß es nun doch noch nachträglich einen richtigen Winter mit Eis und Schnee schickte – mit viel Schnee, der sich von den Fenstern des frei im Garten gelegenen Hauses ganz anders ausnahm als aus dem dritten Stock in einer engen, menschenvollen Stadtgasse.
Da gab es Bäume, die aussahen, als wären sie ganz von Zucker, und denen es kaum zuzutrauen war, daß sie „nächstens“ voll von roten Kirschen hingen; da gab es vor allem unzählige Piepvögelchen schwarze, graue und ganz bunte, die im Schnee hüpften und bis an die Fenster flogen. Wenn man sie auf dem freigekehrten Platz vor der Küche lockte. „Piep, piep, piep!“ und dabei Futter streute, so kamen sie herbei und pickten es auf. Und es gab Wagen auf der Straße, die ohne Räder über den Schnee fuhren, ganz schnell, und dazu entzückend „Klingkling“ machten. Ein paarmal wurde man sehr warm eingepackt, daß kaum noch etwas herausguckte als Augen, Näschen und ein paar vorwitzige goldrote Löckchen, dann stieg die Luise in einen solchen Wagen, der Pate hob Gretel hinein und stieg nach, und dann ging es, hui, über den Schnee mit Klingkling und Peitschenknallen, ganz aus der Stadt hinaus, weit, weit, zwischen Bergen, die ganz voll Schnee lagen, und dem großen Wasser, auf welchem ungeheure weiße Tische von Eis trieben und einmal saß sogar auf einem solchen Tisch ein weißer Vogel, den man bisher nur aus dem Bilderbuch kannte, und der Pate freute sich sehr, daß man ihn gleich wiedererkannte und mit seinem Namen rief. „Schwan“. Vor dem Reize solcher Neuheiten mußte jeder Kummer entschwinden.
Und dann war es ja daheim beinahe ganz wie zu Hause! Wenn man abends zu Bett gebracht wurde, saß der Pate vor seinem Schreibtisch auf seinem Zimmer, ganz wie Vater, im Zimmer nebenan, auf dem Tischchen, stand Mamas Bild zwischen grünen Blättern, da stand neben Luisens Bett dasselbe Bettchen, in dem man „immer geschlafen hatte“, und darüber hing der Engel, der einen so lieb ansah und nur den Kopf in einer Art auf die Aermchen legte, wie ein artiges Kind es durchaus nicht soll, aber Engel dürfen so etwas. Und dann noch so viel andere Sachen, die man immer gesehen hatte und die der Vater auch so gern sah, daß er es gewiß nicht lange ohne sie aushalten konnte.
Sie erben von Geschlecht zu Geschlecht, Kleinodien, die ihr Gold von der Erinnerung leihen, was allgemach doch verloren geht, das wird ersetzt durch anderes, das eine neue, alternde oder früh und plötzlich abscheidende Gegenwart für ihre Zukunft wieder hinzufügte. Und wenn wieder ein junges Paar sich gefunden hat und sein Nest einrichtet, so zeigen und erklären sie einander mit weinendem Lächeln und zärtlichem Kosen ein Stück ums andere von dieser Mitgift, die so wunderlich von den neuen, frischgefertigten Sachen absticht, und es ist ihnen, als ob unsichtbare Hände sich segnend über den neuen Bund breiten. Da ist das Nähtischchen, das ihre Mutter mit dem ersten langen Kleid von der Großmutter empfing, an dem sie später in seligem Hoffen und Bangen die winzigen ersten Hemdchen für das Kommende nähte; da ist die Lade, ein zunftgerechtes Meisterstück seines Großvaters, in der seine Mutter ihre armen kleinen Schmucksachen verwahrte, neben dem Brautkranz und dem Gesangbuch, das nun den Ehrenplatz auf ihrem kleinen Bücherstand bekommen soll. Da sind aus der eigenen Kindheit, aus der Jünglings- und Jungfrauenzeit werte Andenken, und sie erzählen einander von dem Freunde, dessen Namen auf dem Prunkseidel steht und der nun begraben liegt auf dem Schlachtfeld im fernen fremden Lande, von der Freundin, welche die Rosen so gern sah und so kunstvoll nachmalte und die der Tod mitten in der Rosenzeit ihrer Brautschaft brach! Und dann wieder noch weiter zurück: da sind Wanderbücher, Schattenrisse und Pastellbildchen aus einer Zeit, die noch nicht davon träumte, mit Dampf durch die ganze Welt zu fahren und mit Sonnenstrahlen zu malen; da ist am ganz verblaßten Seidenbande die alte Guitarre, zu deren schnarrenden Tönen so gefühlvolle Lieder klangen, als der Großvater die Großmutter nahm.
„An Alexis send’ ich dich, er wird, Rose, dich nun pflegen,“
und
„Sieh, Doris, wie vom Mond bestrahlt die Tanne glänzt, wie schön! Von allen Bäumen hab’ im Wald die Tann’ ich mir ersehn!“
Vieles haben die alten Erinnerungs- und Erbstücke erlebt, Herzerfreuendes, Herzzerreißendes, und sie haben es nicht vergessen, es ist, als ob die Zeit ihnen eine Seele gegeben habe, eine Traumseele, die nur in der Nacht aufwacht und spricht. Dann, wenn die Menschen schweigen und das Haus zu sprechen anfängt, dann stimmen sie ein. Auf der Treppe knackt es wie von leisen, verstohlenen Schritten, und vor dem Nähtischchen rauscht es leise, als ob wieder ein Mädchen im leichten Hauskleid auffahre, um dem heimlichen Besucher entgegenzueilen. Zwischen den Vorhängen zittert ein blasser Streifen des Mondlichtes über die alten Bilder, über den verschossenen Goldschnitt des Gesangbuchs, und ein Lufthauch bewegt raschelnd das vergilbte beschriebene Blättchen, das aus dem Buche vorragt. Ist es der Text zu einer Taufpredigt oder zu einer Grabschrift?
Vieles von Wonnen und Leiden, von halbvergessenen und von kaum überstandenen, hatten Bilder und Hausrat in dem ehemaligen Zimmer des Doktors Hans Bardolf zu erzählen, wenn auch das letzte Licht nebenan auf dem Arbeitstisch Hans Ritters erloschen war und im stürmischen Anhauch des Winterwindes das alte Häuschen zu sprechen begann. Viele unsichtbare Gäste waren heimisch in diesem Hause, aber den Schlummer des Kindes störten sie nicht.
Der Schnee verging, und der Frühling kam, ausnahmsweise einmal so, wie ihn die Dichter schildern, mit sonnigen Tagen, rechtzeitig eintreffenden Nachtigallen und unermeßlich viel Blumen! Aber im Garten des Häuschens draußen zwischen dem Armenviertel und den Krankenhäusern fand er diesmal die neueste und lieblichste Blüte schon vor. Sie gefiel ihm, er that ihr alles zu Gefallen und empfahl sie an den Bruder Sommer, und die Empfehlung behielt Kraft und ging weiter von einem zum andern, daß keine Sonnenglut, keine Nebelfeuchte und kein Frosthauch dem „weißen Mädchen“ schade und daß es frisch und gerade aufwachse wie ein junges Bäumchen.
Es ist nicht festzustellen, von wem sie zuerst im zartesten Alter den Kosenamen empfing, jedenfalls paßte er immer besser. So lange ihr Vater lebte, hatte er darauf bestanden, daß man sie immer weiß kleidete, nur mit rosenfarbenen oder lichtblauen Schleifen und Schärpen, und von einem so unpraktischen Manne wie ihrem Paten und Vormund war es nicht anders zu erwarten, als daß er auch jene Forderung des Vaters übernahm mit der für jeden umsichtigen Menschen gewiß höchst thörichten Begründung, wenn man ein junges Menschenkind zur äußeren und inneren Schönheit und Reinheit erziehen wolle, müsse man es vor allem schön und in lichte Farben kleiden, anstatt in solche, die „nie schmutzen“.
[96] Ueberhaupt entwickelte und bethätigte dieser Mann von vornherein Erziehungsgrundsätze, die es einer so praktischen Person wie der guten Luise manchmal sehr schwer machten, den Gehorsam als „Pflicht und Trost“ zu empfinden. Es war noch lange nicht das Schlimmste, daß er die Gartenschnecken, die ihm Grete brachte, auf die Mauer setzte, statt sie vor den Augen des Kindes zu zertreten und ihm so möglichst früh beizubringen, daß es für den denkenden Menschen zweierlei Tiere giebt. solche, die man züchtet, weil sie direkten Nutzen bringen, und solche, die das boshafter oder leichtsinnigerweise nicht thun und deshalb umgebracht werden.
Freilich würde dieser Unterricht die kleine Grete einige Thränen gekostet haben, denn sie war einstweilen von einer unbegrenzten Gutmütigkeit gegen alle Welt. Wenn sie mit ihrem Spielball eine von Frau Klämmerleins Kapuzinerblüten getroffen hatte, so streichelte und putzte sie eifrig an der Blume herum, bis es nicht mehr weh that, den „armen Regenwürmern“, die sich so begehrlich aus der Erde heraufschlängelten und doch offenbar Hunger hatten, streute sie Brocken von ihrem Brötchen hin, und vollends unter den Menschen ahnte sie noch nichts Böses. Die Welt der Erwachsenen außerhalb ihres Heims bestand für sie aus lauter Onkeln und Tanten, und wer immer von dieser großen Verwandtschaft durch das Gartenthörchen trat, konnte darauf rechnen, von ihr mit einem Händedruck und einem so treuherzigen „Tag!“ begrüßt zu werden, daß es den größten Menschenfeind für ein Weilchen in einen lachenden Optimisten verwandeln mußte.
Im ersten Jahre war auch der Hauptmann von Seedorf mit seinem Sohne ein paarmal herübergekommen, zuerst in den Osterferien, nachdem der Hauptmann die Pforten seines „Instituts“ für immer geschlossen hatte, und zu Beginn der Herbstferien sogar von der weit abgelegenen Großstadt aus, in welcher die neue, so ungemein aussichtsvolle militärische Zeitschrift erschien. Sie hatten sich beidemal ein paar Wochen in der Stadt aufgehalten, waren fast jeden Tag nach dem Häuschen herausgekommen, die Männer hatten ihre unter so trüben Umständen begonnene Freundschaft angenehm ausgebaut, und der junge Naturforscher Karl hatte sich der kleinen Grete ebenso eifrig gewidmet wie früher. Später beschränkte sich der Verkehr auf einen immer spärlicher werdenden Briefwechsel – der Hauptmann von Seedorf war schwach im Schreiben von Privatbriefen, und er mochte auch aus den mancherlei Orten und Stellungen, aus denen seine jeweiligen kurzen Grüße in buntem Wechsel dauert waren, wenig Erfreuliches zu berichten haben.
Auch der Doktor Hans Mohr fand an einem schönen Tage im Herbstmonat die Klinke des Gartenthörchens wieder, nachdem er sich durch längeres Spähen vergewissert hatte, daß Frau Klämmerlein ausgegangen war, denn er fürchtete sich ein wenig vor der alten Dame, seit er bei einer zufälligen Begegnung, kurz nach seiner Hochzeit, entdeckt hatte, daß sich ihre Schwerhörigkeit fast bis zur völligen Unanredbarkeit verstärkt habe. Uebrigens war er kein Menschenfeind – in Beurteilung dessen, was ihn am meisten kümmerte, nämlich seiner eigenen werten Person, war er sogar Optimist – und somit empfing er den strahlenden Gruß Gretels mit vielem Wohlwollen. Hans Ritter, der eben in den Garten trat, fand ihn mit der Kleinen so gewinnend plaudernd, als ob sie die Tochter eines Geheimen Kommerzienrats wäre.
Viel Worte des Beileids sagte der Doktor Hans Mohr, während er mit Hans Ritter längs den Kapuzinerkressen auf und ab ging. Es erwies sich, daß seine schmerzlichen Empfindungen bei der Nachricht vom Tode ihres gemeinsame Freundes zu lebhaft gewesen waren, als daß ihm irgend ein schriftlicher Ausdruck genug gethan hätte – auch gab ihm ein immerhin neuer und umfangreicher Wirkungskreis so unglaublich viel zu thun, daß er darüber thatsächlich keine Zeit zu Privatbriefen mehr fand! Um so weniger hatte er es versäumen wollen, gelegentlich eines leider nur kurz bemessenen Besuches in der Universitätsstadt einmal anzurufen, zumal er gehört hatte, daß das reizende kleine Mädel jetzt bei der Urgroßmutter sei. Und er fügte hinzu, daß seine Frau und seine Schwiegermutter es ihm ja nicht verzeihen würden, wenn er heimkäme, ohne das Töchterchen der armen Emilie Flügge gesehen zu haben, von der sie so oft und so herzlich sprachen. Es schien, daß er bereit war, noch manches von sich und den Seinen im Austausch gegen anregende und rührende Einzelheiten aus dem Trauerspiel Bardolfs und Emiliens zu berichten, aber Hans Ritter hatte eine so eigentümliche Art, höflich zuzuhören und über dem Zuhören sogar die Einladung zum Sitzen zu vergessen, daß es selbst dem geübten Festredner allmählich die Rede abschnitt. Zuletzt erinnerte sich Hans Mohr, daß er sich leider unmöglich länger aufhalten dürfe.
Ein paar Schritte vor dem Thörchen wandte er sich noch einmal, um einen langen, schwermütigen Blick auf das „alte liebe Häuschen“ zu heften. „Wer wohnt denn jetzt in meinem alten Lübeck?“ fragte er.
„Niemand“, antwortete Hans Ritter. „Ich habe es zugemietet, damit uns kein Fremder mehr ins Haus kommt. Auf Bardolfs Zimmer schläft sein Kind.
„Hm,“ meinte Doktor Hans Mohr, „also zahlst du Frau Klämmerlein jetzt für alle drei Zimmer Miete? Hör’ ’mal, dann mußt du dich aber ja jetzt ganz gut stehen?“
„O ja,“ erwiderte Ritter, „es geht. Wir haben beide unser Auskommen, das Kind und ich auch.“
Doktor Haus Mohr verabschiedete sich und schritt so in tiefen Gedanken hinaus, daß er die zum Abschied ausgestreckte Hand Gretes ganz übersah. Grete blickte ihm nachdenklich nach und sagte bedauernd. „Armer Onkel!“ Denn sie war noch zu klein, um ein Gesicht, wie es der Doktor Mohr machte, für etwas anderes als den Ausdruck bedauernswerter Enttäuschungen zu nehmen. Im Grunde aber hatte sie recht, denn es ist wirklich enttäuschend und ärgerlich für einen Biedermann, wenn er nach längerer Abwägung seiner Menschen- und Familienpflichten schließlich ohne den Segen seiner Frau zur Brandstätte schlendert, um auch einen Eimer Wasser zu reichen, und unterwegs von der zurückkehrenden Feuerwehr hört, daß schon alles gelöscht ist. Der Doktor Hans Mohr empfand sein Mißgeschick. Er sah unzufrieden aus, während er in der Westentasche mit einem Zwanzigmarkstück spielte. Dieses Geldstück hatte er beiseite gesteckt, um es dem Doktor Hans Ritter mit einigen pädagogischen Ratschlägen und dem Bedauern, für jetzt nicht mehr geben zu können, als Beitrag zu Gretes Erziehungskosten zu überreichen. Nun blieb ihm nichts übrig, als sich dafür bei seinem Cigarrenhändler eine Extrasorte zu bestellen, die er sogleich bezahlte. „Verpacken Sie sie, bitte, in ein leeres Kistchen von meiner gewöhnlichen billigen Nummer“, fügte er umsichtig hinzu, denn er war ein aufmerksamer Gatte und dachte auch auf Reisen an seine Frau.
An der Stätte des ehemaligen Hansebundes ließ sich der Doktor Hans Mohr vor der Hand nicht wieder sehen. Nur durch die Presse erfuhr Hans Ritter von seinen nächsten Werken, unter denen eine reich illustrierte „Festgabe zum vierzigjährigen Regierungsjubiläum“ seines durchlauchtigen Denkmalprotektors und ein Band gesammelter Vorträge unter der Aufschrift „Bausteine zum Tempel einer zielbewußten Mädchenerziehung“ noch nicht das Aergste waren. Die kleine Grete fand keine Gelegenheit mehr, dem armen Onkel ihr Beileid auszudrücken.
Zum Glück betraten genug andere Leute den Garten, die den Gruß des weißen Mädchens niemals überhörten. Da waren der Briefträger, der Metzger, die Gemüse- und Milchweiber, da war der alte stelzfüßige Orgelmann, der jeden Donnerstag kam, und da war vor allem der liebe Onkel Professor, der sich weit öfter als jeden Donnerstag einstellte.
Es war merkwürdig, zu sehen, wie gut der Professor Isaak Bernstein mit Frau Margarete Klämmerlein aus- und übereinkam; er war der einzige Mann, dem sie ein allenfalls ausreichendes Verständnis für ihre Erfolge in der Kressenzucht zusprach, und es war von Frühling bis Herbst selten, daß auf seinem Arbeitszimmer mehrere Tage der frische Strauß aus ihrem Garten fehlte, den ihm meist Gretel an der Hand ihres Paten zu bringen pflegte. Ebenso wenig aber fehlte es auf diesem Zimmer jemals an irgend einer angenehmen Ueberraschung für Augen oder Mäulchen des weißen Mädchens. Für Hans Ritter war die Unterhaltung des alten Herrn ein ziemlich auskömmlicher Ersatz sozusagen gelehrten Umgangs und er wußte, daß er auch noch in anderer Hinsicht von Isaak Bernstein sicher auf eine Hilfe rechnen konnte, die er freilich eben darum entschlossen war, nur im äußersten Falle der Not zu erbitten. Aber einen Dienst, von dem er gar nichts wußte, leistete ihm der alte Herr, indem er das arg
[97][98] erschütterte Ansehen Hans Ritters in der akademischen Gesellschaft auf einen ganz neuen und festen Boden stellte.
Eine hervorragende Rolle hatte Ritter in dieser Gesellschaft auch während seiner akademischen Lehrthätigkeit nicht gespielt, während der Professor Isaak Bernstein in ihr ungefähr wie im Professorenkollegium zwar nicht ordentliches, aber doch Ehrenmitglied war. Es war damals die Zeit, wo im neuen Reich auch der gesellige Verkehr in den vornehmsten akademischen Kreisen der deutschen Gelehrtenwelt sich von Grund auf umzustimmen begann. In immer selteneren Fällen wiesen diese Kreise noch eine Aehnlichkeit mit dem Bilde auf, welches ein gefeierter Romandichter zehn bis fünfzehn Jahre zuvor bereits mehr seinen Erinnerungen und seinen Idealen als der Wirklichkeit nachgezeichnet hatte. Der sagenhafte deutsche Professor in Schlafrock und Pantoffeln, der mit der langen Pfeife im Munde unter den Augen seiner strümpfestrickenden Gattin grundgelehrte Werke schrieb und unbemittelten Zuhörern an bestimmten Wochentagen Freitisch gewährte, verschwand allmählich vor dem weltgewandten und höchst gesellschaftsfähigen modernen Geheimrat, auf dessen ordengeschmücktem Ueberrock ein letzter Hauch vom Staube der Bibliotheken manchmal nur noch wie eine scherzhafte Anspielung zu haften schien.
Unter solchen Glanzerscheinungen machte sich der Doktor Hans Ritter fast so altmodisch wie das Fach, welches er bevorzugte, und wenn man ihn auch löblichem Brauche gemäß wie andere Privatdocenten manchmal eingeladen hatte, so weinte man ihm doch keine Thräne nach. Man fand, daß er wohl thue, die Bahn für standesgemäßer ausgestattete Bewerber frei zu lassen. Nun aber war man doch auch wieder durchaus nicht einverstanden, als man vernahm, daß dieser Herr wirklich „der Wissenschaft untreu“ geworden sei und unter anderem Novellen aus der Gegenwart in die Zeitschriften schreibe. Denn für das Gros der akademischen Gesellschaft erschien das Verfassen von Erzählungen höchstens dann als Neben- und Erholungsarbeit eines Gelehrten statthaft, wenn er wenigstens in der Wahl und Behandlung des Stoffes eine nur Eingeweihten zugängliche Fachgelehrsamkeit bewährte. Hier dagegen – – – „Wissen Sie, meine Liebe,“ pflegte die Frau Geheimrat Hermann, Beatens Gastfreundin, zu sagen, „dieser Doktor Ritter ist eine etwas zerrüttete Existenz, wenn er auch eine gute, pensionsfähige Stellung hat. Er lebt ganz familiär mit seiner alten Wirtin und hat das kleine Kind irgend eines Freundes zu sich ins Haus genommen, wie komisch, nicht? Und dann schreibt er so Geschichten, wie sie in den Zeitungen stehen! Es ist schade um ihn; mein Mann sagt, früher hätte er eine recht vielversprechende Facharbeit vorgehabt.“
Als der Professor Isaak Bernstein sie so einmal, in einer großen akademischen Gesellschaft, einer kürzlich zugezogenen Kollegin den Fall klar machen hörte, sagte er: „Nu, was wollen Sie, meine Gnädige? Der junge Mann wird sich gesagt haben, wenn auch ein junger Mann davon absieht, die Beweise fürs Dasein Gottes zu kritisieren, der liebe Gott existiert drum doch weiter! Was aber die Geschichten angeht, die er schreibt“ – der Professor Bernstein zog die Augenbrauen hoch, sah die Dame an und machte die Gebärde des Geldzählens – „wissen Sie auch, was der Mann für so ein Geschichtchen kriegt?!“
Diese geheimnisvolle Bemerkung, in einer Angelegenheit, für die man dem Professor Isaak Bernstein ein angeborenes Verständnis zutraute, machte eine doppelte Wirkung. Erstlich die, daß während der nächsten Monate aus zahlreichen akademischen Häusern mehr oder minder umfangreiche Pakete mit weiblicher oder männlicher Handschrift an unterschiedliche Redaktionen abgingen. Auf diese Reaktionen gab es dann später viel Lachen und Fluchen, und es war auch in diesem Falle ein Glück für den Professor Isaak Bernstein, daß nicht jeder Fluch auf den zurückfällt, der eigentlich daran schuld ist. Die zweite Wirkung aber war die, daß der Schriftsteller Hans Ritter auf einmal ganz anders in der „besten Gesellschaft“ der Universität verteilt wurde. Man fühlte dunkel, aber lebhaft, daß Arbeiten, über deren Bezahlung sogar der Professor Isaak Bernstein die Augenbrauen hoch zog, doch etwas ganz Vorzügliches sein müßten, man las sie und empfand demgemäß ihren inneren Wert, und als das erste Novellenbuch von Hans Ritter erschien, fand es zum größten Staunen der Sortimenter sogar einigen Absatz zu Weihnachtszwecken in akademischen Familien.
„Wissen Sie, meine Liebe,“ sagte die Frau Geheimrat Hermann, „dieser Doktor Hans Ritter ist eine merkwürdige Persönlichkeit! Ein Sonderling, aber ein geistreicher Sonderling, seine Sachen werden enorm hoch bezahlt.“
So glänzend stand sich Hans Ritter noch lange nicht, wie es die akademischen Herrschaften in ihrer Unkenntnis aller außerhalb der Zunft liegenden litterarischen Erwerbsverhältnisse annahmen. Freilich hätte er es besser haben können, wenn er nicht so eigen gewesen wäre. Der litterarische Markt war damals noch nicht so stark wie heute mit arbeitslustigen Erzählern und Erzählerinnen überfüllt, und ein gebildetes Talent konnte sich, wenn es erst „eingeführt“ war, bei einigermaßen entwickeltem Geschäftssinn durch fleißige Herstellung lesbaren Stoffes ein ziemlich hohes und regelmäßiges Einkommen verschaffen. Aber eben dieser Geschäftssinn ging Hans Ritter ab. Er konnte sich von der Vorstellung nicht befreien, daß ein Schriftsteller nichts aus der Hand geben dürfte, wovon er nicht überzeugt wäre, daß er es nicht besser machen könnte. Er fuhr fort, seine Geschichten innerlich zu erleben, ehe er sie verfaßte, und da er in allem kein Mann der raschen Arbeit war, ja selbst im Träumen langsam, so war seine „Jahresproduktion“ nicht derart, daß sie einem Berufserzähler von flottem Betrieb imponiert hätte. Aber es ging auch so und merkwürdigerweise ging es noch besser als zu der Zeit, da der Doktor Hans Ritter nur für sich zu sorgen hatte und seine Nahrung im Speisehaus suchte, anstatt wie jetzt am „Familientisch“ in Frau Klämmerleins „Museum“. Es war ein erschwingbarer Luxus, das Häuschen von Freunden frei zu halten, und es war sogar möglich, alljährlich eine Summe einzuzahlen, welche dem weißen Mädchen in Zeiten dienen sollte, von denen es noch keine Ahnung hatte.
Die Verfassung des kleinen Haushalts war fast noch kunstvoller und verwickelter als die des Deutschen Reiches. Der Außenwelt gegenüber war Frau Klämmerlein nach wie vor die vorstellende Gewalt, welche das Häuschen gemietet hatte und den Doktor Hans Ritter nur als ihren Mietsherrn zu „ästimieren“ brauchte. Im Innern hatte sie die Hoheit ohne besondere schriftliche Konvention an den Doktor abgetreten, dessen Matrikularbeitrag zu dem gemeinsamen Reichshaushalt den ihrigen ja um ein vielfaches überstieg. Wenn man aber genau zusah, so schwebte über dem friedlichen Zusammenwirken der häuslichen Mächte als oberste entscheidende Macht die Rücksicht auf einen sehr geliebten Regenten, und das war Grete. Sie hatte dieses kleine Reich gegründet, sie hatte den Doktor Hans Ritter zum wirklichen geheimen Hausherrn gemacht, sie hatte der alten Frau einen neuen Geist gegeben, der sich anderswo als im Kreuzkonvent heimisch fühlte und sogar mit dem in Luisens Person zusammen gefaßten eigenwilligen Vasallentum fertig wurde, und im Grunde war sie es auch, die durch persönliche Neigung allmählich den Anteil der verschiedenen Mächte an ihrer Erziehung abgrenzte. Es ist leider kaum zu bezweifeln daß Frau Beate, verehelichte Frau Doktor Hans Mohr, und viele andere staatlich beglaubigte Bildnerinnen weiblicher Jugend an dieser Erziehung vieles zu verbessern gefunden hätten. Frau Margarete Klämmerlein traf dabei noch die geringere Schuld, sie beschränkte sich wenigstens auf die Unterweisung in Dingen, mit denen sie praktisch Bescheid wußte, und wenn sie zum Beispiel der kleinen Grete das Lesen nach der alten Buchstabiermethode beibrachte, so mochte zu ihrer Entschuldigung dienen, daß sie es selber so gelernt hatte und das wunderschöne deutsche Wort „lautieren“ nicht einmal dem Klange nach kannte. Auch daß Grete beim Strickunterricht sich das Garn zu ihrem ersten eigenen Strumpf von einem Fleißknäuel herunterstricken durfte, als dessen Kern sich ein süßes Chokoladenei herausstellte, war wohl kaum eine bewußte pädagogische Ketzerei. Gefährlich mußte es ja immerhin erscheinen, auf diese Weise in der unerfahrenen Kinderseele die Vorstellung zu erwecken, als ob man in der Welt für jede abgewickelte Pflicht etwas Süßes bekomme. Frau Beate würde es immer vorgezogen haben, die Fleißknäuel wenigstens um etwas Brauchbares und Arbeitsmäßiges zu wickeln etwa einen Fingerhut, „den das Kind sowieso bald haben muß“, oder um ein Geldstück für die Sparbüchse. Aber Frau Margarete Klämmerlein wußte es nicht [99] besser, und übrigens hatte sie als Urgroßmutter schon ein gewisses Recht, unpädagogisch zu handeln.
Weit schlimmer stand es für den Doktor Hans Ritter. Seine Sache wäre es gewesen, durch eine zielbewußte und methodische Einwirkung im Sinne einer aufgeklärten Moral den etwaigen üblen Einfluß der alten Frau rechtzeitig unschädlich zu machen. Er versäumte diese Pflicht leider nur zu sehr. In einem Alter, wo gebildete Kinder sich schon beinahe genieren, noch ans Christkindchen zu glauben, vermochte sich Grete nur schwer von der Vorstellung zu trennen, daß jeden Abend ein oder sogar mehrere Engel an den Fenstern vorbeiflögen und hineinguckten, um zu sehen, ob die Kinder auch artig sind und hübsch schlafen; und sie stattete das angenehme Bild dieser himmlischen Ronde noch aus Eigenem mit einer Menge von Zügen aus, die für jeden vernünftig und klar denkenden Menschen deutlich bewiesen, wie nachlässig der Doktor Hans Ritter in der Bekämpfung der leider ja so sehr üppigen kindlichen Einbildungskraft gewesen war.
Er wußte wirklich sehr wenig vom methodischen Erziehen. Dagegen sorgte er dafür, daß sein weißes Mädchen frühzeitig und reichlich das große Glück auch ausnutzte, welches sie vor so vielen Kindern großstädtischen Reichtums voraus hatte: an einem Orte zu, leben, wo ihr eine schöne, wechselvolle und gesegnete Landschaft bis in die Fenster schaute. Er war immer darauf bedacht, die jedem Menschen eingeborene Teilnahme an allem Belebten in der Natur in ihr unverkümmert und rein zu entwickeln; denn er war überzeugt, daß von dieser herzlichen Teilnahme alle praktische Religion ausgeht, und daß einem erwachsenen Menschen, der Blumen mutwillig zertritt und Tiere quält, aller kirchliche Eifer nichts nützen kann. Und wie er sie im Buche der Natur allmählich die Ehre Gottes lesen lehrte, so schmückte er ihr die Seiten dieses Buches auch mit den Bildern derer aus, die ihr fürs Leben teuer sein sollten; er erzählte ihr von ihren Eltern auf den Wegen, wo sie vordem gewandelt waren, und ließ sie ihre ersten Sträußchen winden dort, wo einst ihre Mutter Blumen gepflückt hatte. Wenn aber die Kleine mit kindlicher Phantasie das Geschaute und Gehörte weiter spann, wenn sie davon träumte, daß jetzt wohl durch das blaue Fenster im rosigen Abendgewölk die Mama aus dem Himmel herunterguckte auf ihre Gretel, und wenn sie sich fest vornahm, nächstens doch einmal heimlich im Bettchen wach zu bleiben, um die hereinschauenden Engel zu sehen, so wehrte er ihr nicht. Denn er hielt dafür, daß es für ein Kind besser sei, an tausend gute Engel zu glauben als an einen bösen Menschen.
Hans Ritter wußte wohl, daß der Schleier einmal zerreißen und daß einmal die erste Thräne fließen mußte, welche menschliche Lieblosigkeit dem Kindesauge entpreßt, aber so lange es ging, wollte er diesen Augenblick hinausschieben. So hatte er Grete auch bereits zwei Jahre über das übliche Alter aus der Schule gehalten und sich mit dem häuslichen Unterricht zu helfen gesucht, als ihm ein freundlicher Zufall darüber weghalf. Auf einem Spaziergang im Walde waren sie einer Schar spielender Mädchen in verschiedenem Alter begegnet. Gretel hatte sich – zuerst sehr schüchtern – der fröhlichen Schar zugesellt, die sie freundlich aufnahm, während Hans Ritter mit der beaufsichtigenden Dame ins Gespräch kam. Es war ein Fräulein anfangs der vierziger Jahre, mit Namen Martha Weber, das mit seiner betagten Mutter ein großes Pensionat in der Stadt leitete und daneben an der Töchterschule als Lehrerin thätig war. Hans Ritter hatte von ihr schon als einer ebenso kenntnisreichen wie muntern Dame reden gehört, und das Gespräch bestätigte ihm diesen Ruf so sehr, daß er ihr auch seine Besorgnisse für Grete kurz entschlossen offenbarte. „Geben Sie sie immerhin in die Schule,“ sagte Fräulein Weber. „Sie kann selbst von unpassenden Mitschülerinnen nicht so viel Uebles annehmen, daß es den Nachteil einer einsamen Kindheit aufwöge. Und was das Pedantische des heutigen Betriebs in einer großen Schule angeht – es ist etwas daran, das gebe ich zu, aber es kommt doch am Ende alles auf die einzelnen Lehrer und Lehrerinnen an. Da sehen Sie sich unsere Mädchen ’mal an, die meisten davon gehen auch noch zur Schule, und sehen Sie nur, wie munter und unverbildet sie spielen können! Aber wissen Sie etwas: wenn Ihre Kleine so lieb ist, wie es scheint, so lassen Sie sie außer der Schule doch öfters zu uns kommen! Da findet sie Freundinnen, für die ich bürgen kann. Uebrigens wird sie wohl gerade in meine Klasse kommen, bei mir soll sie die roten Bäckchen nicht verlieren.“ Dabei sah sie ihn so überzeugend an, daß er herzlich dankend zusagte. Es erwies sich im weitern Verlauf des Gesprächs, daß die Damen auch manches von ihm gelesen hatten, und was Hans Ritter besonders erfreute, war die Offenherzigkeit, mit der das Fräulein auch einzelnes von ihrem Lobe ausschied. „Das liegt mir nicht,“ sagte sie einfach.
Mit der Zeit wurde die Freundschaft zwischen den beiden Damen und Hans Ritter recht fest. Er freute sich bei jedem Besuche mehr über das Glück, welches seinem einsamen weißen Mädchen den Verkehr mit dem frischen Leben dieses Hauses geboten hatte. Unwillkürlich verglich er das, was er hier sah und hörte, mit jener anderen Anstalt, an welcher einst Emilie Flügge gelitten hatte und nach deren Bilde er – überaus voreilig und ungerecht – sich lange Zeit das Wesen aller derartigen Anstalten vorgestellt hatte. Auch hier konnte man von einem ganz besonderen „Geiste des Hauses“ sprechen; aber es war eben das Gute an ihm, daß man nicht beständig von ihm sprach. Dieser Geist drängte sich nicht wie in dem Hause der Frau Direktor und Beatens dem Besucher auf gleich einem zudringlichen Parfüm, er erfüllte das ganze Haus mit einer wohligen Wärme fröhlicher Regsamkeit und anregender Freude. Die greise „Frau Professor“, welche das ganze Wesen trotz ihres Alters mit ungeschwächter Rüstigkeit leitete, hatte mit der Zeit einen kleinen Stab von gleichgesinnten Gehilfinnen um sich gesammelt; es war erstaunlich, für welche Menge geistiger und künstlerischer Interessen diese Damen Zeit übrig fanden, wie dankbar sie jede Anregung aufnahmen und doch über dem Weiteren nie die Forderung des Tages versäumten. So zeigten sich auch unter den jungen Mädchen, denen großenteils schon ältere Schwestern und Verwandte im Besuche der Anstalt voraufgegangen waren, gemeinsame Züge, welche wirklich fast familienhaft anmuteten und stark genug schienen, selbst eine einzelne widersprechende Natur alsbald in ihren heilsamen Kreis zu bannen. Ein jegliches in diesem Hause, groß und klein, war vergnügt, weil alle bestrebt waren, ihre Pflicht zu thun und einander Freude zu machen; dabei wurde das Wort „Pflicht“ nur sehr selten gebraucht, und wenn es einmal gebraucht wurde, so wirkte es wie ein leiser, wohlbeherzigter Vorwurf.
Es betrübte Hans Ritter, daß er sich für so viel Freundlichkeit, die man seinem weißen Mädchen und ihm hier entgegentrug, nicht erkenntlich machen konnte. Als er diese Empfindung einer der Damen einmal aussprach, meinte sie lächelnd:
„O, Sie könnten unsrer Frau Professor schon einen großen Gefallen thun: wenn Sie nämlich für unsere Aeltesten die Litteraturvorträge übernehmen wollten. Ich weiß, daß Frau Professor es gern sähe; aber sie wollte Sie wohl nicht darum bitten, weil sie immerhin nicht in der Lage ist, ein Honorar zu zahlen, das Sie entschädigte. Wenn man solche schriftstellerischen Honorare bezieht wie Sie –“
Auf diesem Umwege erfuhr nun Hans Ritter auch von dem Sagenkreis, der sich allmählich – er begriff nicht, wie – um seine novellistischen Einnahmen gesponnen hatte. Es gelang ihm nur unvollkommen, die Legende zu zerstören, und man sah es immer noch als einen Beweis freundlichen Entgegenkommens an, daß er die Lehrstunden übernahm. Früher hätte sie „der junge Mann von der neueren Geschichte“ gehabt, den der Professor Isaak Bernstein so sehr liebte; der hatte es aber jetzt nicht mehr nötig, da er zur ordentlichen Professur und zugleich zur Heirat mit einer reichen Erbin gelangt war.
Für Hans Ritter wurden diese Vorträge eine Quelle reiner Freude. Sie befriedigten seine nur mit vielem Kummer unterdrückte Neigung zu selbständigem Lehren, und hatte er sich früher schon über jeden Beweis eifrigen Strebens bei vereinzelten Zuhörern gefreut, so überraschte ihn jetzt die einmütige, treuherzige und dankbare Aufmerksamkeit seiner Zuhörerinnen. In diesem Punkte ist das junge weibliche Volk den jungen Herren überhaupt ja weit vorauf; es kam aber noch hinzu, daß sie sich bewußt waren, über Dichter von einem unterrichtet zu werden, der selber das Dichten verstand. Und einem wirklichen, lebendigen Dichter kommen junge Mädchen in diesem Alter, zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren, ausnahmslos mit Empfindungen entgegen, die man bei anderen Leuten, zum Beispiel bei Verlegern, nur ganz selten findet.
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Gedanken und Erfahrungen über Frauenbildung und Frauenberuf ist der Titel einer Abhandlung, welche die Aerztin Dr. med. Anna Kuhnow in Leipzig in Haackes Verlag erscheinen ließ. Diese Schrift hebt sich durch eigenartige Gedanken und vortreffliche Darstellung aus der großen und nicht immer erquicklichen Flut von Broschüren zur Frauenfrage heraus. Es giebt darin die erfolgreiche Aerztin, die Kämpferin gegen naturwidrige Kleidung, mahnende Ratschläge, welche von den Müttern heranwachsender Mädchen ernstlich beherzigt werden sollten. Als Abwehr gegen Hysterie und moralische Trägheit, gegen das Gefühl unnützer Existenz, welche der Mangel an Pflichten notwendig hervorruft, verlangt sie vor allem die ernsthafte Ausbildung jedes erwachsenen Mädchens zu irgend einer beruflichen Thätigkeit, sei diese wirtschaftlicher oder anderer Natur.
Wenn sie auch dabei, wie manche andere bedeutende Vorkämpferin der Frauenbewegung ebenfalls, die Arbeitsleistung der modernen Stadtfrau zu gering anschlägt und die vielen Frauen des gebildetem Mittelstandes außer Augen läßt, die mit einem Dienstmädchen auskommen, also ein reichliches Teil Arbeit selbst leisten müssen, so spricht sie mit vielem Rechte dagegen, daß viele unserer Mädchen die ersten Jahre nach der Schulzeit mit dilettantenhaften Künsten und Liebhabereien vergeuden, statt Hand, Kopf und Charakter für das künftige Leben zu schulen. Nach ihrem Vorschlag soll das junge Mädchen zwischen 16 und 18 Jahren die so gesunde allseitige Hausarbeit erlernen, von da an aber seine besonderen Gaben in einem ernsthaften Lehrgang ausbilden, ein bestimmtes Ziel vor sich sehen, auf das hin sie fest und energisch arbeiten muß: „Sie soll Wäscherin oder Plätterin, Köchin, Schneiderin, Lehrerin, Aerztin oder Juristin werden, je nach Talent und Mitteln, die Eltern sollen es aber mit dieser Ausbildung so ernst nehmen wie mit der des Sohnes. Sie soll irgend etwas tüchtig verstehen, um später Ordnungsliebe und Tüchtigkeit auf das ganze System ihrer Pflichten zu übertragen.“ Daß unter diesen Pflichten die gegen das Elternhaus und die eigene Familie in erster Linie stehen müssen, daß die alternde Mutter die Hilfe wenigstens einer Tochter verlangen kann, braucht wohl keiner besonderen Erwähnung.
Sehr interessant, um aus der Fülle des Gebotenen noch etwas herauszugreifen, ist auch, was die Verfasserin bei Besprechung des medizinischen Frauenstudiums von ihren eigenen Erfahrungen erzählt, wie oftmals dem weiblichen Arzt allein von seiten weiblicher Patienten das unbedingte Vertrauen erschlossen und dadurch drohendes Unheil verhütet wurde. Auch hier mahnt und warnt sie vor den Schädlichkeiten in Kleidung, Lebensführung und üblen Gewohnheiten, indem sie betont, wie eben hier der weibliche Hausarzt anders vorbauend eingreifen kann als der männliche.
So wird wohl die Notwendigkeit des medizinischen Frauenstudiums mit guten Gründen ausführlich gezeigt. Daß aber daneben Wert und Bedeutung der praktischen Berufe so eindringlich hervorgehoben werden, welche doch den Anlagen so vieler Mädchen am besten entsprechen, das ist ein Hauptverdienst der vortrefflich, klar und überzeugend geschriebenen Broschüre. Bn.
Russischer Postkurier. (Zu dem Bilde S. 97). In das östlichste Europa versetzt uns das Bild. Der russische Postkurier hat die Tasche mit Eilbriefen in Empfang genommen und den Befehl zu ihrer Beförderung erhalten. Er schwingt sich auf sein Roß, macht das Zeichen des Kreuzes, das der Russe beim Antreten einer Reise niemals vergißt, und Marsch! Marsch! geht es durch den düstern winterlichen Wald und die öde, verschneite Steppe. Bald ist die Sonne untergegangen und die Abenddämmerung senkt sich über die Landschaft. Wie feierlich still ist die Steppe – der Reiter hört nur das Knirschen des Schnees unter den Hufen seines Pferdes. Doch horch! Aus der Ferne dringen langgezogene Laute an sein Ohr. Er kennt sie wohl; es ist das Heulen hungriger Wölfe. Der Sohn der Steppe ist mit solchen Gefahren vertraut; er macht seinen Revolver schußbereit, späht scharf in die Ferne und vorwärts! heißt es, Gott befohlen!
Die Meute hat ihn gewittert, und bald beginnt ein Ritt auf Leben und Tod. Dem Braven ist es gelungen, zwei der zudringlichsten Mordgesellen niederzustrecken; wenn er aber heil das nächste Dorf erreicht, so hat er es nur der Schnelligkeit und Ausdauer seines treuen Gefährten, des edlen Rosses, zu danken.*
Inhalt: Trotzige Herzen. Roman von W. Heimburg. (3. Fortsetzung.). S. 85. – Morgenlied im Blindenhause. Gedicht. S. 88 (Zu dem Bilde S. 89.) – Gesundheit und Kleidung. Ein Beitrag zur Hygieine der Kleiderstoffe. Von Professor H. Buchner in München (Schluß) S. 88. – Morgenlied im Blindenhause. Bild. S. 89. – Aus dem Leben Philipp Melanchthons. S. 91. Mit Abbildung S. 91 und Bildnis S. 92. – Die deutsche Hochseefischerei. Von P. Hoeck. S. 92. Mit Abbildungen S. 85 und 93. – Die Hansebrüder. Roman von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach) (5. Fortsetzung) S. 95. – Russischer Postkurier, von Wölfen überfallen. Bild. S. 97. – Blätter und Blüten: Gedanken und Erfahrungen über Frauenbildung und Frauenberuf. S. 100. – Russischer Postkurier. S. 100. (Zu dem Bilde S. 97.) – Erste Schlittenfahrt. Bild S. 100.
Inhalt: I. Glückliche Kinderzeit (1797–1806). II. Frühe Leidensjahre (1806–1810). III. Die Tage der Vorbereitung und Erhebung (1810–1813). IV. Während der Befreiungskriege (1813–1815). V. Mannesjahre des Prinzen Wilhelm (1818–1840). VI. Prinz von Preußen (1840–1858). VII. Prinzregent (1858–1860). VIII. König von Preußen (1861–1871). IX. Oberhaupt des Norddeutschen Bundes (1867–1870). X. Deutscher Bundesfeldherr (1870–1871). XI. Deutscher Kaiser (1871–1888) XII. Kaiser Wilhelms Tod (9. März 1888).
Der hundertjährige Geburtstag Kaiser Wilhelms I. ruft dem deutschen Volke das Andenken an seinen edlen Heldenkaiser ganz besonders lebhaft ins Gedächtnis, und wer hätte da nicht das Bedürfnis, sich das Lebensbild dieses ruhmgekrönten Monarchen vor Augen zu führen! Ein solches, mit warmer Begeisterung geschriebenes Lebensbild bietet uns Ernst Scherenberg in seinem Gedenkbuche, welches zur bleibenden Erinnerung an den Gründer des neuen Deutschen Reiches in jedem deutschen Hause eine Stätte finden sollte. Schlichte Wahrheitsliebe und verständnisvolle Darstellung machen das Buch zu einem wahren Volksbuche.
Die Abonnenten der „Gartenlaube“ können das Kaiser-Wilhelm-Gedenkbuch von derselben Buchhandlung beziehen, welche ihnen die „Gartenlaube“ liefert. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich unter Beifügung des Betrags in Briefmarken direkt an die Verlagsbuchhandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.