Die Gartenlaube (1893)/Heft 43
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Nr. 43. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Ein Lieutenant a. D.
Franz Wagner hatte während des Restes seiner Fahrt auf dem Leiterwagen keine weiteren Gefahren und Abenteuer zu bestehen. Nachdem er sich von dem Bauer in dessen Heimathort verabschiedet hatte, erreichte er in zweistündigem Marsch eine kleine Eisenbahnstation. Niemand fiel es ein, in dem gutgekleideten jungen Mann einen Flüchtling zu vermuthen, und unangefochten gelangte der Deserteur über die holländische Grenze nach Antwerpen.
Aber auch hier gönnte er sich noch keine Rast. Er konnte auf europäischem Boden seiner Freiheit nicht froh werden und so drängte es ihn, kaum daß er die Seestadt erreicht hatte, nach dem Hafen hinaus. Erst wenn der Ocean zwischen ihm und der Heimath lag, erst dann würde er unbesorgt aufathmen im Vollgefühl der Sicherheit!
Die theure Eisenbahnfahrt hatte seinen kleinen Geldvorrath sehr vermindert, und er besaß nicht einmal mehr so viel, um die Seereise nach New York im Zwischendeck zurücklegen zu können. Aber das dämpfte seinen Muth nicht. Er war kräftig und gesund und scheute sich vor keiner Arbeit, es mußte ihm ebenso gut wie manch anderem armen Teufel gelingen, sich die Ueberfahrt durch seiner Hände Arbeit zu verdienen. Und richtig, schon am zweiten Tag hatte er das Glück, auf einem zur Abfahrt bereit liegenden Passagierdampfer als Feuermann ein Unterkommen zu finden. Lohn bewilligte man ihm nicht, nur die freie Ueberfahrt; dazu war die Arbeit schwer, so schwer, wie Franz sie noch nie in seinem Leben kennengelernt hatte. Aber trotz alledem durchströmte ihn während der ganzen Reise ein stilles Glücksgefühl, und wollte ihn wirklich einmal ein Augenblick der Verzagtheit anwandeln, so schützte er sich dagegen durch ein Mittel, dessen Wirkung nie versagte: er dachte an die Tage seiner Haft zurück, vergegenwärtigte sich die unendliche Pein, in die ihn ein sechs Jahre langes Sträflingsleben gestürzt haben würde, und aller Kleinmuth, alle Unlust schwand wie vor einer Zaubermacht dahin. –
Es war ein wundervoller warmer Junimorgen, als das Schiff in den Hafen von New York einfuhr. Franz hatte seine Fronarbeit beendet, er stand auf Deck und betrachtete mit entzückten Blicken
[726] das herrliche Panorama des Hafens und der Stadt und die Großartigkeit des Bildes erfüllte ihn mit Staunen und Bewunderung. Da lag es endlich vor ihm, das ersehnte gelobte Land, das ihm eine zweite Heimath werden sollte! Frei, ein Mensch unter Menschen, würde er wieder sein Antlitz erheben können! Ein Gefühl zukunftsfroher Zuversicht durchströmte ihn, während er mit leuchtenden Augen unverwandt nach der Stadt hinüberblickte. Wie ein Rausch kam es über den Flüchtling.
Die gehobene Stimmung, in der sich der Landende befand, verhinderte ihn nicht, praktisch und nüchtern seine Zukunft zu erwägen. Er sagte sich, daß er auf eine lohnende und dauernde Beschäftigung in seinem Beruf erst dann rechnen könne, wenn er die Landessprache, die ihm fast völlig fremd war, verstehen und die Verhältnisse näher kennengelernt haben würde. Er verlor deshalb seine Zeit nicht mit vergeblichen Versuchen, eine Anstellung als Monteur zu erhalten, alle seine Bemühungen richtete er auf das eine Ziel, eine Thätigkeit zu finden, die Zeit und Kräfte nicht ganz in Anspruch nahm und dabei doch einigermaßen seinen Lebensunterhalt deckte. Als das Nächstliegende und Einfachste erschien es ihm, einen kleinen Handel zu beginnen, und wenn sich auch anfangs etwas wie Scham und Widerwillen gegen diesen Beruf in ihm regte, so wurde er mit dieser Empfindung doch rasch fertig. Er hatte kein Recht, wählerisch zu sein, und am Ende war doch jede Thätigkeit, die ehrlich nährte, für einen vernünftigen Menschen gleich anständig.
Er besann sich also nicht lange, kaufte sich einen kleinen Kram von billigen Toilettegegenständen, von Hemdenknöpfen, Bürsten, Kämmen und dergleichen zusammen und stellte sich damit täglich ein paar Nachmittagsstunden auf dem unteren Theil des Broadway auf, jener großen New Yorker Verkehrsader, durch die täglich Tausende und Abertausende von Geschäftsleuten aller Art ihren Weg nehmen. Um diesen Handel betreiben zu können, dazu gehörte an Sprachfertigkeit nicht viel mehr als die Kenntniß der Zahlen, die Franz sich sehr bald angeeignet hatte. Im übrigen mußten die Waren, die in einem offenen Kasten auslagen, sich selbst anpreisen.
Seine ganze freie Zeit benutzte er dazu, sich im Englischen zu üben. In dem Boardinghause, wo er für vier Dollar wöchentlich Kost und Wohnung hatte, suchte er näheren Anschluß nur an solche Hausgenossen, die englisch sprachen, und ein junger Maschinenschlosser, dessen Bekanntschaft ihm ein Zufall vermittelte, lehrte ihn die in seinem Beruf vorkommenden englischen Bezeichnungen. Nach zwei Monaten gelang es ihm endlich, in der Maschinenfabrik von R. Hoe und Kompagnie, einer der größten ihrer Art in New York, Beschäftigung zu erlangen, vorläufig freilich nur als gewöhnlicher Schlosser. Aber er hatte Aussicht, bei guten Leistungen und wenn er sich geuügend eingearbeitet haben würde, schnell vorwärts zu kommen. Er hatte bald gemerkt, daß man hier weniger auf Empfehlung und Gönnerschaft sah als auf das, was jeder nach seiner Arbeit und Zuverlässigkeit werth war.
Franz pries sich glücklich, und nichts hätte zu seiner vollen Zufriedenheit gefehlt, wenn nur die Nachrichten aus der Heimath etwas tröstlicher gelautet hätten. Seine Mutter war schwer erkrankt, und es schien, als sei die alte Frau nach all den Schicksalsschlägen, die sie betroffen hatten, gänzlich zusammengebrochen. Jedenfalls war in absehbarer Zeit nicht daran zu denken, daß sie die weite Reise über das Meer antreten konnte. Und so sah sich Franz in die harte Nothwendigkeit versetzt, die Erfüllung seines Lieblingswunsches vertagen zu müssen. Wohl hatte er keinen Mangel zu leiden, das Glück begünstigte ihn, alles, was er anfaßte, gelang. Aber doch wollte das rechte Heimathsgefühl sich nicht bei ihm einstellen. Sein Herz war drüben über dem Meer.
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Erwin von Buschenhagen packte noch an demselben Tage, an dem er sich von seinem Urlaub zurückgemeldet hatte, seinen Koffer. Der neue Urlaub, der Vorläufer seiner Verabschiedung, wurde ihm schon am nächsten Morgen bewilligt. Pferd und Sattel, die er noch von seiner Adjutantenzeit her besaß, verkaufte er an einen Kameraden. Einige andere Gegenstände von Werth beschloß er mit nach Berlin zu nehmen, um sie dort zu veräußern. Den Kameraden sagte er nur oberflächlich Lebewohl; niemand ahnte, daß der lustige Buschenhagen für immer ging.
Von Löwenthal verabschiedete sich Erwin schriftlich, und zwar erst von Berlin aus, als er im Begriff stand, nach Hamburg abzudampfen. Er erklärte seinem Gläubiger ganz kurz, daß er leider nicht in der Lage sei, seinen Verpflichtungen nachzukommen, daß er aber „später“ alle seine Schulden auf Heller und Pfennig zu bezahlen gedenke. Und mit diesem Vorsatz war es ihm durchaus Ernst, ohne daß er sich freilich im Augenblick irgendwie darüber klar war, in welcher Weise ihm die Einlösung seines Versprechens möglich sein werde.
Nur von seinem getreuen Burschen nahm Buschenhagen persönlich herzlichen Abschied. „Na, Jänicke,“ sagte er, dem biederen Pommer kräftig die Hand schüttelnd, „Du wirst nun wieder in die Front zurücktreten. Das wird Dir in der ersten Zeit zwar nicht schmecken, aber es ist nun ’mal nicht zu ändern.“
Der Bursche fing an, mit den Augen zu blinzeln und furchtbare Gesichter zu schneiden.
„Aber wir wollen uns nicht gegenseitig das Herz weich machen!“ fuhr der Lieutenant fort. „Du bist immer ein guter Kerl gewesen und ich werde Dich in gutem Andenken behalten. Und ich weiß, auch Du wirst Deinen Lieutenant nicht vergessen.“
Jänicke war nicht imstande, ein verständliches Wort zu erwidern. Er mußte sich damit begnügen, ein paar unartikulierte Laute auszustoßen und die rechte Hand bezeichnend auf die linke Brustseite zu legen. Dabei liefen ihm dicke Thränen über die vollen Backen. Auch in des Lieutenants Mienen zuckte es und seine Stimme klang bewegt, als er jetzt von neuem begann: „Und, Jänicke, damit Du auch ein sichtbares Zeichen meiner Zufriedenheit hast und ein Andenken an mich, so nimm das hier“ – er reichte ihm ein einfaches goldenes Medaillon, das er selbst getragen hatte „und hänge es an Deine Uhrkette! Wenn Du Deine Zeit ausgedient hast und Du kommst nach Hause, dann zeige Deinen Eltern dies Bild“ – er öffnete die Kapsel und deutete auf eine kleine Photographie – „und sage: das war er, mein Lieutenant, der mir manchen ‚Esel‘ und ‚Schafskopf‘ an den Kopf geworfen, der es aber trotz alledem immer gut mit mir gemeint hat.“
Jänicke wußte nicht, wie ihm geschah; er blickte bald auf seinen Lieutenant, bald auf das Medaillon, das ihm sein Herr in die Hand gedrückt hatte, und sein breites Gesicht wollte sich zu freudigem Grinsen verziehen. Plötzlich aber brach er in ein lautes herzbrechendes Schluchzen aus. Der Lieutenant klopfte ihm ein paarmal beschwichtigend auf die Schulter und schob ihn dann sanft zur Thür hinaus, worauf Jänicke in seine Kammer stolperte, um sich daselbst ungestört seinem aufrichtigen Schmerz zu überlassen.
An demselben Abend wanderte Erwin im Civilanzug nach der Dammvorstadt hinaus. Er verband mit diesem Gange keine deutliche Absicht, aber ein unbestimmtes inneres Drängen ließ ihm keine Ruhe. Und was hätte er auch mit dem Rest seiner Zeit anfangen sollen? Seine Koffer hatte er durch seinen Burschen nach dem Bahnhof geschickt, der Schnellzug, der ihn nach Berlin führen sollte, ging erst um elf Uhr. Was also beginnen bis dahin, allein zwischen den öden vier Wänden?
Als er die Gegend betrat, die er leichten Herzens noch vor wenigen Wochen Arm in Arm mit Klara durchwandert hatte, da überkam ihn eine ungewohnte wehmüthige Stimmung, und zum ersten Mal seit dem peinlichen Vorfall mit ihrem Bruder überließ er sich der Erinnerung an das geliebte Mädchen ohne jede Beimischung von Groll oder Bitterkeit. War es denn ihre Schuld, daß alles so gekommen war? Nein, sie war immer gut und herzlich gewesen! Ihr anmuthiges kluges Gesicht schwebte ihm vor. Er hatte sie doch aufrichtig gern gehabt und es that ihm leid, nun für immer scheiden zu müssen. ohne ihr das, was sie um seinetwillen erlitten hatte, auch nur mit einem Wort abbitten zu können. Aber was sollte er thun?
So lebhaft war die innere Bewegung des in seine Gedanken Vertieften, daß er jetzt stehen blieb und nachdenklich vor sich hinstarrte. Sollte er sie etwa heirathen? Unsinn! Er wußte ja nicht einmal, wie er sich in Zukunft allein durchbringen würde! Und ganz abgesehen davon – sie war im Grunde doch nur eine . . . na, eine Arbeiterin, viel mehr nicht. Und dann der Bruder, der Deserteur, der davongelaufene Sträfling, der wahrscheinlich eines Tages durch Schub zurückgebracht wurde!
Er erhob die Augen und blickte unentschlossen die Straße hinab. Da, keine hundert Schritte entfernt, stand das einstöckige Häuschen, durch dessen Thür er sie so oft hatte verschwinden sehen. Er erinnerte sich des letzten Abends, an dem er sie in der Dunkelheit bis hierher begleitet hatte, noch in voller [727] Deutlichkeit. Sie hatte ihm wie immer ohne alle Ziererei die frischen Lippen geboten und sich dann losgerissen, um mit fliegenden Schritten die paar Steinstufen zur Hausthür emporzueilen. Dort aber war sie, ganz gegen ihre Gewohnheit, stehen geblieben, hatte sich umgewandt und war dann plötzlich zu ihm zurückgekehrt, um mit leidenschaftlicher Heftigkeit, als ahnte sie, daß es das letzte Mal sei, ihren Arm um seinen Nacken zu schlingen. Buschenhagen lüftete seinen Hut, strich sich mit der Hand über die Stirn und fächelte sich mit der Kopfbedeckung Kühlung zu. Wie deutlich, zum Greifen deutlich das alles vor seinem Auge stand! Er hatte seine Wanderung wieder aufgenommen und stand nun ganz dicht vor dem Hause mit den alten verwitterten Fensterläden, die schon geschlossen waren und durch deren Ausschnitte der Schein einer Lampe auf die Straße herausdrang. Wie Klara wohl jetzt aussehen mochte? Die Ereignisse der letzten Woche waren sicherlich nicht an ihr vorübergegangen, ohne tiefe Spuren zu hinterlassen.
Vorsichtig schaute er sich nach allen Seiten um. Die kleine schmale Straße war still, wie ausgestorben. Hastig trat er an eines der Fenster heran, hinter dem sich nach Klaras früheren Schilderungen das Wohnzimmer der Familie befinden mußte. Behutsam zog er die beiden Ftüget des Fensterladens, die nicht mehr dicht schlossen, ein wenig auseinander und spähte angestrengt durch die so entstandene schmale Spalte.
Es dauerte einige Sekunden, bis es ihm gelang, die Gegenstände in dem Zimmer voneinander zu unterscheiden und einen Ueberblick zu gewinnen. Mitten in der Stube stand ein Tisch, daraus die Lampe; rechts an der Wand befand sich ein einfaches Sofa; von links her aber, wo wahrscheinlich eine Thür den Zugang zu einem Nebenraum vermittelte, kam eine Frauengestalt in dunklem Kleide. Jetzt trat sie in den Lichtkreis der Lampe.
Mit angehaltenem Athem starrte er nach ihr hin. Sein Herz pochte stürmisch. Es war Klara, aber wie hatte sie sich verändert! Statt der frischen gesunden Röthe bedeckte ein fahles Blaß die schmalen Wangen, die Augen lagen tief in ihren Höhlen und zeigten einen so müden hoffnungslosen Ausdruck, daß es dem Lauscher in die Seele schnitt. Um den Mund – er bemerkte es deutlich, da sie jetzt dicht an dem Tische stand – lag ein förmlich entstellender Zug von Bitterkeit, der dem Gesicht etwas ganz Fremdes verlieh.
Mit allen Sinnen nahm der Lauscher das Bild in sich auf, obgleich es sich ihm nur eine kurze Minute darbot, denn schon hatte Klara einen Gegenstand vom Tisch genommen und verschwand damit nach links, von wo sie gekommen war.
Buschenhagen wartete noch einige Sekunden, ob Klara nicht wieder erscheinen würde, aber jetzt näherten sich Schritte auf der Straße, und er gab seinen Lauscherposten eilig auf. Aufs Gerathewohl schlenderte er die Straße hinab, ganz in Anspruch genommen von einer seltsamen Bewegung, in der sich Mitleid und Reue, Sehnsucht und quälende Beschämung mischten. Er war noch nicht weit gekommen, als er, wie von einer unsichtbaren Gewalt gezogen, umkehrte und sich dem Hause wieder näherte. Und nun stand er abermals vor der Thür, mit seinen Gefühlen ringend, ohne zu einem Entschluß gelangen zu können. Wie gerne hätte er sie noch einmal gesprochen, um ihr zu erklären, wie alles gegangen sei, und ihr ein paar Worte des Abschieds zu sagen! Und doch fürchtete er sich zugleich, ihr gegenüberzutreten. Er fühlte, daß er ihren Blick, jenen hoffnungslosen Blick, der ihm wie eine stumme Anklage in der Seele brannte, nicht würde ertragen können. Aber eine Macht, die stärker war als alle Bedenken, als Scham und Furcht, trieb ihn vorwärts, und schon hob er den Fuß, um die kleine steinerne Treppe emporzusteigen, als die Hausthür aufgerissen wurde und auf der Schwelle eine Frauengestalt erschien, im bloßen Kopf, ein leichtes Tuch um die Schultern.
Er erkannte sie beim ersten Blick und trat erregt auf sie zu. Seinen Hut lüftend, begann er mit einer Stimme, die vor Bewegung zitterte: „Klara – wie gut, daß ich Sie hier treffe! Ich war auf dem Weg zu Ihnen – es drängte mich, ehe ich die Stadt verlasse, Sie noch einmal zu sehen, zu sprechen. Ich scheide aus dem Dienst und gehe nach Amerika, um mir dort eine neue Existenz zu gründen.“
Sie stand wie betäubt, im ersten Augenblick unfähig, zu verstehen oder etwas zu entgegnen. Als aber das Wort „Amerika“ an ihr Ohr schlug, zuckte sie zusammen, ihre blassen Wangen rötheten sich, und ihn mit einem stolzen abweisenben Blick messend, sagte sie kalt: „Gehen Sie! Ich verachte Sie!“
Wie von einem körperlichen Schlag getroffen fuhr er zurück, während sie hastig über die Straße eilte und in dem gegenüberliegenden Kaufladen verschwand. Langsam setzte auch er sich in Bewegung. „Ich verachte Sie!“ Noch nie hatte es jemand gewagt, ihm einen solchen Schimpf offen ins Gesicht zu schleudern, und jetzt hatte er es hingenommen, ohne jeden Versuch einer Abwehr! Es war weit mit ihm gekommen und wahrhaftig Zeit, daß er diesen Boden verließ! Er blickte sich scheu um. Gottlob, niemand hatte es gehört! Unwillkürlich zog er den Hut tief in die Augen, als fürchtete er, daß man die ihm widerfahrene Schmach von seinem Gesicht ablesen könnte. Dann aber setzte er seinen Weg mit beschleunigten Schritten fort. Um keinen Preis der Welt hätte er noch einmal ihrem Blick begegnen mögen, dem Blick, der ihm vernehmlicher und vernichtender noch als ihr Mund gesagt hatte: „Ich verachte Dich!“
Erwin von Buschenhagen wartete in Berlin seine Verabschiedung ab und beschäftigte sich in der Zwischenzeit damit, was er von den mitgenommenen Habseligkeiten irgend entbehren konnte, zu Gelde zu machen. Seinen Eltern und seinen Schwestern sagte er brieflich Lebewohl und erst im letzten Augenblick, als er schon seine Entlassung in der Tasche hatte. „Ich habe es nicht über mich gebracht,“ schrieb er, „Euch noch persönlich um Vergebung zu bitten. Ich muß erst sühnen, was ich verschuldet habe, muß erst aus eigener Kraft ein neuer Mensch werden, bevor ich wagen kann, Euch wieder unter die Augen zu treten.“
Der Brief war ihm außerordentlich schwer gefallen, und als er das große Werk vollbracht hatte, da war es ihm, als hätte man eine Centnerlast von ihm genommen, und mit leichterem Herzen dampfte er nach Hamburg ab.
An Geld besaß er gegen neunhundert Mark. Um mit der Sparsamkeit, die er sich für die nächste Zukunft zur Pflicht gemacht hatte, unverzüglich zu beginnen, löste er für die Ueberfahrt nach New York nur eine Karte für das Zwischendeck. Ueber die paar unangenehmen Tage, die er damit auf sich nahm, hoffte er schon hinwegzukommen. Aber es waren noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen, seit das Schiff den Hafen verlassen hatte, als er seinen Entschluß wieder änderte. Das, was er im Zwischendeck sah und erlebte, der Schmutz, der Lärm und die Ausdünstungen der Hunderte von dicht nebeneinander untergebrachten Menschen erfüllte ihn mit soviel Ekel und Widerwillen, daß er jeden Widerstand aufgab. Sein „aristokratisches Gefühl“, das sich nicht so leicht bezwingen ließ, lehnte sich gegen die Gemeinschaft mit diesen Tagelöhnern und Arbeitern auf, die sich herausnahmen, ihn wie ihresgleichen zu behandeln, die ihm ebenso vertraulich wie derb auf die Schultern klopften und ihm ohne weiteres ihre Kameradschaft und ihr brüderliches „Du“ entgegenbrachten.
Erwin suchte also den Proviantmeister des Schiffes auf, der zugleich das Rechnungswesen führte, und zahlte den Preisunterschied für die zweite Kajüte nach.
Hier waren die Verhältnisse doch erträglich, ja die Verpflegung war sogar vorzüglich und ließ die des Kasinotisches in seiner Garnison weit hinter sich. Weniger angenehm empfand er das Schlafen in den engen Kabinen, und auch die Reisegesellschaft behagte ihm nicht zum besten. Eigentlich wäre eben die erste Kajüte der passende Platz für ihn gewesen – na, zur Noth konnte man auch mit diesen Leuten der zweiten Kajüte leben, und einigermaßen mußte er doch seinen veränderten Verhältnissen Rechnung tragen und einen Uebergang zum schlichten bürgerlichen Leben zu finden suchen.
Es waren nur wenige Fahrgäste, die Erwin von Buschenhagen seines näheren Umgangs würdigte, und unter diesen befand sich vor allem ein ältlicher Herr, ein Amerikaner, mit seiner jungen hübschen Nichte. Je weiter die Reise vorrückte, desto näher schloß er sich an diese beiden an. Mister Edward Hopkins war Prokurist in einer großen New Yorker Fabrik und befand sich nach einer Vergnügungsreise in Europa auf dem Rückweg in die Heimath. Miß Carry Sumner aber hatte ihrer musikalischen Ausbildung wegen und weil es Mode war, sich einige Zeit lang studienhalber im Ausland aufzuhalten, ein volles Jahr in Berlin [728] zugebracht und kehrte nun unter dem Schutz ihres Onkels in das elterliche Haus nach New York zurück.
Sowohl Mister Hopkins wie seine Nichte radebrechten das Deutsche ziemlich geläufig, und das war ein Glück für Erwin, denn er verstand vom Englischen so gut wie nichts. Zwar hatte er sich vorgenommen, sich während der Seereise fleißig mit der englischen Sprache zu beschäftigen, und zu diesem Zweck vorsorglich Grammatik und Sprachführer mitgenommen, aber es kam auch hier anders. Der Teufel mochte in der schwülen Kabine hinter der langweiligen Grammatik sitzen, wenn Miß Sumner mit den blitzenden schwarzen Augen und dem neckischen Lachen einen auf Deck erwartete.
Der Umgang mit der hübscheu Dame hatte etwas ungemein Reizvolles für Erwin, der bis dahin noch nie einer Amerikanerin begegnet war. Die ungezwungene Art, die sie im Verkehr mit ihm zeigte und die so angenehm abstach von dem förmlichen Wesen der jungen Damen seines früheren Kreises, machte auf ihn einen tiefen Eindruck. Mit wahrem Feuereifer widmete er sich ihrem Dienst, und sie verstand es, ihn stets in Athem zu erhalten. Bald „durfte“ er ihr den Plaid aus dem Salon heraufholen, bald den Klappstuhl von einem Ende des Decks zum anderen nachtragen; dann wieder ersuchte sie ihn um seinen Arm, um mit ihm einen Rundgang zu machen. Dabei hatte ihr Wesen etwas Eigenwilliges, Launisches, wie das eines verzogenen Kindes, welches gewohnt ist, daß ihm alle Welt den Willen thut. Und wehe ihm, wenn er ihr zu widersprechen wagte oder sich nicht gleich einem ihrer Wünsche fügte! Sie schmetterte ihn dann mit ihren Blicken förmlich zu Boden und kanzelte ihn majestätisch ab.
Erwin aber fand auch diese Eigenschaft ungemein anziehend und ging ganz auf in seiner Bewunderung für das Fräulein. Wenn dennoch manchmal in Augenblicken des Alleinseins der Gedanke an die Zukunft mahnend und verstimmend durch seine Seele zog, so tröstete er sich schnell mit dem Bewußtsein, daß er ja nicht ganz ohne Mittel dastehe. Befand er sich erst einmal drüben, so war es immer noch Zeit, sich mit der Frage des Fortkommens zu beschäftigen. Vor dem Verhungern schützten ihn vorläufig die sechshundert Mark, die er noch sein eigen nannte. Und mit dem ganzen Leichtsinn seiner Natur gab er sich dann wieder dem Vergnügen hin, das der Umgang mit der Amerikanerin ihm gewährte, Die Bevorzugung, die sie ihm zu theil werden ließ, schmeichelte nicht nur seiner Eitelkeit, sondern regte ihn auch zu allerlei schönen Zukunftsträumen an. Daß Mister Sumner in New York ein wohlhabender, wenn nicht ein reicher Mann war, glaubte er nach allem, was er von seiner Tochter sah und hörte, mit Sicherheit annehmen zu dürfen, überdies war sie, wie sie ihm gelegentlich mittheilte, das einzige Kind ihrer Eltern. Wer wußte, ob es ihm nicht gelang, in Amerika müheloser sein Glück zu machen, als er je zu hoffen gewagt hatte!
Daß Miß Carry Gefallen an ihm fand, lag auf der Hand. Er bedauerte nur, daß er sich bei ihr und ihrem Onkel wie überhaupt auf dem Schiff einfach als „Erwin Hagen“ eingeführt hatte; sein wahrer Name, der mit dem Wörtchen „von“ davor so stattlich klang, hätte ihr gewiß Eindruck gemacht. Aber er tröstete sich bald in der Ueberzeugung, daß ihm die Eroberung der reichen Erbin auch so nicht allzu schwer fallen dürfte. Schade war es nur, daß die Reise so kurz dauerte und wie im Fluge dahinschwand. Doch zweifelte er nicht, daß Carry ihn in das Haus ihrer Eltern einladen und so der lebhafte Verkehr zwischen ihnen in New York sich fortsetzen würde. Denn Miß Sumner schien ohne seine kleinen Dienstleistungen sich gar nicht mehr behelfen zu können und behauptete, es fehle ihr etwas, wenn Erwin einmal durch die Partie Schach, zu der ihn Mister Hopkins alltäglich nach dem Essen mit Beschlag belegte, länger als gewöhnlich festgehalten wurde. Im übrigen störte Mister Hopkins die beiden jungen Leute sehr wenig; er kam nur selten auf das Verdeck und verbrachte den größten Theil seiner Zeit unten im Rauchzimmer.
Der letzte Tag der Seereise war gekommen. Erwin befand sich schon vom frühen Morgen an auf Deck und war in einer außergewöhnlich erregten Stimmung. Doch nicht der Gedanke an die Unsicherheit seiner Zukunft war es, der seine Wangen dunkler färbte und seine Schritte hastiger machte, sondern die Erwartung, was Miß Carry thun werde. Sie hatte noch mit keinem Worte der bevorstehenden Trennung gedacht und ebenso wenig von einer Fortsetzung ihres Verkehrs gesprochen, offenbar, weil sie sich das zum letzten Abschiedswort aufsparen wollte. Aber obgleich er sich immer wieder diese tröstliche Versicherung gab, so kam doch ein beklemmendes Gefühl der Unsicherheit und Angst über ihn, und er machte sich Vorwürfe, daß er seine Zeit nicht noch besser ausgenutzt, daß er sich nicht in einer jener unvergeßlichen Abendstunden, während sie, dicht nebeneinander an der Brüstung des Schiffes lehnend, dem Spiel der Wellen zuschauten, der Amerikanerin offen erklärt hatte. Warum war er nur so unbegreiflich zaghaft gewesen?
Erst sehr spät – Erwins Ungeduld war bereits aufs höchste gestiegen – erschien Miß Carry in Begleitung ihres Onkels auf dem Verdeck. Erwin stürzte ihr entgegen, mit der freudigsten Miene und mit Augen, die alle seine Empfindungen widerstrahlten. Sie aber war auffallend zerstreut, beantwortete seinen herzlichen Gruß nur mit einem Nicken und einem kühlen „Guten Morgen!“ und begann mit ihrem Onkel ein lebhaftes englisch geführtes Gespräch, von dem Erwin nicht ein einziges Wort verstand. Dabei deutete sie ununterbrochen auf verschiedene Punkte der Küste und schien ganz in der Bewunderung ihrer Heimath aufzugehen. Vergebens bemühte sich Erwin, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Entweder überhörte sie seine Bemerkungen oder sie fertigte ihn ungeduldig ab, so daß er schließlich ganz betreten stillschwieg. War das dieselbe Miß Carry, die noch gestern so herzlich mit ihm geplaudert hatte, als gäbe es für sie nichts Wichtigeres in der Welt denn seine Unterhaltung? War es nur das Entzücken über das Wiedersehen der Heimath, das ihr Herz für alle anderen Empfindungen abstumpfte?
Mit solchen Fragen beschäftigt, stand er voll Aufregung und Ungeduld beiseite und wartete auf den ersehnten Zeitpnnkt, wo sie sich ihrer alten Vertraulichkeit erinnern würde. Aber er wartete vergeblich. Je mehr sich das Ziel der Reise näherte, desto offenkundiger wandte sie sich von ihm ab, desto ausschließlicher plauderte sie mit ihrem Onkel. Und nun legte man an dem New York gegenüberliegenden Landungsplatze in Hoboken an, ohne daß sie auch nur ein einziges Mal das Wort an ihn gerichtet hatte. Mit einem plötzlichen Entschluß trat er dicht an sie heran, um sie zu fragen, ob er das Glück haben könne, sie auch in Zukunft zu sehen, aber in demselben Augenblick stürzte sie mit einem lauten Ausruf an die Brüstung vor, zog ihr Taschentuch und winkte damit zum Landungsplatz hinüber. „O dear papa, dear papa!“ rief sie dabei in einem fort und nickte eifrig einem ältlichen Herrn zu, dessen plumpes Gesicht mit der breiten rasierten Oberlippe und dem häßlichen Kinnbart dem neugierig hinunterschauenden Erwin nichts weniger als anziehend vorkam.
Schon wurde die Landungstreppe befestigt, schon verließ der erste Fahrgast das Schiff, als sich Miß Carry endlich ihres deutschen Reisegefährten erinnerte. Sie wandte sich flüchtig nach ihm um und reichte ihm die Hand. „Good bye, Mister Hagen! Leben Sie wohl!“ Nichts weiter, nicht ein Wort des Bedauerns über die Trennung, nicht einmal ein Lächeln, kein herzlicher Blick – nichts, gar nichts als das kalte förmliche „Good bye!“
Und eilig, ohne nur einmal den Kopf nach ihm zu wenden, huschte sie weg. Erwin stand wie betäubt und bemühte sich, seine Selbstbeherrschung nicht zu verlieren. Noch ehe er aber seine Haltung wiedergefunden hatte, erklang die Stimme des Mister Hopkins an seiner Seite. „Good bye, Mister Hagen. Lassen Sie sich’s gut gehen! Und wenn ich etwas für Sie thun kann, hier meine Adresse!“ Der Amerikaner reichte ihm eine Karte, nickte und verschwand.
In der ersten Minute hatte Erwin die Empfindung einer unendlichen Verlassenheit. Er kam sich wie ein Abgesetzter vor, und trotz der Wärme des Sommertages fuhr er fröstelnd zusammen. Unentschlossen, verwirrt und rathlos sah er in das Gewühl der Mitreisenden, die sich heiter und zukunftsfroh an ihm vorbeidrängten. Niemand kümmerte sich um ihn, niemand redete ihn an. Fremd war ihm alles, was sein Auge erblickte, unverständlich, was sein Ohr vernahm.
Und dann blickte er auf die Karte, die er noch immer in der Hand hielt, und in plötzlich aufwallender Wuth zerriß er sie in kleine Stücke, die er. mit einer grimmigen Verwünschung ins Wasser warf. Die Adresse, auf die er nur einen flüchtigen Blick geworfen hatte, lautete:
with R. Hoe & Co.
124 Grand Street
New York.
Emin Pascha.
Schon seit lange drangen aus Afrika düstere Gerüchte zu uns herüber, daß einer der bedeutendsten Männer, die sich dort das Feld ihrer Thätigkeit gewählt haben, nicht mehr unter den Lebenden weile. Immer deutlicher und bestimmter traten diese Gerüchte auf, und jetzt ist kaum noch ein Zweifel möglich, daß Emin Pascha tot ist. Der belgische Kommandant Dhanis sendet die Nachricht, daß er in den Besitz einer Kiste mit Gegenständen aus dem Nachlasse des berühmten Forschers gelangt ist, und das kann bei Reisenden als Beweis ihres Todes gelten.
Wir haben mit Emin Pascha einen weltberühmten Landsmann, eine wissenschaftliche Kraft, einen im Grunde seines Herzens guten Menschen verloren. Daß Emin in Afrika sterben mußte, ehe er uns über sein reich bewegtes Leben Bericht erstatten und selbst die Summe aus seinen Erfahrungen ziehen konnte, ist und bleibt ein unersetzlicher Verlust.
Emin Paschas wirklicher Name ist Eduard Schnitzer. In Oppeln in der preußischen Provinz Schlesien stand seine Wiege, am 28. März 1840 ist er dort von israelitischen Eltern geboren worden. Als Eduard Schnitzer in seinem sechsten Lebensjahre stand, trat seine Mutter zur protestantischen Kirche über, da sie in zweiter Ehe einen Christen heirathete; damals empfing auch der Knabe die Taufe. Im Jahre 1842 siedelte die Familie nach Neiße über und dort lebt heute noch eine leibliche Schwester Eduards, Fräulein Melanie Schnitzer, die, wie die Leser aus Nr. 40 der „Gartenlaube“ erfahren haben, nunmehr auch ihres Bruders verwaistes Töchterlein Ferida bei sich aufgenommen hat. Gegen Ende des Jahres 1889 starb Emins Mutter in Oppeln, nachdem sein zweiter Vater ihr längst im Tode vorangegangen war.
Seine Erziehung erhielt Emin, wie wir ihn immer nennen wollen, da er sich zuletzt nie mehr anders unterschrieb, in den Grundsätzen der protestantischen Religion auf dem Gymnasium zu Neiße. Schon früh machte sich bei ihm die Neigung zu wissenschaftlichen Forschungen geltend. Nach dem Besuch des Gymnasiums widmete er sich an der Universität zu Breslau dem Studium der Naturwissenschaften, im besonderen dem der Medizin, siedelte 1863 an die Berliner Hochschule über und erwarb sich dort den Doktorgrad.
Ein unwiderstehlicher Drang in die Ferne erfüllte von früh auf seine Seele. Als Mediziner ging er zunächst nach Triest, dann nach Antivari, wo er den Wali Ismael Hakki Pascha kennenlernte. Letzterer fand an dem jungen Deutschen ein so großes Gefallen, daß er ihn in sein Gefolge aufnahm. In des Paschas Begleitung kam Emin nach Konstantinopel und erhielt dort von der türkischen Regierung eine Anstellung als Militärarzt mit Hauptmannsrang. Emin hatte außerordentliche Sprachtalente. Englisch und Französisch beherrschte er schon, als er nach der Stadt am Goldenen Horn kam, und dort lernte er sehr rasch Türkisch, so daß ihn die Regierung des Sultans als Dolmetscher nach Tripolis senden konnte, wo er auch noch Italienisch lernte. Nach Konstantinopel zurückgekehrt, wurde er schon nach einigen Monaten als Begleiter eines militärischen Streifzugs nach dem Libanon entsandt, wie er auch in Hakki Paschas Gefolge den arabischen Feldzug mitmachte.
Als Emin wieder am Bosporus weilte – inzwischen hatte er auch Arabisch gelernt – ließ er sich dazu bestimmen, die Leitung eines politischen Oppositionsblattes zu übernehmen. Wie indessen nicht anders zu erwarten war, wurde das Blatt schon nach wenigen Monaten unterdrückt und Emin mußte, gleich dem dabei betheiligten Hakki Pascha, in die Verbannung nach Trapezunt. Glücklicherweise blieb ihm soviel Freiheit, daß er ausgedehnte Reisen nach Armenien unternehmen konnte.
Im Jahre 1873 wurde Hakki Pascha, dank den Bemühungen Emins, der heimlich in Konstantinopel erschienen war, wieder begnadigt und mit ihm Emin selbst. Doch ihr Zusammensein sollte nicht mehr lange währen. Hakki Pascha starb, und Emin, der in der Folge die Witwe seines Gönners, eine Griechin, heirathete, kehrte in seine deutsche Heimath zurück.
Aber nur auf kurze Zeit! Der Süden hatte es ihm angethan, er hielt es zu Hause nicht aus, ging von neuem nach Konstantinopel und ließ dort wieder seine Zeitung erscheinen. Nach Vita Hassans Schrift „Die Wahrheit über Emin Pascha“ wurde er daraufhin aus der Türkei ausgewiesen und wandte sich, mit ausgezeichneten Empfehlungen versehen, 1875 nach Alexandria. Von dort aus machte er sich nach dem Sudan auf und dank seinen Verbindungen konnte es ihm nicht schwer werden, als Militärarzt von Gordon Pascha, dem damaligen Gouverneur des Sudan, angestellt zu werden.
Es ist nothwendig[WS 1], hier auf einen Punkt zu kommen, der in vieler Augen einen Makel auf Emins Charakter zu werfen geeignet ist; auf seinen angeblichen Uebertritt zum Islam.
Schon bei Emins Aufenthalt in Konstantinopel, ausgangs der sechziger Jahre, war der Vermuthung Ausdruck gegeben worden, er sei zum Islam übergetreten. Aber schon damals, 1871, schrieb er an seine Schwester: „Keine Furcht, es ist nur der Name (Emin), und ich bin nicht Türke geworden.“
Und ich selbst bin in der Lage, mitzutheilen, daß Herr Georg Schweitzer in Berlin, ein Neffe Emins, einen Brief von diesem besitzt, worin Emin nochmals versichert, daß er nicht zum Islam übergetreten sei. Auch der Begleiter Emins auf der letzten Reise, der bekannte Forscher Doktor Stuhlmann, dessen Reisewerk demnächst erscheinen wird, versicherte mich, Emin sei nicht Mohammedaner gewesen. Oft habe er diesen abends protestantische Gebete verrichten hören, und eines Tages habe Emin zu ihm gesagt: „Ich bin zwar der Ueberzeugung, daß Darwin recht hat, aber es ist mir ein großer Trost, mich in mißlichen Lagen an ein höheres Wesen im Gebete wenden zu können, wenn ich auch nicht gerade mit allen Satzungen der christlichen Kirche übereinstimme.“ Stuhlmann hält Emin für einen tief religiösen Menschen.
Allerdings hat Emin alle Gebräuche und Vorschriften des Koran genau gekannt und auch dessen Satzungen den Mohammedanern gegenüber gehalten. Dadurch hat er den Schein erweckt, als sei er ein Bekenner des Islam. So erklärt es sich auch, daß ihn Vita Hassan ebenso wie Doktor Junker thatsächlich für einen Mohammedaner hielten.
Man könnte darum Emin einer Unaufrichtigkeit zeihen. Aber man vergesse nicht seine Lage. Der Glaubensfanatismus seiner Umgebung, die Verantwortung, die auf ihm lastete, die tausendfachen Erfahrungen, die er im Orient gesammelt hatte, ließen es ihm zweifellos erscheinen, daß er das Gute, das er wollte, nur unter der Maske eines Mohammedaners erreichen könne. Und der Erfolg hat ihm recht gegeben. Einen Schaden hat er niemand damit zugefügt.
Der leider so früh verstorbene Wilhelm Junker, welcher lange Jahre Emins Gefährte gewesen ist, und zwar in Zeiten ärgster Bedrängniß, sagt über sein Aeußeres:
„Emin ist ein schlanker, fast magerer Mann, von etwas mehr wie Mittelgröße, mit schmalem, von einem dunklen Vollbart umrahmtem Gesicht und tiefliegenden Augen, welche durch die starken Krystallgläser der Brille beobachtend hervorschauen. Seine starke Kurzsichtigkeit zwingt ihn zur Anstrengung und Konzentrierung seines Sehvermögens auf die vor ihm befindliche Person, was seinem Blick einen harten, scheinbar lauernden Ausdruck verleiht. Der auch malerisch interessante Kopf, in welchem sich unverkennbar eine bedeutende Intelligenz ausspricht, läßt in nichts den Deutschen vermuthen. Das unleugbar orientalische Gepräge [731] desselben erleichtert ihm wesentlich die Rolle eines Türken. Sein Aeußeres verräth eine peinliche Sauberkeit bei großer Sorgfalt des Anzuges.“
Von Gordon Pascha wurde Emin zunächst zweimal mit sehr wichtigen politischen Sendungen zu Mtesa von Uganda und Kabarega von Unjoro betraut. Im übrigen wirkte er bis zum Jahre 1878 als einfacher Arzt auf der Station der Hat el Estiva; in jenem Jahre aber wurde er von Gordon auf den Vorschlag von Junker zum „Mudir“, das heißt zum Gouverneur der Aequatorialprovinz unter dem Titel eines Bey erhoben.
Die von ihm unternommene und durchgeführte Aufgabe war außerordentlich schwierig. Es war das erste Mal, daß er selbstständig als Verwaltungsbeamter aufzutreten hatte, in einem Lande mit sehr gemischter Bevölkerung, unter Negern, Aegyptern, Nubiern und Türken, mit einem ganzen Heer faulenzender Beamten, die auf Kosten des Landes lebten, es aussaugten, bedrückten, Sklavenjagden betrieben. Fast ausnahmslos waren es aus Aegypten verbannte Verbrecher. Die ägyptische Regierung unterstützte Emin so gut wie gar nicht, zahlte die Gehälter ihrer Beamten erst nach Jahren, verlangte aber regelmäßige Abgaben, so daß der Provinz eine ungeheure Schuldenlast aufgebürdet worden war.
Vor alledem schreckte Emin nicht zurück. Begabt mit einer ungewöhnlichen Zähigkeit und Thatkraft, ausgerüstet mit eisernem Willen, ging er mit solchem Erfolge an die Arbeit, daß er nicht nur die Schulden der Aequatorialprovinz abtrug, sondern sogar Ueberschüsse erzielte, die sich Ende 1883 auf 240
000 Mark beliefen. Welche Summe von Arbeit, welches Aufgebot von geistiger Anstrengung, welche Begeisterung für die Sache gehörte dazu, um zu einem derartigen beispiellosen Ergebniß zu gelangen! Ruhe und Ordnung herrschte, das Ideal geordneter Zustände in Afrika war erreicht: allenthalben konnte man mit einem Spazierstocke umherwandern. Die schlechten Elemente waren unschädlich gemacht, die Sklavenrazzia unterdrückt; die Neger bauten ihre Aecker, züchteten Vieh und entrichteten willig ihre Abgaben. Kurzum, Emin war auf dem besten Wege, einen Musterstaat im Herzen Afrikas zu gründen und der Civilisation und Kultur die Wege zu öffnen.Da erhob sich im Jahre 1880 der Mahdi, ein mohammedanischer Fakir, der es verstanden hatte, die sozialen Mißstände jener Gebiete zu seinen Zwecken auszubeuten und geschickt auf das religiöse Gebiet hinüberzuspielen. Er entflammte den religiösen Fanatismus, und bald heftete sich der unerhörteste Erfolg an seine Fahne. Die ägyptische Regierung faßte die Sache im Anfang zu leicht auf und später konnte sie der Bewegung nicht mehr Herr werden, zumal um dieselbe Zeit in Kairo der Aufstand unter Arabi Pascha ausgebrochen war. Der ganze Sudan stand bald in hellen Flammen, und als am 26. Januar 1885 Gordon Pascha unter den Lanzenstichen der rasenden Mahdisten bei der Einnahme von Chartum fiel, war es mit der ägyptischen Herrlichkeit im Sudan vorbei.
Emin arbeitete inzwischen noch ungestört an seinem Werke und trug sich mit weitgehenden Plänen. Allmählich aber sickerten auch nach den Gebieten seines Wirkungskreises die Nachrichten von den Ereignissen im Norden durch. Es begannen Empörungen unter einzelnen Stämmen auszubrechen, die man anfangs niederschlug, die aber immer bedenklicheren Charakter annahmen. Das Ausbleiben jeglicher Nachrichten und Unterstützungen von Chartum her machte die ägyptischen Soldaten, Beamten und Offiziere mißmuthig. Eine große Unruhe bemächtigte sich aller in der Aequatorialprovinz und Emin mußte seine ganze Thatkraft aufbieten, um Herr der Lage zu bleiben.
Da traf am 27. Mai 1884 ein Brief des Mahdistenführers Kerem Allah ein, der Emin aufforderte, zum Mahdi überzugehen. Lupton Bey, ein Engländer, der die nordwestlichen Provinzen verwaltete, war in Gefangenschaft des Mahdi gerathen. Von da an begann das Unglück auch für Emin. Der also Bedrängte schickte Abgesandte an den Mahdi, um seine Unterwerfung zu melden. Er wollte damit Zeit gewinnen, was ihm auch gelang, und er benutzte sie, seinen Sitz aus den nördlichen Hauptstationen Ladô und Dufile nach dem südlichen Wadelai zu verlegen.
Als die Gefahr sich immer drohender anließ, wurde Berathung abgehalten, ob man nicht nach Süden abziehen solle. Doch Emins Leute widersetzten sich diesem Plane; Gerüchten zufolge sollte der Pascha die Absicht haben, seine Soldaten und schwarzen Begleiter an Kabarega und an den Nachfolger Mtesas in Uganda, Muanga, als Sklaven zu verkaufen, um den Durchzug zu ermöglichen. Zudem schreckten die Leute vor dem Unbekannten zurück und wollten nur auf dem Wege nach Norden Kairo und Aegypten gewinnen.
Doch allen Fährlichkeiten, Mißständen und Gefahren bot Emin die Stirn. Er besiegte die anrückenden Mahdisten bei Rimo und blieb im großen und ganzen unbehelligt, allerdings unter den denkbar ungünstigsten Umständen und abgeschnitten von aller Welt.
Wilhelm Junker war es gelungen, aus der afrikanischen Löwengrube herauszukommen. Er brachte die ersten zuverlässigen Nachrichten von Emin, für den man sich nach und nach in der gebildeten Welt zu interessieren begann. Der außergewöhnliche, ideal und heroisch angelegte Mann zwang geradezu zur Theilnahme, ja allmählich begann sich die Einsicht Bahn zu brechen, daß dort im fernen Süden, hart bedrängt von allen Seiten, ein Mann eingeschlossen sei, der Bewunderung verdiene.
Als daher die Lage dieses kühnen Pioniers der Kultur immer verzweifelter wurde, als er die Hilfe Europas anrief, sollten seine Bitten nicht ungehört verhallen. Man war übrigens irriger Meinung über Emins Absichten, wenn man damals annahm, daß er die Länder, in denen er zehn Jahre lang ununterbrochen gewirkt hatte, verlassen wolle. Er schrieb 1884 an den englischen Missionar Makay in Uganda, „daß er auszuhalten beabsichtige, bis er Hilfe erreiche oder untergehe“. Selbst 1886 versicherte er noch, keine Eile zu haben, aus jenen Gebieten wegzukommen. Was es hieß, unter solchen Umständen so muthig auszuharren, das zeigt ein Brief Emins an den Sekretär der englischen Antisklavereigesellschaft, Allen; hier schildert er seine Leiden und Entbehrungen, führt Klage über die ägyptische Regierung, die ihn völlig im Stiche lasse. Am meisten Antheil nahm England an Emin, denn man war sich dort der Schuld wohl bewußt, die man sich im Sudan auf die Schultern geladen hatte, und so bildete sich kurz nach der Veröffentlichung des eben erwähnten Briefes ein Ausschuß, der den Entsatz von Emin Bey herbeiführen sollte, und Stanley wurde an die Spitze einer mit sehr großen Mitteln ausgerüsteten Expedition gestellt. Auch Deutschland stand nicht zurück; es schickte Karl Peters aus, um Emin aufzusuchen, aber Peters hat den bedrängten Landsmann nicht mehr erreicht.
Schon im Januar 1887 befand sich Stanley in Kairo, um mit dem Khedive zu verhandeln, der ihm einen Ferman aushändigte, worin Emin in Anerkennung seiner Verdienste zum Pascha ernannt wurde. Zugleich wurde in diesem Schreiben dem Gouverneur von Wadelai die Mittheilung gemacht, daß die Aequatorialprovinz aufzugeben sei und daß Stanley die ägyptischen Offiziere, Beamten und Mannschaften auf irgend einem Wege nach Kairo zu bringen habe. Etwa in Wadelai Zurückbleibende hätten auf keinerlei Unterstützung mehr zu rechnen, sondern handelten auf ihre eigene Verantwortung.
Stanleys Zug ist noch zu frisch in aller Gedächtniß, als daß noch einmal darüber verhandelt zu werden brauchte[1]. Nur das sei erwähnt, daß der verwegene Engländer, um seine ehrgeizigen Pläne zu verfolgen, den denkbar verkehrtesten Weg wählte, denjenigen über den Kongo. Der Pascha war aufs äußerste enttäuscht über die Nachrichten, die ihm Stanley überbrachte. Und er hatte volles Recht dazu. Statt Hilfe brachte ihm sein „Retter“ nur neue Schwierigkeiten. Das heruntergekommene Aussehen der Stanleyschen Leute, die ganze Art, wie sich Stanley selbst einführte, war schuld an dem kurz nach seinem Erscheinen ausbrechenden Aufruhr unter den Sudanesen der Aequatorialprovinz.
Stanley hat dann bekanntlich Emin „gerettet“, das heißt mit Gewalt aus Wadelai weggeschleppt. Am 10. April 1889 brach die denkwürdige Expedition Stanleys und Emins vom Albertsee auf. Das Verhältniß zwischen den beiden Männern war derart, daß sie bis zur Küste keinerlei Verkehr miteinander pflegten.
Stanleys Zug war von Anfang bis zu Ende eine Kette unerhörter Roheiten, gegen seine eigenen weißen und schwarzen Begleiter wie gegen Emin. Greuelthaten, würdig eines afrikanischen Sklavenhändlers, ließ er sich selbst zu schulden kommen oder unter seinen Augen ausführen. Dieser Mann hat die Sympathien aller Gebildeten verloren, und seine bewundernswerthen Leistungen wiegen leicht gegen seine Sünden.
Am 4. Dezember 1889 erreichte Emin die Ostküste bei Bagamoio und kurz nach seiner Ankunft widerfuhr ihm eines Abends [732] infolge seiner Kurzsichtigkeit das Unglück, aus einem Fenster zu stürzen und sich einen Schädelbruch zuzuziehen. Er wurde geheilt, aber nur noch für Afrika lebend, konnte er es nicht über sich bringen, Europa zu besuchen. Auch mag seine Bescheidenheit ihn abgehalten haben – er wollte allen lärmenden Huldigungen aus dem Wege gehen. So sehen wir ihn denn im April 1890 schon wieder, und zwar diesmal in deutschen Diensten, an der Spitze einer Karawane nach dem Westen ziehen. In seiner Begleitung befanden sich Doktor Stuhlmann als Zoologe und Lieutenant Langheld. Emin selbst besaß jetzt neben dem Titel eines türkischen Paschas den Rang eines deutschen Majors. Aus der Zeit kurz vor diesem letzten Abmarsch nach dem Innern stammt der Brief Emins an die „Gartenlaube“, den wir hier in Faksimile wiedergeben. Leider hat er das darin gegebene Versprechen nicht mehr zu erfüllen vermocht.
In Tabora hißte er die deutsche Flagge, zog dann zum Viktoria Njansa und gründete dort die Station Bukoba, wo er den Lieutenant Langheld als Verwalter zurückließ. Im März 1891 brach er von Bukoba auf und erreichte, durch Karagwe und Mpororo marschierend, den Albert-Eduardsee.
Emin hatte seiner Zeit die Aequatorialprovinz nur schweren Herzens verlassen. Dort war der Schauplatz seiner langjährigen erfolgreichen Thätigkeit, dort mußte ohne seine Hilfe alles, was er geschaffen hatte, der Willkür fremder Eindringlinge anheimfallen. Ganz besonders aber lag ihm das Schicksal seiner Sudanesen am Herzen, die er dort hatte zurücklassen müssen, da Stanley alles aufgeboten hatte, um diese Leute von seiner Karawane fernzuhalten, weil er in ihnen ein gefährliches Gegengewicht gegen seine unumschränkte Macht sah.
Diese Zurückgebliebenen aus der bedrängten Lage zu retten, in der sie sich befinden mußten, das hatte Emin neben der Aufgabe, die ihm das Reich gestellt hatte, vornehmlich ins Auge gefaßt. Bei Kavalli stießen Anfang August thatsächlich 33 Sudanesen mit ihren zahlreichen Angehörigen zu ihm, entflohen aber wieder unter Mitnahme von Waren und Munition. Trotzdem hielt Emin an seiner Absicht fest und zog nach Süd-Momfu; aber hier verweigerten die Truppen den Weitermarsch nach Norden, da sich zu ungeheuren Entbehrungen fortwährend Angriffe durch die Eingeborenen und schlimme Krankheiten gesellten. Emin selbst jedoch, obgleich nahezu erblindet, wollte nichts von Umkehr wissen. Er schlug, nachdem Doktor Stuhlmann den Rückweg zur Küste angetreten hatte, die Richtung nach Westen ein. Er trug sich nach einigen Aeußerungen, die er Stuhlmann gegenüber fallen ließ, mit geradezu großartigen Plänen. Vor allem scheint ihn, nachdem inzwischen der deutsch-englische Vertrag es ihm unmöglich gemacht hatte, in seiner alten Provinz irgend etwas zu unternehmen, die Absicht geleitet zu haben, gegen Kamerun vorzudringen, um dort im Hinterlande Verträge abzuschließen. Er hätte Deutschland damit politisch äußerst werthvolle Dienste geleistet. Leider können wir nun nicht mehr daran zweifeln, daß ihn der Tod ereilt hat, ehe er diese Pläne zu verwirklichen vermochte.
Emin hatte sich dem Kongo zugewendet. Er traf dort den Araber Said bin Salim, der mit den Kongo-Arabern in Uneinigkeit lebte, und zog mit ihm zusammen weiter. Diesem Araber gehörten auch wohl die Elfenbeinvorräthe, die angeblich Emin mit sich führte. Unglücklicherweise langte Emin gerade zu der Zeit am Kongo an, als dort die Wogen des Araberaufstandes am höchsten gingen, veranlaßt durch die Streitigkeiten zwischen den Arabern und dem Kongostaate. Der Pascha hatte sich durch sein Auftreten gegen die ostafrikanischen arabischen Sklavenhändler des Gebietes um den Viktoriasee den Groll dieser Sippe zugezogen, die nun Rache nahm, als der Verhaßte in ihre Hände fiel. Sie ermordeten den Unglücklichen am Kongo.
Durch die Zeitungen ging das Gerücht, daß man in Emins Nachlaß, der durch englische oder belgische Offiziere zum Theil gerettet wurde, eine Urkunde gefunden habe, in der die ganze Aequatorialprovinz den Engländern überlassen werde. Stuhlmann meint, daß dieses Gerücht folgenden Grund habe: der in Uganda verstorbene englische[WS 3] Missionar Makai habe vor Stanleys Erscheinen dem Pascha einen acht Seiten langen Vertrag zum Unterschreiben übergeben, durch den die Aequatorialprovinz an England abgetreten werden sollte. Emin habe dieses Schriftstück mit sich geführt und es gelegentlich als Kuriosität vorgezeigt. Daß er es nachträglich unterschrieben haben sollte, glaubt Stuhlmann nicht.
Emin scheint – und neuere Nachrichten bestätigen das – bereits im Oktober oder November vorigen Jahres ermordet worden zu sein, denn schon im April erhielt der in Sansibar weilende Tipo Tip eine Nachricht über den Tod des kühnen Mannes.
Emin hinterläßt eine kleine neunjährige Tochter Ferida, deren Bild die „Gartenlaube“ in Nummer 40 veröffentlicht hat. Für ihre Zukunft hat ihr Vater vor seiner letzten Abreise ins Innere durch Hinterlegung einer größeren Summe auskömmlich gesorgt. –
So ist denn das Leben Emins, das für Afrika so viel bedeutet, geschlossen, und das Urtheil über ihn wird sich hoffentlich nun klären. Es ist begreiflich, daß ein Mann wie er seine Neider und Feinde hat, und diese sind denn auch bemüht, die weniger guten Seiten in seinem Leben und Charakter hervorzuheben. Doch sind es deren wahrlich wenige! Jeder Mensch hat Fehler, und diejenigen Emins bestanden darin, daß er es manchmal vorzog, auf Umwegen das Ziel zu suchen, statt auf dem geraden Wege darauf loszugehen. Seine Leichtgläubigkeit ließ ihn manchmal Handlungen begehen, die zum Unheil ausschlugen. Nie aber hat er Böses gewollt; seiner Menschenliebe hat er besonders während seines Wirkens in der Aequatorialprovinz das glänzendste Zeugniß ausgestellt – hat er es doch vermocht, in dem ganzen von ihm verwalteten Gebiete die Sklaverei so gut wie vollständig zu unterdrücken!
Man nennt Emin oft einen Abenteurer. Mit Unrecht! Der Anfang seiner Laufbahn mag wohl manches von einem solchen gehabt haben und etwas Abenteuerlust muß jedem innewohnen, der Aehnliches unternimmt wie er. Wer aber mit solch zielbewußtem Streben an seine Aufgabe herantritt wie Emin im Innern Afrikas, wer ein unter türkischer Paschawirthschaft so heruntergekommenes Land, wie jene Provinzen es waren, binnen kurzem in eine reiche Erträge abwerfende Provinz mit ausgezeichneter Verwaltung und gerechter Justiz verwandelt, den kann der Vorwurf, ein Abenteurer zu sein, nicht mehr treffen, um so weniger, wenn sich derselbe Mann auch in der Wissenschaft ein unvergängliches Denkmal gesetzt hat.
Emin vereinigte in seiner Person den Staatsmann, Organisator, Feldherrn und Gelehrten, und dies im Verein mit seiner Milde und Menschenliebe hob ihn hoch über das Durchschnittsmaß seiner Mitmenschen. Ueber seine persönliche Leutseligkeit und Liebenswürdigkeit sind alle des Lobes voll, die je mit ihm in Berührung gekommen sind. Sein Andenken wird im deutschen Volke fortleben und seine Thaten sichern ihm einen hervorragenden Platz unter den bedeutendsten Männern aller Kulturvölker.
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Deutscher Fensterschmuck.
daß der Aufenthalt in der Stube freundlich und behaglich wurde. So lange südliche Völker Träger der Kultur waren, blieb die Fensterausstattung vernachlässigt, denn der Südländer, der Römer wie der Grieche, war kein Stubenmensch; nur selten zwang ihn die rauhe Witterung, innerhalb der wohlverwahrten vier Wände Zuflucht zu suchen; sein Leben spielte sich mehr im Freien, auf öffentlichen Plätzen und in Parkanlagen, in Vorhallen und unter Säulengängen ab. Als aber die Barbaren des Nordens, der Gallier, der Germane, zu einer höheren Civilisationsstufe sich emporschwangen, wurde es für sie zur Nothwendigkeit, die Wohnräume behaglich einzurichten, Wind und Wetter von ihnen fern zu halten und doch zugleich dem hellen Tageslicht Eintritt zu gewähren.
Nothdürftig wurde dieses Ziel durch die ältesten „Fensterscheiben“ erreicht, die aus durchscheinenden Hornplatten oder geöltem Pergamentpapier zubereitet wurden; wenn wir heute in einem Zimmer mit derartigen Fenstern stetig uns aufhalten sollten, würden wir bald in düstere Melancholie versinken; denn solche Räume mit ihrem trüben Zwielicht erinnern an die Abgeschlossenheit eines Klosters oder eines Gefängnisses.
Ein großer Fortschritt war es darum, als an den Fenstern des deutschen Wohnhauses die Verglasung eingeführt wurde. Aber dieser Fortschritt konnte sich nur langsam vollziehen; die trübe Dämmerung, die im altdeutschen Wohngemache herrschte, wich nicht mit einem Schlage dem hellen lichten Tage, denn die Glasbläser im Anfang des Mittelalters verstanden nicht gleich die Kunst, unsere großen modernen Glasscheiben anzufertigen. Was aus ihren Werkstätten hervorging, das waren kleine Glasstücke, die außerdem nicht klar, durchsichtig, sondern verschiedenfarbig waren; erst viel später lernte man wasserklares Glas für billiges Geld herstellen. Diese kleinen bunten Glasstücke waren das Material, aus welchem man die ersten Glasfenster in altdeutschen Häusern zusammensetzte; die einzelnen Stücke wurden in Blei gefaßt, die Farben nach verschiedenen Mustern geordnet, und so entstanden die Butzenscheiben, die noch heute ihre Verehrer haben.
Wie anders bot sich nunmehr das Fenster den Blicken des Beschauers dar! Anstatt der geölten Papierfläche ein buntes Farbenspiel, welches das Auge erfreute. Der Dämmerung, welche bis dahin im Wohngemach geherrscht hatte, war die Morgenröthe mit ihrem Farbenzauber gefolgt. Der Kunstsinn bemächtigte sich der günstigen Gelegenheit und setzte aus den einzelnen farbigen Gläsern Bilder zusammen. Glasmosaik schmückte nun das Fenster. Zuerst wurden solche Kunstwerke nur an Gotteshäusern und öffentlichen Bauten angebracht, sie fanden aber später auch im Bürgerhaus Eingang. Von der Glasmosaik war es nur ein Schritt zur echten Glasmalerei, die im 10. Jahrhundert in Nordfrankreich und in Deutschland aufblühte. Wiederum schmückte man zuerst die Kirchen mit den herrlichen Kunstschöpfungen, die, wo sie dem Zahne der Zeit getrotzt haben, noch heute unsere Bewunderung erregen. und als die Zahl der Glasmaler wuchs, da leuchteten die Glasgemälde in ihrer unübertroffenen Farbengluth bald auch in den Fenstern der Burgkemenaten und in den Erkerstuben der bürgerlichen Patrizierhäuser. Es gab im Mittelalter eine Sitte, nach der beim Neubau eines Hauses Freunde und Anverwandte Fenster mit Glasgemälden stifteten. Da wurden Wappen mit prachtvollen Verzierungen angebracht, da leuchteten Wappenthiere, wilde Männer oder Waldfräulein als Schildhalter dem Beschauer entgegen, und das Ganze wurde mit einer spitzbogigen Architektur aus farbigen Pfeilern und Säulen oder mit knorrigen Stämmen umgeben; oder es wurden Jagd- und Kampfscenen zwischen die Ornamente eingestreut.
Im 15. Jahrhundert hielt dieses mit Malereien geschmückte Fenster seinen Einzug in das deutsche Bürgerhaus, und die Pracht, die man mit dem neuen glänzenden Ausstattungsstück der Wohnräume entfaltete, muß groß gewesen sein, da die bekannten „Ordnungen“ jener Zeit, die zur Beschränkung des Luxus von vorsorglichen Stadtvätern erlassen wurden, auch gegen das gemalte Fenster im Bürgerhaus sich richteten.
Inzwischen aber hatte sich bereits eine Wandlung angebahnt. Die Venetianer hatten erhebliche Fortschritte gemacht in der Kunst, Tafelglas herzustellen; große, völlig durchsichtige Scheiben waren keine besonders theure Seltenheit mehr, und nun wurde das helle wasserklare Glas an Stelle der bunten Gemälde in die Fensterrahmen gesetzt. Mehr Licht und freie Ausschau! – das war jetzt die Losung, und das Licht siegte allmählich. Die neuen Häuser wurden großfenstrig angelegt; die Holländer waren die Vorkämpfer der neuen Richtung, und die Hugenotten, die in Deutschland Schutz suchten, brachten dorthin die Lehre von der neuen „aufgeklärten“ Bauart, Vorüber war das Mittelalter mit seinen engen winkligen Gassen, mit seinem träumerischen Morgenschein im Innern des vielgiebeligen, erkerreichen Hauses.
Aber der Rückschlag blieb nicht aus, denn die Neuerung hatte auch ihre unliebsamen Fehler. Wie kahl und frostig erschienen auf einmal die Fensterecken im Zimmer! In dem altdeutschen Hause hatte man sich ganz daheim gefühlt wie in einer festen Burg; kein neugieriger Blick vermochte durch die Butzenscheiben oder durch das gemalte Fenster in das Wohngemach zu dringen. Jetzt aber! Preisgegeben dem Gegenüber, so zu sagen auf der offenen Straße saß man da, und das war lästig.
Also doch lieber wieder etwas zurück ins Dunkel! Das lichtreiche Fenster wurde wieder abgedämpft durch leichte durchsichtige Vorhänge, die Gardinen – einen modernen Fensterschmuck, der den Burgfräulein und Patriziertöchtern des Mittelalters völlig unbekannt gebliehen war. Die Gardine trat ihren Siegeszug in der Welt an und vollendete ihn rasch. Hoch und niedrig hieß den diskreten Fensterschleier gern willkommen, und heute ist das mit weißen, cremefarbigen oder gar zart gemusterten Vorhängen geschmückte Fenster für uns das Sinnbild eines traulichen Heims, wenn auch das Gefühl des Geborgenseins allerdings durch die Gardine lange nicht in demselben Maße erreicht wird wie durch ein gemaltes Fenster.
Aus dieser kurz gefaßten Geschichte des Fensterschmuckes im bürgerlichen Hause ersehen wir wohl, daß es keineswegs ausschließlich eine Modelaune war, welche in jüngster Zeit die altdeutsche Wohnungsausstattung wieder in Aufnahme kommen ließ.
Man hätte gern, auch was die Fenster anbelangt, die völlig durchsichtigen Scheiben wieder durch bemalte ersetzt. Aber dieser Wunsch war für viele, ja die meisten unerfüllbar: die einst so kopfreiche Zunft der Glasmaler war inzwischen ausgestorben und die wenigen Künstler, welche gemalte Glasfenster liefern, hätten den allgemeinen Bedarf nicht befriedigen können. Außerdem sind die Erzeugnisse der Glasmalerei nur für einen hohen Preis zu haben. Wohl schmückt man heutzutage wieder Kirchen und öffentliche Bauten mit farbenprächtigen Fenstern, das eigene Heim indessen mit echten Glasgemälden auszustatten, dazu sind nur sehr reiche Leute in der Lage.
Aber unsere Zeit ist erfinderisch. Auf anderen Gebieten hatte sie längst gelernt, Werke der Kunst durch Vervielfältigung den weitesten Volkskreisen zugänglich zu machen. Neben dem Kupfer- und Stahlstich haben auch die Buntdrucke ihr Heimathrecht an der Wand der Wohnzimmer erworben, unaufhaltsam schreitet die Technik vorwärts und versteht es, immer geschickter die Originalwerke großer Meister nachzuahmen. Diese Fortschritte haben ihre Wirkung auch auf das Gebiet der Glasmalerei ausgedehnt, soweit dieselbe für die Ausstattung des modernen Wohnhauses in Betracht kommt. Schon vor Jahren tauchten in Frankreich und England Nachahmungen der Glasmalerei auf, durchsichtige Bilder, die, auf Fensterscheiben geklebt, ein Glasgemälde ersetzen sollten. Sie waren aber vielfach mangelhaft und konnten einen allgemeinen Anklang nicht wohl finden. Seit einigen Jahren werden nun auch in Deutschland solche durchsichtige Bilder oder „Diaphanien“ hergestellt. Man begegnet ihnen immer häufiger in den verschiedensten Räumen unserer Wohnhäuser; sie leuchten in den Fenstern als Rittergestalten oder Bildnisse berühmter Männer, als Blumenstücke oder niedliche Amoretten, als Landschaften oder Wiedergaben von Gemälden alter und neuer Meister. Wer diese Diaphanien im Laufe der letzten Jahre aufmerksam beobachtet hat, [734] muß zugeben, daß dieser neue Zweig am Baume des Kunstgewerbes unverkennbare Fortschritte gemacht hat. Seinen Schöpfern ist es in der That gelungen, etwas Gediegenes zu bieten, das wohl imstande ist, weiten Kreisen einen Ersatz für die echte Glasmalerei zu geben. In Anbetracht der Verbreitung, welche die „Diaphanien“ (eigentlich „Durchscheinbilder“) bereits erreicht haben, und der Zukunft, die ihnen bevorsteht, dürfte es für unsere Leser gewiß nicht ohne Interesse sein, über die Herstellungsweise dieser Bilder Einiges zu erfahren.
Es handelt sich dabei im wesentlichen darum, farbige Kunstdrucke so durchscheinend zu machen, daß das Ganze, gegen das Licht gehalten, den Eindruck macht, als ob es eine Glasmalerei wäre. Damit diese Kunst gelinge, müssen aber viele Vorbedingungen erfüllt werden. Zunächst kommt es auf die Wahl des Druckstoffes an, der besonders geartet sein muß, dann auf die Wahl der Farben, die nicht verblassen dürfen und deren Wirkung auf das durchfallende Licht zu berechnen ist; dann auf die Wahl der Chemikalien, welche die Kunstdrucke so durchscheinend zu machen haben, als wären sie wirklich wasserklares Glas. Jede von diesen Einzelheiten ist von der größten Bedeutung, erst wenn alle richtig getroffen sind, kommt eine Leistung zustande, die unser Gefallen erregt und neben der Glasmalerei bestehen kann. Selbstverständlich bilden diese Einzelheiten: die Zusammensetzung des Druckstoffes, der Farben etc., das wohlgehütete Geheimniß der Kunstanstalten , welche sich mit der fabrikmäßigen Herstellung solcher Diaphanien befassen.
Das Verdienst, auf diesem Gebiete die Errungenschaften der Technik mit den Anforderungen der Kunst in glücklichem Maße vereinigt zu haben, gebührt der Anstalt von Grimme und Hempel in Leipzig, deren Werkstätten wir einen kurzen Besuch abstatten wollen.
Der erste Theil ihrer Thätigkeit betrifft die künstlerische Seite, die Beschaffung von Vorlagen für die Diaphanien. Als solche können bereits vorhandene berühmte Oelgemälde oder Aquarelle benutzt werden, oder es werden Künstler besonders beauftragt, bestimmte Bilder wie Blumenstücke oder Landschaften für die Zwecke der Anstalt zu malen. So haben von Mitarbeitern der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau eine Reihe amerikanischer Landschaften, darunter Ansichten der Niagarafälle, und H. Heubner außer vielen meist alpinen Ansichten auch solche von Schwarzburg-Rudolstadt für die Anstalt geliefert. Das neueste sind Porträts von Mr. und Mrs. Cleveland, welche in Amerika durch die New Yorker Zweigniederlassung vertrieben werden.
Die nächste Aufgabe besteht nun in der Vervielfältigung der Vorlagen; es werden mit Hilfe des lithographischen Verfahrens farbige Bilder gedruckt, die den farbigen Kunstbeilagen zur „Gartenlaube“ durchaus ähnlich sehen, nur daß eben wie gesagt Druckstoff und Farben anders beschaffen sein müssen. Die Räume, in welchen diese Vervielfältigung besorgt wird, bieten im großen und ganzen denselben Eindruck wie die einer chromolithographischen Anstalt.
Nachdem die gedruckten Bilder getrocknet sind, gelangen sie in eine neue Abtheilung, in welcher sie durchscheinend gemacht werden. Hier duftet es nach ätherischen Flüssigkeiten, hier wandern die Bogen in verschiedene Behälter, bis sie nach einer bestimmten Zeit durchscheinend wie Glas geworden sind. Nun ist das Bild, wenn wir es vor einem dunklen Hintergrunde ansehen, unscheinbar geworden, es leuchtet aber im schönsten Glanze, wenn wir es gegen das Licht betrachten.
Der Gang der Arbeit erscheint somit ungemein einfach, in Wirklichkeit aber ist er sehr verwickelt; denn die Farben wirken auf einem undurchsichtigen Stoffe ganz anders als im durchfallenden Lichte, und es kostet viele Probebilder, bis es endlich gelungen ist, die Farben so aufzutragen, daß sie in der Diaphanie zu einer richtigen künstlerischen Wirkung gelangen.
Jetzt wird das durchscheinend gemachte Bild getrocknet und sieht nun wie ein farbig gedrucktes, mit Lack bestrichenes Gelatineblatt aus. Die Diaphanie ist fertig. Sie wandert alsdann in die Glaserwerkstätte der Anstalt, wo sie zwischen zwei Scheiben eingefügt wird. Bevor dies aber geschieht, wird noch jedes Blatt genau nachgesehen und, wo irgend ein kleiner Fehler, ein weißes Tüpfelchen oder dergleichen sich vorfinden sollte, die Retouche von geübter Hand vorgenommen in ähnlicher Weise, wie dies bei den Negativplatten der Photographen geschieht. Das in der Doppelscheibe verwahrte Bild kann nun einfach in einen Nickelrahmen gefaßt und so verwerthet oder aber auch mit Randleisten, Einfassungen, Ornamenten aller Art von Kathedralglas, Butzen, Knöpfen etc. umgeben werden. Am überraschendsten wirkt die Diaphanie, wenn ihr Hauptbild – sagen wir beispielsweise Rafaels Sixtinische Madonna – zum Mittelpunkt einer den ganzen Fensterrahmen ausfüllenden Scheibe gemacht wird.
Schon heute ist die vorliegende Auswahl von Bildern sehr groß: Bildnisse der deutschen Kaiser und berühmter Männer, Charakterköpfe großer Künstler, religiöse Bilder, moderne Genre- und Thierbilder, Naturansichten werden in gleich vorzüglicher bewährter Technik ausgeführt.
Wir zweifeln deshalb nicht, daß es gelingen werde, den neuen schönen Fensterschmuck volksthümlich zu machen und dadurch dem modernen Wohnhaus einen Abglanz der farbig schimmernden Romantik längst verklungener Zeiten zu verleihen.
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck verboten.
Sein Minister.
(1. Fortsetzung.)
Emil biß sich auf die Lippen und suchte seine Verlegenheit, seinen Aerger zu verbergen über das rasche Verschwinden der Generalin, das ihn in der dämmerigen Schwüle Auge in Auge mit dem Mädchen festbannte, von dem er sich doch losreißen wollte. Er wäre lieber meilenweit gelaufen, statt dies Alleinsein zu ertragen, das ihn zu reden zwang, das seinen Plan eines stummen Rückzugs vereitelte. Wollte denn niemand, niemand kommen? Er hätte den nächsten besten Menschen, die älteste, häßlichste Dame wie einen Götterboten begrüßt. Aber es blieb still in dem Garten. Kein Lüftchen regte sich mehr; nur heißer Blumenduft stahl sich durch die Vorhänge in das Zelt. Dora war bleich geworden, ihre Augen brannten. Ihr erschienen diese ungestörten Minuten als ein Wunder, das eine gütige Macht sandte, um ihr die ersehnte Klarheit, die volle Gewißheit ihres Glücks zu verschaffen. Aber wie sie jetzt, von seinem Schweigen bedrückt, in sein Gesicht blickte, erschrak sie. Das waren nicht mehr die strahlenden Augen, die sonst so flehend die ihrigen gesucht hatten – er schien bekümmert, verstimmt und sah starr in die Weite.
„Das Schicksal scheint zu wollen. daß ich ein zweites Mal in Ihrer Nähe die Besinnung verliere, Fräulein Dora,“ begann er dann. „Ich habe um Ruhe gerungen, um Selbstbeherrschung. Ich fühle, wie nutzlos alles war, wie der Kampf aufs neue beginnt, sobald ich in Ihr liebes Gesicht schaue.“
Dieser Ton der Klage, statt des Jubels, den sie erwartete, diese düstere Miene in einem Augenblick, da sie auf einen Freudensturm hoffte, machte sie völlig verwirrt. Fast besinnungslos stieß sie hervor: „Sie bereuen, was Sie an jenem Abend zu mir gesprochen haben? Sie lieben mich nicht?“
Er hatte den Kopf gesenkt und horchte, ob denn kein Schritt sich nähern wolle. Nein – keine Rettung! Er mußte reden! „Dora“ sagte er in seinem sanftesten Tone, „wie können Sie zweifeln an meinem Gefühl? O glauben Sie mir, es wäre für mich das höchste Erdenglück, Ihre Hand fassen zu dürfen mit der Bitte: sei mein auf immer! Ja, das höchste Erdenglück wäre es, wenn ich aller Welt zujubeln dürfte: seht, das schönste herrlichste Mädchen habe ich mir erobert! Aber es ist nicht jedem vergönnt, den Himmel auf Erden zu haben, Ich darf Ihr Los nicht an mein bescheidenes Leben knüpfen – um Ihretwillen darf ich es nicht, Dora! Es wäre ein Unrecht an Ihrer Jugend, an Ihrer Zukunft. Sie sind wie geschaffen für eine glänzende Lebensstellung, die Natur selbst hat Sie dazu bestimmt, emporzuragen über die niedere Alltagswelt. Ein reicherer, freierer Mann wird das Ziel meiner Sehnsucht erreichen, während ich wohl graue Haare haben werde, bis meine Stellung mir erlauben wird, ein eigenes Heim zu gründen. Aber glauben Sie mir – verehren, lieben kann jener Glücklichere Sie nicht heißer als ich. Und darum, um dieser schmerzlichen Liebe willen, verzeihen Sie mir, daß ich mich in einer trunkenen Sekunde hinreißen ließ, Ihnen meine Gefühle zu verrathen. Gönnen Sie mir den einen Augenblick des Glücks, den ich in einer unvergeßlichen Stunde –“ seine Redegewandtheit hatte ihn verlassen unter dem starren Blick ihrer Augen. Je wärmere Worte er suchte, desto weniger traf er einen überzeugenden Ton. Wie hohle Phrasen glitten ihm die Betheuerungen von den Lippen, bis er, von ihrem regungslosen Gesicht verwirrt, den Muth verlor, weiter zu sprechen.
Dora entgegnete kein Wort. Das poesieumflossene Wunderland, das sie seit jenem Maientage vor sich gesehen hatte, die selige Insel, der sie bisher zustrebte, wie von goldener Wolke getragen – sie waren plötzlich versunken gleich einer täuschenden Fata Morgana. Eine starre Wüste lag um sie her – die endlose Leere. Wie betäubt von dem Unbegreiflichen, vermochte sie kein Wort zu finden.
Das Schweigen zwisschen ihnen ward immer drückender. Emils Beschämung wuchs vor dem großen stummen Schmerz, der aus Doras verstörten Zügen sprach; eine Ahnung ergriff ihn von einer Tiefe in dieser Mädchenseele, vor der sein Gefühl in Nichts zusammensank, und er grollte sich selbst, daß er sich in eine so peinliche Lage verstrickt hatte, in der all seine gerühmte Gewandtheit nicht standhalten wollte. Da wurden zu seiner Befreiung Stimmen laut, Schritte kamen über den Kiesweg. Dieses entsetzliche Alleinsein nahte seinem Ende!
Dora schrak zusammen; sie griff nach Hut und Schirm und schob den Stuhl zurück.
[735] „Dora! Was thun Sie? Was wollen Sie?“ fragte er bestürzt.
„Fort! Ich will gehen! Ich mag jetzt mit niemand sprechen! Halten Sie mich nicht zurück!“ Sie sprach die letzten Worte fast stehend, in einem Tone rührender Verzweiflung, denn er hatte sich an den Ausgang des Zeltes gestellt und versperrte ihr den Weg.
Sie hatte keine Kraft zur Verstellung; sie war zu tief getroffen, um ihr Elend zu verbergen, und wußte nur eines: jetzt fremde Gesichter sehen, reden müssen – diese Marter war nicht zu ertragen.
Er sprach hastig auf sie ein: „Dora, um Gotteswillen – besinnen Sie sich! Mir ist ja nicht anders zu Muthe wie Ihnen; ich leide, tiefer als Sie ahnen! Aber ich denke an Sie, und weil ich an Sie denke, werde ich mich beherrschen. Auch Sie müssen die Kraft dazu finden, es gilt Ihren Ruf! Wir sind hier allein. Wenn Sie forteilen in dieser Erregung – was werden die Damen, die dort kommen, von Ihnen denken! Haben Sie Erbarmen mit sich selbst!“
Sie hörte nicht auf ihn, sondern schlug den Vorhang zurück und eilte aus dem Zelt. Nur fort, aller Vernunft zum Trotz, fort in die Einsamkeit, um dort dies Weh zu vergraben! Aber die Macht der Gewohnheit, der Zwang der Sitte war doch stärker. Als sie den Damen – einer Frau Oberst mit ihren beiden Töchtern – gegenüberstand, da vermochte sie doch nichts Auffallendes zu thun. Der Sturm in ihr war plötzlich wie erstickt. Sie begrüßte die Gäste, erklärte die Abwesenheit der Hausfrau und führte die Damen in das Zelt. Ihre Stimme war ganz ruhig; mechanisch that sie, was der Augenblick erheischte. Die Form, die der letzte, einzige Grundsatz des Assessors war, hatte ihr Recht. Er plauderte eifrig, während Dora das Eis herumreichte und die Mädchen sich die heißen Wangen fächelten, ja er schien dabei von einer Unbefangenheit, um die ihn ein Schauspieler hätte beneiden können.
„Welches Glück, daß Sie endlich kommen, meine Damen! Frau Generalin Halden hat Fränlein Herwald und mich hier zurückgelassen als Hüter – nicht für das himmlische Feuer, sondern für dieses himmlische Eis, und wir mußten trostlos mit ansehen, wie das uns anvertraute Gut vor unseren Augen zerrann.“
Wie der leichte Ton Dora wehthat, wie er ihr ins Herz schnitt! Sie war noch in dem Alter, in dem man einen wehmüthigen Genuß darin finden kann, einen großen Schmerz zu ertragen; sie würde nach der ersten Enttäuschung den Opfermuth der Entsagung sich errungen haben, wenn Emil gleich ihr ergriffen gewesen wäre von der Tragik dieser Stunde. Aber daß er den Traum ihres Glückes auf diese Weise begraben konnte, das erfüllte sie mit Entsetzen. Sie durchschaute ihn ja nicht ganz. Keine Sekunde kam es ihr in den Sinn, daß die veränderte Stellung ihres Vaters sein Verhalten beeinflußt habe. Aber sie hörte sein Lachen und Scherzen. Das also war die Liebe! Ihr schauderte. Man konnte sich hingeben so heiß, als wäre die ganze Seele dabei, und dann ruhig von Trennung reden und sich gleichgültig ins Gesicht schauen, als sei nichts geschehen! Das konnte er! Wer aber nahm ihr jene Erinnerung fort an den Kuß, der auf ihren Lippen gebrannt und eine ruhelose Sehnsucht in ihr aufgewühlt hatte? O, das war unvergeßlich, unauslöschbar!
Nach einer Weile kam die Generalin angefahren und drückte ihr Bedauern aus, daß sie nur zurückgeeilt sei, um ihre lieben Besucher zum Aufbruch zu mahnen; aber ein schweres Gewitter drohe im Westen, es sei höchste Zeit, sich zu flüchten.
Eine bleierne Luft lag athemraubend über den Straßen, durch die der Staub wirbelte, während die Schwalben unruhig über den Boden hinschossen. Als man über den Marktplatz schritt, fuhr eine grelle Feuergarbe durch die düsteren Wolkenmassen; ein gewaltiger Donnerschlag folgte. Und Dora sah mit todestraurigen Augen in die jagenden Wolken und flehte: „Triff mich, Blitz! Nimm mich fort von der häßlichen Welt!“ Aber der Tod kommt nicht in der Stunde, in der eine verzweifelte Seele nach ihm ruft.
Hastig nahm man Abschied. Im Flammenschein der Blitze sah Dora zum letzten Mal in Emils Gesicht. Sie begriff nicht, daß er ihr die Hand reichen, den höflichen Wunsch aussprechen konnte, daß sie sich nicht erkälten möge. Ihr klang es wie Hohn, und in dem zuckenden Licht erschienen ihr seine Züge plötzlich hart und gefühllos. Sie sah den wirklicheu Menschen hervorschauen aus der Idealgestalt, die ihre Phantasie sich von ihm geschaffen hatte. Aber nur einen Augenblick. Der grelle Schein verschwand, und der sich erhebende Wind verschlang fast sein letztes leises „Leben Sie wohl!“
Dann sahen sie sich lange nicht wieder.
Einige Tage nach jener Abschiedsstunde reiste Dora mit ihren Eltern zum Sommeraufenthalt in ein kleines einsames Gebirgsdorf. Aber trotz Sonnenschein und Bergluft lag um sie her die graue Wüste. Dora gehörte nicht zu den Naturen, die vergessen können. Sie wußte, daß Emils Bild einen unverrückbaren Platz in ihrem Herzen behalten werde, aber ohne Glanz, von Schatten bedeckt – zu ihrer Qual. Sie glaubte nicht mehr an die Zukunft, sie konnte nicht mehr hoffen; das Leben widerte sie an. Die Schwestern ärgerten sich über ihr Schweigen, die Eltern rügten ihre verschlossene düstere Miene.
Eines Abends saß die Familie im Freien unter dem leuchtenden Sternenhimmel, den ein leiser geheimnißvoller Duft umspann, hier und da durchleuchtet von einem fallenden Funken, als wanderten die fernen blitzenden Räthsel zur Erde nieder. Es flüsterte und raunte so geheimnißvoll, als müßte alle Sehnsucht, die Menschenherzen je bewegte, wieder erwachen.
Im Nachbarhause saßen ein paar Bauernburschen beim Klang einer Zither zusammen, und eine kecke jugendliche Stimme sang zu dem wehmüthigen Ton der Saiten:
„Aus dem Wald kim i füri,
Wo d’ Sonn’ so hell scheint,
Und mei Schatz is mir lieba
Als all’ meine Freund’,
Als all meine Freund’
Und als all ihr Geld,
Mei Schatz is mir lieba
Als all’s auf der Welt.
Und eh’ i mei Diandl laß,
Eh’ laß i all’s,
Mei Strümpf und mei Schuh’
Und mei Tüchl am Hals.“
Die schlichten Worte trafen Dora so tief, daß sie zum ersten Male Thränen fand für ihren Schmerz und plötzlich laut zu schluchzen begann. Ihr Vater, der seit seiner Entlassung aus dem Dienste des Königs in gereizter Stimmung war und sich erst wieder an das stille Familienleben, dem er lange entfremdet gewesen, gewöhnen mußte, fuhr heftig auf.
„Deine Launen sind unausstehlich! Eine rechte Freude, die ich an meinen Kindern erlebe! Nicht genug, daß der Sohn einen schlechte Streich nach dem andern macht, gewöhnt sich auch das Fräulein Tochter noch an, mit einer Miene umherzuwandeln, als wäre sie mit der ganzen Welt im Krieg. Ich möchte doch wissen, warum! Worüber hast Du Dich zu beklagen? Millionen Menschen würden Gott danken für ein Leben wie das Deinige. Da müht man sich und sorgt Tag und Nacht für seine Kinder und opfert sich für sie – und das ist der Lohn!“
Ein tiefes Schweigen herrschte am Familientische nach diesen Worten. Die Mutter warf der Tochter einen vorwurfsvollen Blick zu, die Schwestern sahen sie groß an, der Bruder kicherte voll Schadenfreude, daß sich das Gewitter einmal über ein anderes Haupt als das seinige entladen hatte.
Ueber Dora kam der Trotz. Sie stand auf und ging, ohne ein Wort zu erwidern, in ihr Stübchen, das sie hier auf dem Lande allein bewohnte. So lange hatte sie schweigend gelitten; jetzt erst, wo ihr der Schmerz, der einmal sein Recht wollte, angerechnet wurde wie ein Verbrechen, jetzt erst fühlte sie, wie vereinsamt sie war. Wie wenig die Ihrigen mit ihr empfanden! Mußte es einem Menschen denn genügen, sich täglich satt zu essen? War ihr Vater nicht auch einmal jung gewesen? Hatte er nicht erfahren, daß es bittere Kränkungen und Enttäuschungen giebt, auch ohne Lebenssorgen? Lange schaute sie in die weiten Welten, die am Nachthimmel erglänzten. War denn der Mensch festgebunden an eine winzige Scholle? War nicht auch die Erde groß genug, um auf ihr die Füße zu regen?
Am nächsten Morgen trat sie mit blassem Gesicht an den Frühstückstisch und sagte, den Vater fest anblickend, die Worte, die sie sich in der Nacht zurechtgelegt hatte: „Ich will Dir Deine Mühe um uns erleichtern, Papa. Du hast selbst gewollt, daß ich das Lehrerinnenexamen machte. Wenn Du es mir erlaubst, [736] werde ich eine Stelle als Gesellschafterin oder Erzieherin annehmen. Ich habe das Verlangen nach einer bestimmten Thätigkeit.“
„Was fällt Dir ein?“ rief die Mutter bestürzt. „Was sind das für überspannte Ideen!“
Der Vater aber, von ihrem blassen traurigen Gesicht wie von einem Vorwurf berührt, bemerkte ärgerlich: „Sie soll ihren Willen haben! Ja, thu das, Dora! Sieh Dir einmal die Welt an! Probier’, was es heißt, an fremdem Tisch und unter fremdem Willen zu leben. Das ist die vernünftigste Kur für Deine Launen. Du wirst gerne wieder heimkommen und dann froh sein am Elternhaus.“
Dora ließ sich von ihren Schwestern deren französische und englische Lehrbücher geben und saß nun stundenlaug im stillen Obstgarten und wiederholte die trockenen Sprachregeln. Das Lernen war ihr wie eine Befreiung. Sie wollte jeden anderen Gedanken in sich ersticken, ihren schmerzenden Kopf so mit Wissen vollpfropfen, daß kein Raum mehr blieb für thörichte Sehnsucht.
Nach der Rückkehr in die Stadt begann sie sich mit Eifer um eine Stelle zu bemühen, und die erste, die sich ihr bot, nahm sie an. Eine ältere, einzelnstehende Dame in einer kleineren Stadt der Provinz suchte eine Gesellschafterin, die musikalisch war und ihr in fremden Sprachen vorlesen konnte. Diesen Anforderungen glaubte Dora zu genügen, und wenn ihr auch eine weitere Entfernung und der Aufenthalt in einer Großstadt wünschenswerther gewesen wäre, so wollte sie doch nicht lange zögern und wählen. Die Hauptsache war ja, fortzukommen, fort aus den heimathlichen Straßen, in denen sie auf Schritt und Tritt Gefahr lief, Emil wieder zu begegnen. Sie erfuhr auch wenig Liebe mehr im Elternhause. Ihr Entschluß hatte sie selbst der Mutter entfremdet.
Die Abreise, die erste einsame Eisenbahnfahrt, die Ankunft an einem neuen Ort, unter ganz neuen Verhältnissen – alles das war nun freilich ein Ereigniß, das ihr junges Gemüth aufregte und ihre Gedanken ablenkte. Aber sie erschrak vor der Dame, deren Heim sie theilen sollte. Die Appellrathswitwe von Heinel war eine groteske Erscheinung. Auf einem winzigen kugelrunden Körper mit kurzen Aermchen und Beinchen saß ein großer Kopf mit einem mächtig entwickelten Doppelkinn, dessen Fülle noch auffälliger wurde, weil Stirne und Augen von einem grünen Lichtschirm verdeckt waren. Aber die Stimme klang gutmüthig, und die alte Dame war offenbar bei der Begegnung mit der neuen Hausgenossin nicht weniger in Erregung und Spannung wie diese selbst.
Die liebevolle Güte, mit der Frau von Heinel Dora aufnahm, bewahrte diese vor der großen Reue über ihren Entschluß, von der sie sonst sicherlich erfaßt worden wäre. Wie so manches andere junge Mädchen hatte Dora geglaubt, in der Ferne sei die „Welt“, die große Welt, die ihr sofort einen bedeutenden Wirkungskreis erschließen werde. Und nun mußte sie erfahren, daß das, was sie „Welt“ genannt hatte, immer in der weiten Ferne blieb wie der Horizont, der ewig vor den Augen fortrückt; daß ihr Wirkungskreis sich gerade wie daheim aus kleinen alltäglichen Pflichten zusammensetzte.
Es war für jemand, der seinen Gedanken entfliehen wollte, unerträglich einförmig im Haushalt der Witwe. Der Tageslauf wurde nach der Uhr geordnet. Zur bestimmten Stunde mußte Dora etwas vorspielen, zur festgesetzten Minute aus einem altmodischem rührseligen Roman vorlesen. Darauf legte die Dame ihre Patience und Dora saß bei ihr und sah die kleinen dicken Hände die Karten drehen und wenden, und die Uhr tickte so langsam, als seien die Sekunden plötzlich dreimal so lange geworden. Am Abend pflegten sich hier und da Besuche einzufinden, meist Damen, die eifrig von allen Geschehnissen der kleinen Stadt berichteten. Denn die Witwe, die ihr Leben in ihren Zimmern, auf ihrem Lehnstuhl zubrachte. interessierte sich aufs lebhafteste für alle Angelegenheiten der „besseren“ Familien, und eine wirkliche Neuigkeit war ein Fest für sie.
Dora hatte viel Kraft nöthig, um die erschlaffende Langeweile zu ertragen. Frau von Heinel hatte mit wohlwollender Neugierde herausgebracht, daß ein Liebeskummer das junge Mädchen aus der Heimath fortgeführt habe, und tröstete Dora getreulich. Es würde gewiß alles noch gut werden; sie selbst habe auch manche Thräne vergossen, bis sie mit ihrem seligen Leopold vor dem Altar gestanden habe. Während dann Dora immer wieder das Unfaßliche zu begreifen suchte, daß die dicke kleine Frau auch einmal jung und geliebt gewesen sei, hatte diese schon die Karten aufgelegt, um das Schicksal ihrer Gesellschafterin heraszulesen, und prophezeite mit unermüdlicher Geduld und unerschütterlichem Vertrauen ein großes Glück, vor allem einen wichtigen Brief, „der ins Haus stehe“.
Em Brief kam nun allerdiugs an Dora, aber er wühlte nur ihre schmerzlichsten Erinnerungen auf. Die Generalin Halden schrieb ihr in flüchtigem Plauderton unter anderen Mittheilungen: ihr gemeinschaftlicher Bekannter, der Assessor Wienburg, mache der Tochter des Ministerialraths von Kammerling aufs lebhafteste den Hof. Vielleicht lag in dieser Bemerkung eine kleine Bosheit versteckt, deren ja auch befreundete Frauen gegeneinander fähig sind, wenn es sich um einen Mann handelt. Jedenfalls aber ahnte die Generalin nicht, wie der kurze Satz die Stimmung der Armen, die ohnedies ihr Dasein von Woche zu Woche schwerer fand, bis zur Verzweiflung verbitterte. Dora war entschlossen, ihre Stellung zu kündigen und noch weiter in die Fremde zu wandern, so weit, daß Emils Name nicht wieder zu ihr dringen konnte.
Da nahm ein kleiner Zwischenfall ihre Gedanken in Anspruch und nöthigte sie zum Bleiben. Einmal in der Woche pflegten sich bei Frau von Heinel auch ein paar Herren zum Whistspiel einzufinden; Dora hatte dann den Thee zu bereiten und den Herrn Bergrath, den Herrn Rektor und den Herrn Rentamtmann damit zu versorgen. Sie hatte dieses Amt schon einige Male versehen. Als sie nun wieder einmal dem Bergrath seine Tasse reichte, fuhr er wie verblüfft vor ihr zurück, schob die Brillengläser zurecht und rief mit erregter Stimme: „Meine Germania! Meine endlich gefundene Germania!“
Dabei starrte er sie mit so weit geöffneten Augen an, sein schmales Gesicht mit der scharfen Nase, der hohen Stirn und dem kahlen Scheitel bot einen so ungeheuerlichen Anblick, daß Dora zwischen Lachen und Schrecken kämpfte und nicht wußte, ob der Mann aus plötzlichem Liebeswahnsinn oder aus einem noch ungewöhnlicheren Grund den Verstand verloren habe. Erst allmählich erholte er sich genügend von seiner freudigen Ueberraschung, um ihr in einer langen Rede zu erklären, daß man demnächst den Besuch des Ministers erwarte, der auf seiner Durchreise in der Stadt absteigen und sich einen Tag aufhalten werde, zur Besichtigung des neuen Archivs. Ein Ausschuß habe sich gebildet, um die hohe Persönlichkeit gebührend zu feiern. Vor dem Bankett im Rathhause an dem sämtliche Honoratioren mit ihren Frauen theilnehmen würden, sollte ein kurzes Festgedicht gesprochen werden. Er – der Bergrath lächelte stolz bescheiden – sei beauftragt worden, für diese Gelegenheit die Verse zu liefern, da man seine kleine poetische Ader kenne, und im Hinblick auf die bekannten patriotischen Gesinnungen des Ministers habe er seine Dichtung einer „Germania“ in den Mund gelegt. Umsonst aber suche man seit Wochen nach einer passenden Vertreterin für diese Rolle. Nun habe er sie gefunden, schöner, herrlicher, als seine kühnsten Träume sie ihm ausgemalt hätten. Ein Eichenlaubkranz für das goldene Haar, ein weiches faltiges Gewand, von einem goldenen Gürtel gehalten – entzückend! Seine Verse würden hinreißen, von solchem Munde gesprochen! Ob sie ihm den Gefallen erweisen würde?
Sie erwiderte ausweichend, aber Frau von Heinel klatschte ungeduldig in die kleinen Hände und rief, Dorn müsse dem Bergrath den Gefallen unter allen Umständen erweisen, und die Sache sei einfach abgemacht. Dora sträubte sich nicht länger. Freilich mußte sie sich gestehen, daß sie ein entschiedenes „Nein!“ zur Antwort erhalten würde, wenn sie die Erlaubniß ihrer Eltern einholen wollte; allein in einem gewissen Trotze, den sie noch immer hegte, beschloß sie, selbständig zu handeln und über das Fest den Eltern gegenüber zu schweigen.
Die Verse des Bergraths hatte sie rasch ihrem Gedächtniß eingeprägt und sie verlor die Geduld nicht, wenn der von seinem Machwerk begeisterte Dichter immer aufs neue eine Wiederholung wünschte, Frau von Heinel nahm mit der größten Aufregung an der Sache Theil und wunderte sich, daß das junge Mädchen mit so gleichgültiger Ruhe das Gewand der „Germania“ anprobierte, ohne Freude über die eigene Schönheit oder ein Bangen vor dem öffentlichen Auftreten zu verrathen.
An dem Tag, an dem der Minister des Innern, Freiherr von Telf, ankam, waren alle Häuser beflaggt, die Leute liefen vom frühen Morgen an feiernd umher, eine allgemeine Feststimmung herrschte. Erst am Abende fand die eigentliche Begrüßung statt,
[737][738] in einem Saale des Rathhauses, in dem sich die Menschen Kopf an Kopf drängten.
Dora konnte sich doch einer gewissen Beklemmung nicht erwehren, als sie, von dem Bergrath begleitet, auf einer Seitentreppe das kleine Vorzimmer erreicht hatte, von dem aus sie das Podium betreten mußte, und das Schwirren und Gemurmel der großen Versammlung vernahm, vor der sie in wenigen Augenblicken erscheinen sollte. Wie im Traum sah sie in dem hohen Pfeilerspiegel ihr eigenes Bild. War sie wirklich dieses stolze königliche Weib mit dem wallenden Mantel, über den das Haar leuchtend herabfloß, diese gebietende Erscheinung mit dem ernsten Haupt, das so hoch und kühn erschien unter dem goldenen Stirnband und dem Eichenlaubkranz?
Ein Rauschen und Flüstern im Saal, ein Stühlerücken, dann eine Stille. Der Minister war eingetreten.
„Muth!“ flüsterte ihr der Bergrath zu, während sie die Stufen zu dem Podium emporstieg.
Die Musik begann, der Vorhang theilte sich. Hunderte von Augen waren auf sie gerichtet. Aber in diesem Augenblick fühlte sie keine Befangenheit mehr. Laut und kräftig klang ihre Stimme in dem tiefen Schweigen. Wie durch eine fremde Macht dünkte sich Dora emporgehoben über alle Scheu, durchströmt von feuriger Begeisterung. Deutlich sah sie nur ein einziges Gesicht, ein fremdes, ernstes – ein Paar trauriger gütiger Augen, die unverwandt zu ihr aufblickten.
Sie fühlte noch ein Brausen in den Ohren, eine Fiebergluth in den Adern, als längst der Vorhang sich geschlossen hatte und draußen die Stimme eines Redners sich erhob, auf die ein lautes Hochrufen folgte. Sie stand allein in dem kühlen Vorzimmer und wollte eben den Kranz aus dem Haar nehmen, als man an die Thür klopfte.
„Seine Excellenz wünscht der ‚Germania‘ vorgestellt zu werden.“
Sie wußte, als die Tochter eines Beamten, daß der Wunsch eines Ministers einem Befehle gleichkomme – sonst würde sie sich lieber nicht im Kostüm in den Saal gewagt haben. So aber nahm sie ohne Widerrede den Arm des sehr erregten jungen Mannes, der die Botschaft gebracht hatte und als Mitglied des Festausschusses einen Blick des Ministers auf sich zu lenken hoffte. In der nächsten Minute stand sie, sich verneigend, vor der gefeierten Persönlichkeit. An gewöhnlichen Tagen hätte sie vielleicht ein leises Herzklopfen verspürt – in dem sanften Taumel, in dem sie sich jetzt befand, fühlte sie eine vollkommene Sicherheit. Als sie in das Gesicht des Ministers blickte, erkannte sie dieselben Züge, die sich ihr während ihres Vortrags klar und scharf aus dem Menschenknäuel hervorgehoben hatten. Also jene gütigen traurigen Augen waren die seinigen gewesen!
Der Minister war ein sehr großer Mann mit leise nach vorn gebeugter Gestalt. Der spitz zugeschnittene Vollbart, der sein gedankenvolles Gesicht umrahmte, war schon mit grauen Fäden durchzogen; um den edelgeformten Mund lag ein sympathischer Zug. Dora hatte sich die Excellenz viel stolzer und herablassender gedacht. Statt dessen schien der Freiherr eher schüchtern und befangen, als er ihr nun seine Freude, seinen Dank ausdrückte für ihre schöne Verkörperung der deutschen Idealgestalt.
Sie wollte sich nach einigen wohlgesetzten höflichen Redensarten mit einer Verbeugung zurückziehen, denn einer der Herren hatte sich dem Minister genähert und forderte seine Aufmerksamkeit. Allein sie vermochte den Kreis, der sich um die Excellenz gebildet hatte, nicht zu durchdringen und konnte nur ein paar Schritte zurückweichen.
Gleich darauf wurden die großen Thüren des anstoßenden Saales geöffnet, man blickte auf die lichtübergossene, von Krystall und Silber funkelnde Tafel, die hier gedeckt war. Das größere Publikum hatt sich zurückgezogen; nur der Festausschuß, die Beamten und Offiziere, die an dem Bankett theilnahmen, standen mit ihren Damen in großer Toilette umher und harrten auf den Vortritt des Ministers. Dieser schaute sich um, trat mit einem Lächeln auf Dora zu und sagte, ihr seinen Arm bietend: „Ich brauche nicht nach der höchsten Würdenträgerin zu suchen; Germania hat den Vorrang vor allen deutschen Frauen!“
Schüchtern legte Dora die Hand auf seinen Arm und senkte die Augen, als sie nun, von ihm geführt, durch die Reihen der ehrerbietig zurückweichenden Herren und Damen schritt. Sie fühlte, daß alle Blicke auf sie geheftet waren, daß auf allen Gesichtern die Frage zu lesen stand: „Was will das Mädchen hier, die Gesellschafterin? Warum ihr diese Auszeichnung?“ Es war ihr scheu und beklommen zu Muthe, als sie in ihrem phantastischen Gewand mitten unter den Gesellschaftstoiletten der anderen Damen, unter den schwarzen Fräcken und bunten Uniformen an der Seite des Ministers Platz nehmen mußte. Doch wie er nun mit seiner freundlichen Stimme, mit seinem wohlwollenden Lächeln das Wort an sie richtete, da fand sie ihre Haltung wieder. Sie ließ sich gelassen von der entrüsteten, durch sie verdrängten Bürgermeisterin anstarren und hielt den Augen stand, die sie mit süßsaurer Miene betrachteten. Eine große milde Ruhe schien von dem ernsten Manne an ihrer Seite auf sie überzuströmen. Voll Interesse fragte er nach ihrer Heimath, nach ihrer Familie.
„Otto Herwald ist Ihr Vater, der frühere Kabinettsekretär? Ich kenne ihn schon von der Zeit her, da ich noch Rechtspraktikant war und Ihr Herr Vater mein Vorgesetzter. Damals hatte er noch blondes üppiges Haar – wie Sie, mein Fräulein! Und Sie haben auch seinen freien Wuchs und seine klare Gesichtsfarbe. Die ernsten blauen Augen dagegen müssen wohl ein Geschenk Ihrer Mutter sein.“
Sie plauderte bald mit unbefangener Lebhaftigkeit und freute sich, daß das Gespräch so mühelos und ungezwungen zwischen ihnen dahinfloß. Nur zuweilen schien es ihr, als bemächtige sich seiner eine plötzliche Zerstreutheit; wie gedankenverloren schaute er sie dann an und antwortete wie abwesend: „Ja, ja, gewiß – in der That!“ Dann brach sie erröthend mitten im Satze ab und fürchtete, ihn gelangweilt zu haben. Aber er besann sich sofort und bat: „O bitte, fahren Sie fort! Ich höre! Ich höre Ihnen so gerne zu.“
Nun begannen die Festreden. Ein leiser Seufzer entfuhr dem Munde des Freiherrn. Er senkte die Augen und blickte unverwandt auf die Mädchenhand, die neben ihm auf dem Tischtuche lag, während ein blasser Mensch mit Schweißtropfen auf der Stirne seine mühsam eingelernten Sätze herauswürgte. Es war eine lange Qual für den Redner und die Hörer, und Dora athmete befreit auf, als endlich das „Hoch“ auf die Excellenz von allen Lippen erklang. Ihr Tischnachbar neigte sein Glas zu dem ihrigen und sah ihr dabei tief und seltsam in die Augen.
Als er darauf sich erhob und seine Stimme durch den lautlos gewordenen Saal tönte, da wußte sie, daß er ein Recht hatte, an Rang und Ansehen über die anderen emporzuragen. Wie beredt ihm die Worte von den Lippen flossen; wie klar und einfach sich ihm die Sätze rundeten, die soviel mehr sagten als die weitschweifigen Phrasen, mit denen er gefeiert worden war! Sie war ordentlich stolz, daß dieser Mann, hinter dessen Stirn so tiefe Gedanken wohnten, ihrem schlichten Geplauder seine freundliche Aufmerksamkeit geliehen hatte.
Der Minister blieb liebenswürdig gegen seine Tischnachbarin bis zuletzt und dankte ihr endlich ganz bescheiden für den schönen Abend, den ihre Gesellschaft ihm bereitet habe. Dora nahm die Auszeichnung, die er ihr hatte angedeihen lassen, harmlos hin als das Wohlwollen eines älteren Mannes für die Jugend, als eine Huldigung, die mehr ihrer Rolle denn ihr selbst galt. Kein Mißklang, keine Unruhe störte ihr frohes Selbstgefühl, als sie in Begleitung des Bergrathes und seiner Frau den Saal verließ und auf dem Heimweg die begeisterten Dankesworte des glücklichen Dichters entgegennahm, der von Wonne strahlte über die hohe Gnade, die sich, dank der schönen „Germania“, auch über ihn ergossen hatte.
Frau von Heinel verlor alle Fassung, als sie hörte, der Minister habe ihre Gesellschafterin zu Tisch geführt. Sie wußte, welch tiefe Kränkung damit verschiedenen Damen zugefügt worden war, die um diese Ehre gegeizt und sich im Wettkampf um dieselbe schon im voraus verfeindet hatten.
„Armes Kind!“ rief sie, immer wieder den Kopf schüttelnd, „diese Auszeichnung wird böses Blut machen, sehr böses Blut! Ich kann auch nur die eine Erklärung finden: der Herr Minister muß sich in Sie verliebt haben, Dora, sonst hätte er nicht so gegen alles Herkommen gehandelt.“
Dora lächelte über den Haß der Damen wie über die
Erklärungsversuche der Räthin; am allerdrolligsten aber erschien es
ihr, daß diese nun eine gewisse Hochachtung und Ehrerbietung gegen
sie an den Tag legte, als wäre von der Person des Ministers ein
Goldglanz an ihr hängen geblieben. (Fortsetzung folgt.)
[739]
Das Friedrich Friesen-Denkmal in Magdeburg. Am 25. September dieses Jahres wurde zu Magdeburg ein Denkmal enthüllt, das einen der edelsten Streiter aus den Befreinngskriegen ehrt – Karl Friedrich Friesen. Es ist uns leider nur wenig aus dem äußeren Leben Friesens bekannt. Daß er am 27. September 1785 in Magdeburg geboren wurde, 1805 oder 1806 nach Berlin ging, um das Baufach zu studieren, dort aber, begeistert von Fichtes „Reden an die deutsche Nation“, in inniger Gemeinschaft besonders mit Jahn und Eiselen sich der Jugenderziehung und der Sache der Turnkunst widmete, bis Preußens Erhebung gegen Napoleon auch ihn unter die Waffen rief; daß er dann im Lützowschen Freicorps an den Kämpfen der Jahre 1813 und 1814 theilnahm und am 16. März 1814 unter den Kugeln französischer Bauern, die den Versprengten überraschten, bei dem Dorfe La Lobbe ist den Ardennen fiel – das ist so ziemlich alles, was wir von seinem äußeren Schicksal wissen.
Desto vertrauter tritt uns sein geistiges Leben, seine heldenhafte innere Größe entgegen aus den Schilderungen der Freunde, die mit ihm für Deutschlands Befreiung, für die frische und freie Erziehung der deutschen Jugend lebten und litten. Jahn hat ihm die schönen Worte gewidmet, die auch am Denkmal, an der Vorderseite des Unterbaus, Platz gefunden haben: „Wie Scharnhorst unter den Alten, ist Friesen unter der Jugend der Größte aller Gebliebenen.“ Max von Schenkendorf, Immermann haben ihn verherrlicht, der alte Arndt hat von ihm gesungen:
„Wohl viele sind gepriesen
Im großen deutschen Land,
Doch Dich, mein frommer Friesen,
Hat Gott allein gekannt.
Was blühend im reichen Herzen
Die Jugend so lieblich verschloß,
Ist jeglichem Laut der Schmerzen
Ist jeglichem Lob zu groß.
War je ein Ritter edel,
Du warst es tausendmal,
Vom Fuße bis zum Schädel
Ein lichter Schönheitsstrahl –
Mit kühnem und stolzem Sinne
Hast Du nach der Freiheit geschaut,
Das Vaterland war Deine Minne,
Es war Dir Geliebte und Braut.“ –
Friesen war in französischer Erde bestattet worden, in La Lobbe, von wo dann sein Waffengefährte August von Vietinghoff die Ueberreste des Freundes 1816 nach Deutschland brachte, treu dem Gelöbniß, das Friesen und er vor dem Abmarsch nach Frankreich sich gegeben hatten: wenn einer von beiden in Feindesland sterben sollte, seinen Leib „dem wälschen Boden zu entreißen“. Am 15. März 1843 fanden dann die Gebeine Friesens neben denen Scharnhorsts ihre endgültige Ruhestätte auf dem Invalidenkirchhof zu Berlin, wo zugleich ein einfaches Grabdenkmal errichtet wurde.
Und nun hat auch Friesens Geburtsstadt Magdeburg ihren edlen Sohn durch ein Denkmal geehrt, das die Anlagen an der Augustastraße ziert. Es ist geschaffen von dem Bildhauer Ernst Habs in Berlin. Auf breitem, von vier Stufen gebildetem Unterbau erhebt sich ein mächtiger Sockel aus poliertem schwedischen Granit, auf welchem Friesens Kolossalbüste thront. Gewaltig treten die Formen des Kopfes hervor, von denen Vietinghoff sagt, daß sie „wahrhaft königliche“ gewesen seien. Der Sockel ist auf drei Seiten mit Reliefs geschmückt. Das erste zeigt Friesen, wie er mit Eiselen und Jahn die Gesetze und Ziele der Turnkunst beräth, das zweite stellt dar, wie die Turner in Breslau sich zum Freiheitskampf dem Major von Lützow anschließen, das dritte schildert Friesens Tod im Ardennenwalde.
Ein bequemes litterarisches Hilfsmittel. Schon viele, die sich für die eigene Bibliothek oder zu Geschenken dies oder jenes Buch anschaffen wollten, werden es unangenehm empfunden haben, daß sie kein einfaches Hilfsmittel zur Hand hatten, um sich über Bändezahl, Einband und Preis eines Werkes rasch Gewißheit zu verschaffen. Besonders wo es sich um die Erwerbung deutscher und ausländischer Klassiker handelt, ist ein solcher Anhalt doppelt wünschenswerth, denn gerade hier fällt es schwer, unter der Menge verschiedener Ausgaben die guten und billigen auszuwählen. Wir möchten daher unsere Leser, vor allem diejenigen, an deren Wohnort keine Buchhandlung besteht und die sich also nicht von dieser erfahrenen Seite Rath erholen können, auf den jüngst erschienenen Cotta’schen Klassiker-Katalog aufmerksam machen. Sie finden in diesem hübschen, von jeder Buchhandlung umsonst zu beziehenden Büchlein das mit den Bildern von Goethe, Schiller, Lessing, Uhland etc. geschmückt ist, alles Nöthige über die Cotta’schen Klassiker-Ausgaben übersichtlich geordnet bei einander und werden ersehen, daß sich um eine verhältnißmäßig kleine Summe aus den hier aufgeführten Werken die schönste Bibliothek zusammenstellen läßt.
Das goldene Jubelfest des Wiener Männergesangvereins. (Zu dem Bilde S. 737.) In der reichen Schatzkammer des Wiener Männergesangvereins ist Ueberfluß an goldenen Ehrenbechern und prächtigen Fahnenbändern; wenige Liebesgaben aber hält der mit der Geschichte der Wiener Stadt unlöslich verbundene Verein höher als die folgende handschristliche Widmung Grillparzers:
„Dem Volk der Eichen
Was auch sie schied,
Bleibt Einheitszeichen
Das deutsche Lied.“
Das Dichterwort ist ein Wahrwort. „Frei und treu in Lied und That“, wie der alte Wahlspruch des Vereins lautet, hat der 1843 von dem um das Wiener Musikleben hochverdienten Dr. August Schmidt gegründete Männergesangverein in dem halben Jahrhundert seines Bestandes immer Bedeutenderes geleistet, so daß ihn Oskar Teuber in seiner Festschrift „Fünfzig Jahre in Lied und That“ mit Recht preisen durfte als „großen Künstler“, als „echtes Wienerkind“, als „glühenden deutschen Patrioten“; als „treuen Sohn des deutschen Volkes und kühnen Welteroberer“. Franz Schubert hat keine feurigeren Apostel gefunden als die Wiener Meistersänger, die ihm auch das herrliche Kundmannsche Denkmal im Stadtpark aufgerichtet haben. Die edelsten Schöpfungen der deutschen Tonkunst sind von den Wiener Sängern unter der Leizung von Chormeistern ersten Ranges wie Johann Herbeck u. a., zu hohen Ehren gebracht worden. Bei jedem großen festlichen Anlaß waren sie mit künstlerischen Huldigungen zur Stelle: ihre Ständchen galten dem jungen Gemahl der Kaiserin Elisabeth, Franz Joseph, wie späterhin in Brüssel der Braut des Kronprinzen Rudolf. Und auf 43 Sängerfahrten in die Nähe und in die Ferne erregte der Verein allerorten hellen Jubel. In Nürnberg und in Stuttgart, vor dem deutschen Kaiser, wie vor dem König von Sachsen, in Venedig und in Konstantinopel errang er volle Siege; man hieß seine Leistungen willkommen, zugleich aber mit ihren Liedern gewannen die Gäste selbst durch ihre Leutseligkeit, Gemüthlichkeit und Biederkeit die Herzen ihrer Wirthe und Wirthinnen. So ist die Geschichte des Wiener Männergesangvereins ein Ehrenbuch der deutschen Kunst und Wiener Sitte, ein redendes Zeugniß der Herzensgüte, mit der unsere Sänger sich und ihre Kunst jeder guten Sache zu Gebote stellten. Jahraus, jahrein danken Unzählige dem Verein Stunden köstlicher musikalischer Erhebung, jahraus, jahrein übt er unzählige Wohlthaten – hat er doch bis jetzt gegen 200000 Gulden wohlthätigen Stiftungen zugewendet – jahraus, jahrein findet er neben seiner ernsten künstlerischen Bethätigung Muße zu den tollsten Lustharkeiten; die Narrenabende des Vereins sind ebenso einzige „Wiener Spezialitäten“, wie das „komische Quartett“ Udel, das gleichfalls aus diesem Verbande hervorging und nach wie vor in demselben wurzelt. Der Segen so vielumfassenden Wirkens bleibt nicht aus. Ungesucht fallen dem Vereine immer neue Auszeichnungen und Liebesgaben zu und wahrhaft überwältigend waren die Kundgebungen, welche vom 6. bis 8. Oktober, den Gedenktagen der Begründung des Vereines, zu Wien stattfanden. An 430 Abordnungen von Liedertafeln, Künstlervereinen und Wohlthätigkeitsanstalten beglückwünschten den Vorstand des Vereins, Herrn Dr. v. Olschbaur, beim Begrüßungsabend im Wiener Musikvereinssaal. Aus Rußland und Amerika kamen Festgäste, wie aus [740] allen Gauen Oesterreichs und Deutschlands. Wundervolle Ehrengaben stifteten die Wiener Tochtervereine, die Berliner Liedertafel, die Wiener Schriftsteller („Concordia“), der New Yorker Liederkranz, und die Vereinigten norddeutschen Liedertafeln brachten gar einen Taktierstock aus Holz vom tausendjährigen Rosenstock am Dom zu Hildesheim mit der Inschrift:
„So wie am Dom zu Hildesheim
Der tausendjähr’ge Stock noch blüht,
So blüh’ bei Euch auch tausend Jahr’
Der Rose gleich das deutsche Lied.“
Ausnehmend innig gestaltete sich die Begrüßung des Wiener Vorstandes Dr. v. Olschbaur durch den Vertreter des Stuttgarter Liederkranzes Herrn Steidle: der Schwabe und der Oesterreicher umarmten und küßten sich. Die Stadt Wien widmete dem Verein die große goldene doppelte Salvator-Medaille und entbot die Gäste in den Prunksaal des neuen Rathhauses zu festlichem Empfang. Als Krone der Jubelfeier ist aber das von unserem Zeichner im Bilde festgehaltene große Schauspiel des Festkonzertes in der Winterreitschule, zugleich die 567. öffentliche Aufführung des Vereins, zu betrachten. Der altberühmte, ehedem zu Hoffestlichkeiten, Karussells etc., Anno Achtundvierzig auch als Berathungssaal benutzte Pracht- und Riesenraum faßt 2400 Sitzplätze. An der Schmalseite hatte die Kolossaltribüne für den Männergesangverein und die Philharmoniker Platz gefunden. Als erlauchtester Festgast fand sich der Herr des Hauses, Kaiser Franz Joseph ein, der bei dieser Gelegenheit zum ersten Male die an die Stelle des alten Burgtheaters getretene neuerbaute Riesen Rotunde der Hofburg besuchte. Den Ehrenplatz neben ihm nahm König Albert von Sachsen ein. Alles, was Wien an Berühmtheiten der Musikwelt sein nennt, war versammelt, Brahms, Bruckner, Richter, Jahn, dazu ein Kreis von Damenschönheiten: „Welch reicher Himmel! Stern bei Stern! Wer kennet ihre Namen?“
Als eigentlicher Festgeber bewährte sich der Männergesangverein in den auserlesensten Stücken seines Programms und als Festdichter hatte sich der Sänger der Wiener Elegien, Ferdinand von Saar, eingestellt. Gernsheim, Max Bruch und Bruckner leiteten Chöre, die sie dem Vereine zu Ehren des Festes gewidmet hatten; und die alten Musterleistungen der Wiener, Herbecks „Jung Werner“, Schumanns „Ritornell“ und der Pilgerchor aus „Tannhäuser“ legten neues Zeugniß für den alten Ruhm des Vereins ab. Mit freudiger Zuversicht schreitet so der Wiener Männergesangverein in sein zweites halbes Jahrhundert hinein wie er mit stolzer Genugthuung auf sein erstes zurückschaut.
Schnellläufer auf dem Wasser. (Zu dem Bilde S. 725.) Eine eigenthümliche Erscheinung war es, die in der letzten Zeit an der Spree bei Treptow und Stralau Aufsehen erregte. Man sah da einen Mann, der sich in zwei kleinen Kähnen von Metall, die er an die Füße angeschnallt hatte, aufrecht fortbewegte; mit einer langen Stange hielt er das Gleichgewicht bei seiner Fahrt. Der absonderliche „Schnellläufer“ war häufig bei seinen Versuchen zu beobachten und kam bei gutem Wetter ziemlich rasch vorwärts.
Die Riesenschlangenfamilie im Zoologischen Garten zu Leipzig. Der Zoologische Garten zu Leipzig beherbergte in den verflossenen Sommermonaten eine seltene Sehenswürdigkeit – brütende Pythonschlangen. Wir haben davon bereits in Nummer 28 dieses Jahrgangs den Lesern berichtet und möchten heute noch einen kurzen Nachtrag liefern. Herr Pinkert, der strebsame Besitzer des Leipziger Zoologischen Gartens, hatte zwei Pythonschlangen mit Eiern erworben. Die eine derselben wurde bei der Uebersiedlung im Brutgeschäft gestört, die andere aber, eine stattliche Mutter von sechs Metern Länge, setzte es unverdrossen fort; nach zwei Monaten, Anfang August d. J., durchbrachen die ersten Jungen die Eihäute, und die Zahl der jungen Schlänglein stieg zuletzt auf 30 Stück. Die kleinen waren, als sie aus dem Ei auskrochen, 66 bis 68 cm lang und wuchsen in den ersten drei Wochen bis auf 80 cm Länge heran, worauf ein Stillstand in der Entwicklung eintrat. – Ein eigenartiger Anblick, diese friedliche Schlangenfamilie, die wir in naturgetreuer Abbildung wiedergeben! Die Alte duldete, daß die Jungen zwischen ihre Ringe krochen; einige Beobachter wollten darin eine Art von Bemutterung erblicken, da die Thiere jedoch in Gefangenschaft lebten und den Käfig nicht verlassen konnten, so dürfen aus dem Zusammenleben keine Schlüsse auf eine etwaige Mutterliebe der Schlange gezogen werden. Einige Tage nach dem Brutgeschäft häutete sich die Mutterschlange und nahm nach der Fastenzeit reichlich Nahrung zu sich. Die Jungen labten sich an der lauwarmen verdünnten Milch, die ihnen in einem Gefäß gereicht wurde; man brachte auch allerlei kleines Gethier, wie junge Frösche etc. in den Behälter, aber es konnte nicht festgestellt werden, daß die Jungen außer der Milch andere Nahrung zu sich genommen hätten. Beim Eintritt der kälteren Jahreszeit wurde der Behälter durch Wärmflaschen gewärmt und die jungen Schlänglein krochen mit Vorliebe zwischen die warmen Decken. Trotzdem gingen einige derselben zu Grunde.
Ende September ging die Schlangenfamilie auf Reisen. Eine Schaubudenbesitzerin erwarb das Kuriosum und zeigt es vielleicht augenblicklich in verschiedenen deutschen Städten. Hoffentlich übersteht die tropische Brut den nordischen Winter!
Im übrigen möchten wir noch bemerken, daß die älteren Erfahrungen
über das Brutgeschäft der Pythonschlangen, worüber wir früher berichtet
haben, durch die im Zoologischen Garten zu Leipzig gemachten
Wahrnehmungen durchaus bestätigt wurden. *
[ Verlagswerbung für „Cotta’scher Klassiker-Katalog“ – hier nicht wiedergegeben.]
Inhalt: Ein Lieutenant a. D. Roman von Arthur Zapp (3. Fortsetzung). S. 725. – Schnellläufer auf dem Wasser. Bild. S. 725. – Träumerei. Bild. S. 729. – Emin Pascha. Von Paul Reichard. S. 730. Mit Abbildungen S. 730 und 732. – Deutscher Fensterschmuck. Von C. Falkenhorst. Mit Abbildungen. S. 733. – Sein Minister. Novelle von E. Merk. (1. Fortsetzung.) S. 734. – Vom goldenen Jubelfest des Wiener Männergesangvereins: Das Festkonzert in der Winterreitschule. Bild. S. 737. – Blätter und Blüthen: Das Friedrich Friesen-Denkmal in Magdeburg. Mit Abbildung. S. 739. – Ein bequemes litterarisches Hilfsmittel. S. 739. – Das goldene Jubelfest des Wiener Männergesangvereins. S. 739. (Zu dem Bilde S. 737.) – Schnellläufer auf dem Wasser. S. 740. (Zu dem Bilde S. 725.) – Die Riesenschlangenfamilie im Zoologischen Garten zu Leipzig. Mit Abbildung. S. 740.
[ Verlagswerbung für „Deutscher KAiser-Saal.“ – hier nicht wiedergegeben.]
- ↑ Vergl. „Gartenlaube“ 1890, Nr. 26 und 27.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: nothwenig
- ↑ Brieftext:Bagamoio 1. April 1890.
Sehr geehrter Herr!
Im Begriffe eine neue Expedition ins Innere Afrikas zu leiten wird es mir kaum möglich sein mich schriftstellerischen Arbeiten zu unterziehen oder auch nur die durch ziemlich langen Aufenthalt in Afrika gewonnenen Resultate zu verarbeiten[.] Ich muss deshalb zu meinem Leidwesen das mich als alten Leser der Gartenlaube sehr erfreuende Anerbieten einer Veröffentlichung meiner Erfahrungen ablehnen. Wollen Sie mir jedoch gestatten, Ihnen hin u. wieder einen Reisebrief aus dem Innern zu senden, so will ich das gern thun[,] ohne mich jedoch an bestimmte Termine zu binden[.]
Genehmigen Sie den Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung.Ergebenst
Dr. Emin Pascha - ↑ Vorlage: engliche