Die Gartenlaube (1890)/Heft 13
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Halbheft 13. | 1890. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Marie fühlte, daß es nach der vorangegangenen Unterredung
keine Brücke mehr gab über die Kluft, welche sie für immer
von Lothar schied. Aber wenn er ihr Verhalten auch verdammen
mußte, so sollte er sich wenigstens nicht in dem
Glauben von ihr trennen, daß es ihr Wunsch gewesen sei,
ihn geflissentlich zu beleidigen.
Als sie in dem leeren Speisesaal eine Weile stumm auf und nieder gegangen waren, sagte sie zaghaft:
„Vielleicht hast Du meiner letzten Aeußerung eine falsche Deutung gegeben, Lothar. Es war nicht meine Absicht, Dich zu kränken.“
„Was hätte Dich auch dazu veranlassen sollen?“ erwiderte er ruhig. „Sei versichert, daß ich Dir durchaus nicht zürne und daß ich vielmehr von ganzem Herzen wünsche, der Pfad, für welchen Du Dich am Kreuzwege entschieden hast, möge in Wahrheit der Pfad zum Glück gewesen sein.“
Eine heiße, unnennbar schmerzliche Empfindung, für deren Ursache sie selber sich keine Rechenschaft zu geben vermochte, drängte ihr die Thränen in die Augen. Sie mußte den Kopf ganz von ihm abwenden, um ihm ihre plötzliche Bewegung zu verbergen. Ihre Stimme aber klang vielleicht nur noch härter und fremder in dem Bemühen, eine gelassene Festigkeit zu erheucheln.
„Ich verstehe Dich nicht, wie es uns vielleicht überhaupt versagt ist, einander recht zu verstehen. Welcher Kreuzweg ist es, von dem Du sprichst, und welcher Pfad, für den ich mich entschieden haben soll?“
„Ich würde Gefahr laufen, Dich von neuem unwillig zu machen, wenn ich Dir darauf ausführlich Antwort gäbe; denn ich habe für die Ehrlichkeit meiner Gesinnung in diesem Augenblick eben keine besseren Beweise als bei allen früheren Gelegenheiten. Aber wie oft wir einander auch mißverstanden haben mögen, Marie – die Beweggründe, welche Dich hinderten, gegen Engelbert Partei zu ergreifen, sie wenigstens verstehe ich vollkommen, und Du siehst, daß ich sie geachtet habe trotz der Freundschaft, welche mich mit Deinem Bruder verbindet. Vielleicht hältst Du Dich nach dieser Erklärung ohne weiteres überzeugt, daß Deine vorige Anklage mich nicht zu kränken vermochte.“
Der ruhige Ton, in welchem er gesprochen, hatte ihr gewiß keinen Anlaß dazu gegeben, und doch empfand Marie seine Worte wie einen Ausdruck der bittersten Verachtung. Sie hatte sich vor ihm gedemüthigt, indem sie gewissermaßen seine Verzeihung erbeten hatte, und nun rächte er sich trotzdem an ihr, indem er sie unzweideutig fühlen ließ, daß er die unedlen, selbstsüchtigen Gründe ihres Benehmens mit voller Klarheit durchschaut habe. Und so jämmerlich eigensüchtig und feige erschienen ihr selber diese Gründe, daß davor der ganze bestrickende Zauber in nichts
[390] zerstob, welcher Engelberts glänzende Persönlichkeit umgab. Hastig hatte sie Lothar das glühende Antlitz zugewandt, und wenn sie jetzt der leisesten Bewegung in seinen Zügen, nur einem warmen Aufleuchten in seinen Augen begegnet wäre, so hätte sie ihm vielleicht halb willenlos wie einem vertrauten Freunde alles bekannt, was an Widersprüchen, Zweifeln und herben Selbstvorwürfen ihr Herz bewegte. Aber seine unerschütterte Ruhe, seine ernste, gelassene Freundlichkeit umgaben ihn wie mit einem Panzer, und sie fühlte sich völlig entmuthigt und zugleich im Bewußtsein ihrer Ohnmacht zu zornigem Trotz aufgestachelt. Sie blieb plötzlich stehen und ließ ihre Hand von seinem Arm herabgleiten.
„Du mußt in der That viel Theilnahme für mich hegen, da Du so scharfsichtig zu beobachten wußtest,“ sagte sie mit einem unverhohlenen Spott, der ihn nothwendig tief verletzen mußte. „Nun wohl, ich bekenne offen, daß Du richtig gesehen hast. Ja, ich verzeihe Deinem Bruder, was er vorhin gethan hat – ich verzeihe es ihm, weil – nun, weil ich ihn liebe! – Bist Du mit diesem freimüthigen Geständniß zufrieden?“
Aber obwohl ihre letzten Worte eine Frage enthalten hatten, wartete sie doch die Antwort auf dieselbe nicht ab. Noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte, brach ihre Fassung zusammen, und es erfaßte Marie zugleich ein so namenloses Grauen vor all der bunten, geräuschvollen Pracht rings um sie her, daß sie Lothar jäh den Rücken kehrte und wie ein gehetztes Wild aus den glänzend erhellten Gesellschaftsräumen hinweg in das nächtlich stille zweite Stockwerk emporflüchtete.
Mit mürrischem verschlafenen Gesicht begegnete ihr Cillys Kammerzofe auf dem Gange vor ihrem Zimmer.
„Mein Gott, wie verstört das gnädige Fräulein aussehen! Ist dem gnädigen Fräulein nicht wohl?“
„O, es ist nichts – ich fühle mich nur etwas angegriffen,“ brachte Marie, die ihre Thränen nicht länger zurückzuhalten vermochte, mühsam hervor. „Wenn man – nach mir fragt, so sagen Sie, ich – ich hätte mich bereits zur Ruhe begeben. Gute Nacht!“
Sie warf die Thür ihres Stübchens hinter sich ins Schloß, streifte mit hastigen zitternden Händen den duftigen Ballstaat, der sie vor ein paar Stunden noch mit so unschuldiger Freude erfüllt hatte, von ihrem Leibe und löschte die beiden Kerzen auf dem Armleuchter so eilig aus, als müßten mit dem Lichte auch die quälenden, grausamen Gedanken verschwinden, welche sie aus dem fröhlichen Festesrauschen hinaufgetrieben hatten in ihre Einsamkeit.
Sie hörte nach einer Weile die Wagen davonrollen, welche die Gäste des Generals heimwärts führten, sie hörte in ihrer Nähe das Geräusch geöffneter und wieder geschlossener Thüren, und sie hörte auch die wohlbekannte, klangvolle Stimme Engelberts, der seiner Schwester mit einem munteren Scherzwort gesegneten Morgenschlummer und liebliche Träume wünschte.
Dann wurde es todtenstill in dem vornehmen Hause, das der Verwaisten die verlorene Heimath ersetzen sollte. Wohl alle seine Bewohner ruhten nach der durchschwärmten Nacht sanfter und fester als sonst in den Armen des Schlummers, und keines von ihnen sah den grau und trüb hereindämmernden Morgen – nur Mariens thränennasse Augen starrten immer noch weit geöffnet in das Leere.
„Wollen Sie mir noch immer nicht erlauben, einen Arzt zu holen? – Ich fürchte doch, daß dies eine ernstliche Krankheit ist.“
Joseph Hudetz war es, der diese Worte gesprochen hatte. Er stand neben der schlechten eisernen Bettstätte seiner Wirthin und sah aus eingesunkenen, dunkel umschatteten Augen mit einem Blick namenloser Angst auf das todtenhafte alte Gesicht, über welches die düster brennende Küchenlampe nur eine matte Helligkeit breitete. Er war eben nach Haus gekommen, und die seltsame, unheimliche Veränderung, die sich seit dem Morgen in dem Antlitz der Greisin vollzogen, hatte seinen Fuß festgebannt und seinen Lippen jene Aeußerung höchster Sorge erpreßt.
Langsam und offenbar mit Mühe erhob die Alte die knochige Hand, um das vom Schweiß verklebte weiße Haar aus der runzligen Stirn zu streichen. Vielleicht mußte sie erst ihre Gedanken sammeln, um den Inhalt seiner Worte völlig zu verstehen.
„Eine ernstliche Krankheit?“ murmelte sie. „Unsinn! Es ist gar nichts! Und wenn Sie mir mit einem Doktor kommen, so werden Sie sehen, daß ich noch kräftig genug bin, ihn die Treppe hinunterzuwerfen! So ein Quacksalber brächte es allerdings fertig, mich wegen eines lumpigen Schnupfens auf den Kirchhof –“
Ihre Rede wurden von einem Hustenanfall unterbrochen wie immer, wenn sie anhaltend und in einiger Erregung sprach. Aber Hudetz bemerkte wohl, daß es nicht mehr derselbe Husten war, der ihn des Nachts hatte aus seinem unruhigen Schlummer auffahren lassen. Er war heiser und kraftlos und bereitete ihr ersichtlich die furchtbarste Pein. Auch war er von einem Rasseln und Keuchen begleitet, das für Hudetz einen besonders schauerlichen Klang hatte, weil er es nie zuvor aus einer menschlichen Brust vernommen.
Rathlos und von Angst geschüttelt stand er da, den Hut noch immer in der Hand haltend und seine Augen von einem Ende des kahlen Küchenraumes zu dem anderen sendend, als müßte ihm von da her eine Eingebung kommen, was er zu thun habe, um das Schrecklichste abzuwenden.
„Ach diese Schmerzen!“ stöhnte die Alte, als sie wieder nothdürftig zu Athem gelangt war. „Es ist, als ob mir da drin was zerrissen wäre! Aber es hat nichts zu sagen. Der Tod – der Tod ist das noch lange nicht.“
Sie hatte so oft und mit so viel Gleichmuth von ihrem nahen Ende gesprochen, daß die Zuversicht, mit welcher sie jetzt einem glücklichen Ausgang ihrer Krankheit entgegensah, trotz des beängstigenden Augenscheins einige Wirkung auf Hudetz hatte.
„Gewiß nicht, Frau Haberland!“ sagte er mit einem kleinen Aufathmen. „Wer möchte denn auch gleich an das Schlimmste denken!“
Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die vielleicht ein höhnisches Lächeln sein sollte.
„Das Schlimmste? Na, das Schlimmste wäre es nun wohl nicht! – Aber das ist ja alles dummes Gerede! – Kochen Sie mir lieber eine Tasse Brustthee, wenn Sie sich schon nützlich machen wollen. Die Düte liegt oben rechts im Schrank und der Kandis ist in dem Tassenkopf daneben.“
Mit hastiger Bereitwilligkeit schickte sich Hudetz an, ihrem Verlangen zu willfahren. Aber er verstand sich schlecht auf derartige häusliche Verrichtungen, und es währte lange, ehe er das Getränk zur Zufriedenheit der Alten fertiggestellt hatte. Soweit der immer wiederkehrende schreckliche Husten es ihr gestattete, ertheilte sie ihm die erforderlichen Anweisungen und schalt ihn wegen seiner Ungeschicklichkeit, wie wenn er ihr Diener oder ein unreifer Knabe gewesen wäre.
Geduldig und ohne auch nur eine Miene zu verziehen, ließ er ihre unwirschen Reden über sich ergehen. In beinahe demüthiger Haltung näherte er sich endlich mit dem dampfenden Tranke ihrem Lager.
„Richten Sie mich auf!“ stöhnte sie. „Ich weiß nicht, was das ist; aber ich habe ein Gefühl, als ob mir das Kreuz entzweigebrochen wäre.“
Er legte seinen Arm um ihren Nacken und stützte sie so sorglich und zart, wie nur ein liebevoller Sohn seine Mutter hätte stützen können. Trotzdem war die Kranke unzufrieden.
„Wollen Sie mir denn die Knochen zerdrücken?“ murrte sie. „Die Männer haben nun ’mal keine Hand für so was – sie taugen überhaupt zu nichts anderem als dazu, die Weiber unglücklich zu machen. – So – nun reichen Sie mir die Tasse; aber geben Sie acht, daß nichts verschüttet wird!“
Er brachte das Gefäß an ihre Lippen, und sie versuchte zu trinken. Aber schon nach dem ersten Schluck schüttelte es sie wie ein heftiges Fieber, und sie stieß den Arm des Studenten unsanft zurück.
„Es will nicht hinunter,“ ächzte sie, „stellen Sie die Tasse weg! – Am Ende geht es auch ohne den Thee vorüber.“
Sie sank auf das Kissen zurück, und während sich Hudetz bemühte, ihrem Kopfe eine möglichst bequeme Lage zu geben, fiel es ihm auf, wie merkwürdig weiß und spitz ihre Nase geworden war.
„Kann ich denn sonst gar nichts für Sie thun?“ fragte er; denn auf seinen Vorschlag bezüglich des Arztes wagte er nicht mehr zurückzukommen.
Die Alte machte eine verneinende Bewegung, und er ließ [391] sich auf eine Ecke des harten Holzstuhles nieder, der zwischen dem Bett und dem mit Wachsleinwand überzogenen Tische stand. Wohl eine Viertelstunde verging, ohne daß er auch nur gewagt hätte, sich zu rühren; dann meinte Frau Haberland plötzlich:
„Ich will versuchen, zu schlafen. Aber Du wirst hier bleiben, nicht wahr?“
Es bereitete ihm einen großen Schrecken, daß sie ihn mit „Du“ anredete, denn nur im Fieberwahn konnte ihr ja ein solcher Irrthum begegnen. Aber er beeilte sich trotzdem, sie zu versichern, daß er nicht von der Stelle weichen werde, so lange seine Anwesenheit ihr erwünscht sei. Die Alte murmelte etwas Unverständliches und kehrte das Gesicht gegen die Wand. Da die Hustenanfälle sich nicht wiederholten, meinte Hudetz, sie sei wirklich eingeschlafen, und rückte sich auf seinem Stuhle geräuschlos in eine etwas weniger unbequeme Lage. Ohne eine andere lebendige Gesellschaft als diejenige des schwer kranken Weibes, von qualvoller Angst durchzittert und unfähig, irgend etwas zu ihrem Beistande oder zur Erleichterung ihrer Leiden zu thun, starrte er unverwandt in das kleine röthliche Flämmchen der unangenehm dünstenden Lampe. Das Feuer in dem Küchenofen, auf welchem er den Thee bereitet hatte, war wieder erloschen, und ein unangenehmes Kältegefühl schlich ihm erstarrend durch die Glieder. Er dachte daran, sein Bild aus dem Nebenzimmer zu holen und sich mit der Betrachtung desselben, deren er ja niemals müde werden konnte, die Stunden dieser entsetzlichen Nacht zu verkürzen. Aber wie er einmal einen zaghaften Versuch machte, leise von seinem Sitz aufzustehen, bewegte sich die Alte unruhig und stieß abgebrochene Worte aus, die er für eine Mahnung an sein Versprechen nahm. So gab er seine Absicht auf, zog die dünnen Schöße seines Rockes über die frostbebenden Kniee und stierte von neuem in das Licht der Lampe, das ihn vielleicht nur darum so unwiderstehlich anzog, weil seine leise zitternden Bewegungen die Täuschung erwecken konnten, daß es etwas Lebendiges sei.
Wenn er nur ein Gläschen Branntwein gehabt hätte! Nur wenige Tropfen von dem herrlichen, wunderthätigen Getränk, das Vergangenheit und Gegenwart wie durch das Machtwort eines Zauberers in nichts versinken ließ und die köstlichsten Zukunftsbilder vor die Seele gaukelte. Er kannte ja die Wirkung dieses Lebenselixirs jetzt schon gut genug! Der Maurer, welcher ihm in dem verpesteten Kaffeekeller das Glas mit dem beizenden Nordhäuser zugeschoben hatte, war ihm ein Wohlthäter geworden, dem er im Grunde seines Herzens täglich von neuem dankte. Nicht, daß er eigentlich ein Trinker geworden wäre, wie es sein Vater war – o nein, der bloße Gedanke an diese Möglichkeit hätte ihn ja mit Grauen und Entsetzen erfüllt! Aber wenn er sich so durch das Gewühl der Straßen wand, unter dem breiten Rande seines Hutes hervor unausgesetzt nach rechts und links spähend, ob noch immer niemand Miene mache, ihn zu ergreifen – von jedem ungewöhnlichen Geräusch hinter seinem Rücken zu Tode erschreckt und oft von sinnloser Angst geschüttelt, wenn flüchtige Aehnlichkeit ihn in einer vorübergehenden Dame die Malerin aus dem Museum vermuthen ließ – dann konnte er doch zuweilen der Versuchung nicht widerstehen, in irgend eine abgelegene Schenke einzutreten und einen seiner wenigen Groschen für ein Gläschen Branntwein zu opfern. Jeder andere hätte nach dem Genuß einer so geringen Menge wohl kaum eine flüchtige Anregung seiner Lebensgeister gespürt; aber Hudetz’ Körper besaß eine so geringe Widerstandsfähigkeit gegen das bluterhitzende Gift des Alkohols, daß die wenigen Tropfen stets hinreichend waren, ihn aufs neue in jenen Zustand geistiger und körperlicher Spannkraft zu versetzen, dem er das Gelingen seiner verwegenen Rachethat gegen die grausame menschliche Gesellschaft ausschließlich zu verdanken hatte.
Dann konnte er sich dreist unter die geschäftige Menge mischen, erhobenen Hauptes konnte er die neugierigen Blicke erwidern, die sich auf ihn richteten – ja, es konnte ihm sogar ein eigenthümlich prickelndes Vergnügen bereiten, mit seinem Aermel den Mantel eines Schutzmanns zu streifen und sich an der gleichgültigen Miene des Mannes zu ergötzen, der ihn unbehelligt seiner Wege ziehen ließ, obwohl er sich mit einem einzigen Griff die Belohnung von tausend Mark hätte verdienen können, welche man auf die Festnahme des Galeriediebes ausgesetzt hatte.
In solchen Stunden hatte er wieder Pläne und Hoffnungen für die Zukunft, und nur in solchen Stunden war er imstande, an seinem Werke über die Brüder van Eyck zu arbeiten, an dessen Erfolg sich ja alle diese luftigen Pläne knüpften.
Warum hatte er nur gerade heute abend der Versuchung widerstanden, heute, wo eine so gewaltige Anforderung an die Ausdauer seines Körpers und an die Spannkraft seines Geistes gestellt wurde? Mit Freuden hätte er alles, was er besaß, für ein Glas des elendesten Fusels hingegeben. Er begriff mit einem Male, was seinen unglücklichen Vater aus dem häuslichen Jammer heraus immer und immer wieder so unbezwinglich in das Wirthshaus gezogen hatte, bis der letzte Kreuzer draufgegangen war. Wahrhaftig, er war sehr ungerecht gewesen, wenn er all diese Jahre hindurch stets nur mit Grauen und unsäglicher Verachtung an den halb verthierten Mann im Armenhause hatte denken können! –
Die Mitternachtsstunde ging vorüber. In einem dumpfen, schwermüthigen Hinbrüten, das zwischen Wachen und Schlafen die qualvolle Mitte hielt, zählte Hudetz die Schläge der Viertelstunden, welche in unendlichen Zwischenräumen die Thurmuhr der Dankeskirche verkündete. – Jetzt wieder – eins – zwei – drei! Dreiviertel auf zwei! – Wie grauenhaft lang war diese Nacht! Ihm war, als könnte er ihr Ende nimmer erleben.
Das Drahtgeflecht der eisernen Bettstätte knirschte. Die Kranke hatte sich bewegt, und als er sich hastig umwandte, sah er ihr gerade in die weitgeöffneten, brennenden Augen, die in den fleischlosen Höhlen eines Todtenkopfes zu liegen schienen.
„Bist Du dabei gewesen, als Deine Mutter starb?“ fragte sie, und Hudetz hatte Mühe, die Stimme wieder zu erkennen, die jetzt mit eigenthümlich röchelnden und pfeifenden Nebenlauten aus ihrer Kehle kam.
„Nein,“ sagte er, „aber Sie sollten jetzt nicht an Tod und Sterben denken, Frau Haberland! Der Schlummer hat Sie recht erquickt, nicht wahr?“
„Ich habe nicht geschlafen, – dazu ist ja nachher noch Zeit genug! – Also Du warst nicht dabei? – Nun, mein Sohn wird auch nicht dabei sein, wenn seine Mutter stirbt!“
„Ihr Sohn, Frau Haberland? Sie haben einen Sohn und haben doch nie von ihm gesprochen? – Wollen Sie, daß ich ihn von Ihrer Krankheit in Kenntniß setze?“
„Nein! – Ich will ihn nicht sehen – nie mehr – nie mehr! Denn er ist ein undankbarer, herzloser Wicht!“
Er wußte ihr nichts zu antworten, und es blieb wieder eine Weile still, dann sagte die Alte:
„Hole das Buch her, das im Schrank unter den Handtüchern liegt! Du kannst mir etwas vorlesen!“
Hudetz erhob sich sofort, und er fühlte erst jetzt, wie steif und fast empfindungslos seine Glieder geworden waren. Er mußte minutenlang suchen, ehe er das Verlangte fand, so sorgsam war es hinter Geschirr und Wäsche versteckt. Als er nun mit dem Buche an den Tisch trat, erkannte er, daß es derselbe dickleibige Foliant war, bei dessen Lesen sich seine Wirthin stets so ungern hatte überraschen lassen. Er schlug den schweren, schweinsledernen Deckel auf und sah mit Ueberraschung das Titelblatt einer alten, in gewaltigen Lettern gedruckten Bibel.
„Du wunderst Dich, nicht wahr?“ meinte die Alte, als hätte sie seine unausgesprochenen Gedanken errathen können. „Na, fromm bin ich auch nicht, – wenigstens nicht, was die Leute so nennen! – Und es geht ja auch am Ende keinen was an, ob ich fromm bin oder nicht! – Schlage ’mal die Seite auf, wo der Brief liegt, und lies mir den Spruch vor, der da steht. Ich habe ihn mit Waschblau angestrichen.“
Hudetz that schweigend nach ihrem Begehren. Das zusammengefaltete Blatt von der Form und dem Aussehen einer amtlichen Zustellung lag bei dem ersten Kapitel des Buches Ruth, die Stelle aber, welche Frau Haberland mit einem dicken, halb verwischten blauen Rande umgeben hatte und welche er ihr jetzt mit seiner leisen, traurigen, eintönigen Stimme vorlas, lautete:
„Rede mir nicht darein, daß ich dich verlassen sollte und von dir umkehren. Wo du hingehest, da will ich auch hingehen; wo du bleibest, da bleibe ich auch, dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott! Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr thue mir dies und das, der Tod muß dich und mich scheiden!“
„Der Herr thue mir dies und das, der Tod muß mich und dich scheiden!“ wiederholte die Alte, und es war eine beklemmende
[392][393] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [394] Feierlichkeit in der Art, wie sie langsam mit ihrer röchelnden, fast versagenden Stimme diese Worte sprach.
„Soll ich weiter lesen?“ fragte Hudetz, als wieder eine geraume Zeit unter tiefem Schweigen verstrichen war.
„Ist nicht nöthig! – Das ist mir immer das Liebste gewesen in dem ganzen Buch. – Es paßt so gut – ja, es paßt, als wenn es für mich geschrieben wäre! ‚Rede mir nicht darein, daß ich dich verlassen sollte‘ – na, er hat mir freilich nicht darein geredet, denn er war herzlich froh, wenn er ein Obdach fand, ein Bett und einen Teller mit Essen, sobald sie ihn einmal aus dem Kasten ließen! Aber der Junge, der verdammte, herzlose Junge, hat er mir nicht schon von seinen Schuljahren her immerfort in den Ohren gelegen, ich sollte mich von dem Alten scheiden lassen, weil er nicht einen Vater haben wollte, der im Gefängniß saß? Als wenn er ihm nicht das Leben gegeben, nicht manche liebe Nacht an seinem Krankenbette gewacht und nicht rechtschaffen für ihn gearbeitet hätte, bis der dreimal verfluchte Tischler-Ede ihn herum kriegte – Gott weiß, wie! – Darf ein Sohn seinen Vater verwünschen und ausspucken wie vor einer Kröte, wenn er seinen Namen nennen hört? Na, wie er das wieder einmal that – es war an seinem Konfirmationstage und er kam eben aus der Kirche, da schlug ich ihn mit dem hölzernen Löffel, den ich gerade in der Hand hatte, auf den Mund, daß das Blut aufspritzte – und seitdem ist er fort. – Ein Ballettänzer ist er geworden, und ich hätte ja manches Mal hingehen können, mir seine Luftsprünge anzusehen, ohne daß er eine Ahnung davon gehabt hätte. Aber ich hatte mirs zugeschworen: blind will ich werden, wenn ich das thue! – Und kein Stück soll er haben von meinen Siebensachen! – Du bist ein rechrschaffener Mensch, wenn Du auch schon im Gefängniß gesessen hast – und Dir soll alles gehören – auch das Sparkassenbuch unter meinem Kopfkissen – und die Bibel – hörst Du? – die Bibel auch – und – ach – was ist das – – August – August –“
Nicht ein einziges Mal hatte sie gehustet, trotz ihres anhaltenden Sprechens – nun aber kam es mit einem Mal – klanglos, erstickend, wie wenn sich ihr aus dem Innern der Brust ein fremder Körper in die Luftröhre gedrängt hätte. Hudetz sprang auf und beugte sich über sie herab. Sein Herzschlag stockte und das Entsetzen verzerrte seine Züge. Die knochigen Hände der Alten tasteten umher, als ob sie nach einer Hilfe, nach einem Beistand suchten, – sie würgte und ächzte und dann quoll plötzlich ein Strom hellen, schaumigen Blutes aus ihrem Munde.
Unfähig, ein Glied zu bewegen oder auch nur die Lippen zu einem Schrei zu öffnen, starrte Hudetz auf das Fürchterliche. Und so stand er noch immer in regungslosem Grauen, als das Blut längst aufgehört hatte zu fließen, als sich der alte, hagere Leib gereckt und gestreckt hatte wie zu einem langen Schlafe und als es wie ein Riß über die weit geöffneten Augen gegangen war, die seelenlos und verglast nach der grauen, schmutzigen Zimmerdecke stierten. So stand er noch immer, als er längst die Gewißheit gewonnen hatte, daß er nun der einzige Lebende in diesem Raume sei. – –
Vom Thurm der Dankeskirche schlug es halb drei. Die schwelende Lampe auf dem Küchentische brannte noch düsterer als zuvor, denn der Petroleumvorrath in dem kleinen Glasbehälter war fast erschöpft. Unten auf der Straße gröhlte ein Betrunkener ein wüstes Lied, und in der tiefen Stille hörte man auch die Stimme des Nachtwächters, der ihn zur Ruhe verwies. –
Als Hudetz an den Tisch trat, um die Lampe vollends auszulöschen, fiel sein Blick auf die Bibel und auf das amtlich aussehende Schriftstück, welches die Alte neben ihren Lieblingsspruch gelegt hatte. Fast mechanisch faltete er es auseinander. Da stand oben am Kopfe in Druckschrift:
„Der Direktor des Zuchthauses zu Sonnenburg.“ Und darunter von einer gleichgültigen, ausdruckslosen Kanzlistenhand:
„Es diene Ihnen zur gef. Kenntnißnahme, daß Ihr Mann, der wegen schweren Diebstahls im wiederholten Rückfalle zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurtheilte und bis dahin in der hiesigen Strafanstalt interniert gewesene Schlosser August Haberland, am 23. dss. Mts. an der Lungenschwindsucht verstorben und gestern auf dem Sträflingskirchhof begraben worden ist. – Bezüglich des Nachlassen, welcher aus verschiedenen Kleidungsstücken und einer kleinen, durch Ueberarbeit erworbenen Sparsumme besteht, wird Ihnen demnächst weiteres eröffnet werden.“
Das Schreiben trug den Poststempel des vorgestrigen Tages. Die Empfängerin hatte es also vorgezogen, jene weiteren Eröffnungen nicht mehr abzuwarten. –
„Wo du hingehest, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch –“ las Hudetz unwillkürlich auf der von Waschblau umränderten Stelle. Er sah sich noch einmal nach der Leiche um, und das fahle, faltige Todtengesicht erschien ihm jetzt minder schrecklich als zuvor.
Wohl war es nur das harte, unschöne Antlitz eines armen, alten, in Kummer und Arbeit ergrauten Weibes aus dem Volke; aber der ehemalige Student meinte etwas von dem verklärenden Schimmer der Liebe darauf zu sehen – jener Liebe, die stärker ist als die Noth und mächtiger als der Tod. – –
Und jetzt fand er auch den Muth, mit seinen Fingerspitzen sanft die gebrochenen Augen der alten Frau zu schließen, ehe er sich im Nebenzimmer angekleidet auf sein Lager warf. –
Noch kämpfte der junge Tag mit den Schatten der Dämmerung, als Joseph Hudetz nach vorsichtiger Beobachtung seiner nächsten Umgebung auf die Straße hinaustrat. Statt des auffallenden grauen Kragenmantels, den er nach dem Tage des Galeriediebstahls überhaupt nicht mehr angelegt hatte, trug er einen dünnen, abgeschabten Sommerüberrock; mit der Linken aber umklammerte er in ängstlichem Druck den ledernen Henkel des kleinen Handkoffers, welcher seine Habe und sein kostbares Geheimniß barg.
Unschlüssig blickte er nach rechts und links, dann aber schlug er die Richtung ein, welche ihn dem Centrum des erwachenden Berlins entgegenführte. Wohin er ging, er wußte es nicht. Sein Weg hatte kein Ziel und kein Ende; ins Unbestimmte, Nebelhafte führte er hinaus, – vielleicht noch einmal in einen Hafen kurzer, trügerischer Ruhe, vielleicht auch in jenen tiefen, nie gemessenen Abgrund, aus welchem keine Wiederkehr ist an das Licht des Tages.
Niemand aus der Nachbarschaft sah ihn gehen, – niemand kümmerte sich um ihn – spurlos verschwand er in dem ungeheuren Getriebe der vom nächtigen Schlummer erstehenden Millionenstadt.
Als Marie von Brenckendorf nach jener unglücklichen Ballnacht ihr Stübchen aufgesucht hatte, da war es ihr als unabänderlich erschienen, daß der nächste Tag etwas Außerordentliches bringen müßte – eine Lösung und Klärung, und wäre es auch um den Preis all ihrer Hoffnungen und Wünsche.
Aber das Außerordentliche, auf welches sie sich bereitet hatte, war nicht geschehen. Ja, sie selber würde kaum imstande gewesen sein, es herbeizuführen, auch wenn sie die Entschlossenheit und die Kraft des Willens dazu besessen hätte.
Wohl erwachte sie am folgenden Morgen mit der Gewißheit, daß sie eine Erklärung von Engelbert fordern müsse. Aber als sie dann bei ihrem Eintritt in das Frühstückszimmer sah, daß sein Platz leer war, als sie ohne ihre Frage aus einer absichtslosen Aeußerung Cillys erfuhr, daß ihn dienstliche Pflichten schon vor einer Stunde abgerufen hätten und daß er vielleicht nicht einmal zum Mittagessen wiederkommen würde, da athmete sie doch wie in tiefer Erleichterung auf und dankte in ihrem Herzen dem Zufall, welcher die unvermeidliche Auseinandersetzung wenigstens noch um einige Stunden hinausgeschoben hatte.
Und jenes Andere, vor dem sie sich noch viel mehr gefürchtet hatte: ihre erste Wiederbegegnung mit Lothar, sie ging so ruhig und unauffällig vorüber, als wäre ihr Gespräch in der verflossenen Nacht nichts anderes gewesen denn ein häßlicher Traum. Er empfing sie mit derselben Verbeugung, die an jedem Morgen seine Erwiderung auf ihren Gruß gewesen war, und wenige Minuten nach ihrem Eintritt ging er mit dem Bemerken, daß er im Moabiter Justizgebäude zu thun habe, aus dem Gemache. Niemand konnte auf den Gedanken kommen, daß es Mariens Erscheinen gewesen sei, welches ihn vertrieben habe, – auch dem schärfsten Beobachter würde kein Anlaß zu der Vermuthung gegeben worden sein, daß zwischen ihnen über Nacht irgend etwas anders geworden sei als zuvor.
Unter der Nachwirkung der nächtlichen Strapazen mußte es begreiflich erscheinen, daß eine rechte Lebhaftigkeit und Fröhlichkeit im Hause des Generals heute nicht aufkommen wollte, und Mariens Blässe, ihre Wortkargheit und Zerstreutheit bedurften darum kaum einer besonderen Erklärung. War doch selbst Cilly, die sich sonst mit einigem Stolz ihrer Unverwüstlichkeit rühmte, heute sehr still und von einer eigenthümlichen Weichheit des [395] Wesens, die zu ihrer gewöhnlichen Spottlust in merkwürdigem Gegensatze stand. Fast noch zärtlicher als sonst schloß sie sich an Marie an, und ganz gegen ihre Gewohnheit, diese Zeit des Tages zu einer Spazierfahrt oder zu Besuchen bei bekannten und befreundeten Familien zu benutzen, richtete sie heute an ihre Base die gern erfüllte Bitte, ein Stündchen mit ihr zu musicieren.
„Willst Du singen?“ fragte Marie; aber Cilly schüttelte entschieden ablehnend das Köpfchen.
„Wir wollen vierhändig spielen, wenn es Dir recht ist. Ich fühle, daß ich heute gar keine Stimme haben würde.“
„Vielleicht die Ouvertüre zur ‚Diebischen Elster‘? – Das ist ja wohl Dein Lieblingsstück?“
„Nein – nein! – Etwas Ernstes – Getragenes – Schwermüthiges! Da – den Trauermarsch von Chopin! – Warum sollten wir nicht auch einmal Grabesmusik machen können?“
Eine solche Wahl sah den sonstigen Neigungen ihres lebensprühenden Bäschens allerdings so wenig ähnlich, daß ihr Marie mit einiger Ueberraschung in das ernsthafte Gesichtchen sah. Doch Cilly that, als ob sie diesen verwunderten Blick nicht bemerkte, und setzte sich mit einer gewissen Feierlichkeit auf ihrem Stuhl zurecht.
„Du bist doch damit einverstanden, daß ich den Baß nehme?“ sagte sie. „Diese schaurigen Todtenglockentöne sind ja gerade das Schönste an dem ganzen Stück.“
Ihre plötzliche Begeisterung für Chopins schwermuthsvolle und doch von so wundersamen Klängen himmlisch süßen Trostes durchzitterte Tondichtung hinderte das Töchterchen des Generals indessen nicht, einige Male empfindlich daneben zu greifen und mit den strengen Gesetzen des Taktes hier und da in merklichen Zwiespalt zu gerathen. Sie hatten kaum mehr als die Hälfte gespielt, als sie plötzlich die Hände von den Tasten sinken ließ.
„So traurig ist dieser Trauermarsch gewiß noch niemals zu Gehör gebracht worden,“ sagte sie, und ein Fünkchen von dem alten Uebermuth leuchtete schon wieder in den dunkeln Augen auf. „Wir sind ja nun nahezu eine Viertelmeile auseinander.“
„So laß uns noch einmal beginnen!“ schlug Marie vor. „Du mußt etwas besser zählen.“
„Zählen?! – O Du prosaische Künstlerin! – Diese Kirchhofsmusik sollte der natürliche Ausdruck meiner gegenwärtigen Stimmung sein, all mein Herzeleid wollte ich in sie ausströmen lassen, – und Du, Du verlangst von mir, ich solle zählen! Wahrhaftig, ich glaube, Du hast mir meinen ganzen, schönen Kummer verleidet!“
Und sie schlang beide Arme um den Hals der erstaunten Marie, schmiegte die Wange an ihr weiches, lichtblondes Haar und flüsterte ihr ins Ohr:
„In dieser Nacht habe ich ja meine erste und einzige Liebe im zarten Alter von kaum vier Monaten zu Grabe getragen!“
Trotz des traurigen Inhalts dieser vertraulichen Mittheilung und trotz ihrer eigenen Niedergeschlagenheit mußte Marie lächeln.
„Wirklich, Cilly? Und Du bist ganz sicher, daß sie nicht etwa nur scheintodt ist?“
„Nein, Theuerste, dazu ist keine Hoffnung! Sie ist ganz todt – mausetodt, – da hilft kein Jammern mehr und keine Reue. Wie ich den armen Prinzen gestern abgefertigt habe, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als sich innerhalb zweimal vierundzwanzig Stunden entweder eine Kugel vor den Kopf zu schießen oder sich bis über beide Ohren in ein anderes weibliches Wesen zu verlieben. Für mich aber ist das Ergebniß ja in beiden Fällen so ziemlich dasselbe.“
„Arme Cilly! – Aber man muß Dir das Zugeständniß machen, daß Du das Unvermeidliche mit Würde trägst.“
„Nicht wahr? – Alle unglücklich Liebenden könnten sich ein Beispiel an mir nehmen! Doch ich bitte mir aus, daß Du mich darum nicht für gefühllos hältst! Als ich heute morgen aufwachte, hatte ich da drinnen wirklich so eine unbestimmte Empfindung von gebrochenem Herzen, und wenn ich mich nicht vor Chériette geschämt hätte, würde ich ohne Zweifel sogar bittere Thränen vergossen haben. – Während des Frühstücks ist es dann allerdings langsam besser geworden.“
„Ein drolliges Heilmittel – in der That. Und weißt Du auch, meine liebe Cilly, daß ich unsern gestrigen Unfall jetzt als ein großes Glück für Dich ansehe?“
Mit halb verlegener und halb schelmischer Miene sah die Gefragte zu ihr auf.
„Wirklich? Etwa, weil er mir die Auszeichnung verschaffte, Deinen Herrn Bruder wieder zu sehen?“
„Nein, nicht deshalb! Aber er ist doch wohl die Veranlassung gewesen, daß Du – um mich Deiner eigenen Worte zu bedienen – in dieser Nacht Deine erste und einzige Liebe zu Grabe getragen hast?“
„Ja, – das heißt: ein wenig poetische Uebertreibuug mußt Du natürlich der gehobenen Stimmung zu gute halten! Wenn ich sage ‚meine erste Liebe‘, so rechne ich eben den Litteraturprofessor so wenig als den kleinen Fähnrich von Rochlitz, der mein erklärter Kavalier in der Tanzstunde war; und wenn ich sage ‚meine einzige‘, so will ich damit noch nicht gerade etwas verschworen haben.“
Sie sprach ganz eifrig, halb im Ernst, halb im Scherz, Marie aber zog die zierliche, geschmeidige Elfengestalt fester an sich und erwiderte herzlich:
„Nun wohl, Prinz Lamoral ist Dir in Wahrheit nicht mehr gewesen, als der Litteraturprofessor und der Fähnrich, über deren Anbetung Du Dich heute so leichten Sinnes lustig machst. Und doch würdest Du Dich vielleicht entschlossen haben, seine Gattin zu werden, wenn er sich vor dem häßlichen Ereigniß vom gestrigen Vormittag um Deine Hand beworben hätte. In Unkenntniß Deiner eigenen Empfindungen würdest Du Dich einem Mann zu eigen gegeben haben, dessen gesellschaftlicher Rang und dessen glänzende Erscheinung Dich vielleicht bestochen hatten, den Du aber sicherlich niemals geliebt hast.“
Die lustige Cilly schaute nachdenklich vor sich hin.
„Wie weise Du doch zu sprechen weißt, Mariechen! Und wahrscheinlich hast Du recht! Aber ich gebe Dir mein Wort, daß ich allen Ernstes glaubte, ihn zu lieben. Erst als sich mein Herzeleid heute während des Frühstücks so rasch verflüchtigte, und als ich mir mit meinem Chopinschen Trauermarsch und meinen falschen Griffen mit einem Mal so ungeheuerlich komisch vorkam, merkte ich, daß es doch wohl nichts Rechtes damit gewesen sei. Doch das ist eigentlich eine recht entmuthigende Erkenntniß. Woraus in aller Welt soll man denn nun in einem solchen Fall ersehen, ob es wirklich und wahrhaftig die echte, wahre, einzige Liebe ist? Man kann doch nicht immer eine so lebensgefährliche Probe darauf machen wie die, welche Prinz Lamoral so schlecht bestanden hat!“
„Die rechte Liebe bedarf solcher Proben nicht, Cilly! Wenn Dich nicht der bloße Gedanke, den Gegenstand Deiner Neigung für immer zu verlieren – ja, der Schatten einer Sorge, von ihm verkannt oder mißachtet zu werden, mit namenlosem, unaussprechlichem Weh erfüllt, wenn Du nicht mit tausend Freuden bereit bist, jedes, auch das schwerste Opfer zu bringen, nur um dies Aeußerste, Schmerzlichste von Dir abzuwenden, dann darfst Du sicher sein, daß es nicht Liebe war, was Du empfunden.“
„Nun, ich will mir’s merken – für den Fall, daß ich’s überhaupt noch einmal fertig bringen sollte, Wohlgefallen an einem Manne zu finden! – Doch genug von diesen schwermüthigen Geschichten! Jetzt spielen wir etwas Lustiges – das Lustigste, was wir haben!“
Marie willfahrte ihr auch diesmal; aber jetzt lag die Schuld an ihr, wenn sie mit ihrem Spiel nicht immer im Gleichklange blieben. Und nicht das im Grunde so harmlose Herzenserlebniß der Freundin war es, das ihre Gedanken hartnäckig von den Noten abzog, sondern der Klang ihrer eigenen Worte, die ihr im Ohre nachtönten, wie wenn sie aus einem fremden Munde gekommen wären.
„Der Schatten einer Sorge, von ihm verkannt oder mißachtet zu werden –“, wie in aller Welt hatte sich gerade diese Aeußerung auf ihre Lippen drängen können? Sie war ein halb unbewußter Ausfluß ihres innersten Empfindens gewesen, das unterlag keinem Zweifel, aber gerade deshalb wollte sie ihr selber nun um so erstaunlicher und fremdartiger erscheinen. Es gab ja nur einen einzigen Menschen, von dem sie fürchten mußte, daß er sie verkannt habe und sie verachte; aber jener Eine war nicht der Mann, den sie liebte, er war nicht einmal ihr Freund, sondern er war ihr ein beinahe Fremder, der sie abstieß, und den sie fürchtete, seitdem sie ihn so schnell entschlossen gesehen hatte, um der Wahrheit willen selbst seines eigenen Bruders nicht zu schonen.
Doch Cilly in ihrer plötzlich wieder erwachten Munterkeit und Lebhaftigkeit ließ ihrer Base nicht Zeit, sich dem Grübeln über das Räthsel, das ihre Brust bewegte, lange hinzugeben. Sie gab Marie nicht für eine Minute frei und wich auch nicht von ihrer Seite, als [396] Engelbert kurz vor Beginn der Tafel nach Hause zurückkehrte. An dem Essen nahmen einige höhere Offiziere als Gäste theil, und es war nicht sehr verwunderlich, wenn die fast ausschließlich auf militärische Angelegenheiten bezügliche Unterhaltung dem Dragonerlieutenant wenig Zeit ließ, sich einem Gespräch mit den beiden jungen Damen zu widmen. Nach aufgehobener Tafel wurde er zu einer Spiel-Partie herangezogen, und für die späteren Abendstunden war er zu einem von Kameraden veranstalteten Liebesmahl geladen. So hätte Marie vergebens nach einer Möglichkeit gesucht, ihn unbelauscht und ungestört zu sprechen.
Allerdings war Engelbert sonst in dem Bemühen eine Gelegenheit zu solcher verstohlenen Zwiesprache herbeizuführen, vielleicht geschickter und erfinderischer gewesen als gerade heute, wo sich bei ernstem Willen ein geeigneter Vorwand für ihn doch wohl hätte ersinnen lassen. Dafür aber, daß er ein Alleinsein mit Marie etwa geflissentlich vermieden hätte, bot sich in seinem Benehmen jedenfalls ebensowenig ein Anhalt – und als er ihr beim Fortgehen Gutenacht sagte, traf sie für eine flüchtige Sekunde ein ebenso begehrlicher und glühender Blick wie gestern bei der tollen Mazurka, an die sie noch immer nicht ohne schamhaftes Erbeben und ohne einen peinigenden Groll über ihre eigene Schwäche zurückdenken konnte.
Nun endlich fand Marie die lang ersehnte schickliche Gelegenheit, sich unauffällig zurückzuziehen. Aber als sie allein war, fiel ihr die Erinnerung an die Ereignisse der Nacht doch mit verdoppeltem Gewicht auf die Seele, und sie war bitter unzufrieden mit sich selbst. Niemals gewöhnt, nach einer beschönigenden Umschreibung für ihre eigenen Fehler zu suchen, schalt sie sich feige, weil sie einem festen und durch ihre schwesterliche Pflicht unweigerlich gebotenen Vorsatz untreu geworden war. Wohl hatte sie im Verkehr mit Engelbert unwillkürlich einige Zurückhaltung beobachtet; aber sie hatte ihm doch durch kein Wort und keine Miene gezeigt, daß er sie tief beleidigt habe, sie hatte ihm ihre Hand gereicht wie sonst und hatte sich nicht von ihm abgewendet, als sie seinen verwegenen, vielsagenden Blick auf sich ruhen fühlte.
„Das alles ist ja nur um der anderen willen geschehen!“ wollte eine Stimme in ihrem Herzen ihr zuflüstern, aber Marie klammerte sich nicht an diese naheliegende Entschuldigung, sondern war ehrlich genug, sie vor sich selber als eine Lüge zu bezeichnen.
„Nein, auch wenn ich mit ihm allein gewesen wäre, würde ich nicht die Kraft gefunden haben, jene Erklärung von ihm zu fordern!“ sagte sie sich mit schmerzlicher Beschämung, und mit tiefem Bangen fügte sie die Frage hinzu: „Was aber soll nun werden?“
Ja, was sollte nun werden? So wie der heutige Tag würde auch der nächste und der übernächste verlaufen; mit jeder weiteren Stunde des Zauderns würde es ihr schwerer und schwerer werden, Genugthuung für ihren Bruder zu fordern, bis es endlich völlig unmöglich geworden war. Freilich, es wußte ja niemand, daß sie eine Zeugin seiner Beschimpfung gewesen sei – niemand außer Lothar, und der Gedanke, daß er sie an Wolfgang verrathen könnte, beunruhigte sie nicht für einen einzigen Augenblick. Aber sie gewann keine Erleichterung aus dieser Gewißheit seines Schweigens. Denn daß er sich mit dem Verrath an seiner Freundschaft gewissermaßen zu ihrem Mitschuldigen gemacht hatte, war ja um den Preis seiner Achtung geschehen; nicht eine Uebereinstimmung der Gesinnung, sondern ein geringschätziges Mitleid hatte ihn zu ihrem Bundesgenossen gemacht – sein Schweigen war eine Demüthigung, ein stummer und doch unerträglich beredter Ausdruck seiner Verachtung!
War ihre Liebe für Engelbert denn wirklich so heiß und tief, daß sie um ihretwillen Tag für Tag die Last dieser kläglichen Erkenntniß weiterschleppen mochte? Ach, wenn sie nur eine Antwort gehabt hätte auf diese immer wiederkehrende Frage! Jetzt, wo sie seine schöne, ritterliche Erscheinung nicht vor sich sah, wo sie den Klang seiner volltönenden, einschmeichelnden Stimme nicht vernahm, hatte sie wahrlich nicht den Muth, sich selbst mit einem freudigen, rückhaltlosen „Ja“ zu belügen. Noch immer fühlte sie etwas von dem Nachzittern des tödlichen Schreckens, der sie durchzuckt hatte, als sie in dieser Nacht ihrem Vetter Lothar die Erklärung gegeben hatte, daß sie seinen Bruder liebe. War das wirklich nur die spröde Scham des jungfräulichen Herzens gewesen, das sich wider Willen sein kostbarstes Geheimniß entreißen ließ, oder hatte sie in jenem Augenblick unter der unbarmherzigen Klarheit, die von dem gesprochenen Wort ausgeht, erkannt, daß jenes Geständniß eine Unwahrheit, daß ihre Liebe eine Täuschung gewesen sei wie Cillys Neigung für den Prinzen von Waldburg?
Nein, sie durfte nicht daran denken, daß es so sein könnte! Und es war ja auch unmöglich! Hatte sie Engelberts heißen Liebesworten denn nicht mit Entzücken gelauscht? Hatte sie denn nicht mit wonnigem Erschauern seine brennenden Lippen auf ihrem Munde gefühlt? Wenn sie jetzt außer stande war, die Seligkeit jener Augenblicke durch die Erinnerung von neuem wachzurufen, so konnte nur eine vorübergehende Verstimmung ihres ganzen Wesens, nicht ein Erkalten oder Erlöschen ihrer Liebe die Schuld daran tragen, und nur aus dieser Verstimmung war es wohl auch zu erklären, wenn sie so heftig vor dem Gedanken erzitterte, daß das erste Gespräch unter vier Augen, welches sie aus Anlaß jener Ballunterhaltung über ihren Bruder mit Engelbert führen würde, nothwendig entweder einen Bruch oder ein öffentliches Bekennen ihres Herzensbündnisses im Gefolge haben müßte. Ihrer weiblichen Würde war sie es ja ohnedies schuldig, dies letztere von ihm zu fordern, aber sie wußte nicht, ob es die Verlobung mit Engelbert oder der Bruch mit ihm war, was ihr in diesen Stunden quälenden Zweifels als das Fürchterlichste erschien.
Was sie auch thun mochte – das eine wie das andere konnte sie unglücklich machen, und zu dem einen wie zu dem anderen gebrach ihr der Muth. Daß sie ihren Bruder von ganzem Herzen liebte, daß eine Kränkung, welche ihm widerfuhr, sie selbst aufs schmerzlichste traf – niemals hatte sie es deutlicher empfunden als gerade jetzt; aber sie besaß dessenungeachtet ebensowenig die Entschlossenheit, mit ihrer eigenen Person für ihn einzutreten, als zu ihm zu eilen und ihm alles zu beichten. Später – morgen vielleicht oder nach einer kleinen Anzahl von Tagen – wollte sie ihm ja gerne reuig bekennen, was sie an ihm gesündigt hatte; jetzt aber mußte sie Zeit gewinnen – Zeit, um zur Klarheit zu gelangen über sich selbst und um den Weg zu finden, welchen sie einschlagen durfte, ohne ihr eigenes Lebensglück zu zerstören.
Als sie am nächsten Morgen das Frühstückszimmer betrat, hatte sich die Zahl der Gedecke um eines verringert. Lothar erschien nicht, und man hatte ihn offenbar auch gar nicht erwartet. Niemand erwähnte seiner, und obwohl sich ihre Gedanken unausgesetzt mit ihm und mit den muthmaßlichen Gründen seines Fernbleibens beschäftigten, würde Marie es doch niemals übers Herz gebracht haben, eine Frage nach ihm zu thun. Doch als sie nachher mit Cilly allein war, duldete es sie nicht länger in dieser Ungewißheit, und scheinbar beiläufig, doch mit stockender Stimme, erkundigte sie sich nach dem Assessor.
„So weißt Du gar nicht, daß er heute in aller Gottesfrühe ausgezogen ist?“ fragte Cilly verwundert. „Gestern im Laufe des Tages hat er sich in Moabit eine eigene Wohnung gemiethet, und am Abend hat er uns ohne viele Umstände das Quartier aufgekündigt. Der Weg, den er täglich zu machen hatte, um sich mit seinen geliebten Verbrechern zu unterhalten, war ihm wohl zu unbequem, und außerdem störte ihn die Geselligkeit, die zu seinem Entsetzen in unserem Hause gepflegt wird. Mit der bewunderungswürdigen Offenheit, die ihm nun einmal eigenthümlich ist, erklärte er gestern abend in unserer Gegenwart dem Papa, er halte neun Zehntel aller Abendgesellschaften, Bälle, Gastmahle und musikalischen Thees für die sündhafteste Vergeudung von Zeit und Kräften, und er sei entschlossen, sich von diesem hohlen Treiben viel entschiedener fernzuhalten, als es ihm unter unserem Dache möglich wäre. Nun, es hat keines von uns den Versuch gemacht, ihn mit Bitten und Thränen zum Dableiben zu bewegen. Ein wie guter Mensch er auch ist, hier steht er mit seiner pedantischen Schwerfälligkeit doch überall im Wege.“
Bei ihrem eifrigen Geplauder hatte sie kaum beachtet, daß Marie plötzlich das Gesicht abgewendet und sich sehr angelegentlich mit den Notenheften auf dem Flügel zu schaffen gemacht hatte, und sie fand es auch durchaus nicht auffällig, daß ihre Base das Gespräch sehr rasch auf einen anderen Gegenstand lenkte. Ihr Bruder Lothar war ja eine so uninteressante Persönlichkeit! –
Wie lebhaft würde sich wohl ihre Verwunderung geäußert haben, wenn sie gesehen hätte, daß in Mariens Augen die hellen Thränen schimmerten – Thränen der Beschämung, des Zornes und des uneingestandenen Kummers. Sie wußte ja besser als alle anderen Bewohner des Hauses, weshalb Lothar von Brenckendorf sich eine andere Heimstätte gesucht hatte! –
Alle Rechte vorbehalten.
Das Passionsspiel zu Oberammergau.
Dem höchsten Gipfel des Deutschen Reiches, der weit ins Land hinaus grüßenden Zugspitze, liegt eine ausgedehnte waldreiche Berglandschaft vorgelagert, aus welcher ein klargrüner Alpenfluß, die Amper oder Ammer, in zahllosen Windungen durch unbeschreiblich einsame Waldthäler hinausfließt in die weite Spiegelfläche des Ammersees. Während andere Alpenströme neben sich Raum lassen für verkehrsreiche Straßen und belebte Ortschaften, ist das Ammerthal auf meilenlange Strecken eigentlich nur menschenleere Waldschlucht. Erst in seinem oberen Theile öffnen sich weite grünende Wiesenflächen, in welchen die Ortschaften Unter-, und Oberammergau und Graswang liegen, überragt von mattenreichen waldgekrönten Bergen. Der Zugang zu diesem Thalboden führt aber nicht durch das untere Thal des Flusses, sondern aus dem benachbarten breiten Loisachthale her über ein bewaldetes Joch.
Von den Ortschaften dieses Thalbodens hat sich das Dorf Oberammergau einen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt steigenden Ruf erworben als Heimstätte des großartigsten Volksschauspiels.
Oberammergau liegt dort im Ammerthale, wo dessen Landschaft aus den Hochalpen in die Vorberge übergeht. So sieht man nach Süden zu, thaleinwärts, schon recht ansehnliche felsige Berge; nach Norden aber wird die Gegend zur harmlosen Hügellandschaft. Die Lage ist immerhin schon so gebirgig, daß der rauhe und lange Winter nur spärlichen Landbau gestattet. So waren die Ammergauer genöthigt, sich nach einem Nebenerwerb umzusehen, der ihnen das Wenige, was von der rauhen Bergnatur geboten ward, ergänzen sollte. Sie fanden einen solchen Nebenerwerb in der Holzschnitzerei, welche sie seit etwa hundert Jahren zu achtbarer Höhe brachten. Fast in jedem Hause sieht man Schnitzerwerkstätten. Die erste Anregung zur Ammergauer Holzindustrie sollen übrigens schon im zwölften Jahrhundert die Mönche eines benachbarten Stiftes gegeben haben. Eine besondere Ausbildung hat auch in der That das Schnitzen größerer Holzfiguren für kirchliche und weltliche Zwecke gefunden; daneben werden Kinderspielsachen, Möbel und Nippzeug gefertigt. Ehedem gingen die Schnitzer selbst mit ihrer Ware hausirend im Lande umher; jetzt lassen sie sich den Absatz von einigen größeren Verlegern besorgen.
Der künstlerische Zug, den die Bevölkerung des Ortes dadurch erhielt, äußert sich indessen in der Bauweise des Dorfes nur wenig. Schön geschnitzte Holzarchitektur findet man nicht; dafür sind die Häuserfronten mitunter ganz artig bemalt, wie z. B. das Haus des Bürgermeisters, das unsere Abbildung zeigt.
Einen weit glänzenderen Ausdruck hat dieser künstlerische Zug in dem Passionsspiele gefunden, welches während der letzten Jahrzehnte wirklich zu einer Weltberühmtheit geworden ist.
Das Ammergauer Passionsspiel ist eine ganz einzig in ihrer Art dastehende Erscheinung der Kulturgeschichte, eine gleichzeitige Betätigung religiöser und künstlerischer Triebe aus des Volkes breitester Schicht heraus. Die Entwickelungsgeschichte dieses Spiels hängt zusammen mit den schon im frühen Mittelalter in den christlichen Ländern üblichen geistlichen Schauspielen, welche Mysterien genannt wurden, da sie die Geheimnisse der christlichen Religion versinnlichen sollten. Solche geistliche Spiele wurden namentlich an hohen Kirchenfesten aufgeführt; sie waren von Geistlichen gedichtet und geleitet; ihr erhabenster und zugleich beliebtester Inhalt war das Leiden Christi. So weit später die Reformation die Geister in gährende Aufregung brachte, kamen, besonders in den Städten, diese geistlichen Schauspiele außer Brauch und erhielten sich nur in der Einsamkeit der Alpenthäler. Hier aber wurden sie zu einer Art Laiengottesdienst, bei welchem in einer der kindlichen Weltanschauung des Alpenvolks trefflich entsprechenden Mischung religiöse Erbauung, künstlerische Anregung und sittsame Unterhaltung sich vereinigten. Während die Greuel des Dreißigjährigen Krieges unser
[398]deutsches Vaterland verwüsteten, ward im Waldthale der oberen Ammer der Anfang dieser Spiele gemacht. Es war im Jahre 1633; eine todbringende Seuche hauste im Thale, und die Mönche des benachbarten Klosters Ettal, die geistlichen Seelenwächter der Ammergauer, veranlaßten diese zu einem Gelübde, alle zehn Jahre die Leidensgeschichte Christi darzustellen. Die Klosterherren sorgten auch für die Dichtung, für die Musik und den Theaterbau, und die erste Aufführung fand 1634 statt.
Die Dichtung soll dazumal, dem verwilderten Zeitgeschmack entsprechend, manche roh burleske Züge enthalten haben; aber sie läuterte sich im Laufe der Zeit, und das fromme Spiel ward von den Thalbewohnern, treu ihrem Gelübde, alle zehn Jahre wiederholt.
Am Anfang unseres Jahrhunderts wehte ein kühler Luftzug durch das bayerische Staatswesen, der manche alte Einrichtung hinwegfegte. Auch das Ammergauer Passionsspiel wäre ihm beinahe zum Opfer gefallen; denn als die Ammergauer im Jahre 1810 um die obrigkeitliche Erlaubniß zur Aufführung ihres Passionsspieles baten, wurde ihnen dieselbe versagt. Da machten sich einige wackere Ammergauer Männer auf, um als Vertreter ihres Dorfes nach München zu wandern und da beim hohen geistlichen Rathe sich die Erlaubniß zu holen. Hier scheinen sie noch übler behandelt worden zu sein als von ihrer heimischen Polizeibehörde; man drohte ihnen sogar mit polizeilicher Ausweisung aus München. Und die Kloster Klosterherren von Ettal waren auch nicht mehr da, um sich ihrer Ammergauer anzunehmen; denn das Kloster war schon seit Jahren aufgehoben.
In dieser Nothlage wandten sich die Ammergauer an den König Max Joseph selbst. Der leutselige Herrscher hatte einen klareren Blick für die Lebenslagen seines Volks als mancher seiner bureaukratischen Gewalthaber; er zeigte sich den Ammergauern geneigt, und sie erhielten wirklich die Erlaubniß zu ihrem Passionsspiele; dieselbe ward ihnen, nachdem sie schon abgezogen waren, noch nachgeschickt.
Daß indessen die bisherigen Aufführungen manches Anstößige enthielten, war den braven Ammergauern von niederen und höheren Behörden genugsam gesagt worden; und es galt nunmehr, eine zeitgemäße Umgestaltung des Textes vorzunehmen.
Das war eine schwere Aufgabe; denn wie sollten die schlichten Bauern und Holzschnitzer auf einmal dramatische Dichter und Regisseure werden? Aber einer der vormaligen Ettaler Mönche, ein Doktor Ottmar Weiß, half ihnen über die Schwierigkeit weg. Er verwandelte die schwülstigen gereimten Verse des Textes in eine klarere Prosa und beseitigte allerhand schwere Allegorien, insbesondere aber die Teufel, welche vordem eine wichtige Rolle in dem Spiele innegehabt hatten. – Der so entstandene Text gewann einfachere, menschlichere Gestalt. Er geht von dem Grundgedanken aus, die Ereignisse der alttestamentlichen Geschichte als prophetische Vorbilder des Erlösungswerkes Christi in die eigentliche Passion zu verflechten und so den Zuhörern vor Augen zu führen, wie alles, was vor Christus geschehen sei, nur ihn vorbereiten sollte. Die alttestamentlichen Ereignisse aber wurden als lebende Bilder in die dramatisch gegebene und gespielte Leidensgeschichte des Erlösers verflochten. Und damit eine erklärende Verbindung zwischen diesen lebenden Bildern und dem Drama gegeben werden könnte, wurde ein begleitender und erklärender Chor geschaffen. Eine Musik zu dem ganzen Spiele schrieb der Ammergauer Dorfschullehrer Dedler.
So ward die Umgestaltung vollendet und im Jahre 1811 das Spiel zum ersten Male in seiner neuen Form aufgeführt. Seit dem Jahre 1820 fanden die Vorstellungen in jedem Jahrzehnt in ununterbrochener Reihenfolge statt. Bis zu der Vorstellung des Jahres 1830 war der Kirchhof zugleich Platz für das Theater gewesen, im genannten Jahr aber wurde das Theater auf einer Wiese neben dem Dorfe errichtet, wo es auch jedenfalls eine bessere Stätte hat.
Heute noch wird aber das Spiel nicht bloß als eine Sache der Ehre und des gemeindlichen Nutzens aufgefaßt, sondern als die Erfüllung eines frommen Gelübdes der Vorfahren. Nur Gemeindeglieder von Oberammergau dürfen mitspielen; die Begeisterung und das Talent für das Spiel pflanzen sich in den Familien fort. Wie mächtig dieses Spiel in die ganze Lebenshaltung der Dorfbevölkerung eingreift, ist wohl schon daraus zu erkennen, daß von den etwa 1300 Einwohnern ungefähr die Hälfte an dem Spiele betheiligt ist, theils als Schauspieler, theils als Statisten, Kassirer, Aufseher, Theaterzimmerleute, Dekorationsmaler und dergleichen. [399] Es konnte nicht fehlen, daß der rastlos vorwärts eilende Zeitgeist während der letzten Jahrzehnte an dem Ammergauer Passionsspiele manches änderte. Die Hauptsache: der fromme Eifer der Ammergauer und der erhebende Grundcharakter des Spieles, blieb glücklicherweise erhalten. Was im Jahre 1860 der um seine Gemeinde treu besorgte Pfarrer Daisenberger durch seine poetische Umdichtung am Texte veränderte, hat jenem Grundcharakter nicht geschadet. Auch die Musik ist bisher die alte geblieben. Die Vorstellungen im Jahre 1870 wurden durch den Krieg jäh unterbrochen; damals geschah es, daß selbst der Darsteller des Christus zur Fahne mußte. Was in den letzten Jahrzehnten gründlichst umgestaltet wurde, das sind jene Einrichtungen, die sich auf den Verkehr nach Ammergau, auf Unterkommen und Bewirthung beziehen. Jetzt führt ja der eiserne Schienenweg unter der Ettaler Straße vorüber; eine Reihe von Gasthöfen in Ammergau und den benachbarten Orten sind für den immer mächtiger anschwellenden Zufluß der Passionsgäste eingerichtet; die Bewohner von Oberammergau selbst haben alles gethan, was in ihren Kräften stand, um die zuströmenden Menschenmassen beherbergen zu können. Der Weltcomfort hat sich in dem stillen Waldthale ausgebreitet; und für den, dessen Zeit drängt, ist es heute möglich, am frühesten Morgen von München ausfahrend, das ganze Spiel anzusehen und abends wiederum in München zu sein.
Aber nun treten wir die Fahrt selber an.
Es ist ein sonniger Morgen im Frühling; ein mächtiger Sonderzug trägt uns aus der Halle des Münchener Bahnhofes in die Hochebene hinaus. Flimmernd hangen im Süden, von leichten Morgenwolken überflogen, die Schneefelder der Alpen. Station um Station wird durchfahren; dann taucht der entzückende Spiegel des Starnberger Sees vor uns auf. Heute lassen wir ihn links liegen mit seinen Villen und seinen gleich Schmetterlingen auf der lichten Fläche umhergaukelnden Segelbooten. Wir durcheilen auf den rastlosen Rädern die Moränenlandschaft südwestlich vom See, sehen in weiter Ferne traumhaft den Ammersee schimmern und immer mächtiger die Alpenkette vor uns aufsteigen. Dann erschließt sich zur Rechten in bezaubernder Schönheit der Staffelsee, von der Wetterstein-Kette überragt, und der Zug donnert hinunter in den weiten düsteren Kessel des Murnauer Moors. In der nächsten Viertelstunde schon sind wir rings vom Banne des Hochgebirgs umfangen; klargrün schießt uns ein Alpenstrom, die Loisach, entgegen. Bald wird das weitere Thal zur engen Schlucht, und wo diese wieder zu einem grünen Kessel sich öffnet, liegt Oberau, die Station für Ammergau. Mit ihrem ganzen Riesentrotze schauen die Wände des Wettersteingebirges herein, überall Schnee an den Flanken tragend.
In Oberau ist ein internationales Treiben. Eine ganze Wagenburg harrt hinter dem Bahnhofe. Und nun, wenn der Zug seine Massen entladen hat, rasselt es von dannen wie eine wilde Jagd, mit Geschrei und Peitschenknall. Während die Wagen eine schöne, erst seit ein paar Jahren in die felsige Berglehne gebaute Kunststraße hinaufrollen, wandern Scharen von Fußgängern die alte, jetzt nicht mehr befahrene Straße über den Ettaler Berg hinauf, die ehedem der berüchtigste Marterweg für Roß und Wagen war. Wo dieser Straßenzug seinen höchsten Punkt erreicht, liegt in grüner Thalweitung das alte Stift von Ettal. Das Kupferdach des mächtigen Kuppelbaues, der einst begonnen ward, um ein Seitenstück der Gralskirche zu werden, giebt dem ganzen Bau einen metallenen Charakter. Westwärts fährt der Blick in die herrliche Bergeinsamkeit des obersten Ammerthales, wo hinter schöngeformten schroffen Felsbergen menschenleere Jochsteige nach Tirol hinüberführen und wo eines der Prachtschlösser König Ludwigs des Zweiten, der Linderhof, liegt. Unsere Straße aber führt uns nach Norden, unter weißgrauen Felswänden hin, dann in einen weiten grünen Thalkessel. Und ehe wir’s vermuthen, stehen wir zwischen den ersten Häusern von Oberammergau. Das allererste derselben ist die zierliche Villa, welche sich Frau Wilhelmine von Hillern, die bekannte Schriftstellerin, hier auf einem niedrigen Felshügel erbaut hat.
Wir beeilen uns zunächst, uns ein bescheidenes Unterkommen für eine Nacht zu suchen. Da wir früh an der Zeit sind und die Ammergauer reichlich für Wohnungen gesorgt haben, ist das nicht schwer; bedenklicher mag die Frage für solche werden, die erst am späten Abend vor einem Spieltage eintreffen. Gespielt wird immer an Sonntagen und, soweit es wegen überstarken Besuchs nöthig ist, auch an Montagen, außerdem noch an einigen anderen Wochentagen.
In den Nachmittagsstunden vor den Spieltagen entwickelt sich in der Hauptstraße ein äußerst lebhaftes Treiben (s. unser Bild S. 401). Die Passionsgäste aus allen Kulturländern der Welt schlendern hier durcheinander; zwischen eleganten Amerikanerinnen und Russinnen drängen sich die schlichten Pilger durch, die in ihrer bäuerlichen Tracht aus der Umgebung gekommen und auf dem Stroh der Massenquartiere untergebracht sind. Und Wagen auf Wagen rollt heran, um seine Menschenlast abzuladen; Rossegestampf und Peitschenknall, das Rufen der Kutscher und die Fragen der Gäste; Posthornklänge auf der Gasse, Posaunenstöße eines Orchestermitglieds aus einem Hause; Glockenläuten und Rädergerassel: all das bildet ein etwas verworrenes, aber keineswegs ungemütliches Konzert in der staubdurchzitterten heißen Luft. Von der schwindelnden Höhe des steilen „Kofels“, der mit seiner jäh aufgebauten nackten Felspyramide die westliche Thalmauer bildet, schaut ein schimmerndes Kreuz auf das bunte Treiben herab.
Am Morgen eines Spieltages wird es früh lebhaft in Oberammergau. Glockengeläut und Böllerschüsse geben der Feststimmung Ausdruck; von Süden und Norden kommen noch Fuhrwerke und Fußwanderer, die in grauender Morgenfrühe [400] aufgebrochen sind. Wir wandern nach dem Theater, das am nördlichen Ende des Dorfes steht. Die Gartenlaube hat es bereits früher, Seite 665 des vorigen Jahrgangs, beschrieben. Es ist ein umfangreicher Bretterbau mit festgefügtem Balkengerüst und umfaßt fünftausend amphitheatralisch ansteigende Sitzplätze.
Die rückwärtigen höheren Sitzreihen enthalten die theueren bedeckten Plätze; näher der Bühne zu und niedriger liegen die unbedeckten Plätze; sie sind wohlfeiler und werden meist von dem Landvolk eingenommen. Für Fürstlichkeiten ist eine besondere Loge mit Vorzimmer und allen möglichen Bequemlichkeiten versehen hergerichtet worden. Zehn große Ausgänge führen unmittelbar ins Freie, um den Zuschauerraum bei einem etwaigen Unglücksfall in kürzester Zeit entleeren zu können, während ein Krankenhaus und eine Feuerwehrstation in der Nähe des Passionsspielhauses selbst den ängstlichsten Gemüthern Beruhigung gewähren dürften. Das ganze Theater ist eben erst neu gebaut worden, unter der Leitung des Obermaschinenmeisters Lautenschläger vom Münchener Hoftheater. Durch diesen Neubau wurde der Raum vergrößert, die Dekorationen wurden stilgerecht, das bühnentechnische Zubehör brauchbarer. Auch die Beleuchtung des Spielraumes, die bei den früheren Aufführungen recht mangelhaft war, ist wesentlich verbessert worden. Man erhellt die Panoramadekoration durch regulirbares Tageslicht und unterstüzt die Wirkung durch künstliche Beleuchtung der theilweise durchsichtigen Dekorationsstücke.
Ebenso geht die Verwandlung der Bilder rascher vor sich und die ganze Maschinerie, namentlich das Flugwerk für die Himmelfahrt Christi, hat hat mannigfache Verbesserungen erfahren. Das Orchester ist tief gelegt wie beim Bayreuther Wagnertheater. Hinter der Bühne liegen die Garderobe- und Requisitenräume, in welche unserem Künstler ebenfalls ein Blick verstattet worden ist (s. Bild S. 398).
Die Bühne ist eine weitläufige Einrichtung, an das altgriechische Theater erinnernd. Sie besteht aus einem zweiundvierzig Meter breiten Proscenium, welches sowohl für den Chor, als auch für die Schauspieler berechnet ist. Hinter diesem Proscenium, in der Mitte desselben, befindet sich ein kleinerer gedeckter Theaterbau, in welchem die lebenden Bilder und ein Theil der eigentlichen Handlung ihre Stätte haben. Zur Rechten und zur Linken desselben sieht man in die Straßen von Jerusalem; an diese schließen sich wiederum rechts und links zwei schmale Gebäude, die Paläste des Annas und des Pilatus, jedes mit einer Freitreppe nach dem Proscenium herab. Diese Paläste fügen sich wieder an Bogengänge an, welche dem Chor zum Ein- und Austritte dienen.
Durch eine solche Gesammteinrichtung ist eine große Mannigfaltigkeit und reiche Gliederung des Bühnenraumes gegeben. Einzelne Theile der Handlung spielen auf der Mittelbühne, andere rückwärts in den Straßen; wieder andere auf dem Proscenium, und einzelne endlich, wie die Verhandlungen vor Annas und vor Pilatus, auf den Freitreppen der erwähnten Paläste (s. Bild S. 405). Die Mittelbühne besitzt Dekorationen und Coulissen; über das Ganze aber sieht der Zuschauer von den höheren Plätzen aus die grünen Matten und Wälder der Oberammergauer Berge hereinschauen.
Diese Gestaltung der Bühne entspricht in vorzüglicher Weise dem ganzen geistigen Aufbau des Passionsspieles. Dasselbe beruht auf dem Grundgedanken, die eigentliche Leidensgeschichte Christi, vom Einzuge in Jerusalem bis zur Auferstehung, mit alttestamentlichen Ereignissen derart in Verbindung zu bringen, daß jedem Hauptmoment der Leidensgeschichte als Einleitung ein oder zwei lebende Bilder aus dem Alten Testamente vorangehen, um zu zeigen, wie jene Hauptmomente in früheren Ereignissen ihre Vorbilder haben. Die Aufgabe des Chores ist es, diesen Zusammenhang zu erklären, auf jeden einzelnen Theil der dramatischen Handlung vorzubereiten. Dabei erfüllt aber dieser Chor noch eine andere Aufgabe. Er ist es, welcher dem ganzen Passionsspiele jenen eigenthümlichen Zug eines Laiengottesdienstes verleiht, durch welchen es zwar an dramatischem Leben verliert, aber weit mehr an Würde und Weihe dafür gewinnt.
Lassen wir nun das Spiel seinen Anfang nehmen.
In dem von fünftausend Menschen gefüllten Zuschauerraume wird es still; die einfache und würdige Ouverture, von Ammergauer Musikern pünktlich ausgeführt, beginnt. Wie sie zu Ende ist, tritt aus den Säulengängen an den Seiten der Bühne der Chor, etwa fünfundzwanzig Männer und Mädchen in antikem Priestergewande. „Schutzgeister“ nennt das Volk herkömmlicherweise die Gestalten dieses Chores; sie tragen weiße Tuniken, darüber faltenreiche goldverbrämte Mäntel von verschiedenen Farben, Diademe auf den Häuptern. Ihre Bewegungen sind ernst und gemessen.
Nach einem vom Chor gesungenen Prolog erhebt sich der Vorhang der Mittelbühne; als lebende Bilder erscheinen zuerst die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradiese; dann ein leeres Kreuz mit anbetenden Frauen und Kindern. Auch der Chor sinkt anbetend nieder; nachdem das lebende Bild verschwunden ist, mischt sich in den Gesang des Chores, von rückwärts erschallend, das Hosianna, das dem in Jerusalem einziehenden Christus zugerufen wird. Der Chor leitet jede der siebzehn „Vorstellungen“, aus welchen das ganze Passionsdrama besteht, ein; er steht in geschlossenem Bogen vor der Mittelbühne, während deren Vorhang geschlossen ist, und löst sich zurücktretend in zwei Hälften auf, wenn der Vorhang aufgezogen wird.
Und nun quillt aus den Straßen Jerusalems der scheinbar endlose Zug, welcher den Heiland geleitet, jubelnd und Palmzweige schwingend. Wir sehen Christus selbst, von der Eselin hereingetragen, eine würdevolle und edle Erscheinung; wir sehen ihn, wie er die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel vertreibt und die Tische der Wechsler umstürzt.
Nun folgen, streng an die Darstellung der Evangelien sich haltend, die Ereignisse in mächtiger Steigerung: die Anschläge [401] des Hohen Rathes gegen Christus; der Abschied zu Bethania; der letzte Gang nach Jerusalem; das Abendmahl und die Stiftung des Mahles des Neuen Bundes. Der Verräther Judas verläßt das Abschiedsmahl; gleich daraus sehen wir ihn in das Synedrium eintreten und seinen Meister für dreißig Silberlinge an die Pharisäer verkaufen.
Ergreifend ist die folgende Vorstellung: Christus auf dem Oelberge in seiner bitteren Todesangst, der Judaskuß und die Gefangennahme.
Hiermit schließt die erste Abteilung. Vier Stunden, von acht Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags hat sie gewährt; eine Ruhepause von anderthalb Stunden bietet Gelegenheit, die Lebenskraft durch Speise und Trank zu erfrischen.
So weltlich auch das Treiben während dieser Pause sein mag: man kommt sofort wieder in die rechte Stimmung, wenn man nach derselben das Theater wieder betritt und nun in fast athemloser Spannung den Ereignissen der Leidensgeschichte weiter folgt.
Wir sehen den Messias nun vor Annas und Kaiphas geführt, von letzterem des Todes schuldig erklärt, von Petrus verleugnet, von den Dienern verspottet und mißhandelt; dann Judas, dem hohen Rate seinen Verrätherlohn hinwerfend und in wilder Verzweiflung in den Tod gehend.
Dann wird Christus vor Pilatus, vor Herodes geführt, zu Pilatus zurückgesendet, gegeißelt und mit Dornen gekrönt.
Der Gang zum Kreuze und die Begegnung mit Maria erschüttern die Herzen der Tausende; stärker noch die Kreuzigung selbst, die letzten Worte des Gekreuzigten und sein erhabenes Ende.
Noch folgt die wunderschön in lautloser Stille gegebene Kreuzabnahme, endlich die Ruhe Christi im Grabe und die Auferstehung. Mit einem Hallelujagesange schließt das Passionsspiel.
Es ist eine der merkwürdigsten und ergreifendsten Leistungen, welche durch das Zusammenwirken aller edlen Künste, durch die schlichte Frömmigkeit eines einfachen Bergdorfes, durch die treue und ausdauernde Hingebung begeisterter Menschen hier der Welt dargeboten wird.
Daß den Ammergauern ihr Passionsspiel einen Weltruf verschafft hat, daß jedes Passionsjahr ihnen mit den Tausenden von Besuchern einen mächtig anschwellenden Strom irdischen Reichthums zuführt: es ist ihnen gewiß nicht gleichgültig; aber dieser irdische Erfolg steht ihnen doch erst in zweiter Reihe. Als erstes gilt ihnen – und das kann man jeder Einzelheit des Ganzen entnehmen – die Erfüllung des Gelübdes ihrer Väter, das Bewußtsein, einer Idee zu dienen, welche ihnen heilig ist und welche von Geschlecht zu Geschlecht fortlebt, allen theuer und selbst für die ruhelosen Weltkinder des Jahrhunderts rührend und groß.
Der Schlaf.
Alle Rechte vorbehalten.
Was ist der Schlaf? Warum schlafen wir? Das sind sehr naheliegende Fragen, die sich der Mensch seit uralten Zeiten gestellt hat, auf die er aber bis auf den heutigen Tag eine bestimmte Antwort nicht geben konnte. Die Erscheinungen des natürlichen Schlafes sind uns wohl bekannt, wir wissen, daß der tiefe traumlose Schlaf mit dem völligen Erlöschen der Aufmerksamkeit verbunden ist; unsere Sinnesorgane sind in ihm gegen schwächere äußere Reize, die wir selbst im Zustande der Schläfrigkeit noch deutlich wahrnehmen, unempfindlich, die willkürlichen Bewegungen hören auf, und ebenso erlischt die Fähigkeit, Vorstellungen logisch zu verknüpfen, Gedanken zu bilden. Doch nur ein Theil des Organismus stellt im Schlaf seine Thätigkeit ein, physiologische Vorgänge, die von der Aufmerksamkeit nicht abhängen, vollziehen sich mit noch größerer Regelmäßigkeit als im wachen Zustande: unser Herz arbeitet und das Blut kreist in den Adern, wir athmen, unser Körper bildet Wärme, die chemischen Prozesse erleiden keinen Stillstand, wenn sie auch von denen, die sich im Wachsein vollziehen, verschieden sein dürften. Das Gefühl der Erholung und Erquickung, welches auf den Schlaf folgt, läßt auch die Annahme berechtigt erscheinen, daß zu dieser Zeit gerade die aufbauenden Vorgänge, welche die Erneuerung des Organismus herbeiführen, vorwiegend walten. Das Organ, welches im Schlafe in erster Linie ruht und sich erholt, ist aber das Gehirn, das Organ der geistigen Thätigkeit. Wir könnten somit den Schlaf als die in regelmäßigen Fristen wiederkehrende Ruhe des Gehirns ansehen. Daß sie unumgänglich zur Erhaltung der Gesundheit nöthig ist, weiß jedermann; denn wenn wir den Schlaf durch fortwährend neue Reize anhaltend verscheuchen, so tritt endlich eine schwere Schädigung des Gehirns ein.
Warum aber müssen wir schlafen? Die Frage läßt sich nach dem heutigen Stande der Wissenschaft etwa wie folgt beantworten:
Während unser Organismus wacht, während wir arbeiten und denken, werden in uns Zersetzungsprodukte gebildet, welche aus dem Körper ausgeschieden werden müssen, wenn er leistungsfähig bleiben soll. Die Anhäufung dieser Stoffe verursacht Ermüdung, und man hat sie darum „Ermüdungsstoffe“ genannt. Sind sie in größeren Mengen vorhanden, so stören sie auch die Thätigkeit des Gehirns, setzen seine Erregbarkeit herab und zwingen es zur Ruhe. Der Schlaf tritt alsdann ein. Während desselben werden nun neue Ermüdungsstoffe gar nicht oder nur in geringen Mengen gebildet, der Organismus hat somit Zeit, die vorhandenen angehäuften Stoffe auszuscheiden. Ist dies geschehen, so hat sich der Körper erholt und wir erwachen erquickt und gestärkt.
Der berühmte Physiologe W. Preyer, welcher diese Deutung des Schlafes aufstellte, hat namentlich auf die Milchsäure als einen hervorragenden Ermüdungsstoff hingewiesen. Infolgedessen wurden vielfache Versuche mit der Milchsäure angestellt, um dieselbe auf ihre schlafverursachende Wirkung zu prüfen. In der That stellten sich nach Darreichung derselben sowohl bei Menschen wie bei Thieren Schläfrigkeit und Schlaf ein, aber nicht in allen Fällen, ebenso häufig erwies sich das Schlafmittel als unwirksam. Preyer hat jedoch von Anfang an darauf hingewiesen, daß wir die Ermüdungsstoffe, welche der Körper erzeugt, erst sehr wenig kennen, und daß erst nach dieser Richtung hin Vorarbeiten gemacht werden müssen.
In der That scheinen die neuesten Ergebnisse der Forschung viel zum Ausbau jener Erklärung des Schlafs beizutragen. Es sind in den letzten Jahren unter den Zersetzungsprodukten Stoffe bekannt geworden, die den Körper äußerst stark beeinflussen.
Wir wußten längst, daß gewisse Pflanzen äußerst starke Gifte erzeugen, denen auch betäubende Wirkung zukommt; es sind dies die Alkaloide, eine Gruppe von chemischen Verbindungen, von denen das Morphium als das bekannteste erwähnt sein mag, das Morphium, welches wie eine Reihe anderer Mittel einen künstlichen Schlaf hervorruft. Bis vor kurzem war es nicht bekannt, daß auch der thierische Körper ähnlich wirkende Stoffe erzeuge. Da fand man sie in den Leichen und verwesenden Substanzen und nannte sie „Leichengifte“ oder „Ptomaïne“. Die Bahn für die Untersuchungen war geebnet, und man fand ähnliche Gifte in dem Speichel und Urin gesunder Menschen, man fand im Fleische die sogenannten Leukomaïne, welche mehr oder weniger stark die Nervencentren beeinflussen und Ermüdung und Schläfrigkeit hervorrufen. Diese Entdeckungen bieten wesentliche Stützen für die erwähnte Lehre vom Schlafe; derselbe wäre demnach durch eine Art von Selbstvergiftung hervorgerufen, und die Ruhe, welche er gewährt, wäre dazu bestimmt, den Körper von den schädlichen Stoffen wieder zu befreien.
Durch diese Auffassung wird vieles erklärt. Wir begreifen, warum der Schlaf eine periodische Erscheinung ist, aber in der Dauer der Perioden so wechselnd; wir begreifen, warum es einen festen und minder tiefen Schlaf giebt; es kommt ja auf die Grade der Selbstvergiftung an. Aber der Begründer der Lehre selber warnt vor zu eiligen Schlüssen; ein Mann der strengen Forschung, will er nicht geistreiche Vermuthungen aufstellen, sondern verlangt beweisende Thatsachen – und solche entscheidende Versuche fehlen noch zur Stunde. So müssen wir gestehen, daß wir im Augenblick selbst das Wesen des natürlichen Schlafes nicht erklären können, um wie viel schwieriger muß darum die Deutung der krankhaften Erscheinungen desselben sein!
Wir möchten aber von der Erwähnung dieser Erklärungsweise nicht scheiden, ohne eines Begleiters des Schlafes, des Traumes, zu gedenken. Soweit es möglich war, Versuche anzustellen, ergeben sie, daß der Traum in einer falschen Auslegung von Sinneseindrücken besteht. Für das Träumen giebt es keine Regel, kein Gesetz. Unsere Auffassung dürfte einiges Licht in das Dunkel der Traumwelt werfen.
Das Gehirn ist die Centralstation des Körpers und es zerfällt selbst in eine Anzahl von Centren, welche gewisse Verrichtungen ausüben müssen. Von der richtigen Beschaffenheit dieser Centren hängt auch unser gesundes Denken ab. Es ist erwiesen, daß z. B. Erkrankungen einer Partie des Gehirns Störungen der Sprache hervorrufen. Die Ermüdungsstoffe betäuben sozusagen diese Centren, aber nach und nach werden die Ermüdungsstoffe im Schlafe ausgeschieden; nach und nach werden die Centren im Gehirne frei, aber nicht alle mit einem Schlage: das eine schlummert noch tief, das andere ist bereits erregt; so werden gewisse Reize wahrgenommen und in dem unvollständig arbeitenden Gehirn zu der wirren Traumerscheinung verarbeitet.
Unter den Träumen, die uns in dem unvollkommenen Schlaf befallen, giebt es auch quälende, die bei häufiger Wiederkehr sogar einen krankhaften Zustand bilden. Schon in den ältesten medizinischen Schriften finden wir den „Alp“ erwähnt, jenen Traum, der von dem Gefühl des Erstickens begleitet ist. Der Aberglaube hat sich dieser oft wiederkehrenden Traumerscheinung bemächtigt und sie als das Werk eines Kobolds, eines Gespenstes gedeutet, das uns in der Nacht aufsucht. Die Hexenprozesse beweisen uns, daß dieser Aberglaube kein harmloser war, sondern Veranlassung zu dem Glauben an den Verkehr mit Teufeln etc. gab. Früher beschäftigten sich die Aerzte viel mit dem Alpdrücken. In dem 1833 erschienenen Werke von M. Strahl „Der Alp, sein Wesen und seine Handlung“ wird eine ganze Reihe von sonderbaren Träumen erzählt und in dem Litteraturverzeichniß werden gegen 150 Schriften über den Alp aufgeführt. Man warf auch in früheren Zeiten alle möglichen ähnlichen Erscheinungen in einen Topf zusammen und fand gerade in den krankhaften Träumen, im Nachtwandeln, in Ekstasen Hysterischer etc. ein Gebiet, auf dem die Phantasie sich nach Belieben austummeln konnte. Und doch war es nicht schwer, die Ursache des Alpdrückens durch Versuche festzustellen.
Der vom Alp Befallene träumt, daß er ersticke. Die Ursache dieses Gefühls ist eine außerordentlich verschiedene und hängt von dem Bildungsgrade des Träumenden ab. Vielen erscheint wirklich ein schwarzes Gespenst, ein Kobold oder Elf, und legt sich ihnen auf die Brust; andere sehen und fühlen, wie ein häßliches Thier, eine schwarze Katze oder ein zottiger Hund, sich auf ihre Herzgrube lagert; andere endlich haben nur die Vorstellung, daß ihr Athem stocke, ihr Herz stillzustehen drohe, und alle empfinden Qualen der Todesnoth. Ist aber die Beklemmung aufs höchste [403] gestiegen, so wacht der Gequälte auf; der Alp wird abgeschüttelt, und manche greifen nach dem Puls, um zu sehen, ob sie noch leben.
Börner hat in den fünfziger Jahren genaue Beobachtungen über das Alpdrücken angestellt.[WS 1] Zunächst wählte er jugendliche Personen, die offenkundig daran litten. Während sie fest und ruhig schliefen, schob ihnen Börner die Decke sanft über das Gesicht, wobei er den Mund ganz und die Nasenlöcher nur zum größten Theil bedeckte. Dadurch wurde die Athmung erschwert, und die Folgen davon zeigten sich alsbald dem Beobachter. Die Schlafenden machten tiefe, langgedehnte Athemzüge; man sah, wie der Brustkorb angestrengt arbeitete, das Gesicht sich röthete, die Halsadern anschwollen; später stöhnten und ächzten die Träumenden, um endlich unter einer heftigen Bewegung zu erwachen. Jetzt gaben sie Auskunft über ihre Empfindungen; ein wüster Traum hatte ihnen den lebenden Alp auf der Brust vorgespiegelt.
Im weiteren Verlauf wurden neue Versuche mit 20 Personen gemacht, die bis dahin niemals an Alpdrücken gelitten hatten. Die meisten von denselben kannten die Alpgeschichte aus Erzählungen, und die Decke über dem Gesicht gaukelte ihnen entweder den echten Alp oder ein ähnliches die Brust beklemmendes Hinderniß vor. Aber auch bei denjenigen, denen die Geschichte nicht bekannt war, kam, durch die Athemnoth verursacht, ein dem Alp ähnliches Traumbild zustande, immer hat sich bei ihnen etwas auf die Brust niedergelassen. Die Abweichungen von dieser Regel waren sehr selten. Die eine der Versuchspersonen träumte, sie sei von einem wilden Thiere außer Athem gehetzt, und zwei andere hatten nur das Gefühl von Angst, Athemnoth und Bewegungslosigkeit, ohne daß ein Traumgesicht sich ausgebildet hätte.
Die Versuche Börners werfen auch ein Licht darüber, wie die Träume entstehen. „Der Charakter, den der Träumende dem Alpwesen beilegte, hing meist von dem Gegenstande ab, dessen er sich zur Bedeckung des Gesichtes bediente. Tuch, namentlich solches von etwas rauher oder zottiger Beschaffenheit, gab stets die Vorstellung von einem behaarten Thiere, welche infolge einer ganz logischen Schlußfolge zustande kam. Der Träumende fühlt nämlich, daß etwas früher nicht Dagewesenes sich auf seine Athmungsorgane lagert. Daraus folgt, daß dieses Etwas mit selbständiger Bewegungsfähigkeit ausgestattet, also ein Thier sein muß. Die Gesichtsnerven nehmen aber etwas Zarthaariges wahr, folglich muß das Thier ein mit weicher Wolle oder weichem Haar versehenes, also etwa ein Pudel, eine Katze sein. Der ziemlich gleichmäßige Alptraum hat sonach nichts Auffallendes; er hat eine deutliche äußere Veranlassung, aus der er gebildet wird.“
Die abenteuerlichen Gehirnspiele des Traumes haben ihre ernsten Seiten. Es ist hier nicht der Ort, zu erwägen, welche Rolle die Traumdeutung in früheren Zeiten gespielt hat und welche Bedeutung sie noch heute bei ungebildeten Völkern hat. Tausende und Abertausende von Menschen sind Träumen zu Opfern gefallen, und der berüchtigte König Mtesa im inneren Afrika ließ infolge seiner Träume Hunderte seiner Waganda hinrichten. Wir möchten hier nur einer anderen Eigenthümlichkeit des Traumes erwähnen, der Fälle, wo er über den eigentlichen Schlaf hinausdauert und Menschen zu Handlungen hinreißen kann.
Zwischen Schlaf und Wachen giebt es einen länger oder kürzer dauernden Zustand, die Schlaftrunkenheit, in welchem die Verbindungsfäden mit der Außenwelt beim Einschlafen noch nicht vollständig abgelöst, beim Erwachen noch nicht vollständig wieder angeknüpft sind. „Die Sinne sind in ihm noch wach oder schon erwacht,“ sagt der Gerichtsarzt J. L. Casper, „aber sie sind umhüllt vom Nebel der Traumgebilde; der Schlaftrunkene sieht und hört, aber er sieht selbstgeschaffene Gespenster statt der wirklichen Gegenstände; er hört einen Schuß fallen, von dem er gerade träumte, während nur ein Stuhl umfiel. Er reagirt in gewohnter logischer Folge, die bekanntlich auch im tiefsten Traum fortdauern kann, da die Muskelthätigkeit im Schlafe nicht gehemmt ist, auf die gesetzwidrigste Weise. Der berühmte Fall des Bernard Schidmaidzig, der im Traume ein fürchterliches weißes Gespenst auf sich zukommen sieht, halb erwacht mit seiner Axt darauf einschlägt und seine Frau tödtet; der junge Mann, der an ängstlichen Träumen litt, zumal in mondhellen Nächten, der in einer solchen, als sein Vater aufstand und er die Thür knarren hörte, aufsprang, seine Doppelflinte nahm und den Vater durch die Brust schoß; der Mensch, der, bedrückt von einem Traum, worin er mit einem Wolf kämpfte, den neben ihm schlafenden Freund mit einem Messerstich tödtete; Taylors Hausirer, der einen Stockdegen bei sich trug, auf der Landstraße eingeschlafen war und, von einem Vorübergehenden aufgerüttelt, seinen Stockdegen zog und den Fremden tödlich verletzte[WS 2] – diese und ähnliche ältere Fälle geben traurige Belege dafür, daß auch die schrecklichsten Thaten im Traumleben der Schlaftrunkenheit verübt werden können.“
In neuerer Zeit hat sich, Dank der schärferen Beobachtung, die Zahl der wundersamen im Traume vorgenommenen Handlungen vermindert, und wie verbürgte Fälle von Langschläfern selten geworden sind, so hört man auch weniger von jenem räthselhaften Zustand, der als Schlaf-, oder Nachtwandeln bekannt ist und früher nicht nur in Romanen eine bedeutende Rolle spielte.
Was man vor Jahrzehnten selbst bei Gerichten für möglich hielt, beweist beispielsweise der Fall des nachtwandelnden Knechtes in Halle. Er verliebte sich in ein Mädchen, und beide versprachen sich die Ehe. Aber ein anderer Liebhaber des Mädchens erregte seine Eifersucht. Eines Nachts stand der Knecht auf, stieg aus seinem Dachfenster, ging über die Dächer bis zum Fenster des benachbarten Hauses, stieg durch dasselbe hinein in die Kammer und ermordete das schlafende Mädchen mit dem Messer, das er mitgenommen hatte. Auf demselben Wege ging er wieder zurück. Bei der Untersuchung stellte er den Vorfall wie einen Traum dar, den er gehabt habe. So leicht dürfte heute ein Mord aus Eifersucht sich nicht entschuldigen lassen!
Man hat den Schlafwandelnden außerordentliche Befähigungen zugesprochen; ihr Geist sollte in dem eigemthümlichen Zustande besonders geschärft sein, und Dank dieser Verschärfung der Sinne und des Geistes sollte der Nachtwandler an den gefährlichsten Abgründen klettern, auf den schmalsten Stegen gehen, weite Sprünge vollführen, ohne sein Ziel zu verfehlen. Schon Johannes Müller hat an Stelle dieser wunderbaren eine einfachere Erklärung der beim Schlafwandeln beobachteten Thatsachen gegeben. Der Schlafwandler vollführt vieles, weil er die Gefahr, die ihm droht, nicht bemerkt, aber er ist gegen die Gefahr nicht gefeit, und er kann ebensogut im Augenblicke des Erwachens wie noch im Schlafe aus dem Fenster stürzen, wenn ihn sein dunkler Drang dorthin getrieben hat.
Die medizinische Litteratur kennt nur wenige gut beobachtete Fälle von Schlafwandel. Sie entkleiden die Krankheit der romanhaften Färbung, die ihr verliehen wurde.
C. Binz berichtet über einen von ihm behandelten und geheilten Fall, der mit Alpdrücken verbunden war.[1]
Es handelte sich um einen durchaus gesunden, mit raschem Einschlafen und bei Abwesenheit der schädlichen Ursachen mit festem Schlaf begabten jungen Mann von lebhaftem Temperament. So weit eine Rückerinnerung möglich, waren seine Vorfahren, Verwandten, wie auch die lebenden Familienmitglieder frei von irgend welchem psychischen Leiden oder auch nur nervösen Anlagen. Außer den gewöhnlichen Kinderkrankheiten hatte jenem jungen Mann nie etwas gefehlt. Seit den Jahren der Reife litt er entweder an Alpdrücken oder an Schlafwandeln bis etwa zu seinem 35. Lebensjahre. Ersteres trat in den schreckhaftesten Formen auf; dem Bildungsstandpunkte des Kranken angemessen allerdings nicht in der Form eines lebenden Alpwesens, sondern stets als ein fürchterliches Erstickungsgefühl. Das Schlafwandeln zeigte sich als Aufsitzen im Bett, mit Aussprechen mehr oder weniger zusammenhängender Worte, als Aufstehen vom Lager und Umhertappen im Zimmer, als Ankleiden und Zusammenraffen von anderntags zu gebrauchenden Gegenständen und endlich einmal als geschicktes Klettern auf einen vom Monde matt beleuchteten, 6 Fuß hohen Porzellanofen, von welchem seine junge Frau den Schlafturner herunterholte. Beim Erwachen blieb meistens keine Erinnerung an ein Traumbild übrig. Zuweilen waren während des Vorganges die Augen offen; wurde Licht gemacht, so erfolgte das Erwachen in kürzester Frist. Die Folgen dieser Zustände bestanden in Ermüdung und Abgeschlagenheit während des Tages und in einer wohlberechtigten Furcht vor jeder kommenden Nacht, denn es stand nichts im Wege, daß der Schlafwandelnde auch einmal seinen Weg durch ein Fenster auf [404] das Straßenpflaster nehmen würde. Das waren die Gründe, weshalb wiederholt ärztliche Hilfe aufgesucht wurde, aber ohne jeglichen Erfolg, weil man anfangs der merkwürdigen Verschiedenheit der Ursachen nicht auf die Spur kam. Erst die von Binz verordnete genauere Selbstbeobachtung der Patienten in Betreff der Ursachen der Anfälle stellte fest, daß diese in folgendem bestanden: 1. Aufnahme gewisser Speisen (namentlich Kartoffeln und Käse) am Abend, oder 2. in angestrengtem geistigen Arbeiten während der späten Abendstunden, oder 3. in einem weiten Marsch zur selben Zeit.
Sämmtliche krankhaften Zustände hörten von dem Tage an auf, wo dem Leidenden die Ursachen seines Uebels klar wurden und er dieselben sorgfältig vermied. So hat der Mann nach der jüngsten Veröffentlichung von Binz 20 Jahre in voller Gesundheit verlebt. Eine Tochter des Geheilten hat dagegen den Hang zum Schlafwandeln geerbt.
Der Schlafwandel steht auf der obersten Stufe jener Störungen des Schlafes, die sich in leichten Formen als Reden, Lachen und Weinen im Schlaf darstellen, die sich zum Alpdrücken und endlich zum Umhergehen im Schlaf steigern können.
„Ich bitte Sie, Durchlaucht,“ begann Adelheid wieder „mir die
Wahrheit, die volle Wahrheit zu sagen. Sie erwähnten, daß
Rojanow zurückgekehrt sei, um in unser Heer einzutreten. Ich
habe das geahnt, erwartet, denn es ist das einzige, womit er die
alte Schuld sühnen kann. Steht er bereits unter den Fahnen?“
„Soweit ist es zum Glück nicht gekommen, und das hat mir eine schwere Verantwortung erspart,“ sagte Egon mit einer grenzenlosen Bitterkeit. „Er meldete sich bei verschiedenen Regimentern, wurde aber überall zurückgewiesen.“
„Zurückgewiesen? Weshalb?“
„Weil er sich nicht als Deutscher bekennen durfte, und weil dem Fremden, dem Rumänen, ein sehr berechtigter Argwohn entgegenstand. Man muß in jetziger Zeit vorsichtig sein, damit sich in die Reihen unserer Armee keine – Spione eindrängen.“
„Um Gotteswillen, was meinen Sie damit?“ rief Adelheid, die jetzt zu ahnen begann, um was es sich handelte. Egon sprang in furchtbarer Erregung auf und trat an ihre Seite.
„Wenn Sie es denn doch erfahren wollen, gnädige Frau, so hören Sie! Hartmut kam zu mir und verlangte, ich solle meinen Einfluß geltend machen, um ihm den Eintritt in eines unserer Regimenter zu verschaffen. Ich weigerte mich anfangs, aber er wußte mein Versprechen zu erzwingen mit einer Drohung, die schwerlich ernst gemeint war. Ich hielt Wort und verwandte mich bei einem der höheren Offiziere, dessen Bruder Sekretär bei unserer Gesandtschaft in Paris und eben mit derselben zurückgekommen ist. Dieser Herr war zugegen bei meinem Besuch, er stutzte bei dem Namen Rojanow, erkundigte sich näher nach dem Betreffenden und machte uns darauf Enthüllungen – ich kann das nicht aussprechen! Ich habe Hartmut geliebt wie nichts auf der Welt, habe ihn fast vergöttert, ich ließ mich von dem Fluge seines Genius mit emportragen, und nun erfahre ich, daß der Freund, der mir alles war, ein Elender ist, daß er und seine Mutter in Paris Spionendienste geleistet haben – vielleicht wollte er das auch in den Reihen unserer Armee!“
Er legte die Hand über die Augen, und es war etwas Erschütterndes in dem Schmerze des jungen Mannes, dem sein Freundschaftsideal so erbarmungslos zertrümmert war. Auch Adelheid hatte sich erhoben, und ihre Hand, mit der sie sich auf die Lehne des Sessels stützte, zitterte, während sie fragte:
„Und was haben Sie, was hat er darauf geantwortet?“
„Rojanow, meinen Sie? Ich habe ihn nicht wiedergesehen und werde es auch nicht, ich will mir und ihm das ersparen. Er ist augenblicklich in der Rodecker Försterei und erwartet dort meine Antwort; ich habe ihm in drei Zeilen mitgetheilt, was ich erfuhr, ohne eine Bemerkung oder sonst ein Wort hinzuzufügen. Er hat den Brief vermuthlich schon erhalten und wird ihn hinreichend verstehen.“
„Allmächtiger Gott, das treibt ihn in den Tod!“ fuhr Adelheid auf. „Wie konnten Sie das thun? Wie konnten Sie den Unglücklichen ungehört verdammen?“
„Den Unglücklichen?“ wiederholte der Fürst schneidend. „Halten Sie ihn wirklich dafür?“
„Ja, denn ich höre die entsetzliche Beschuldigung nicht zum ersten Male. Auch sein Vater hat sie ihm bei jener Zusammenkunft ins Antlitz geschleudert.“
„Nun also, wenn der eigene Vater ihn anklagt –“
„Der tiefbeleidigte, tiefverbitterte Mann! Er kann kein freies Urtheil haben; aber Sie, der Freund Hartmuts, der ihm so nahe stand, Sie mußten für ihn eintreten und ihn vertheidigen!“
Egon blickte halb fragend, halb erstaunt auf die erregte Frau.
„Das scheinen Sie thun zu wollen, Excellenz,“ sagte er langsam. „Ich kann es nicht, denn es ist zu vieles in Hartmuts Leben, was den Verdacht bestätigt, er erklärt mir alles, was mir bisher räthselhaft schien, und es sind ganz bestimmte Vorgänge, auf die sich die Anklage stützt –“
„Gegen seine Mutter! Sie ist von jeher das Verhängniß, das Verderben ihres Sohnes gewesen; aber er kannte das schmachvolle Gewerbe nicht, zu dem sie herabgesunken war, er lebte ahnungslos an ihrer Seite. Ich sah es, wie er zusammenbrach, als der Vater das furchtbare Wort aussprach, wie er sich aufbäumte dagegen in Todesangst. Das war Wahrheit, das war die Verzweiflung eines Mannes, der schwerer gestraft wird, als er je gefehlt hat. Jene Flucht, jener unselige Wortbruch rauben ihm jetzt den Glauben derer, die ihm am nächsten stehen; aber wenn der Vater und der Freund ihn verdammen, ich glaube an ihn. Es ist nicht wahr, er ist nicht schuldig!“
Die junge Frau hatte sich in ihrer stürmischen Erregung hoch aufgerichtet, ihre Wangen glühten, ihre Augen flammten, und Ton und Worte hatten jene hinreißende Leidenschaft, die nur die Liebe kennt, wenn sie das Geliebte vertheidigt. Egon stand unbeweglich und sah sie an. Da war es, das Erwachen, von dem er so oft geträumt hatte, jetzt strahlte Gluth und Leben auf, und aus dem Eismeer stieg eine blühende Welt empor – aber es war ein anderer, der sie geweckt hatte.
„Ich wage nicht zu entscheiden, ob Sie recht haben, gnädige Frau,“ sagte der Fürst nach einer sekundenlangen Pause tonlos. „Ich weiß nur eins, mag Hartmut schuldig oder unschuldig sein, er ist beneidenswert selbst in dieser Stunde!“
Adelheid zuckte zusammen, sie verstand die Hindeutung, und wortlos senkte sie das Haupt vor diesem schmerzlich vorwurfsvollen Blick.
„Ich kam, um Abschied zu nehmen,“ hob Egon wieder an. „Ich wollte freilich eine Frage, eine Bitte an diesen Abschied knüpfen – das ist jetzt vorbei! Ich habe Ihnen nur noch Lebewohl zu sagen.“
Adelheid hob die Augen, in denen jetzt heiße Thränen standen, wieder zu ihm empor und reichte ihm die Hand.
„Leben Sie wohl! Der Himmel nehme Sie in seinen Schutz bei dem Kampfe!“
Aber der Fürst schüttelte nur stumm das Haupt. „Was soll ich damit, jetzt noch?“ stieß er endlich mit aufquellender Bitterkeit hervor. „Ich möchte am liebsten – nein, sehen Sie mich nicht so bittend an, ich weiß es ja jetzt, daß ich mich in einem verhängnißvollen Irrthum befand, und ich werde Sie nicht quälen mit einem Geständniß; aber, Adelheid, ich wäre gern gefallen, hätte ich mir damit den Blick und Ton erkaufen können, den Sie vorhin für einen anderen hatten – leben Sie wohl!“
Damit drückte er noch einmal ihre Hand an seine Lippen und eilte fort. –
Der Sturm war im Laufe des Nachmittags heftiger geworden, er wühlte in den Wäldern, tobte um die freien Höhen und jagte die Wolkenzüge am Himmel immer wilder dahin. Auch auf jener Waldhöhe, die im letzten Herbste eine so inhaltsschwere Begegnung zweier Menschen gesehen hatte, stürmte es mit voller Gewalt, aber der Mann, der dort so einsam an dem Stamme eines Baumes lehnte, schien das nicht zu fühlen, denn er stand unbeweglich mitten in diesem Toben.
Hartmuts Antlitz war todtenbleich, aber es lag eine starre, unheimliche Ruhe darin, und das lodernde Feuer der dunklen
[405][406] Augen war erloschen, während das Haar schwer und feucht auf die Stirn fiel. Der Sturm hatte ihm den Hut vom Kopfe gerissen, er hatte es nicht bemerkt, so wenig wie den Regenschauer, der ihn durchnäßte. Nach stundenlangem Umherirren im Walde hatte er sich endlich an diesem Orte wiedergefunden, wohin ihn halb unbewußt eine Erinnerung zog – es war der rechte Ort für sein Vorhaben.
Die mit so fieberhafter Spannung erwartete Nachricht war endlich eingetroffen: kern Brief, nur einige Zeilen, ohne Anrede und mit der Unterschrift „Egon, Fürst Adelsberg“ – aber in diesen kurzen Zeilen lag für den, der sie empfing, die Vernichtung. Für immer ausgestoßen und geächtet, auch von dem Freunde gerichtet, ohne auch nur gehört zu werden – das Verhängniß erfüllte sich furchtbar an dem Sohne Zalikas!
Das Krachen eines mächtigen Astes, der unter dem Drucke des Sturmes brach und dann sausend niederstürzte, weckte Hartmut aus seinem dumpfen Brüten. Er war nicht einmal aufgefahren dabei, sondern wandte nur langsam den Kopf nach der schweren Last, die dicht neben ihm niederfiel; nur einen Fuß breit seitwärts, dann hätte sie ihn getroffen und vielleicht in einem Augenblick all der Schmach und Qual ein Ende gemacht; aber so leicht ging es nicht mit dem Sterben. Solch ein Geschick traf nur den, der das Leben liebte, – wer es von sich werfen wollte, der mußte das schon mit eigener Hand thun!
Hartmut nahm seine Flinte von der Schulter und stellte sie mit dem Kolben auf den Boden; dann legte er die Hand auf die Brust, um die geeignete Stelle zu suchen. Noch einmal blickte er hinauf zu dem umschleierten Himmel mit den gährenden Wolkenmassen und hinab zu dem kleinen dunklen Waldsee mit der trügerischen Wiese, über deren Moorgrund sich die Nebel zusammenballten wie einst in der Heimath. Dort waren sie ihm erschienen, die lockenden, winkenden Irrlichter, er war den Flammenzeichen der Tiefe gefolgt, und nun zogen sie ihn rettungslos hinab, nun gab es kein Aufsteigen mehr zu der Höhe, wo andere, lichte Zeichen strahlten. Ein Schuß in das Herz, und alles war zu Ende!
Er wollte die Flinte ansetzen, da hörte er seinen Namen rufen, aber es war ein Ruf der Todesangst, eine schlanke Gestalt in dunklem Regenmantel stürmte vom Waldesrande her auf ihn zu, und die Waffe entfiel seinen Händen, denn er sah in das Antlitz Adelheids, die, an allen Gliedern bebend, vor ihm stand.
Es vergingen Minuten, ohne daß eines der beiden sprach. Hartmut war es, der sich zuerst faßte.
„Sie hier, gnädige Frau?“ fragte er mit erzwungener Ruhe. „Sie sind bei diesem Unwetter im Walde?“
Die junge Frau blickte auf die Waffe nieder, die zu ihren Füßen lag, und schauderte zusammen.
„Die Frage möchte ich an Sie richten,“ erwiderte sie.
„Ich war auf der Jagd, aber es ist kein Wetter heute zum Jagen, und ich wollte eben meine Flinte entladen, um –“
Er vollendete nicht, denn der schmerzlich vorwurfsvolle Blick, der ihn traf, sagte ihm, daß die Lüge hier umsonst war, – er brach ab und sah finster vor sich nieder. Auch Adelheid gab es auf, die Unwissende zu spielen, in ihrer Stimme bebte noch die ganze Todesangst, als sie rief: „Herr von Falkenried – allmächtiger Gott, was wollten Sie thun?“
„Was jetzt vollbracht wäre ohne Ihre Dazwischenkunft,“ sagte Hartmut herb. „Und glauben Sie mir, gnädige Frau, es wäre besser gewesen, wenn der Zufall Sie fünf Minuten später hergeführt hätte.“
„Es war kein Zufall! Ich war in der Rodecker Försterei und hörte, daß Sie schon seit Stunden fort seien; da trieb mich eine entsetzliche Ahnung, Ihnen zu folgen und Sie hier zu suchen, ich hatte beinahe die Gewißheit, daß ich Sie an dieser Stelle finden würde.“
„Sie suchten mich? Mich, Ada?“ Seine Stimme wogte stürmisch auf bei der Frage. „Woher wußten Sie denn, daß ich in der Försterei war?“
„Durch den Fürsten Adelsberg, der heute vormittag bei mir war. Sie haben einen Brief von ihm erhalten?“
„Nein, nur eine Nachricht,“ entgegnete Hartmut mit zuckenden Lippen. „In den kurzen Zeilen war auch nicht ein einziges Wort an mich persönlich gerichtet, sie brachten mir im Geschäftston eine Mittheilung, die der Fürst für nothwendig hielt – ich verstand sie vollkommen.“
Adelheid schwieg; sie hatte es ja gewußt, daß ihn das in den Tod treiben würde. Langsam trat sie mit ihm in den Schutz der Bäume, denn es war kaum möglich, sich auf der freien Höhe zu behaupten in diesem Sturmestoben; nur Hartmut schien das nicht zu empfinden.
„Sie kennen den Inhalt jenes Schreibens, ich sehe es,“ begann er wieder, „und fremd ist er Ihnen überhaupt nicht. Sie wußten ja, was damals in Rodeck geschehen ist; aber glauben Sie mir, Ada, was ich empfand in dem Augenblick, als Sie vor mir standen in dem geisterhaften Schimmer, der jene furchtbare Nacht durchstrahlte, als es mir klar wurde, daß ich vor Ihnen in den Staub niedergeworfen war – das hätte selbst meinen Vater befriedigt, das hat alles gerächt, was ich je an ihm gesündigt habe.“
„Sie thun ihm unrecht,“ entgegnete die junge Frau ernst. „Sie sahen ihn nur in der starren, eisernen Unerbittlichkeit, mit der er Sie von sich stieß. Ich sah ihn anders, als ich nach Ihrem Verschwinden zu ihm kam. Da brach er zusammen in wildem Schmerz, da ließ er mich einen Blick thun in das Herz eines verzweifelten Vaters, der seinen Sohn über alles geliebt hat. Haben Sie seitdem keinen Versuch gemacht, ihn zu überzeugen?“
„Nein, er würde mir so wenig glauben wie Egon. Wer einmal sein Wort gebrochen, der hat den Glauben verwirkt, und wenn er ihn mit seinem Leben zurückerkaufen möchte. Vielleicht hätte mein Tod auf dem Schlachtfelde ihm und Egon die Augen geöffnet; wenn ich jetzt falle durch eigene Hand, so werden sie nur die Verzweiflungsthat eines Schuldigen darin sehen und werden mich noch im Grabe verachten!“
„Nicht alle!“ sagte Adelheid leise. „Ich glaube an Sie, Hartmut, trotz alledem!“
Er sah sie an, und mitten durch die düstere Hoffnungslosigkeit seiner Seele flammte etwas auf von der alten Gluth.
„Sie, Ada? Und das sagen Sie mir an dieser Stelle, wo Sie mich verwarfen? Damals wußten Sie noch nichts –“
„Und eben deshalb graute mir vor dem Manne, dem nichts heilig war, der kein Gesetz kannte als seinen Willen und seine Leidenschaft; aber jene Winternacht, da ich Sie zu den Füßen Ihres Vaters sah, zeigte mir, daß Sie mehr einem Verhängniß als einer Schuld erlagen. Seitdem weiß ich, daß Sie das unselige Erbtheil der Mutter von sich werfen können und müssen. Raffen Sie sich auf, Hartmut! Der Weg, den ich Ihnen damals zeigte, ist noch offen, ob er zum Leben oder zum Tode führt – er führt aufwärts.“
Hartmut schüttelte finster das Haupt.
„Nein, das ist vorbei! Sie ahnen nicht, was mein Vater mir angethan hat mit jenen furchtbaren Worten, was mein Leben seitdem gewesen ist. Ich – lassen Sie mich schweigen darüber, das begreift ja niemand, aber ich danke Ihnen für Ihren Glauben an mich, Ada – damit gehe ich leichter in den Tod!“
Die junge Frau machte eine rasche, angstvolle Bewegung nach der Waffe, die noch zu seinen Füßen lag.
„Um Gotteswillen! Nein, das dürfen Sie nicht!“
„Was soll ich denn noch im Leben!“ stieß Hartmut mit furchtbarer Heftigkeit hervor. „Meine Mutter hat mir ja ein Brandmal aufgedrückt, mit dem ich gezeichnet bin wie mit einem glühenden Eisen, und das schließt mir jeden Weg zur Sühne, zur Rettung. Ich bin geächtet, ausgestoßen aus den Reihen meines Volkes, wo selbst der ärmste Bauer kämpfen darf; das Recht, das man nur dem ehrlosen Verbrecher weigert, wird mir versagt, denn ich bin nichts anderes in Egons Augen. Er fürchtet ja, daß ich auch an meinen eigenen Brüdern zum Verräther, zum – Spion werden könnte!“
Er schlug außer sich beide Hände vor das Antlitz und das letzte Wort erstarb in einem Stöhnen. Da fühlte er, wie eine andere Hand sich leise auf seinen Arm legte.
„Das Brandmal erlischt mit dem Namen Rojanow. Werfen Sie ihn von sich, Hartmut! Ich bringe Ihnen, was Sie vergebens zu erreichen suchten – den Eintritt in das Heer!“
Hartmut fuhr auf und blickte sie mit ungläubigem Staunen an.
„Unmöglich! Wie können Sie –?“
„Nehmen Sie diese Papiere,“ unterbrach ihn Adelheid, indem sie eine Brieftasche hervorzog. „Sie lauten auf Joseph Tanner, neunundzwanzig Jahre alt, schlank, mit dunkler Gesichtsfarbe, schwarzen Haaren und Augen. Sie sehen, es trifft alles zu – darauf hin wird man einem Freiwilligen den Eintritt nicht weigern.“
Sie reichte ihm die Tasche, um die sich seine Rechte mit krampfhaftem Griffe schloß, als sei es der kostbarste Schatz.
„Und diese Papiere?“ fragte er, noch immer zweifelnd.
„Gehören einem Todten! Sie wurden mir freilich zu einem [407] anderen Zwecke übergeben, aber der Todte bedarf ihrer nicht mehr, er wird es mir verzeihen, wenn ich einen Lebenden damit rette.“
Hartmut riß die Brieftasche auf. Der Wind riß ihm fast die Blätter aus der Hand und nur mit Mühe vermochte er ihren Inhalt zu entziffern, während die junge Frau weiter sprach:
„Joseph Tanner hatte ein kleines Amt in Ostwalden, da traf ihn heut morgen einl Blutsturz, die Folge einer nur scheinbar überwundenen Krankheit – er hatte nur noch Stunden zu leben und übergab mir die letzten Grüße und Andenken für seine Mutter. Die arme Frau wird alles erhalten, jeden Brief, jedes Blättchen, das ihr ein Erinnerungszeichen sein kann, die amtlichen Papiere habe ich genommen – für Sie. Wir berauben ja niemand damit, für die Mutter, der sie jetzt gehören, sind sie werthlos. Ein strenger Richter nennt das vielleicht Betrug, aber ich nehme ihn freudig auf mich, Gott wird ihn verzeihen und das Vaterland!“
Hartmut schloß die Brieftasche und barg sie auf seiner Brust, die sich unter einem tiefen, tiefen Athemzuge hob. Dann richtete er sich empor und strich die regenfeuchten Locken von der hohen Stirn, jener Stirn, die er von dem Vater hatte, das einzige Erbtheil Falkenrieds, das auch in diesem Augenblick wieder wie damals beim Schein der zuckenden Blitze eine unverkennbare Aehnlichkeit schuf.
„Sie haben recht, Ada,“ sagte er. „In Worten kann ich Ihnen nicht danken für das, was Sie mir geben, aber ich werde es zu verdienen suchen.“
„Das weiß ich! Leben Sie wohl und – auf Wiedersehen!“
„Nein, das wünschen Sie mir nicht!“ sagte Hartmut düster. „Der Kampf kann mich wohl vor mir selbst entsühnen, vor meinem Vater und Egon nicht, denn sie würden es nie erfahren, wenn ich am Leben bliebe, und dann wäre der alte Makel wieder da. Aber wenn ich falle, dann sagen Sie ihnen, wer unter fremdem Namen in fremder Erde ruht, dann glauben sie Ihnen vielleicht und nehmen wenigstens von meinem Grabe den Fluch ihrer Verachtung.“
„Sie wollen fallen?“ fragte Adelheid mit schmerzlichem Vorwurf. „Auch wenn ich Ihnen sage, daß Sie damit mich zum Tode betrüben?“
„Dich, Ada?“ rief er aufflammend. „Graut Dir jetzt nicht mehr vor meiner Liebe, vor dem Verhängniß, das uns zu einander zog? Ich hätte das höchste Glück besitzen können, denn Du bist ja frei, jetzt naht es mir nur für einen einzigen, flüchtigen Augenblick und entschwebt dann wieder zu unerreichbarer Höhe wie die Sagengestalt meines Werkes, die Deinen Namen trägt. Gleichviel, es ist mir doch genaht und einmal, zum Abschiede, werde ich es wohl umfangen dürfen.“
Er zog sie an sich und drückte einen Kuß auf die Stirn der Geliebten, die in ausbrechendem Weinen ihr Haupt an seine Schulter lehnte.
„Hartmut, versprich nur, daß Du den Tod nicht suchen willst!“
„Nein, aber er wird mich zu finden wissen! Leb’ wohl, meine Ada!“
Er riß sich los und eilte fort. Adelheid blieb zurück, über ihrem Haupte brauste es, die mächtigen Baumwipfel ächzten und schwankten, der Sturm sang fort und fort sein wildes Lied; aber dort im Westen durch einen Riß der Wolken flammte es plötzlich gluthroth. Es war nur ein einziger Augenblick, nur ein einziger verlorener Strahl der niedergehenden Sonne, aber er traf leuchtend die Waldhöhe und den Forteilenden, der sich noch einmal umwandte und einen letzten Gruß zurückwinkte. Dann ballte sich das jagende Sturmgewölk wieder zusammen und der Strahl erlosch – der letzte Flammengruß des sinkenden Gestirnes.
Der röthlich flackernde Schein des Kaminfeuers beleuchtete
das Innere eines kleinen, einsam gelegenen Häuschens, das
früher einem Bahnwärter zur Wohnung gedient hatte und jetzt
als Feldwache für den Vorpostendienst eingerichtet war. Einen
behaglichen Eindruck machte der Raum gerade nicht mit seinen
kahlen, rauchgeschwärzten Wänden, der niedrigen Decke und den
kleinen, nothdürftig verwahrten Fenstern; die mächtigen Holzscheite,
die in dem plumpen steinernen Kamin loderten, verbreiteten jedoch
eine hinreichende und sehr willkommene Wärme, denn draußen
war es bitter kalt und die ganze Landschaft lag im Schnee des
Winters begraben. Die Regimenter, die hier lagen, hatten es
kaum besser als ihre Kameraden vor Paris, obgleich sie zu der
Südarmee gehörten.
Soeben traten zwei junge Offiziere ein, und der eine, der die Thür noch in der Hand hielt, rief dem Voranschreitenden lachend zu: „Bücken Sie sich gefälligst, Herr Kamerad, Sie könnten uns sonst den Thürbalken mitnehmen, denn unsere Villa ist etwas baufälliger Art, wie Sie sehen!“
Die Warnung war nicht ganz grundlos, denn die hünenhafte Gestalt des Gastes, eines preußischen Reservelieutenants, stand durchaus nicht im Einklang mit der niedrigen Thür. Er kam indeß glücklich hindurch und schaute sich in den vier Wänden um, während sein Begleiter, der die Uniform eines süddeutschen Regimentes trug, fortfuhr:
„Erlauben Sie, daß ich Ihnen einen Platz in unserem ‚Salon‘ anbiete, der in Anbetracht der Verhältnisse gar nicht so übel ist; wir haben es schon schlimmer gehabt während des Feldzuges. Sie suchen also Stahlberg? Er ist mit meinem Kameraden draußen bei den Vorposten, wird aber voraussichtlich bald zurückkehren. Eine Viertelstunde werden Sie sich allerdings noch gedulden müssen.“
„Mit Vergnügen,“ versicherte der Preuße. „Ich ersehe wenigstens daraus, daß Eugens Verwundung wirklich so unbedeutend ist, wie er berichtete. Ich suchte ihn im Lazareth und hörte, daß er einen Besuch bei den Vorposten macht. Da wir aber voraussichtlich morgen schon weiter rücken, so wollte ich dies Zusammentreffen doch nicht unbenutzt verstreichen lassen und suchte ihn hier auf.“
„Die Verwundung ist in der That nur leicht, ein Streifschuß am Arm, der schon in voller Heilung begriffen ist, aber immerhin noch einige Zeit dienstunfähig machen wird. Sie sind befreundet mit Stahlberg?“
„Allerdings, und überdies verwandt durch die Vermählung seiner Schwester. Ich sehe, daß Sie sich meiner nicht mehr erinnern, Durchlaucht, so muß ich Ihnen wohl meinen Namen nennen: Willibald von Eschenhagen. Wir sahen uns im vergangenen Jahre –“
„In Fürstenstein!“ fiel Egon von Adelsberg lebhaft ein. „Gewiß, jetzt erinnere ich mich Ihrer vollkommen, aber es ist merkwürdig, wie die Uniform verändert, ich erkannte Sie wirklich im Anfange nicht.“
Er streifte mit einem halb verwunderten Blick den einstigen unbeholfenen „Krautjunker“, der ihm so lächerlich erschienen war und sich jetzt als eine der stattlichsten militärischen Erscheinungen zeigte. Es war allerdings nicht nur die Uniform, die Willibald so verändert hatte; was die Liebe begonnen, das hatte das Kriegsleben, das Heraustreten aus den gewohnten Umgebungen und Verhältnissen vollendet. Der junge Majoratsherr war nicht bloß, wie sein Onkel Schönau sich ausdrückte, zum Menschen, sondern zum echten, rechten Manne geworden.
„Unsere damalige Begegnung war nur sehr flüchtig,“ hob der Fürst wieder an. „Aber trotzdem erlauben Sie mir wohl, daß ich Ihnen meinen Glückwunsch ausspreche. Sie sind verlobt –“
„Ich glaube, Sie befinden sich im Irrthum, Durchlaucht,“ unterbrach ihn Willibald mit einiger Verlegenheit. „Ich wurde Ihnen in Fürstenstein allerdings als der künftige Sohn des Hauses vorgestellt, aber –“
„Das hat sich geändert,“ ergänzte Egon lächelnd. „Ich weiß es, denn der Kamerad, von dem ich vorhin sprach, ist Lieutenant Walldorf, glücklicher Bräutigam der Baroneß Schönau. Meine Worte bezogen sich auch auf Fräulein Marietta Volkmar.“
„Gegenwärtig Frau von Eschenhagen.“
„Was? Sind Sie bereits Ehemann?“
„Seit fünf Monaten. Wir ließen uns unmittelbar vor dem Ausmarsch trauen, und meine Frau befindet sich bei meiner Mutter in Burgsdorf.“
„Dann also meinen Glückwunsch zur Vermählung! Aber eigentlich, Herr Kamerad, sollte ich Sie zur Rede stellen über den unverantwortlichen Raub, den Sie an der Kunst begangen haben. Bitte, melden Sie Ihrer Frau Gemahlin, so viel ich hier im Felde höre, trauere die ganze Stadt noch immer in Sack und Asche um ihren Verlust.“
„Ich werde nicht verfehlen, obgleich ich fürchte, daß die Stadt jetzt nicht viel Zeit zu einer solchen Trauer hat. – Ah, da scheinen die Herren schon zurückzukommen, ich höre Eugens Stimme!“
Draußen vor der Thür ließen sich in der That Stimmen hören, und gleich darauf traten die Erwarteten ein. Der junge Stahlberg begrüßte mit einem Ausruf der freudigsten Ueberraschung den Verwandten, den er während des ganzen Feldzuges nicht gesehen hatte, obgleich sie beide in demselben Armeecorps dienten. Er trug den Arm noch in der Binde, sah aber sonst ganz wohl und munter aus. Eugen besaß nicht die Schönheit seiner Schwester [408] und ihm fehlte auch jener Zug entschlossener Willenskraft, den nur die Tochter von dem Vater geerbt hatte. Der Sohn verrieth in seinem Aeußeren wie in seinem Auftreten eine mehr weiche und liebenswürdige als kraftvolle Natur; trotzdem glich er der Schwester sehr, und das mochte auch wohl den Grund zu der Vertraulichkeit gelegt haben, in welcher er mit Egon von Adelsberg verkehrte. Sein Begleiter, ein hübscher junger Offizier mit kecken, blitzenden Augen, trat jetzt auch heran, und der Fürst übernahm die weitere Vorstellung.
„Ich will nicht fürchten, daß die Herren blutig aneinander gerathen, wenn ich die gegenseitigen Namen nenne,“ sagte er scherzend. „Genannt müssen sie doch einmal werden, also: Herr von Eschenhagen – Herr von Walldorf.“
„Gott bewahre! Ich wenigstens bin die Friedfertigkeit selbst!“ rief Walldorf lustig. „Herr von Eschenhagen, ich freue mich, den Vetter meiner Braut kennenzulernen, und um so mehr, als er sich bereits in den heiligen Ehestand begeben hat. Wir hätten es Ihnen gern nachgemacht und auch eine Heirath vor der Trommel geschlossen, aber mein Schwiegervater setzte seine grimmigste Miene auf und erklärte: Erst siegen und dann heirathen! Nun, das Erste haben wir seit fünf Monaten ununterbrochen besorgt, und wenn ich wieder nach Hause komme, werde ich mir schleunigst das Zweite ausbitten.“
Er schüttelte dem ehemaligen Verlobten seiner Braut freundschaftlich die Hand und wandte sich dann zu dem Fürsten.
„Wir haben Ihnen etwas mitgebracht, Durchlaucht, was wir da draußen aufgegriffen haben. – Ordonnanz von Rodeck, vortreten vor dem durchlauchtigsten Herrn Lieutenant Fürsten Adelsberg!“
Die Thür öffnete sich, und trotz der einbrechenden Dämmerung erkannte der Fürst doch das durchfurchte Gesicht und das eisgraue Haar des Eintretenden. Er fuhr auf.
„Alle guten Geister – der Peter Stadinger!“
Es war wirklich der leibhaftige Stadinger, der vor seinem jungen Herrn stand, und er mußte wohl auch den anderen Offizieren nicht ganz fremd sein, obgleich sie ihn zum ersten Male sahen, denn sein Erscheinen wurde mit allgemeinem Jubel begrüßt.
„Nun wollen wir aber vor allen Dingen Licht machen, um den alten ‚Waldgeist‘ Seiner Durchlaucht ordentlich anzuschauen!“ rief Walldorf, indem er zwei Kerzen anzündete und sie mit komischer Feierlichkeit dicht vor dem Alten aufstellte. Egon lachte.
„Du siehst, Stadinger, welch eine vielgenannte und vielbesprochene Persönlichkeit Du hier bist. Nun laß Dich auch in aller Form vorstellen: hier, meine Herren, Peter Stadinger, bekannt durch seine unerreichte Grobheit und seine erschütternden Moralpredigten. Er meint wahrscheinlich, daß ich ohne beides überhaupt nicht bestehen kann, und will mir auch hier im Felde die Befriedigung dieser freundlichen Gewohnheit verschaffen. Hoffentlich fällt auch für Sie einiges ab, meine Herren, – nun lege los, Stadinger!“
Aber der Alte, anstatt dem Befehle nachzukommen, umschloß mit beiden Händen die Rechte seines jungen Herrn und sagte in herzerschütterndem Tone: „Ach, Durchlaucht, wie haben wir uns in Rodeck um Sie geängstigt!“
„Nun, das war vorläufig noch ganz höflich,“ meinte Eugen Stahlberg; der Fürst aber nahm eine strafende Miene an.
„So? Und deshalb hast Du Dich wohl schleunigst auf die Beine gemacht und läßt in Rodeck alles drunter und drüber gehen? Ich hätte Dir eine solche Pflichtvergessenheit gar nicht zugetraut!“
Stadinger sah ihn ganz verblüfft an.
„Aber ich kam ja auf Befehl, Durchlaucht haben mir ja geschrieben, ich sollte mich aufmachen und den Lois aus dem Lazareth abholen, Sie wollten für die Reise und alles sorgen. Heute mittag bin ich angekommen und habe den Buben auch soweit ganz munter gefunden; in acht Tagen, meint der Doktor, könnte ich ihn mitnehmen, und dann hätte es keine Noth mehr mit der Heilung. Aber was Durchlaucht an dem Lois und an den anderen Rodeckern gethan haben, die mit im Felde stehen, das ist gar nicht zu sagen – vergelt’s Gott tausendmal!“
Egon zog ärgerlich seine Hand zurück.
„Herr Lieutenant, heißt es jetzt, merke Dir das, ich bitte mir meinen militärischen Titel aus. Und was soll das überhaupt heißen, daß Du jetzt, wo ich eigens auf Deine Grobheit rechne, sanftmüthig bist wie ein Lamm und uns eine Rührungsscene vorspielst? Das verbitte ich mir! Der Lois, meine Herren, ist nämlich der Enkel dieses alten Waldgeistes, ein braver, ansehnlicher Bursche; aber er hat eine Schwester, die noch viel ansehnlicher ist. Leider schickt dieser unvernünftige Großvater sie regelmäßig fort, wenn ich in Rodeck bin. Warum ist die Zenz nicht mitgekommen? Du hättest auch daran denken können, sie mitzubringen.“
Das half endlich gegen die ebenso ungewöhnliche als beängstigende Sanftmuth Stadingers und gegen seine Rührung. Er richtete sich stramm auf und versetzte mit seiner alten Derbheit:
„Ich glaubte, Durchlaucht hätten hier im Kriege keine Zeit mehr, sich mit solchen Dummheiten abzugeben.“
„Aha, jetzt kommt es!“ sagte der Fürst leise zu Walldorf, der neben ihm stand, laut aber fuhr er fort:
„Da irrst Du Dich sehr, man verwildert vollständig in dem Kriegsleben, und wenn ich wieder nach Haus komme –“
„Dann haben Durchlaucht ja versprochen, endlich zu heirathen!“ erinnerte der Alte im nachdenklichsten Tone und rief damit ein lautes Gelächter der jungen Offiziere hervor. Auch Egon stimmte ein, aber sein Lachen klang etwas gezwungen, ebenso wie seine Antwort.
„Ja, ja, versprochen habe ich es allerdings; aber ich habe mir die Sache inzwischen anders überlegt. In zehn Jahren werde ich Dir Wort halten, oder vielleicht auch in zwanzig, aber eher nicht.“
Darüber gerieth Stadinger, der trotz des Befehls um keinen Preis der Welt den Titel Lieutenant gebraucht hätte, weil das in seinen Augen eine Herabsetzung der Fürstlichkeit war, begreiflicherweise in helle Entrüstung und ließ seinem Grolle freien Lauf.
„Habe ich es mir doch beinahe gedacht! Wenn Durchlaucht wirklich einmal einen vernünftigen Gedanken haben, dann hält das nicht vierundzwanzig Stunden vor, und dero hochseliger Herr Vater haben doch auch geheirathet, und heirathen muß der Mensch überhaupt, und beim Heirathen hören die Dummheiten von selbst auf –“
„So, jetzt ist er im Zuge, nun lassen Sie sich etwas vorpredigen, meine Herren,“ sagte Egon, und die jungen Offiziere, denen das ein köstlicher Spaß war, stachelten denn auch wirklich den armen Stadinger so lange, bis er allen Respekt verlor und sich im vollen Glorienschein seiner Grobheit zeigte.
Nach einer Viertelstunde machten Willibald und Eugen Stahlberg Anstalt, aufzubrechen. Sie traten zu dem Fürsten, um sich zu verabschieden, und dieser fragte:
„Sie rücken also morgen schon weiter?“
„Mit Tagesanbruch; wir marschiren nach R., wo Generalmajor von Falkenried mit seiner Brigade steht. Es wird freilich noch einige Tage dauern, ehe wir hinkommen, denn die ganze Gegend zwischen hier und R. ist noch vom Feinde besetzt und wir werden uns den Weg erst freimachen müssen.“
„Dann sage aber dem General, Willy, daß ich in spätestens acht Tagen nachkomme,“ fiel Eugen Stahlberg ein. „Es war schlimm genug, daß ich so lange hier zurückbleiben mußte eines Schusses wegen, der gar nicht der Rede werth war. In der nächsten Woche aber melde ich mich gesund, der Doktor mag sagen, was er will, und gehe dann unverzüglich wieder zu meinem Regimente ab, hoffentlich noch vor der Einnahme von R.“
„Dann müssen Sie sich in der That beeilen,“ sagte Egon, „denn wo General Falkenried steht, pflegt der Widerstand nie lange zu dauern, das haben wir hinreichend erfahren. Er ist ja mit seinen Leuten immer voran, immer der erste beim Sturm und hat schon Unglaubliches errungen. Es scheint, als ob es für ihn gar keine Unmöglichkeiten gäbe.“
„Er hatte aber auch das Glück, überall an die Spitze gestellt zu werden,“ warf Lieutenant Walldorf ein. „Jetzt soll er wieder R. nehmen, während wir hier Gott weiß wie lange festliegen, und er wird es nehmen, daran ist gar kein Zweifel, hat es vielleicht schon genommen. Die Nachrichten kommen ja jetzt nur auf Umwegen, so lange der Feind zwischen uns steht.“
Er erhob sich, um den beiden Herren das Geleit bis vor die Thür zu geben, während der Fürst zurückblieb. Am Kamin stehend, blickte er mit verschränkten Armen in das Feuer, und dabei hatte sein Gesicht einen Ausdruck, der nicht im Einklange stand mit dem Uebermuth, den er eben noch gezeigt hatte. Ernst, ja düster schaute er in die zuckenden Flammen, und der Schatten wollte noch nicht aus seinen sonst so sonnig heiteren Augen weichen. Egon schien die Anwesenheit Stadingers ganz vergessen zu haben; erst als dieser sich mit einem Räuspern bemerklich machte, fuhr er auf.
„Ah, Du bist noch da? Grüß’ mir den Lois und sage ihm, ich käme morgen selbst, um einmal wieder nach ihm zu sehen. Abschied brauchen wir ja nicht zu nehmen, da Du einstweilen noch hier bleibst. Du hast wohl nicht geglaubt, daß es so lustig
[409][410] bei uns zugeht? Ja, man macht sich das Leben leicht, wenn man jeden Tag darauf gefaßt sein muß, es zu verlieren.“
Der Alte stand vor seinem jungen Herrn und blickte ihm scharf in die Augen, dann sagte er halblaut:
„Ja, lustig waren die Herren schon, und Durchlaucht sind der lustigste von allen, aber – froh sind Sie doch nicht!“
„Ich? Was fällt Dir ein! Warum soll ich denn nicht froh sein?“
„Ich weiß nicht, aber merken thue ich es doch,“ beharrte Stadinger. „Sonst, wenn Durchlaucht von Fürstenstein kamen oder in Rodeck mit dem Herrn Rojanow alles mögliche anstellten, da sahen Sie ganz anders aus und lachten ganz anders, und eben, als Sie in das Feuer blickten, da war es, als ob Durchlaucht etwas recht Schweres auf dem Herzen hätten.“
„Bleib’ mir vom Leibe mit Deinen Beabachtungen!“ rief Egon ärgerlich, dem sein alter „Waldgeist“ wieder einmal sehr unbequem wurde. „Denkst Du vielleicht, daß wir immer so ausgelassen sind? Wenn man fortwährend das blutige Kriegsspiel vor Augen hat, kommen doch auch ernste Gedanken, sollt’ ich meinen!“
Dagegen ließ sich nichts einwenden und Stadinger schwieg auch, aber täuschen ließ er sich nicht. Er wußte ganz genau, daß bei seiner jungen Durchlaucht etwas nicht in Ordnung war und daß sich hinter diesem so zur Schau getragenen Uebermuth etwas anderes verbarg. Da trat Lieutenant Walldorf wieder ein, ließ aber die Thür hinter sich offen.
„Nur hier herein!“ rief er dem Draußenstehenden zu. „Da ist eine Ordonnanz vom siebenten Regiment mit einer Meldung. Nun, hören Sie denn nicht, Ordonnanz? Sie sollen eintreten!“
Die Wiederholung des Befehls klang sehr ungeduldig. Der Soldat, der bereits auf der Schwelle stand, hatte dort gezögert und sogar eine jäh zurückweichende Bewegung gemacht, als wollte er wieder in das Dunkel zurücktreten. Jetzt gehorchte er; aber er hielt sich dicht an der Thür, so daß sein Gesicht im Schatten blieb.
„Sie kommen von den Vorposten drüben am Kapellenberge?“ fragte Walldorf.
„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“
Egon, der sich gleichgültig umgewendet hatte, zuckte zusammen beim Klange dieser Stimme. Er that hastig einen Schritt vorwärts und blieb dann, wie sich plötzlich besinnend, stehen, aber sein Blick heftete sich mit einem beinahe entsetzten Ausdruck auf den Sprechenden. Es war, soweit man im Halbdunkel unterscheiden konnte, ein noch junger, hochgewachsener Soldat, im groben Mantel des Gemeinen, den Helm auf dem kurz geschnittenen schwarzen Haar. Er stand stramm und unbeweglich da und erstattete vorschriftsmäßig seine Meldung. Nur seine Stimme hatte einen eigenthümlich dumpfen, halb erstickten Ton.
„Vom Herrn Hauptmann Salfeld!“ meldete er. „Wir haben einen Verdächtigen aufgegriffen, als Bauer verkleidet, aber wahrscheinlich von der Entsatzarmee, der sich in die Festung schleichen wollte. Was er Schriftliches bei sich hatte –“
„Kommen Sie doch näher,“ befahl Walldorf ärgerlich. „Man hört ja nicht ordentlich!“
Der Soldat gehorchte und trat zu den Offizieren. Das Licht fiel jetzt grell und scharf auf seine Züge, aber dies Gesicht zeigte eine fahle unheimliche Blässe, die Zähne waren zusammengebissen und der Blick hob sich nicht vom Boden.
Egons Hand umklammerte krampfhaft den Griff seines Säbels, er zwang gewaltsam den stürmischen Ausruf zurück, der sich auf seine Lippen drängen wollte, während Stadinger mit weitaufgerissenen Augen den Mann anstarrte, der jetzt fortfuhr:
„Was er Schriftliches bei sich hatte, war nicht von Belang, enthielt aber Andeutungen, die er wohl mündlich ergänzen sollte. Der Herr Hauptmann meint, wenn er streng verhört würde, wäre es vielleicht herauszubekommen, und fragt an, ob er den Gefangenen hier abliefern kann oder ihn nach dem Hauptquartier schicken muß.“
Die Meldung war weder auffallend noch ungewöhnlich. Es kam öfter vor, daß man Verdächtige aufgriff, die Entsatzarmee versuchte immer wieder von neuem, Verkehr mit der Festung anzuknüpfen, unterhielt ihn vielleicht auch wirklich, trotz aller Wachsamkeit der Belagerer, aber Fürst Adelsberg schien erst nach Athem ringen zu müssen, ehe er die Antwart gab:
„Ich lasse den Herrn Hauptmann bitten, den Gefangenen hierherzuschicken. Wir werden in zwei Stunden abgelöst und marschiren geradeswegs nach dem Hauptquartier. Ich werde das Weitere übernehmen.“
„Hoffentlich ist der Kerl zum Sprechen zu bringen, wenn man ihm ernstlich zu Leibe geht,“ meinte Walldorf. „Er wäre nicht der erste, dem das Herz in die Schuhe fällt, wenn man ihm das Standrecht klar macht. Nun, wir werden ja sehen!“
Der Soldat stand da und wartete auf seine Entlassung; keine Muskel zuckte in seinem Gesicht, aber er hob das Auge noch immer nicht vom Boden. Egon hatte sich jetzt gefaßt, er bewahrte auch seinerseits die fremde Haltung, aber er fragte in dem kurzen Tone des Vorgesetzten:
„Sie sind beim siebenten Regiment?“
„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“
„Ihr Name?“
„Joseph Tanner.“
„Einberufen?“
„Nein, Freiwilliger.“
„Seit wann?“
„Seit dem dreißigsten Juli.“
„Sie haben also den ganzen Feldzug mitgemacht?“
„Zu Befehl!“
„Es ist gut, bringen Sie dem Herrn Hauptmann die Meldung.“
Der Soldat machte vorschriftsmäßig kehrt und entfernte sich. Walldorf, der sich wohl ein wenig über dies Examen gewundert, aber kein Gewicht darauf gelegt hatte, blickte ihm nach und sagte achselzuckend: „Die da draußen am Kapellenberge haben es am allerschlimmsten. Tag und Nacht keine Ruhe, angestrengt bis aufs äußerste, und dabei werden sie noch oft genug zur Hilfeleistung bei den Pionieren kommandirt. Da arbeiten die armen Burschen in dem hartgefrorenen Boden, daß ihnen der Schweiß in Strömen von der Stirn rinnt und die Hände bluten. Da sind unsere Leute doch besser dran!“
Er trat in den anstoßenden Raum, um einen Gefreiten für die Bewachung des zu erwartenden Gefangenen zu bestimmen und ihm die nöthigen Anweisungen zu geben. Egon aber riß das Fenster auf und lehnte sich hinaus, – ihm war, als müßte er ersticken. Da vernahm er hinter sich die Stimme Stadingers in gedämpftem Tone, der aber gleichwohl den größten Schrecken verrieth.
„Durchlaucht!“
„Was giebt es?“ fragte er, ohne sich umzuwenden.
„Aber haben Durchlaucht denn nicht gesehen –?“
„Was denn?“
„Die Ordonnanz, die eben hier war – das war ja der Herr Rojanow, wie er leibt und lebt!“
Egon sah, daß hier Geistesgegenwart noth that; er wendete sich um und sagte kalt: „Ich glaube, Du siehst Gespenster!“
„Aber, Durchlaucht –“
„Unsinn! Es ist allerdings eine flüchtige Aehnlichkeit vorhanden, die auch mir auffiel, deshalb wollte ich den Namen des Mannes wissen. Du hörst ja, daß er Tanner heißt.“
„Aber es war doch der leibhaftige Herr Rojanow,“ rief der unerschütterliche Stadinger, dessen scharfe Augen sich nicht täuschen ließen. „Nur die schwarzen Locken fehlen und die stolze, herrische Art – auch seine Stimme war es!“
„Bleib’ mir vom Leibe mit diesem Unsinn!“ fuhr Egon heftig auf. „Du weißt es doch, daß Herr Rojanow in Sicilien ist, und nun willst Du ihn hier in einer Ordonnanz vom siebenten Regiment wiederfinden! Das ist doch mehr als lächerlich!“
Stadinger schwieg. Es war allerdings lächerlich und unmöglich, was er da vorbrachte, und darum war der junge Fürst auch so ungnädig; er nahm es übel, daß man einen gemeinen Soldaten mit seinem Freunde verwechselte. Freilich, der herrische Rojanow, der das Befehlen so aus dem Grunde verstand und in Rodeck oft die ganze Dienerschaft durcheinander gejagt hatte, und die Ordonnanz, die von dem Lieutenant Walldorf angefahren wurde, weil sie nicht laut genug sprach, das waren zwei himmelweit verschiedene Dinge. Wenn nur nicht die Stimme gewesen wäre!
„Also, Durchlaucht meinen –?“ fragte der Alte, der jetzt doch schwankend geworden war.
„Ich meine, daß Du ein alter Geisterseher bist!“ sagte Egon milder. „Geh in Dein Quartier und schlafe die Reise aus, sonst findest Du noch überall Aehnlichkeiten – gute Nacht!“
Stadinger gehorchte und verabschiedete sich. Er hatte zum Glück Joseph Tanner, der überhaupt nur wenige Wochen in Ostwalden [411] gewesen war, nicht gekannt, und die Begegnung hatte ihn so in Schrecken versetzt, daß ihm die mühsam verhaltene Aufregung seines Herrn vollständig entging. Aber er blieb bei seinem Kopfschütteln – wunderlich war die Geschichte doch!
Als der Fürst sich allein sah, begann er stürmisch im Zimmer auf und nieder zu schreiten. Also war es doch erzwungen worden, was er dem einstigen Freunde versagt hatte! Joseph Tanner! Er erinnerte sich noch deutlich des Namens, der ihm damals in Ostwalden genannt worden war, und er wußte jetzt, welche Hand Hartmut die Reihen der Armee geöffnet hatte, die sich einem Rojanow verschlossen. Was vollbringt die Liebe einer Frau nicht, die den Geliebten um jeden Preis entsühnt sehen will! Sie hatte ihn selbst hinausgesandt in die Todesgefahr, um ihn dem Leben und sich zu retten.
Die Eifersucht stieg heiß und wild auf in dem Herzen Egons bei diesem Gedanken, und damit hob auch jener furchtbare, noch immer nicht überwundene Argwohn wieder drohend sein Haupt empor. Wollte Hartmut wirklich nur sühnen in diesem Kampfe? War seine Anwesenheit bei den Vorposten nicht eine Gefahr, für die man die Verantwortung trug, wenn man sie verschwieg?
Da tauchte vor dem jungen Fürsten das bleiche, düstere Antlitz des Freundes auf, der ihm über alles theuer gewesen war und der bei dieser Begegnung eine Folterqual ausgestanden haben mußte, wie man sie sich peinigender nicht denken kann. Er kannte am besten Hartmuts unbändigen Stolz, und dieser Stolz beugte sich jetzt Tag für Tag in den Staub, in einer tief untergeordneten Stellung. Er hatte es gehört: da draußen am Kapellenberge arbeiteten sie oft, daß ihnen trotz der Eiseskälte der Schweiß in Strömen von der Stirne rann und die Hände bluteten. Das that der verwöhnte, gefeierte Rojanow, dem vor einem Jahre um diese Zeit eine ganze Stadt ihre Bewunderung zu Füßen gelegt, den das Fürstenhaus mit Auszeichnungen überschüttet hatte, that es freiwillig, während der Sieg seines Dichtwerkes ihm die reichsten Mittel zu Gebote stellte – und er war doch der Sohn des Generals Falkenried!
Egons Brust hob sich unter einem tiefen, aber befreienden Athemzuge. Das gab ihm endlich langsam den verlorenen Glauben zurück, davor entflohen die quälenden Zweifel. Die alte Knabenschuld Hartmuts wurde jetzt gesühnt, und das andere, Schrecklichere war die Schuld der Mutter allein, nicht die seine.
Es war gegen neunn Uhr abends, als Fürst Adelsberg sein
Quartier verließ, um sich zu dem kommandirenden General zu
begeben. Er folgte dabei keinem dienstlichen Befehl, sondern einer
Einladung, denn der General war mit seinem verstorbenen Vater
eng befreundet gewesen und hatte für den Sohn während des
ganzen Feldzuges eine väterliche Fürsorge gezeigt. Wohl hätte Egon
viel darum gegeben, heut abend allein bleiben zu dürfen, denn die
Begegnung mit Hartmut hatte ihn im tiefsten Inneren erschüttert,
aber die Einladung des Vorgesetzten ließ sich nicht ausschlagen, und
im Kriege durfte man seinen Stimmungen keine Rechnung tragen.
Als der junge Fürst in das Haus trat, begegnete ihm auf der Treppe einer der Adjutanten, der es sehr eilig hatte und nur von schlimmen Nachrichten fallen ließ, die Fürst Adelsberg wohl von dem Kommandirenden selbst hören würde. Kopfschüttelnd stieg Egon die Treppe hinauf.
Der General war allein, er schritt im Zimmer auf und nieder, in sichtbarer Aufregung mit einer Miene, die in der That nichts Gutes verhieß.
„Da sind Sie ja, Fürst Adelsberg!“ sagte er, beim Eintritt des jungen Offiziers stehen bleibend. „Ich kann Ihnen leider keinen guten Abend versprechen, wir haben Meldungen erhalten, die uns wohl allen die Lust zum Beisammensein gründlich verderben.“
„Ich hörte soeben eine Andeutung davon,“ versetzte Egon. „Was ist denn vorgefallen, Excellenz? Die Depeschen von heut mittag lauteten ja durchweg günstig.“
„Ich besitze die Nachrichten auch erst seit einer Stunde. Sie haben ja selbst den Verdächtigen, den unsere Posten aufgriffen, im Hauptquartier abgeliefert. Wissen Sie, was er bei sich trug?“
„Allerdings, Hauptmann Salfeld sandte es mir zugleich mit dem Gefangenen, und ich war auch der Meinung, daß dieser die schriftlichen Mittheilungen, die sehr vorsichtig gehalten waren, mündlich ergänzen sollte; man hatte offenbar mit der Möglichkeit gerechnet, daß sie in unsere Hände fallen könnten. Der Mann wollte freilich nichts gestehen, er sollte hier aber sofort ernstlich verhört werden.“
„Das ist auch geschehen. Der Mensch war feig, und als er sah, daß ihm die Kugel drohte, rettete er sich mit einer Enthüllung, an deren Wahrheit leider nicht zu zweifeln ist. Sie erinnern sich, daß in einem der Schriftstücke davon die Rede war, man könnte im äußersten Falle das heldenmüthige Beispiel des Kommandanten von R. nachahmen.“
„Ja, unbegreiflicherweise, denn die Festung steht doch unmittelbar vor der Uebergabe! General Falkenried hat ja gemeldet, daß er morgen schon einzuziehen hofft.“
„Und ich fürchte, er wird Wort halten!“ rief der General heftig. Egon sah ihn betroffen an.
„Sie fürchten, Excellenz?“
„Ja, denn es handelt sich um ein Bubenstück, einen Verrath ohnegleichen. Man will die Festung übergeben und dann, wenn die Besatzung abgezogen ist und die Unsrigen eingerückt sind, die Citadelle in die Luft sprengen.“
„Um Gotteswillen!“ fuhr der junge Fürst entsetzt auf. „Kann General Falkenried benachrichtigt werden?“
„Das ist es eben, ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Ich habe sofort Warnungen abgesandt, auf zwei verschiedenen Wegen. aber unsere gerade Verbindung mit R. ist abgeschnitten, der Feind hält die Bergpässe besetzt, die Nachrichten müssen weite Umwege machen und können nicht rechtzeitig zur Stelle sein.“
Egon schwieg in äußerster Bestürzung. Die Pässe waren in der That gesperrt durch feindliche Streitkräfte. Eschenhagens Regiment sollte den Weg ja erst frei machen, und das konnte Tage dauern.
„Wir haben alle Möglichkeiten erwogen,“ hob der General von neuem an, „aber es bleibt kein Ausweg nichts als die schwache Hoffnung, daß die Uebergabe sich auf irgend eine Weise verzögern könnte. Doch Falkenried ist nicht der Mann, sich hinhalten zu lassen, er wird den Abschluß erzwingen und dann ist er verloren, und Hunderte, vielleicht Tausende mit ihm!“
Er nahm wieder seinen Gang durch das Zimmer auf, man sah es, wie nahe dem sonst so eisernen Manne das Schicksal der Bedrohten ging. Auch der junge Fürst stand rathlos da; auf einmal aber durchzuckte ihn wie ein Blitzstrahl ein Gedanke, er richtete sich empor.
„Excellenz!“
„Nun?“
„Wenn es möglich wäre, trotzalledem eine Depesche über die Bergpässe zu senden – ein tüchtiger Reiter könnte im Nothfall bis morgen vormittag in R. sein, er müßte freilich auf Tod und Leben jagen.“
„Und mitten durch die Feinde hindurch! Thorheit! Sie sind doch auch Soldat und müssen sich sagen. daß das nicht denkbar ist; nicht eine halbe Meile käme der Tollkühne vorwärts, er würde rettungslos niedergeschossen.“
„Und wenn sich nun ein Mann fände, der dennoch den Versuch machte? Ich kenne einen solchen Mann, Excellenz.“
Der General zog unwillig die Brauen zusammen.
„Soll das etwa heißen, daß Sie selbst Lust haben zu diesem nutzlosen Opfertode? Das müßte ich Ihnen verbieten, Fürst Adelsberg. Die Tapferkeit meiner Offiziere weiß ich zu schätzen, aber zu solchen unmöglichen Unternehmungen gebe ich sie nicht her.“
„Ich spreche nicht von mir,“ erklärte Egon ernst. „Der Mann, den ich meine, steht beim siebenten Regiment und ist augenblicklich auf Vorposten am Kapellenberge. Er war es, der mir den Gefangenen anmeldete.“
Der General war nachdenklich geworden, aber er schüttelte ungläubig den Kopf.
„Ich sage Ihnen, daß es unmöglich ist, indessen – wie heißt der Mann?“
„Joseph Tanner.“
„Gemeiner?“
„Ja, aber freiwillig eingetreten.“
„Sie kennen ihn also näher?“
„Ja, Excellenz, er ist vielleicht der beste Reiter in der ganzen Armee, unerschrocken bis zur Tollkühnheit und fähig genug, in solchem Falle mit der Umsicht eines Offiziers zu handeln. Wenn die Sache überhaupt zu erzwingen ist, so erzwingt er sie.“
„Und Sie glauben – befehlen läßt sich ja so etwas nicht, es ist im Grunde nur eine Verzweiflungsthat – Sie glauben, daß der Mann freiwillig diesen Auftrag übernehmen würde?“
„Ich bürge dafür.“
„Dann allerdings kann und darf ich nicht Nein sagen, wo so viel auf dem Spiele steht. Ich werde Tanner sofort herbeordern.“
[412] „Darf ich ihm selbst den Befehl überbringen?“ fiel Egon rasch ein. Der General stutzte und sah ihn forschend an.
„Sie wollen das persönlich thun? Weshalb?“
„Um Zeit zu sparen. Der Weg, den Tanner nehmen muß, führt am Kapellenberg vorüber; ehe er nach dem Hauptquartier und wieder zurückkommt, vergeht eine Stunde.“
Dagegen ließ sich nichts einwenden, aber der General mochte fühlen, daß hier noch etwas Besonderes zu Grunde lag. Der erste beste Gemeine unternahm schwerlich eine Tollkühnheit, die ihn geradezu dem Tode in die Arme trieb, aber der alte Krieger forschte nicht weiter, er fragte nur: „Sie stehen ein für den Mann?“
„Ja!“ erklärte der junge Fürst fest und ruhig.
„Gut, dann übernehmen Sie es selbst, ihn zu unterrichten. Aber noch eins: er muß eine Beglaubigung haben, wenn er wirklich unsere jenseitigen Posten erreichen sollte, denn jeder Aufenthalt kann verhängnißvoll werden, wo es sich um Minuten handelt.“
Er trat zum Schreibtisch und warf einige Zeilen auf ein Papier, das er dem Fürsten reichte.
„Hier ist das Nöthige, und hier die Depesche an Falkenried. Sie bringen mir sofort Nachricht, ob Tanner eingewilligt hat?“
„Sofort, Excellenz!“
Egon nahm das Papier in Empfang, verabschiedete sich und eilte nach seinem Quartier, wo er Befehl gab, augenblicklich sein Pferd zu satteln. Fünf Minuten später war er bereits auf dem Wege.
Der Kapellenberg, der ursprünglich wohl einen anderen
Namen führte, aber von den Deutschen regelmäßig so genannt
wurde, weil er ein Kirchlein trug, war eine nur mäßige, zum
theil bewaldete Anhöhe, der letzte weit vorgeschobene Ausläufer
der Berge, die sich an dieser Seite hinzogen. Er bildete hier die
Grenze der deutschen Truppenstellung, und in den einzelnen Gehöften,
die zerstreut an seinem Fuße lagen, befand sich eine
Kompagnie vom siebenten Regiment, deren Dienst mit Recht als
der härteste und gefahrvollste galt.
Die Kapelle lag öde und einsam, halb begraben in dem tiefen Schnee; Priester und Meßner waren längst geflüchtet und das kleine Gotteshaus selbst trug überall die Spuren der Zerstörung, denn heiße Kämpfe hatten um diese Höhen getobt. Mauern und Dach standen zwar noch, aber ein Theil der Decke war eingestürzt und durch die zertrümmerten Fenster pfiff der Wind. Dahinter ragte der in Eis und Schnee starrende Wald auf, und das Ganze lag im ungewissen Lichte des Halbmondes, der eben jetzt an dem schwer umwölkten Himmel sichtbar wurde und seinen geisterhaften Schein auf die Umgebung warf, um nach einigen Minuten wieder zu verschwinden.
Es war eine eisige Winternacht wie damals in Rodeck, und wie damals röthete eine dunkle Gluth den Horizont; aber hier strahlte kein Nordlicht in geheimnißvoller Schönheit, die Gluth, die dort im Norden loderte, gab Zeugniß von den Kämpfen, die noch überall in der Umgegend stattfanden, sie entstammte den in Brand geschossenen Dörfern und Gehöften, den furchtbaren Flammenzeichen des Krieges, deren Widerschein den Himmel färbte. Ein einsamer Posten stand hier, das Gewehr im Arm, Hartmut von Falkenried. Sein Auge hing an dem flammenden Horizonte, die düsteren Wolkenmassen schimmerten dort blutigroth, und von Zeit zu Zeit stob ein Regen von glühenden Funken aus dem wallenden Rauch, der über der Erde lagerte. Dort Gluth und Flammen, und hier Eis und Nacht! Die Kälte, die schon während des Tages scharf gewesen war, wurde jetzt zu einem Eishauche, in dem alles Leben zu erstarren schien und der den einsamen Posten bis ins Mark durchschauerte. Freilich, er war nicht der einzige, der diesen schweren Dienst leisten mußte, aber seine Kameraden waren nicht wie er verwöhnt durch einen jahrelangen Aufenthalt im Orient, in der Sonnenluft Siciliens. Hartmut hatte seit seinen Knabenjahren keinen nordischen Winter mehr durchlebt, ihm wurde diese Kälte verhängnißvoll, die das Blut in seinen Adern in Eis zu verwandeln schien.
Langsam schlich die tödliche Mattigkeit heran, die nicht der Vorbote des Schlafes ist, sie machte die Glieder bleischwer und zog die Augenlider gewaltsam nieder. Wohl kämpfte der Bedrohte dagegen mit aller Willenskraft, er versuchte sich aufzuraffen und zu bewegen, und es gelang auch für Augenblicke, aber immer wieder nahte jene Erschöpfung, deren Ende er kannte. Sollte es ihm nicht einmal beschieden sein, von einer Kugel zu fallen?
Hartmuts Blick wandte sich wie hilfesuchend nach dem kleinen halbzerstörten Gotteshause. Freilich, was waren ihm Kirche und Altar! Er hatte den Glauben längst von sich geworfen, ihn gähnte mit dem Tode nur die ewige Nacht an, und das Leben hätte ihm doch noch alles geben können, wenn die Sühne erst vollzogen war, den Besitz der Geliebten, den Ruhm des Dichter, vielleicht auch die Versöhnung mit dem Vater. Es sollte nicht sein! Er hatte auszuhalten auf seinem Posten und auf den ruhmlosen Tod zu warten, der da aus dem eisigen Dunkel heranschlich, die Pflicht gebot es – und er hielt aus!
Da wurden in einiger Entfernung Schritte und Stimmen laut, die immer näher kamen; sie rissen Hartmut aus der Betäubung, die schon seine Sinne zu umschleiern begann. Er raffte sich gewaltsam empor und machte sein Gewehr schußfertig, doch es waren seine Kameraden, die nahten. Was sollte das? Die Stunde der Ablösung war ja noch nicht da! Aber schon nach wenigen Minuten stand ein Unteroffizier mit einem Mann vor ihm.
„Ablösung! Befehl vom Hauptquartier, durch einen Offizier überbracht!“ so lautete die Auskunft. Die Ablösung wurde vollzogen und die Stelle Hartmuts nahm ein vierschrötiger Bauer ein, den die Kälte nicht viel anzufechten schien. Hartmut wollte sich dem Unteroffizier anschließen, da trat von der andern Seite her der Offizier selbst auf ihn zu.
„Lassen Sie den Unteroffizier vorangehen, ich habe mit Ihnen persönlich zu sprechen, Tanner. Folgen Sie mir!“
Es geschah. Fürst Adelsberg, der den Posten nicht zum Zeugen des Gespräches machen wollte, trat in die Kapelle, wohin Hartmut ihm folgte. Das matte Mondlicht, das durch die Fenster fiel, zeigte auch hier im Innern überall Verwüstung und Zerstörung. Die eingestürzte Decke hatte einen Theil der Betstühle zerschmettert; nur der Altar stand noch unversehrt in seiner Nische.
Egon war bis in die Mitte des Raumes geschritten, hier blieb er stehen und wandte sich um.
„Hartmut!“
„Herr Lieutenant?“
„Laß das, wir sind allein!“ sagte der junge Fürst. „Ich glaubte nicht, daß wir uns so wiedersehen würden.“
„Und ich hoffte, es würde mir erspart bleiben,“ entgegnete Hartmut dumpf. „Du kommst –?“
„Vom Hauptquartier. Ich hörte, daß Du den Posten auf dem Kapellenberge bezogen hättest, das ist ein furchtbarer Dienst in solcher Nacht.“
Hartmut schwieg. Er wußte, daß ohne diese Dazwischenkunft der Dienst sein letzter gewesen wäre. Egon blickte ihn unruhig an; trotz des ungewissen Lichtes sah er doch, wie erstarrt und erschöpft der Mann war, der sich jetzt an eine der Säulen lehnte, als brauchte er eine Stütze.
„Ich kam, um Dir einen Auftrag zu überbringen, dessen Uebernahme allerdings in Deinen freien Willen gestellt ist,“ begann er wieder. „Die Sache gilt für beinahe unmöglich und ist es auch vielleicht für jeden andern. Du hast den Muth dazu, das weiß ich, es ist nur die Frage, ob Dir nach all den Anstrengungen nicht die Kraft versagt.“
„Nein, eine Viertelstunde der Erholung und Erwärmung wird mir die Kraft zurückgeben. Um was handelt es sich?“
„Um einen Ritt auf Tod und Leben! Du sollst eine Nachricht über die Bergpässe tragen mitten durch die Feinde – nach R.“
„Nach der Festung?“ rief Hartmut zusammenzuckend. „Dort steht ja –“
„General Falkenried mit seiner Brigade! Er ist verloren, wenn ihn die Nachricht nicht erreicht – wir legen die Rettung in die Hand seines Sohnes.“
Hartmut fuhr auf. Fort waren auf einmal Erstarrung und Erschöpfung, mit einer fieberhaften Heftigkeit faßte er den Arm des Fürsten.
„Ich soll meinen Vater retten? Ich? Was ist geschehen? Was soll ich thun?“
Höre mich an: der Gefangene, den Du mir heute selbst angemeldet hast, hat uns furchtbare Enthüllungen gemacht. Es handelt sich um einen Verrath. Die Festung soll nach der Uebergabe in die Luft gesprengt werden, sobald die Besatzung in Sicherheit ist und die Unsrigen eingezogen sind. Der General hat sofort Warnungen abgesandt; aber sie werden zu spät eintreffen, da sie weite Umwege machen müssen. Dein Vater denkt morgen schon einzuziehen, er muß vorher gewarnt werden, und dazu giebt es nur [413] eine Möglichkeit. Die Nachricht muß über die Bergpässe, die vom Feinde besetzt sind, auf diesem Wege kann sie im Nothfalle morgen vormittag zur Stelle sein, aber der Weg –“
„Den kenne ich,“ fiel Hartmut ein. „Mein Regiment hat ihn erst vor vierzehn Tagen gemacht, als wir hierhermarschirten. Die Pässe waren ja damals noch frei.“
„Um so besser! Du mußt natürlich die Uniform ablegen, die Dich verräth.“
„Ich wechsle nur Mantel und Helm. Werde ich überhaupt angehalten, so bin ich doch verloren; es handelt sich einzig darum, daß ich im Vorbeijagen nicht erkannt werde. Wenn nur ein tüchtiges, ausdauerndes Pferd zu schaffen ist.“
„Das ist bereits zur Stelle, ich habe meinen Araber, meinen Sadi mitgebracht. Du kennst ihn ja und hast ihn oft geritten. Er fliegt wie ein Vogel, und in dieser Nacht soll er sein Meisterstück leisten.“
Die Reden wurden in stürmischer Eile gewechselt, jetzt zog der Fürst die Papiere hervor, welche er im Hauptquartier erhalten hatte.
„Hier ist der Befehl des kommandirenden Generals, der Dir alles zur Verfügung stellt, sobald Du unsere Posten erreicht hast, hier die Depesche. Gönne Dir noch eine halbe Stunde der Erholung, sonst reicht Deine Kraft nicht aus und Du brichst auf dem Wege zusammen.“
„Glaubst Du, daß ich jetzt noch Ruhe und Erholung brauche?“ rief Hartmut aufflammend. „Jetzt breche ich sicher nicht zusammen, es müßte denn unter den Kugeln der Feinde sein! Ich danke Dir, Egon, für diese Stunde, in der Du mich endlich, endlich freisprichst von dem schmählichen Verdacht!“
„Und in der ich Dich in den Tod hinaussende!“ sagte der Fürst leise. „Wir wollen uns die Wahrheit nicht verhehlen – es wäre ein Wunder, wenn Du glücklich durchkämst.“
„Ein Wunder?“ Hartmuts Blick streifte den Altar, den der matte, zitternde Mondesstrahl erhellte. Er hatte längst das Beten verlernt, und doch stieg in diesem Augenblick ein heißes, stummes Angstgebet zum Himmel empor, zu der Macht, die Wunder thun kann: „Nur so lange, bis ich den Vater und die Seinen gerettet habe, nur so lange schütze mich!“
Schon in der nächsten Sekunde richtete er sich auf. Es war, als habe Egon mit seiner Nachricht glühende Lebenskraft in die Adern des Mannes gegossen, der eben noch der Kälte und der Erschöpfung zu erliegen drohte.
„Und nun laß uns hier Abschied nehmen!“ flüsterte Egon. „Leb’ wohl, Hartmut!“
Egon breitete die Arme aus und Hartmut stürzte an seine Brust. In dieser Umarmung versank alles, was trennend zwischen ihnen gestanden hatte, die alte heiße Liebe brach wieder mächtig hervor, zum letzten Male, denn sie fühlten es beide, daß sie sich nicht wieder sehen würden, daß dies ein Abschied für immer war. –
Kaum eine Viertelstunde später jagte ein Reiter davon. Der schlanke Araber flog, so daß seine Hufe kaum den Boden zu berühren schienen; in rasendem Galopp ging es vorwärts, über den schneebedeckten Boden, durch eisstarrende Wälder, über gefrorene Bäche – hinein in die Bergpässe!
„Halt! klang’s da nicht hohl?“ rief einer der Arbeiter. Man hob die Lampe ab, welche von der Wand herabhing und das Dunkel des gewaltigen Höhlenraumes, in dem die Arbeiter beschäftigt waren, nur nothdürftig erhellte.
Ein paar kräftige Schläge mit dem Pickel, die scheinbare Felswand splitterte in klingende, scherbenartige Stücke, aus schwarzgähnender Oeffnung drang urplötzlich ein starker Luftstrom, der die Lichter auszulöschen drohte, und – die schönste Höhle des höhlenreichen Schwabenlandes war gefunden.
Wie viele Wanderer werden künftig dem Gebirgsthal der schwäbischen Alb zuwandern, das sich zwischen der herzoglichen Teck und dem stolzen Hohenneuffen breit ins Neckarthal öffnet, dem reizvollen Lenninger Thal! Durch saubere Dörfer geht’s an der rauschenden Lauter hin, bis die fels- und burggekrönten Berge sich näher und näher zusammenschieben und das Thal dicht über dem wundervoll gelegenen Gutenberg in der machtvollen Felsschlucht der „Pfulb“ seinen Abschluß findet. Links von diesem Thalende, im kurzen schluchtartigen Tiefenthal, zeigt sich dem Wanderer hoch oben am weißen Felsenkranz die Oeffnung der Gutenberger Höhle. Ein prächtiger Weg führt durch den grünen Buchenwald in langsamer Steigung zum Portal.
In der ersten Halle, dem schon vorher bekannten „Heppenloch“, erlabt sich das Auge an der überaus lieblichen Thalsicht; dann geht’s bei Magnesiumschein zur zweiten Halle, dem Fundorte zahlreicher Fossilien und feuersteinartiger, roher Werkzeuge, für die Kenntniß des ältesten Europamenschen von hervorragender Bedeutung. Fünfzehn Meter unter dem Höhlenlehm, der die ganze Halle bis zur Wölbung ausfüllte, lag die felsharte Masse mit den eingebackenen Knochenresten, zum theil 3 m hoch und 2 m breit; und gerade als man mit der Förderung dieses Schatzes beschäftigt war[2], erfolgte jener Durchschlag, der zur Fortsetzung der Höhle führte.
So mußten also die Nashörner der grauen Vorzeit, deren gewaltige [414] Zähne hier in glänzendem Email aus dem Jurastein starrten, die Riesenhirsche, die Auerochsen, die Höhlenbären und -löwen und wie all die Ungethüme hießen, deren Ueberreste kreuz und quer, verschlafen und zerspalten im steingewordenen Lehm lagen, den neuzeitlichen Schwaben zur Auffindung des Zaubergangs verhelfen, der sich von da bis jetzt 200 m weit ins Gebirge hineinzieht!
Schon die dritte Grotte, die "Gothische Halle" zu welcher man auf einer Treppe hinaufsteigt, ist in der That zauberhaft. "Eis!" ruft der Besucher unwillkürlich , wenn er zu den Gebilden aufschaut, die in schimmernder Weiße von den Wänden der kapellenartigen Halle herabhängen. Aber die Wärme (vergangenen Winter immer 15 Grad) und wohl auch das überlegene Lächeln des Führers, der solchen Mißverständnisses gewohnt ist, belehren ihn sogleich eines Besseren. Da drängt es sich fluthartig aus der hohen Felsnische hervor; dort in der Höhe droben baut sich die zierlichste, stilvollste Kanzel heraus; rückwärts, wo die weißen Bildungen mit gelblichen vermischt sind, steigt's kammartig empor zu einer Oberkammer, die sich aber nur vermittels einer Leiter und auch so nur unbequem erreichen läßt.
Auf dem Boden, der aus Lehm, mit Kies gemischt, besteht, erheben sich die wunderlichsten Zapfen und Zinken große und kleine, schlanke und gedrungene, zumeist ebenfalls in Formen des Eises aufs täuschendste nachahmend. Emsig geht der weitere Aufbau dieser Stalagmiten vor sich;
das alte Sprichwort „gutta cavat lapidem non vi, sed saepe cadendo“ (=nicht durch Gewalt, aber durch unaufhörliches Fallen höhlt der Tropfen den Stein) hat hier seine Geltung verloren: der aus der Höhe fallende Tropfen höhlt den Stein nicht, sondern baut ihn auf, und wenn's auch Jahrhunderte währen mag, bis ein solcher Krystallzapfen fertig ist, die Natur wird nicht müde, und Tropfen um Tropfen setzt die fürs bloße Auge nicht sichtbaren Kalkkörperchen ab, die sich im Ringe gelagert in glitzerndem Krystall um die leerbleibende Mittelöffnung ansammeln. Bruchstücke solcher Gebilde zeigen beim Schliff die sich wie rohe Seide aneinander fügenden und in einander schlingenden „Jahresringe“, wenn man diesen Ausdruck auf die todten und doch stetig wachsenden Steine anwenden darf. Uebrigens geht jene geheimnißvolle Arbeit eher im Winter vor sich, wenn das Schneewasser in den Boden einsickert; im Sommer ist die Höhle fast durchweg trocken und sauber. - Wir verlassen die „Gothische Halle“, die in der That einigermaßen an gothische Bauart erinnert, durch ein Thor, das durch Hinwegräumen eines im Weg liegenden gewaltigen Felsklotzes erst künstlich hergestellt werden mußte - vorher war nur ein ganz enger, fast unpassierbarer Durchschlupf vorhanden - und sehen gleich nach den ersten Schritten links die getreueste, verkleinerte Nachbildung eines Gletschers, bis aufs schimmernde Eisthor alle Einzelheilen eines, solchen treffend, im Verhältniß zum andern nur eine kleine Gruppe, aber zum Schönsten und Ueberraschendsten gehörig.
Ein lang sich hinziehender Gang, überall an Decke und Seitenwänden mit den wundersamsten Bildungen behängt, führt in die „Maurische Halle“. Ein steinernes Märchen! Links stürzt sich hoch herab aus undurchdringlicher Finsterniß der „Wasserfall“; aber zu stummen Stein erstarrt sind die schneeweißen, schäumenden Wogen und die breite Fluth, in die der prachtvolle Sturz wallend ausläuft. Rechts sind an der schneeigen Wand die wundersamsten Figuren aufgebaut, ein unerschöpflicher Reichthum an Formen, vom massiven Stalaktiten bis zum feinsten Glasröhrchen, die meisterhafteste Filigranarbeit, die der Bezeichnung der Grotte als der „maurischen“ volle Berechtigung verleiht. Auch hier ist der Boden mit Tropfsteinen bedeckt, nur in zusammenhängender, wie zusammengebackener Form. Wahrscheinlich ist die merkwürdige Masse, die den Boden gänzlich überdeckt, abgesehen von der starken Säule, an welcher das Geländer angebracht ist, als eine Verstürzung von oben herab anzusehen; es läßt sich ja denken, wenn die Stalaktiten Jahr um Jahr neue Schichten ansetzen und nach unten in die Breite wachsen, daß dann infolge der Gewichtszunahme schließlich eine Ablösung von der Felsdecke erfolgen muß. So ist denn auch in verschiedenen Theilen der Höhle bei Gelegenheit der Wegbahnung eine ganze Anzahl von Tropfsteingebilden zum Vorschein gekommen, die sicherlich einst von der Decke herabhingen, bevor sie durch ihr eigenes Gewicht losgerissen in die Tiefe stürzten. Von diesen sind ja die eigentlichen Stalagmiten, die vom Boden aufwachsen, leicht zu unterscheiden. - Ueber eine Treppe, am „Zwergpalast“ vorbei, einer überaus zierlichen Gruppe jener unglaublich zarten Glasröhrchen, geht's in die fünfte Halle, wo sich der Weg nach links in einen weiteren Gang verliert, dessen Ende noch nicht ausgegraben ist, und nach rechts hinab zur sechsten Halle, an der Spindelpartie (feine, glasige Tropfsteine in Spindelform) und an einem aus dem Gebirgsinnern heraus vernehmbaren, noch nie von eines Menschen Auge geschauten Wassersturz vorüber. Von da an steigen die Felsen riesenhaft empor, und ungleich öffnet sich wie der Eingang zur Unterwelt in enger Tiefe die „Klamm“, ein ungeheurer Felsenspalt [415] der die ganze Masse des Gebirges auseinanderreißt, oben theilweise ausgefüllt mit gewaltigen Blöcken, die zwischen den Wänden eingespannt den kühnen Eindringling drunten zu zerschmettern drohen. Unwillkürlich athmet der Wanderer auf, wenn er durchs Thor der „Klamm“ hindurch die Steintreppe wieder herauf gekommen ist.
Auf unserer Abbildung des Dorfes Gutenberg zeigt sich rechts vom Thurm geradeaus im Hintergrunde des Thales der Eingang zur Höhle. Der oben schon genannte Weg zieht sich im Zickzack hinan, während von der Höhlenmündung eine Schutthalde, gebildet aus dem bei der Ausgrabung zu Tage geschafften Lehm, zu Thal zieht.
Daß die Höhle dem Menschen zur Wohnung gedient hat, ist außer Zweifel; in welcher Weise wir uns aber die Benutzung derselben deuten wollen, das muß im großen und ganzen der Phantasie überlassen bleiben. Feuersteinwerkzeuge, Beile, Speer- und Pfeilspitzen, Schabsteine, Keile fanden sich in der ersten und zweiten Halle, und es ist bemerkenswert, daß sie im allgemeinen ein roheres und unbeholfeneres Gepräge tragen als die bisher in den benachbarten Höhlen und anderwärts gefundenen. Man mag sich ausmalen, daß in der zweiten Halle, der Fundstätte jener erheblichen und vielfach die Spuren des menschlichen Jägers und Verzehrers tragenden Knochenerste, sich die Koch- und Eßstätte, vielleicht auch die Sommerwohnung des vorgeschichtlichen Höhlenbewohners befand, während er sich zur kälteren Winterszeit in den dahinterliegenden Raum, die „Gothische Halle“, zurückzog, wo er nach Maßgabe der heutigen Wärmeverhältnisse einen ganz annehmbaren Aufenthalt gefunden haben mag.
Welch einen wunderbaren Ausblick aber eröffnen uns die thierischen Ueberreste auf das jagdbare Wild jenes urzeitlichen Menschengeschlechts! Da taucht das Rhinoceros auf und der Höhlenbär, die Hyäne und der Wolf, der Ur und der Wisent, ganz besonders zahlreich der Edelhirsch und das Reh; ferner ist die Antilope vertreten und das Wildschwein und eine Reihe von längst verschwundenen Thierarten. Auch der Hund fand sich, doch fragt es sich, ob er damals schon als Hausthier wie heute betrachtet werden darf, da er verzehrt wurde.
Kaum hatte sich der Ruf von den Herrlichkeiten der Gutenberger Höhle zu verbreiten begonnen, als auch schon eine zweite Entdeckung der ersten folgte. Etwa zwei Minuten von der Haupthöhle entfernt und von ihr aus auf ebenem Waldpfade zu erreichen, wurde im Januar dieses Jahres eine neue Höhle aufgefunden und zugänglich gemacht; theils wegen eines in der Höhle selbst gefundenen Schädels, theils wegen der wild malerischen Felspartien in ihrer Umgebung wurde sie die „Wolfsschlucht“ benannt. Wohl zeigt sie weit geringere Maßverhältnisse als die Gutenberger Höhle, aber sie zeichnet sich durch eine ganz andere und in ihrer Art nicht minder prachtvolle Tropfsteinbildung aus. Als der Verfasser dieser Zeilen nach nothdürftiger Erweiterung der ursprünglichen Oeffnung - eines Fuchsbaus - hineinschlüpfte und jedenfalls als der erste Mensch seit Jahrtausenden die Grotte betrat, in der ihm die vom Boden aufgewachsenen, über mannsgroßen Stalagmiten menschengleich, gespenstisch starr entgegenragten, da war die anfängliche Empfindung unwillkürlich doch so eine Art „Gruseln“, das sich aber sogleich in eitel Freude und Wohlgefallen verwandelte, als der unsichere Kerzenschein allmählich die einzelnen Schönheiten aus der ewigen Finsterniß hervorzog. Sind's in der Gutenberger Höhle glänzendweiße Tropfsteinwände und röhren, eisig, schneeartig, so ist hier alles trockenweiß, den Wänden eines neugegipsten Zimmers zu vergleichen, alle Ritzen mit „Mondmilch“ gefüllt, jener breiartigen Kalkausschwitzung, die heute noch vom Volk vielfach als uraltes Heilmittel eifrigst gesucht und angewandt wird, überall am Boden und an der Decke die bizarrsten Formen, partienweise an Bilder von türkischen Kirchhöfen erinnernd, einzelne Säulen klingend und tönend wie Glocken - kurz eine Zauberwelt im kleinen, die in ihrer Art ebenso überwältigend ist wie die großen Räume der erst beschriebenen Höhle! Auch hier mag's sein, daß sich noch eine Fortsetzung ins Gebirge hinein findet: bis jetzt ist's nicht der Fels, sondern weicher Höhlenlehm, der dem weiteren Vordringen Halt gebietet.
In dieser Annahme wird man durch die Thatsache bestärkt, daß sich auf der nahen Albhochfläche eine schluchtartige Vertiefung hinzieht, die ursprünglich nicht durch einen Wasserlauf, sondern wohl durch Einsenkungen entstanden ist, wie sie sich durch den Einsturz unterirdischer Hohlräume zu bilden pflegen. Die hier vorhandene Einsenkung zieht sich bis zu einem eine halbe Stunde entfernten Hochmoor hin und endigt vollständig erst in der Nähe des Randecker Moors, eines längst erloschenen vulkanischen Kraters von gewaltiger Ausdehnung (1 km Durchmesser).
Der Fels, in welchem die „Wolfschlucht“ sich öffnet, ist zur Zeit des Schneegangs mit einem besonderen Reiz ausgestattet; da stürzt sich ein Wasserfall gerade über den grottenförmigen Eingang herab, so daß der Besucher hinter dem Wassersturz steht und durch ihn in die Tiefe blickt.
Treten wir aus all der unterirdischen Pracht, die wir nun gesehen haben, wieder heraus an das Licht des Tages und stehen wir wieder draußen im hellen Sonnenschein und schauen hinab zum schmuck ins Waldthal hineingebetteten Dörflein, dessen Glocke melodisch heraustönt, so überkommt's uns beim Gedanken an die soeben zurückgelegte Wanderung unter der Erde wie in längst vergangenen Tagen, wenn uns die Großmutter das Märchen erzählte vom versunkenen Schloß und vom verwunschenen Königssohn.
Es ist, als ob Uhland das neue Wunder seines geliebten Schwabenlandes im Geist geschaut hätte, als sein Dichtermund sang:
„Ich weiß mir eine Grotte,
Gewölbt mit Bergkrystalle,
Die ist von einem Gotte
Begabt mit seltnem Halle;
Was jemand sprach, was jemand sang,
Das wird in ihr zu Glockenklang.“
[416]
Von Dr. A. E. Brehm.
Am Saume der Wüste, unter einer dichten Palmengruppe, steht ein kleines Zelt. Ringsum dasselbe liegen in bunter Reihe, wallartig geordnet, Kisten und Ballen. Im Innern des Zeltes befinden sich Reisende, welche mittels einer Nilbarke hierher gelangt sind und beabsichtigen, einen weiten Bogen des von nun an klippen- und stromschnellenreichen Nils abzuschneiden, also die von letzterem theilweise umschlossene Wüste zu durchziehen.
Es ist um die Mittagszeit. Die Sonne steht fast senkrecht über dem Zelte an dem wolkenlosen, tiefblauen Himmel und ihre sengenden Strahlen werden durch die sperrigen Wedel der Palmen kaum gehindert, drückende Gluth liegt auf der Ebene zwischen Strom und Wüste und die Luftschichten über dem erhitzten Boden wogen und flimmern, daß jedes Bild sich verzerrt und verschleiert.
Ein Reiterzug, von der Wüste her kommend, taucht am Rande des Gesichtskreises auf und wendet sich, ohne nach dem landeinwärts liegenden Dorfe einzulenken, geradeswegs dem Zelte zu. Dunkelbraune, ärmlich gekleidete, in lange und weite, eher graue als weiße Burnusse gehüllte Männer steigen, unter den Palmen angelangt, von ihren mageren, jedoch nicht unedlen Pferden. Einer von ihnen nähert sich dem Zelte und tritt mit der Würde eines Königs in dasselbe. Es ist das Oberhaupt der Kameltreiber (Scheich el Djemali), welchem wir, die Reisenden, Botschaft gesandt haben, um uns durch seine Hilfe mit den erforderlichen Führern, Treibern und Kamelen zu versehen.
„Heil mit Euch!“ sagt er beim Eintreten und legt grüßend seine Hand auf Mund, Stirn und Herz.
„Mit Dir, o Scheich, Heil, die Gnade Gottes und sein Segen!“ ist unsere Antwort.
„Groß war mein Sehnen, Euch zu sehen, o Fremdlinge, und Eure Wünsche zu vernehmen,“ versichert er, nachdem er auf dem Polster neben uns und zwar zu unserer Rechten, auf dem Ehrenplatze, sich niedergelassen hat.
„Möge Gott, der Erhabene, Dein Sehnen vergelten, o Scheich, und Dich segnen!“ erwidern wir seine Rede und befehlen unseren Dienern, ihm, früher noch als uns selbst, eine frisch angezündete Pfeife und Kaffee zu reichen.
Halbgeschlossenen Auges labt er seinen sterblichen Leib durch den Kaffee, seine unsterbliche Seele durch die Pfeife; in dichte Wolken hüllt er sein ausdrucksvolles Haupt. Fast lautlose Stille herrscht im Zelte, welches der Wohlgeruch des köstlichen Djebelitabaks durchduftet und leichter, unbeschwerlicher Rauch durchzieht, bis wir endlich glauben, die beabsichtigten Verhandlungen beginnen zu dürfen, ohne uns der Unhöflichkeit schuldig zu machen.
„Wie ist Dein Befinden, o Scheich?“
„Der Spender alles Guten sei gepriesen!– wohl, Dir zu dienen. Und wie steht es um Dein Wohlsein?“.
„Dem Herrn der Welt sei Ruhm und Ehre; ich befinde mich ganz wohl!“
Und so geht es noch eine Weile fort. Neue, fast endlose Höflichkeitsbezeigungen werden gegenseitig ausgetauscht; dann endlich gestattet die allseitig bindende Gebräuchlichkeit, geschäftliche Angelegenheiten zu behandeln.
„O Scheich, ich will mit des Allerbarmenden Hilfe diese Wüstenstrecke durchreisen.“
„Möge Allah Dir Geleit geben!“
„Bist Du im Besitze von Trabern und Lastkamelen?“
„Ich bin’s! Befindest Du Dich wohl, mein Bruder?“
„Der Erhabene sei gelobt! es ist so. Wie viel Kamele kannst Du mir stellen?“
Anstatt einer Antwort auf diese Frage entquellen nur zahllose Rauchwolken dem Munde des Scheich, und erst nach Wiederholung unserer Worte legt der Mann für einige Augenblicke die Pfeife zur Seite und spricht würdevoll:
„Herr, die Anzahl der Kamele der Beni Said kennt nur Allah; ein Sohn Adams hat sie noch nie gezählt!“
„Nun wohl, so sende mir fünfundzwanzig Thiere, darunter sechs Traber. Außerdem bedarf ich zehn großer Schläuche.“
Der Scheich raucht von neuem, ohne zu reden.
„Wirst Du sie mir senden, die gewünschten Thiere?“ wiederholen wir dringlicher.
„Ich werde es thun, um Dir zu dienen; allein ihre Besitzer stellen hohe Preise!“
„Und welche?“
Mindestens das Vierfache der üblichen Löhne und Miethen wird gefordert.
„Aber Scheich, erschließe Dich Allah, dem Erhabenen! Das sind Forderungen, welche Dir niemand bewilligen wird!“
„Gott, der Allerhaltende, sei gepriesen und sein Gesandter gesegnet! Du irrst, mein Freund: der Kaufmann, welcher dort oben lagert, hat mir das Doppelte geboten von dem, was ich verlange; nur meine Freundschaft zu Dir ließ mich so geringe Forderung stellen!“
Vergeblich scheint alles Feilschen, vergeblich jede weitere Verhandlung. Frische Pfeifen werden gebracht und geraucht, neue Höflichkeitsbezeigungen ausgetauscht, der Name Allahs auf beiden Seiten gemißbraucht, Wohl und Befinden gegenseitig aufs genaueste festgestellt, bis endlich die erlernte Sitte der angeborenen weicht und der abendländische Reisende die Geduld verliert.
„So wisse, Scheich, daß ich im Besitze eines Geleitsbriefes des Khedive und ebenso eines des Scheich Soliman bin; hier sind beide: was forderst Du jetzt noch?“
„Aber Herr, wenn Du einen Geleitsbrief seiner hohen Herrlichkeit besitzest: warum forderst Du nicht das Haupt Deines Sklaven? Es steht Dir zu Diensten, ihm zu Befehl. Deine Wünsche nehme ich auf meine Augen, auf mein Haupt. Du befiehlst, Dein Sklave wird gehorchen. Die Preise der Regierung kennst Du ja. Das Heil Allahs über Dich; morgen früh sende ich Dir Männer, Thiere und Schläuche.“
Aber nicht am andern Morgen, wie versprochen, erschienen die gemietheten Treiber und Thiere, sondern erst in den Nachmittagsstunden fanden sie sich allmählich ein, und nicht am nächsten Morgen, sondern frühestens um die Zeit des Nachmittagsgebetes des folgenden Tages konnte an den Aufbruch gedacht werden. „Bukra inshallah“ – morgen, so Gott will – ist die Losung, und sie widersteht jedem Machtgebote. In der That giebt es noch viel zu thun, vieles zu regeln, vieles zu ordnen, manches instand zu setzen, bevor die Reise angetreten werden kann.
Um das Zelt entwickelt sich ein buntes, lebendiges Bild. Zwischen den Gepäckstücken bewegt sich die Schar der ausgedorrten Söhne der Wüste. Wenig fördernde Geschäftigkeit, aber unglaubliches Geschrei und Gelärm bezeichnen ihr Thun und Treiben. Die wallartig geordneten Gepäckstücke werden auseinandergezerrt, einzeln aufgehoben, gewogen, hinsichtlich des Gewichtes wie rücksichtlich ihres Umfanges geprüft, mit anderen verglichen, auserwählt und verworfen, zusammengeschleppt und wieder getrennt. Jeder Treiber sucht den anderen zu überlisten, jeder für seine Thiere die leichteste Ladung zu gewinnen; alle lärmen und toben, schreien und schelten, schwören und fluchen, bitten und verwünschen; und wenn man sich endlich wegen der Ladung zur Genüge oder zum Ueberdrusse gezankt und gestritten hat, ist erst das Vorspiel zu Ende.
Nach Friedensschluß beginnt man, mitgebrachte Dattelbastfasern zu Stricken und Seilen zu drehen; hierauf umschnürt man in sinnreicher Weise Kisten und Ballen, bildet Oesen und Oehre, um je zwei Gepäckstücke auf dem Sattel des Thieres ebenso rasch verbinden als lösen zu können, bessert noch eiligst bereits fertig mitgebrachte Tragnetze, die bestimmt sind, die kleineren Päcke in sich aufzunehmen, nothdürftig aus und wendet sich sodann einer genauen Prüfung der verschiedenen großen und kleinen Schläuche zu, um auch an ihnen noch zu arbeiten und zu flicken und endlich sie mit stinkendem, aus Koloquinthensamen bereitetem Theere äußerlich einzuschmieren. Schließlich unterzieht man an der Sonne getrocknetes Fleisch einer nochmaligen Besichtigung, füllt einige Bastsäcke mit Kafferhirse oder Durra, andere mit Holzkohlen, spült die Schläuche oberflächlich aus, versieht auch sie mit frisch dem Strome entnommenem Wasser und beschließt die langwierige Arbeit mit einem allseitig wiederholten, aus tiefster Brust hervorgestoßenen „El hamdu lillahi“ – Gott sei Dank!
[417] Alle diese Vorbereitungen hat der Chabir oder Führer der Karawane zu leiten. Je nach deren Bedeutung nimmt er eine mehr oder minder hohe Stellung ein; unter allen Umständen aber muß er sein, was sein Titel besagt: ein Kundiger des Weges und der obwaltenden Verhältnisse. Erprobte Erfahrung, Redlichkeit, Klugheit, Muth und Tapferkeit sind Bedingnisse zu seinem schwierigen, nicht selten gefährlichen Amte. Er kennt die Wüste wie der Schiffer das Meer, ist kundig der Gestirne, in jeder Oase, an jedem Brunnen der Reisestrecke daheim, in dem Zelte jedes Beduinen- oder Wanderhirtenhäuptlings willkommen, versteht allerlei Mittel gegen Beschwerden und Gefahren des Rittes anzugeben, vermag Schlangenbisse und Skorpionenstiche unschädlich zu machen, führt die Waffen des Kriegers wie die des Jägers mit gleicher Geschicklichkeit, ist mit einem Worte das unentbehrliche Haupt des vielgliedrigen Körpers, welcher die Wüste durchwandert.
Zur gesegneten Stunde, um die Zeit des Nachmittagsgebetes, tritt der Führer vor Reisende und Treiber, um zu verkünden, daß alles zum Aufbruche bereit sei. Nach verschiedenen Seiten hin stürmen die braunen Männer, um ihre Kamele einzufanqen, herbeizuholen, zu belasten. Mit äußerstem Widerstreben gehorchen die ahnungsvollen Thiere, denen eine Reihe schwerer Tage in grellen Farben vor der Seele zu stehen scheint. Brüllend, kreischend, knurrend, stöhnend lassen sie sich, durch unnachahmliche Gurgellaute ihrer Herren und einige gelinde Peitschenhiebe aufgefordert, auf die zusammengebogenen Beine nieder; brüllend fügen sie sich darein, die ihnen zugedachte Last auf den höckerigen Rücken zu nehmen; brüllend erheben sie sich wieder, nachdem sie befrachtet sind. Nicht wenige versuchen durch Schlagen und Beißen der Bebürdung sich zu erwehren, und es gehört in der That die unerschöpfliche Geduld ihrer Treiber dazu, um so widerhaarige Geschöpfe zu bändigen. Sobald alle Tragthiere ihre Last erhalten haben, treten sie ihre Wanderung an.
Nunmehr bringt man auch die wohlgesattelten Traber herbei. Jeder Reiter befestigt auf und an dem hohen, muldigen, über dem Höcker sitzenden Sattel die ihm unentbehrlichsten Reisegeräthschaften und Waffen und schickt sich an, sein Reitthier zu besteigen, eine für den Neuling nicht ganz leichte Arbeit.
Wir unsererseits schwingen uns mit der Behendigkeit eines Eingeborenen in den Sattel, spornen durch Fuchteln mit der Peitsche unser Reitthier an, halten es mittels eines feinen Nasenzaumes gebührend im Zügel und eilen hinter dem Führer her. Bald ist die vorausgezogene Lastkarawane überholt, bald jede Spur der letzten menschlichen Ansiedelung verschwunden: nach allen Seiten erstreckt sich, endlos scheinend, die Wüste.
Ringsum scharf begrenzt, bedeckt sie, ein ungeheures, eigenartiges Reich, den größten Theil Nordafrikas, vom Rothen Meere bis zum Atlantischen, vom Mittelmeere bis zur Steppe, Länder in sich fassend, fruchtbare Landstriche aufschließend, tausendfältig abwechselnd, und im wesentlichen doch immer und überall sich gleichend, mindestens ähnelnd. Neun- bis zehnmal überbietet dieses Wunderreich an Flächeninhalt unser gesammtes Vaterland, drei- bis viermal das Mittelländische Meer. Kein Sterblicher hat es durchforscht, allörtlich durchwandert; aber jeder Erdgeborene, welcher es betrat und auf Strecken hin durchzog, ist im tiefinnersten Herzen ergriffen worden von seiner Größe und Erhabenheit, seinem Zauber oder seinen Schrecken.
Die Wüste ist wirklich und wahrhaftig „El Bahhr bela maa“ – das Meer ohne Wasser – ein Gegenstück des Meeres. Sie ist diesem nicht unterthan wie die übrige Erde: in ihr erstirbt die Macht des belebenden und erhaltenden Elementes. „Wasser umfängt ruhig das All“: – die Wüste allein umfängt es nicht. Ueber die ganze Erde tragen die Winde des Meeres Gesandten, die Wolken, aber diese ersterben vor der Gluth der Wüste. Selten, daß man in ihr ein leichtes, kaum ersichtlich werdendes Dunstgebilde, selten, daß man auf einem Pflanzenblatte in der Morgenfrühe den feuchten Hauch der Nacht wahrnimmt. Sind in ihr doch Morgen- und Abendroth nur ein Dufthauch, welcher, kaum geboren, wieder verschwindet. Allüberall aber, wo das Wasser zur Herrschaft gelangt, verwandelt es auch die Wüste in Fruchtland, möge dasselbe so dürftig sein, als es wolle. Der Sand für sich allein ist es eben nicht, welcher Wachsthum der Pflanzen verwehrt, sondern einzig und allein die starre, sengende Gluth, welche ihn durchstrahlt.
Arm, unendlich arm ist die Wüste, todt aber ist sie nicht, mindestens nicht für diejenigen Menschen, welche das Leben in ihr aufzusuchen und aufzufinden wissen. Wer die Wüste als todte Einöde auffaßt, irrt ebenso wie der, welcher sie als Heimath des Löwen ansieht. Sie ist zu arm, als daß sie Löwen ernähren könnte, aber reich genug, um Tausenden von anderen Thieren Unterhalt zu gewähren.
Als ein urbildlich gestaltetes Wüstenthier darf man die Gazelle nennen. Obwohl durchaus ebenmäßig gebaut, erscheinen doch Kopf- und Sinneswerkzeuge fast zu groß und die Glieder allzu zart, beinahe gebrechlich. Aber dieser Kopf umfaßt in seiner Schädelhöhle ein Gehirn, welches zu einer unter Wiederkäuern ungewöhnlichen Klugheit und demgemäß auch zu geistiger Beweglichkeit befähigt, und diese Glieder sind wie aus Stahl gebaut, ungemein kräftig und federnd, so daß sie höchste Beweglichkeit und unermüdliche Ausdauer ermöglichen. Wer die Gazelle nur in der Gefangenschaft, im engen Raume gesehen hat, ist nicht imstande, zu beurtheilen, wie sie in der Wüste auftritt. Welche Beweglichkeit, Gewandtheit und Anmuth entfaltet gerade sie in ihrer Heimath! Wie sehr verdient sie von dem Morgenländer und zumal dem Wüstenbewohner als Sinnbild weiblicher Schönheit gewählt zu werden! Auf ihr sandfarbenes Gewand wie auf ihre unvergleichliche Beweglichkeit und Schnelligkeit vertrauend, äugt sie mit den klaren Lichtern fest, anscheinend sorglos auf Kamele und Reiter. Ohne durch die heranziehende Karawane sich beunruhigt zu zeigen, äst sie weiter. Von dem blüthenbedeckten Mimosenstrauche nimmt sie eine Knospe, einen saftigen Schößling, zwischen der schneidigen Halfa findet sie ein zartes Hälmchen. Mehr und mehr nähert sich ihr der Reisezug. Sie erhebt den Kopf, lauscht, wittert, äugt wiederum, schreitet einige Schritte vor und verfährt wie früher. Urplötzlich schnellen die federnden Läufe den Boden, und dahin eilt sie, so rasch, so behend, so gewandt, so anmuthig, als sei ihr die fast unerreichbare Bewegung nur Spiel und Scherz. Ueber die sandige Ebene jagt sie mit flugähnlichen Sätzen. Erdfrei scheint sie geworden zu sein, so überraschend schön ist ihr [418] Lauf; ein Gedicht der Wüste scheint sich in ihr verkörpert zu haben, so bestrickend wirkt ihre unvergleichliche Zierlichkeit und Schnelle. Wenige Minuten fortgesetzten Laufes entrücken sie jeder Gefahr, welche ihr von solchen Feinden drohen könnte; denn vergebens müht sich selbst der beste Traber, ihr nachzukommen, nicht einmal ein einzelner Windhund vermag sie einzuholen. Bald mäßigt sie ihre Eile; noch einige Augenblicke, und wiederum steht und äugt sie wie früher. Necklustig läßt sie den mordgierigen Reiter, welcher sie ernstlich zu verfolgen beginnt, herankommen, und vorsichtig entzieht sie sich zum zweiten, dritten Male dem Bereiche seiner tödlichen Waffe, bis sie endlich, erschreckt, aller weiteren Gefahr mühelos entrinnt. Länger flüchtet sie und zarter erscheinen Leib und Glieder, mehr und mehr verschwimmen die Umrisse, verschwindet sie auf der sandigen Fläche, und endlich verschmilzt sie gänzlich mit ihr, so daß es scheinen will, als habe sie sich aufgelöst wie ein Dufthauch.
Viktor Neßler. (Zu dem Bilde S. 417). Aus Straßburg kommt die Trauerkunde, daß daselbst am 28. Mai Viktor Neßler, der Komponist des „Trompeter von Säkkingen“, dessen neuestes Werk „Die Rose von Straßburg“ erst kürzlich seine erste Aufführung erlebt hat, gestorben ist. Neßler ist ein treuer Sohn der Reichslande; dort hat er das Licht der Welt erblickt, dort den größten Theil seines Lebens verbracht, an sie knüpfte sich seine letzte Tonschöpfung. Am 28. Januar 1841 zu Baldenheim bei Schlettstadt im Elsaß geboren als Sohn eines Pfarrers, sollte er wie sein Vater den Beruf des Theologen ergreifen. Aber ein frühentwickelter Trieb zu musikalischem Genießen und musikalischem Schaffen, der durch eine heiße Jugendliebe zu unwiderstehlicher Gewalt entflammt wurde, brachte ihn in einen ernsten Zwiespalt mit dem Vater und mit dem Berufe, den dieser ihm zugedacht hatte.
In Straßburg bestand damals das sogenannte „Sternenkränzel“, ein elsässischer Gesangverein, in welchem der junge Neßler nicht bloß eifrig mit sang, sondern der ihm auch Gelegenheit gab, mit der Geliebten zusammenzutreffen und seine Erstlingskompositionen aufzuführen, zu denen sie ihn begeistert hatte. Der Beifall, den er für seine Leistungen erntete, ermuthigte ihn zu Höherem, und eines Tages sahen die Bürger von Straßburg Neßlers Namen auf dem Theaterzettel prangen. Ein Studiengenosse Neßlers, der stud. theol. Edm. Febvrel, der als junger Prediger später in St. Dié starb, hatte einen die Jugendliebe Heinrichs IV. behandelnden Operntext gedichtet und Neßler hierzu die Musik geschrieben. Die Oper „Fleurette“ wurde im Stadttheater zu Straßburg mehrere Male unter großem Beifall aufgeführt. Selbstverständlich blieb dieses Vorkommniß dem Dekanat der theologischen Fakultät nicht unbekannt. Unerhört fand man es, daß zwei Theologen es gewagt hatten, ein solches weltliches Werk gemeinschaftlich zu ersinnen. Die beiden Missethäter sollten von der hohen Schule verwiesen werden. Als aber Neßler freiwillig schied, wurde dem Dichter das Verweilen gestattet.
Nun ergab sich auch der Vater Neßlers ins Unvermeidliche; nur noch wenige Monate blieb der junge Tondichter in Straßburg, um von dem Komponisten und Dirigenten Ludwig Liebe zu lernen, dann siedelte er im Juni 1864 nach Leipzig über, um dort unter der Leitung von Moritz Hauptmann, Moscheles, David, Reinecke, Bomsdorf, Langer und Jadassohn seine musikalische Ausbildung zu vollenden.
In Leipzig mußte sich Neßler erst mit Musikunterrichtstunden durchhelfen, später aber übernahm er die Leitung der Männergesangvereine „Merkur“ und „Sängerkreis“, und die für diese Vereine von ihm komponierten Chorlieder verschafften ihm bald den Ruf eines begabten Musikers. Er erhielt 1871 die Chor- und Musikdirektorstelle am Leipziger Stadttheater, welches Amt er im Jahre 1879 mit dem eines ersten Musikdirektors am Carolatheater vertauschte. Ein Jahr später übernahm er die Leitung des aus acht Leipziger Vereinen zusammengesetzten „Leipziger Sängerbundes“, in welcher Stellung er bis zum Jahre 1884, wo er wieder nach Straßburg übersiedelte, verblieb.
Die schwere Kriegszeit, welche über das Elsaß 1870 hereinbrach, erfüllte Neßler mit banger Sorge, denn in dem belagerten Straßburg war auch jenes Mädchen mit ihren Eltern eingeschlossen, das Neßler schon in der frühesten Jugendzeit bezaubert hatte und das inzwischen heimlich seine Braut geworden war. Aber es dauerte noch lange, bis er das Ziel seiner Sehnsucht, die Verbindung mit der Geliebten, erreichte. Denn Schwierigkeiten aller Art stellten sich dem Komponisten entgegen. Die Eltern der Braut wollten eine Heirath nicht zugeben, und mit den Kompositionen wollte es auch nicht recht voran gehen. Es waren allerdings 1868 die romantische Oper „Dornröschens Brautfahrt“ und etwas später die Oper „Alfred der Große“, weiter die Einakter „Am Alexandertag“ und „Der Nachtwächter“ erschienen und beide unter Laube am Leipziger Stadttheater mehrmals aufgeführt worden, allein sie hatten nicht den Erfolg, welchen Neßler erhofft hatte. Auch „Irmingard“ wurde in Leipzig zwar freundlich aufgenommen, erfüllte aber ebenfalls nicht ganz des jugendlichen Komponisten Träume. Immerhin durfte er es jetzt, 1872, wagen, mit seiner Werbung hervorzutreten, und sein eigener greiser Vater traute das Paar in der Straßburger Nikolaikirche.
Einen entscheidenden Wendepunkt in Neßlers Leben brachte das Jahr 1879. Sein „Rattenfänger von Hameln“, zu welchem Friedrich Hofmann nach der Dichtung von Julius Wolff das Textbuch schrieb, schlug glänzend ein, in raschem Fluge ging er über alle deutschen Opernbühnen. Neßler hat in diesem Werke zum ersten Mal sein Streben durchblicken lassen, eine deutsche Spieloper, ein Mittelding zwischen der großen Oper, der italienischen Oper und dem Wagnerschen Musikdrama, zu schaffen. Wenn ihm dies nun auch nicht sofort gelang, so ist er doch in seinen folgenden Schöpfungen „Der wilde Jäger“ (Text gleichfalls von Friedrich Hofmann) und „Der Trompeter von Säkkingen“ (1884, Text von Bunge) seinem Ziele bedeutend näher gerückt; was aber den äußeren Erfolg anbelangt, so war dieser bei der letzten Oper ein so bedeutender, daß er die kühnsten Hoffnungen des Komponisten übertraf.
Noch erschien (1887) die Oper „Otto der Schütz“, die an durchschlagender Wirkung allerdings mit dem „Trompeter“ sich nicht messen konnte. Aber unbeirrt hat Neßler weiter gearbeitet an seiner eigenen Vollendung und an der Erreichung des Zieles, das er sich gesteckt hatte. Wie schon erwähnt, ist die letzte Schöpfung seiner Muse, „Die Rose von Straßburg“ (Text von Fritz Ehrenberg), vor kurzem, am 1. Mai d. J., am kgl. Hoftheater in München zur ersten Aufführung gelangt und hat dort, wie ihre Vorgängerin, eine freundliche, wenn auch keine begeisterte Aufnahme gefunden. Die Reise nach München aber ist für Neßler verhängnißvoll geworden. Kaum konnte er die Heimath wieder erreichen, so sehr steigerte sich in diesen Tagen bei ihm ein Herz- und Nierenleiden – und ihm ist er schließlich, ein 49jähriger Mann, dem noch so manches Schöne zu schaffen hätte vergönnt sein können, erlegen.
In der Bildergalerie. (Zu dem Bilde S. 392 und 393.) Sonntag Mittag um zwölf Uhr – die günstigste Zeit zum Besuch der berühmten Gemäldegalerie! Denn da sieht man doch „etwas“, während drei Stunden früher auch bei bester Beleuchtung durchaus „nichts“ zu sehen gewesen wäre. Das Umherwandeln freilich wird etwas mühsam, aber dafür entschädigen reichlich die vielen hübschen Toiletten und Uniformen, das bunte Durcheinander, in dem man sich so heimisch fühlt. Denn in der Bildergalerie wie anderwärts bleibt eben doch der „Mensch dem Menschen das Interessanteste“.
Das sehen wir gleich an der verständigen Mutter im Vordergrund, welche dieses spiegelblanke Parkett als die geeignetste Laufschule für ihre Kleine erkennt. Völlig hingenommen von ihrem Entzücken und gänzlich ungestört von den Bildern ringsum, beobachtet sie strahlend, wie geschickt das Töchterlein in seinem weißen Mäntelchen sich bereits auf dem gefährlichen Boden zu bewegen versteht. Ja, die Erziehung muß mitten in der Welt stattfinden, wenn etwas Rechtes draus werden soll!
Nicht weit davon, wie hoch interessant! … Dort steht Durchlaucht vor der Kopie, welche sie zu bestellen geruhten, das Gesicht beinahe auf Nasenlänge genähert – Durchlaucht sind etwas kurzsichtig – und hören mit geneigtem Ohr, was der Künstler unterthänigst zur Erklärung beizufügen hat. Hinter beiden, stramm aufgepflanzt, der Adjutant, der sich auch in Gedanken keine Kritik des Bildes erlaubt und unverwandt soviel davon beschaut, als ihm über die durchlauchtigste Schulter sichtbar wird.
Die große Staffelei im Mittelgrund verdeckt die weitere Aussicht, sonst möchte sich sein Blick doch einmal hinüber verirren, nach dem lieblichen blonden Weibchen, das dort am Arme des kunstgelehrten Gatten steht wie die Lilie neben einem wettergrauen Baumstrunk. Die Augen des Herrn Professors vertiefen sich in die Stelle des Katalogs, wo einem sonst schätzbaren Kollegen ein entschiedener Schnitzer begegnet ist; die ihren sind voll gewissenhafter Gläubigkeit auf ein Bild gerichtet, welches ihr vorher als sehr klassisch bezeichnet wurde. Arme Lilie! …
Viel besser zusammen passen Anschauungen und Lebensalter des dicken kleinbürgerlichen Ehepaars, das hier einmal seinen Sonntag nach Art der vornehmen Leute zubringen will.
„Jesses, Jesses, wie ma nur solchenes Zeug machen kann,“ spricht vernehmlich ihre Haltung, er aber entgegnet voll Hochachtung: „Ja schau, was mögen aber allein die Rahmen kost’n!“
Einen Blick tiefster Verachtung schleudert auf die beiden von seinem hohen Standpunkt herunter der Berufskopist, der durch Sammetrock und weichen Filzhut seine Zugehörigkeit zur Künstlergilde unwiderleglich darthut. Er arbeitet gerade an seiner zwanzigsten „heiligen Nacht“, und in manchen Augenblicken ist es ihm zweifelhaft, ob er oder Rubens das Bild eigentlich gemacht hat. Seine Fähigkeiten waren ja bedeutend, aber unglückliche Umstände haben ihre Entwicklung leider verhindert! …
Und wo ist denn nun, fragst du, lieber Leser, der Mensch, welcher in stillem Genuß und hoher Andacht diese geweihte Stätte durchwandelt und gestärkt daraus zum Alltagsleben zurückkehrt? Ist es der gute Philister in der Saalecke, der sein rundes Gesicht gewissenhaft nach den Weisungen des Katalogs emporrichtet, oder aber der alte Herr im Vordergrunde, auf dessen hoher Stirn Gedanken zu wohnen scheinen, der aufmerksam durch sein Glas ein bestimmtes Bild betrachtet? Wir wollen das Beste hoffen … aber da fällt unser Blick zuletzt noch in den Nebensaal und wir sehen, welch ein geringschätziges Gesicht der alte Aufseher auf alle die Herrschaften herein macht, indem er langsam seine Prise nimmt! Kommen am Ende die wirklichen Beschauer der Galerie doch vor zwölf Uhr?! … Br.
Ein Jahrbuch der Natur. Ein unbeschreiblicher Zauber liegt in dem Wechsel der Jahreszeiten unserer gemäßigten Zone. In stetigem Wandel zieht an uns das organische Leben in allen seinen Erscheinungen vorüber: Leben und Tod, Schlummer und Erwachen fesseln das Auge und regen den Geist zur Beobachtung an. Auch die Natur hat ihren Kalender, ihre hohen Feste und ihre Trauerzeiten, und ein großer Theil unserer menschlichen Feste hängt mit diesen Naturerscheinungen zusammen. Die große Masse des Volkes vermag jedoch nur die Haupterscheinungen festzuhalten, den Einzelheiten kann sie nicht folgen; denn scheinbar zu groß ist die Zahl derselben. So beschränkt sich ein jeder auf die Beobachtung derjenigen
[419] Erscheinungen, die seinem Berufskreise am nächsten liegen. Dadurch geht aber der große Vortheil verloren, den uns ein allgemeiner Ueberblick über alle Naturerscheinungen bietet. Naturforscher, welche die Wissenschaft volksthümlich darzustellen suchten, waren darum von jeher bestrebt, das heimische Naturleben im Kreislauf des Jahres in dessen Allgemeinheit der großen Masse der Naturfreunde vorzuführen, und wir verfügen über einige treffliche Werke, welche diesen Zweck erfüllen, wie z. B. die unvergleichlichen „Vier Jahreszeiten“ von Roßmäßler. Bis jetzt fehlte jedoch eine Darstellung dieses anziehenden Stoffes nach den Monaten. Sie ist nicht so leicht zu geben, denn die Natur hält sich nicht immer an die Termine des gedruckten Kalenders: die Jahreszeiten treten bald früher, bald später ein, und die Blüthezeit der Pflanzen, die Wanderzüge der Vögel, die Erscheinungen des Lebens in dem großen Heere der Insekten lassen sich nicht in engen Kalendergrenzen bestimmen. Man muß bei einer solchen Arbeit einen Kompromiß zu schließen suchen zwischen dem freieren Walten
der Naturkäfte und den festen Schranken des bürgerlichen Jahres. Daß dies trotz aller Schwierigkeiten möglich ist, beweist uns ein neues Werk von Dr. Karl Ruß „Das heimische Naturleben im Kreislauf des Jahres. Ein Jahrbüch der Natur“ (Berlin, Robert Oppenheim). Es ist sozusagen ein immerwährender Naturkalender, in welchem alles aufgeführt wird, was in unserer Heimath während der einzelnen Monate im Pflanzen- und Thierreich sich ereignet, und in dem auch die menschliche Thätigkeit im Zusammenhang mit der Natur: Jagd, Vogelschutz, Forstwirthschaft, Fischerei, Thierzucht, Gärtnerei etc. berücksichtigt wird. Ein solches Werk ist bis jetzt noch in keiner Litteratur erschienen, und Dr. Karl Ruß ist es
gelungen, ein Buch zu schaffen, für das ihm ein jeder Naturfreund dankbar sein muß, und das als echtes Volksbuch in jeder Familie mit Nutzen verwendet werden kann. *
Vor dem Heirathsvermittlungsbureau. (Zu dem Bilde S. 409.) Soll sie ihn thun, den letzten Schritt über die verhängnißvolle Schwelle? Noch einmal steht das frische, gesunde Bauernmädchen und überlegt – es will ihr doch nicht der richtige Weg scheinen.
Ein hübscher Bursch daheim ist ihr Schatz gewesen, und sie hat ihn gern gehabt, wahr und wahrhaftig. Da aber ist er zu den Soldaten gekommen und sie ist in einen Dienst gegangen – und wie sie ihm aus den Augen war, da hat er sie vergessen und ist heimgekehrt mit einer fremden Braut. Im bitteren Unmuth aber hat die Marie ihm auftrumpfen wollen und ihm zeigen, daß sie sich nichts um ihn und seine Untreue
schert und auch wieder einen haben kann, wenn sie einen will. Und so hat sie der leichtsinnigen Person Gehör gegeben, die ihr in einem fort in den Ohren gelegen hat, was sie ihr für einen Schönen und Reichen wüßte: sie solle nur mit ihr kommen zum „Herrn Sekretär“, der werde ihr alles haarfein nachweisen. Die Marie ist ihr gefolgt bis vor die Thür des Bureaus, aber jetzt, im letzten Augenblick, bricht die vernünftige Ueberlegung noch einmal sich Bahn in ihr und – sie schämt sich. Eifrig, mit verführerischem Lächeln lockt die „Agentin“, sie bangt um ihre „Provision“, glaubte sie doch, das vertrauensselige Landkind bereits sicher zu haben! In den wenigen Minuten, bis sie an die Reihe kommt – es ist eben ein Herr drinnen, ein ältlicher Junggeselle, und die heirathslustige Nähterin an der Thür horcht aufmerksam, was er für Angaben zu machen hat über seinen Stand und sein Vermögen – muß es sich entscheiden, wer
obsiegt: die glatte Zunge der Verführerin oder der tüchtige Sinn einer unverdorbenen Natur. Hoffen wir, daß es der letztere sei! =
Eine Eisenbahn unter dem Polarkreise. Hoch im Norden von Schweden, schon jenseit des Polarkreises, findet sich auf unseren Karten der Eisenberg Gellivara verzeichnet. 400 m, nach anderen Angaben 560 bis 580 m hoch und etwa den Raum einer deutschen Geviertmeile einnehmend, harrt hier ein ungeheurer Schatz von reinem Eisenerz der Bergung durch die menschliche Hand. Kein kunstreicher Schacht, kein Stollen ist hierzu erforderlich: das Erz braucht einfach so, wie es zu Tage liegt, abgegraben zu werden. Man hat berechnet, daß die Tonne an Ort und Stelle nur auf etwa 2 Mark zu stehen kommt. Für deutschen Eisenstein zahlt man gegenwärtig etwa 9 bis 14 Mark.
Zur Hebung und Verwerthung jener Schätze hatte eine englische Aktiengesellschaft eine Eisenbahn zu bauen unternommen, die sich in einer Länge von 192 km von dem schwedischen Hafenplatze Lulea an der nördlichsten Ausbuchtung des Bosnischen Meerbusens im Thale des Luleaflusses hinauf vorläufig bis zum Gellivara erstreckt und die Beförderung der Erze vom Fundorte unmittelbar auf die Seeschiffe im großen Maßstabe zu vermitteln bestimmt ist. Es ist beabsichtigt, die „Lulea-Ofotenbahn“ an zwei weiteren nicht minder bedeutenden Erzbergen, dem Kurinavara und dem Luosavara, vorbei über das Kjölengebirge durch norwegisches Gebiet bis zum tief eingebuchteten Ofoten-Fjord am Atlantischen Ocean weiterzuführen – von Meer zu Meer.
Neuerdings ist nun aber die englische Gesellschaft in Geldverlegenheit gerathen und hat den Bau vor seiner Vollendung einstellen müssen. Unterhandlungen behufs Uebernahme der Bahn auf den schwedischen Staat sind für den auf schwedischem Gebiet liegenden Theil im Gange, und ohne Zweifel wird Norwegen seinerseits das ihm zugehörige Stück erwerben, so daß die Fertigstellung der ganzen Bahnstrecke im Laufe der Zeit nicht in Frage steht.
Heubäder. Wasser-, Dampf-, Sand-, Luft-, Sonnenbäder etc. – das kennen wir alle, die Heubäder sind aber eine Specialität Tirols, die in der Ebene noch nicht nachgeahmt worden ist und wohl auch nicht nachgeahmt werden wird. Unter den Bädern nehmen sie aber eine so eigenartige Stellung ein, daß sie mindestens erwähnenswerth sind. Wir folgen in dieser Beschreibung den Mittheilungen, die Ludwig v. Hörmann in seinem trefflichen Werke „Die Jahreszeiten in den Alpen“ (Innsbruck, Verlag der Wagnerschen Univ.-Buchhandlung) darüber giebt.
Die Bauern, besonders die Etschländer, halten sehr viel auf die Heubäder. Für besonders heilsam gilt das frische kurze Gebirgsheu, und zwar muß es noch „brennend“ sein. Deshalb trifft man die übrigens höchst einfachen Vorrichtungen zu dieser Kur häufig hoch oben auf luftigen Höhen, so z. B. in der nach Völs gehörigen Alpenhütte auf dem Schlern (2561 m). An einem Balken ihrer niederen Decke klebt ein Anschlagezettel, welcher folgende Badeordnung enthält:
„Bemerkung 1. Das derjenige, der auf das Hei geth sich fleisig den Koth abstreift. 2. Das derjenige, der von Hei hinausgehet sich fleisig das Hei abschittelt. 3. Das jeder nicht von Völs gebirtüge, welcher eine ganze oder halbe Woche im Hei liegt, 30 Kreizer zahlen muß.
Unterz. Heiinhaber.“
Um die Kur zu gebrauchen, wird eine Grube im Heu gemacht, in welche sich der Badende nackt hineinlegt. Ein anderer, sei es nun ein Kurgast oder der eigens bestellte „Badreiber“, deckt ihn bis an den Hals zu. Auch während des Heubades muß immer jemand gegenwärtig sein, um dem Leidenden beizustehen, sobald sich bei diesem bedrohliche Störungen der körperlichen Funktionen, namentlich des Herzens, einstellen. Wenn der Betreffende vollständig in Schweiß ist, wird er „ausgegraben“ und vom Badreiber abgetrocknet; er selbst wäre vor Mattigkeit nicht imstande, es zu thun. Ankleiden kann er sich dann selbst. So liegt in den Stadeln oft Kopf an Kopf. Wie schmutzig und zerwühlt davon das Heu gegen Ende der „Saison“ aussieht, läßt sich denken. Die Heubäderkur ist übrigens nicht ganz ungefährlich. So wurden im August 1886 in dem Heubad zu Aldein zwei „Badegäste“ ohnmächtig aus dem glühend heißen Bergheu herausgezogen, was auf eine starke Störung der Lebensfunktionen deutet, da es sich hier nicht um eine jener Salonohnmachten handelt, die bekanntlich nicht gefährlich sind. *
Ueber Gemüthsbildung. Auch mißgünstige Nachbarn räumen unserem deutschen Volke Tiefe des Gemüthes ein, und wer daran zweifeln möchte, den würden die deutschen Volkslieder aller Zeiten und unsere ganze Litteratur eines besseren belehren müssen. Der rastlose Drang, die Unruhe, das hastige Vorwärtsstreben unserer Gegenwart rückt indeß die Gefahr nahe, daß unser Gemüthsleben verkümmert werden könnte, und es ist begreiflich, daß sich Stimmen erheben, welche ein Hinwirken auf die Bildung des Gemüthes für nöthig halten.
Friedrich Kirchner hat in einer kleinen Schrift diese Frage angeregt. Er spricht darin von verschiedenen Arten des Gemüthes. Ein flaches Gemüth hat derjenige, welcher für höhere Interessen wenig Sinn hat, sich wohl über dies und jenes freut, aber für nichts begeistert. Ein tiefes Gemüth zeichnet sich durch Sammlung aus; durch jedes Ereigniß wird es daher bis in seine Grundfesten erschüttert. Lust und Leid klingen länger in ihm nach, denn sie werden mit allem sonst Erlebten in Beziehung gebracht. Ein kindlich Gemüth hat der einfache, reine Mensch, der die Verhältnisse, Personen und Sachen wie ein Kind auffaßt. Ein edles Gemüth adelt alles um sich her, auch das Gemeine: ein großes Gemüth zeigt sich groß im Handeln wie im Dulden: beide Male wird es getrieben von dem Drange, sich groß, das heißt bewundernswerth zu zeigen. Ueber die Bedeutung des Wortes „gemüthlich“ gehen die Ansichten wieder aus einander. Wir kannten einen namhaften Dichter und Denker, welcher Gemüthlichkeit für die Gabe erklärte, sich durch jede Lumperei befriedigt zu fühlen. Kirchner meint, man nenne eine Person oder Sache gemüthlich, welche durch eine gewisse Anmuth einen Hauch von Behaglichkeit um sich verbreitet, also unser Gemüth anspricht. Ein gemüthlicher Mensch wird durch Scherz und Ernst angeregt; weil er auf alles eingeht, läßt sich’s angenehm mit ihm verkehren. Ungemüthlich sind die Leute, bei denen Verstand, Wille oder Geschäftigkeit das Gefühlsleben ertödtet haben, pedantische Gelehrte, zudringliche Fanatiker und rastlose Geschäftsleute.
Die erste Aufgabe der Gemüthsbildung soll nach Kirchner darin bestehen, dem Gemüth eine vorwiegend heitere Grundstimmung zu geben, das heißt, Mischung von Frohsinn und Gleichmuth. Daraufhin soll die leibliche und geistige Erziehung wirken. Allerdings läßt sich der Einwand nicht widerlegen, daß Stimmungen vom Temperament und von der Konstitution abhängig sind und daß dagegen weder gymnastische Uebungen, noch veredelnde Seelenbildung durchgreifend zu wirken vermögen. Die Wirkung der Künste, der Musik, der Dichtkunst sind auch der schönen Natur auf das Gemüth ist eine unbestreitbare, aber das Hauptgewicht wird mit Recht auf das Familienleben gelegt. Die Familienfeste, die Liebe zu den Eltern und Kindern, die Anhänglichkeit an die Verwandten, die Pietät gegen Personen und Sachen, Sitten und Bräuche, das Vorbild der Eltern, die sich dem Wohle aller widmen, das nährt den Famillensinn und kräftigt das Gemüthsleben.
Vieles kann den Menschen anerzogen werden, aber für vieles ist ihm auch die Anlage angeboren. Das gilt besonders für unsere Theilnahme an dem Geschick anderer. „Neben dem selbstischen Triebe entsteht zugleich das Mitgefühl. Aber Vorbild, Belehrung, Lektüre und Entfesselung der Phantasie sind hier wichtige Hilfsmittel. Mitleid mit Armen und Kranken, unterdrückten und Geknechteten, mit Bekümmerten aller Art, Mitleid auch mit den Thieren: wer diese himmlische Tugend ins Herz der Kinder pflanzt, der bereitet ihnen für die Zukunft ein Kapital, welches reiche Zinsen selbstloser Liebe trägt.“
Gewiß ist der Kampf gegen Verflachung des Gemüthes in engen und weiten Kreisen durchzukämpfen. Wer dem deutschen Volke seine Gemüthstiefe raubt, der verpflanzt es aus den Zaubergärten, in denen die schönsten Früchte unserer großen Geister reifen, in eine Wüstenei, in welcher nur der Wirbelwind der Gewinnsucht, der egoistischen Bestrebungen, des rohen und raffinirten Kampfes ums Dasein den Staub aufjagt, der die schönsten Denkmäler der Vergangenheit begräbt. †
Kleiner Briefkasten.
G. T. in Morristown (Nordamerika). Besten Dank für Ihre freundliche Zuschrift und die beiden Gedichte. Wenn wir auch die letzteren nicht abdrucken können, sind sie uns doch ein erfreulicher Beweis, daß Ihre Liebe zum alten deutschen Vaterlande auch in der neuen Heimath lebendig geblieben ist.
Irene Wilhelm. Leider nicht geeignet.
A. O. in München. Wir verweisen Sie auf unseren Artikel „Die Wahl des Berufes“ Seite 274 des Jahrgangs 1889 der „Gartenlaube“.
[420]
Allerlei Kurzweil.
Dominoaufgabe. |
Füllräthsel.
| ||
A, B und C nehmen je acht Steine auf. Vier Steine mit zusammen 21 Augen bleiben verdeckt im Talon. B hat auf seinen Steinen 20 Augen mehr als C. Es wird nicht gekauft. A hat: |
Die Sternchen und Ziffern sind so durch Buchstaben zu ersetzen, daß die wagerechten Reihen (in anderer Folge) Wörter von folgender Bedeutung ergeben: 1. eine schon sehr alte Universität in Italien, 2. eine der schönsten Städte in Bayern, 3. eine Geldaufnahme, 4. einen griechischen Maler, 5. ein nützliches Thier der europäischen Meere, 6. den Vornamen eines berühmten deutschen Mannes, 7. einen deutschen Dichter. – Nach richtiger Lösung nennen die Buchstaben, welche für die Ziffern gesetzt worden sind, einen Roman von Gustav Freytag. | ||
A setzt Doppel-Drei aus und gewinnt dadurch, daß er die Partie bei der fünften Runde mit an Eins sperrt. B muß bei den ersten drei Runden passen. A und C können stets ansetzen. C behält vier Steine mit zusammen 13 Augen. Der Stein, den B ansetzt, hat 8 Augen. | |||
Die Summe der Augen auf den 10 gesetzten Steinen beträgt 74. Welche Steine lagen im Talon? Welche Steine behielt C? Wie war der Gang der Partie? A. St. |
Schieberäthsel. Ries, Ameisen, Ischl, Ast, Heros, Ire, Brom, Aida, Rade, Minze, Bude, Gent, Hunger, Adam, Mark, Art, Estrich. Durch Verschieben – nicht Umstellen – der Buchstaben sind aus obigen 17 Wörtern 18 neue zu bilden. Die Endbuchstaben der letzteren nennen, rückwärts gelesen, eine epische Dichtung. |
Doppellogogriph. |
Bilderräthsel. |
Aufgabe.
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I. Buchstabenräthsel. Daß meine Stimme lieblich sei Zifferräthsel. 1 2 3 4 trägt es fast jeder Mann, |
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Die Buchstaben dieser Figur sind so zu ordnen, daß in den drei wagerechten und den drei senkrechten Reihen ohne Sterne Wörter von folgender Bedeutung entstehen: 1. Oper, 2. Held der griechischen Sage, 3. Stadt an der Elbe, 4. biblischer Name, 5. Name aus der griechischen Sage, 6. Nebenfluß der Donau. |
Auflösung der Aufgabe auf S. 388: |
Auflösung des Homonymns auf S. 388: Die Winde. Auflösung des Füllräthsels auf S. 388: Aller Anfang ist schwer. Auflösung des Scherzrebus auf S. 388: Pfirsich (P für sich). Auflösung des Bilderräthsels auf S. 388: Jeder sei, was er kann; dann ist er auch, was er soll. |
Auflösung der Skataufgabe Nr. 4 auf S. 388: Die übrigen Karten sind so vertheilt: Skat: gO, g9 Vorhand: eW, gW, eZ, eO, e9, e8, e7, g8, g7 Hinterhand: rW, sW, rO, r9, r8, r7, sO, s9, s8, s7. Das Spiel nimmt folgenden Verlauf: | ||
1. Hela, 3. Hekla, 2. Oran, 4. Orkan. |
1. e7, eD, sW 2. rO, gW, rK 3. eZ, sK, sO 4. eK, gK, s9 5. eO, sZ, s8 |
6. e9, rZ, r9 7. e8, gZ, r8 8. g8, gD, rW 9. s7, eW, sD 10. g7, rD, r7. |
In dem unterzeichneten Verlage ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
Die Band-Ausgabe von E. Marlitt’s illustrierten Romanen und Novellen erscheint vollständig in 10 Bänden zum Preise von je
Inhalt: Bd. 1. „Das Geheimniß der alten Mamsell“. – Bd. 2. „Das Heideprinzeßchen“. – Bd. 3. „Reichsgräfin Gisela“. – Bd. 4. „Im Schillingshof“. – Bd. 5. „Im Hause des Kommerzienrates“. – Bd. 6. „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“. – Bd. 7. „Die zweite Frau“. – Bd. 8. „Goldelse“. – Bd. 9. „Das Eulenhaus“. – Bd. 10. „Thüringer Erzählungen“ (Inhalt: „Amtmanns Magd“, „Die zwölf Apostel“, „Der Blaubart“, „Schulmeisters Marie“).
- ↑ Real-Encyclopädie der Heilkunde. Urban und Schwarzenberg, Wien. Bd. XVII. S. 368 u. ff.
- ↑ Im Dezember 1889. Die Ausgrabungen waren von Medizinalrath Dr. Hedinger-Stuttgart und Pfarrer K. Gußmann-Gutenberg unternommen.
- ↑ Aus dem im Verlage der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart soeben in Lieferungen erscheinenden Buche „Vom Nordpol zum Aequator. Populäre Vorträge von Dr. A. E. Brehm.“ Mir Illustrationen von R. Friese, G. Mützel, Fr. Specht u. a.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Johann Börner: Das Alpdrücken, seine Begründung und Verhütung. Würzburg 1855 MDZ München
- ↑ Alfred Swaine Taylor: The Principles and Practice of Medical Jurisprudence. London 1865, S. 1131 Google