Die Gartenlaube (1890)/Heft 14
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Halbheft 14. | 1890. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wie eine unschätzbare Wohlthat empfand Marie die eigenartigen Zerstreuungen, welche ihr die nächsten Tage brachten.
Ein großes, gesellschaftliches Ereigniß war es, das seine Schatten vorauswarf – ein Ereigniß, welches ganz danach angethan war, den Sinn und die Zeit der jungen Damen ausschließlich in Anspruch zu nehmen.
Eine furchtbare Ueberschwemmung hatte die östlichen Theile des Landes heimgesucht, hatte grauenhafte Verwüstungen angerichtet, Tausende und Abertausende ihrer geringen Habe beraubt und ihnen auf Jahre hinaus die Möglichkeit genommen, dem verschlickten und versandeten Boden aufs neue die Mittel zur Erhaltung ihres Daseins abzuringen.
Wohl lieferten die minder hart betroffenen Ortschaften der so schwer geprüften Provinzen sofort die herrlichsten und erhebendsten Beweise werkthätiger Menschenliebe, wohl leisteten die Staatsbehörden an erster, schleuniger Hilfe alles, was ihre verfügbaren Mittel ihnen gestatteten, und der Landesherr selbst spendete ohne Zögern aus seinen Privatmitteln eine sehr bedeutende Summe. Aber das alles war nicht viel mehr, als eine Rettung der Obdachlosen, der Hungernden und Frierenden vor dem unmittelbaren Verderben – eine wirkliche, nachhaltige Hilfe vermochten bei der unabsehbaren Größe des Elends solche Beträge nicht zu gewähren. Dazu bedurfte es einer Aufwendung von Millionen, und ein einziger lauter Hilfeschrei hallte durch die ganze gesittete Welt, um diese Millionen zu beschaffen.
So weit das geschriebene und das gedruckte Wort über die bewohnte Erde zu dringen vermochte, thaten sich überall die Herzen auf wie die Hände. Und der Geldschrank des Reichen wie das magere Beutelchen des Armen – die sicher versteckte Kassette des Geizigen wie die Sparkasse des Kindes – sie alle spendeten ihr Scherflein zu der großen Liebesgabe, die man den Heimgesuchten reichte.
Daß die Hauptstadt des Reiches die Führung der großen Wohlthätigkeitsbewegung übernehmen mußte, war bei der Lage der Verhältnisse von vornherein selbstverständlich, und wenn bei einem solchen einmüthigen Zusammenschlagen aller warmfühlenden Herzen auch von irgend welchen Unterscheidungen nach Rang und Stand nicht die Rede sein konnte, so ersann man doch neben der Betheiligung an den allgemeinen Sammlungen, bei denen der Name eines Fürsten oft neben denjenigen eines schlichten Handwerkers zu stehen kam, in den einzelnen Gesellschaftskreisen
[422] die mannigfaltigsten und verführerischsten Mittel, um seinen Freunden, Bekannten oder Standesgenossen in irgend einer angenehmen Form noch eine weitere Opfergabe zu entlocken.
Die Zeitungen wimmelten von Anzeigen der verschiedenartigsten Wohlthätigkeitsfeste; eine der großartigsten Veranstaltungen aber mußte ohne Zweifel der Bazar werden, welchen ein aus Mitgliedern der höheren Aristokratie bestehender Ausschuß ins Leben zu rufen gedachte. Bereitwillig hatte man den großen, prächtig ausgestatteten Festsaal eines neu erbauten Ministeriums für den menschenfreundlichen Zweck zur Verfügung gestellt, und in allen Familien, welche ein Recht hatten, sich der vornehmen Welt Berlins beizuzählen, war man wochenlang geschäftig, zu seinem Theile nach Kräften mitzuarbeiten an dem großen und in diesem besonderen Falle zugleich so vergnüglichen Werke der Barmherzigkeit.
Auch in das Haus des Generals von Brenckendorf hatte der Aufruf des Ausschusses eine nicht geringe Aufregung getragen. Man rechnete ja nicht nur auf den Reichthum Seiner Excellenz für eine erhebliche Beisteuer zur Ausstattung der Verkaufstische, sondern man bewarb sich auch mit besonderem Eifer um die thätige Mitwirkung der beiden jungen Baronessen. Cilly galt seit ihrer Einführung in die Gesellschaft als eine der reizendsten und eigenartigsten Schönheiten der Berliner Aristokratie, und ihr schlankes blondes Bäschen hatte rasch eine kaum geringere Zahl von Bewunderern gefunden.
Da aber die Anziehung des Bazars hauptsächlich in der Schönheit und Liebenswürdigkeit der vornehmen Verkäuferinnen bestehen sollte, so wollte man auf die Damen des Generals von Brenckendorf unter keinen Umständen verzichten, und wenn auch Marie anfänglich gezögert hatte, ihre Zusage zu ertheilen, so war bei Cillys Begeisterung für die Idee an eine wirkliche Absage doch nicht zu denken gewesen. Allmählich hatte der Eifer und die Freudigkeit, mit welcher ihr übermüthiges Bäschen die Sache behandelte, denn auch auf Marie ansteckend gewirkt, und sie sträubte sich nicht mehr dagegen, daß Cilly sie vom Morgen bis zum Abend mit Berathungen, Besorgungen und Plänen für den Wohlthätigkeitsbazar in Anspruch nahm.
Da die Veranstaltung dem kaufkräftigen Publikum durchaus etwas Eigenartiges, noch nicht Dagewesenes bieten sollte, so hatte man sich nach vielen vergnügten Vorstandssitzungen und nach Verwerfung zahlreicher anderer Vorschläge dahin geeinigt, daß die Verkäuferinnen nicht – wie sonst bei derartigen Anlässen – im Gesellschaftsanzug, sondern kostümirt erscheinen sollten, und zwar in den heimischen Trachten der verschiedensten Völker und Volksstämme der Erde. Des Kopfzerbrechens, welches dadurch den jungen Damen bereitet wurde, war freilich kein Ende; aber mit Hilfe einiger Modekünstler, die sich der großen Sache gern zur Verfügung gestellt hatten, wurden alle Schwierigkeiten in verhältnißmäßig kurzer Zeit glücklich überwunden und sogar das nahezu beispiellose Ergebniß erreicht, daß fast alle Betheiligten mit der ihnen zugefallenen Rolle leidlich zufrieden waren.
Cilly sollte sich danach für die beiden Bazartage in eine dunkeläugige, heißblütige Spanierin verwandeln, während Marie mit ihrer schönen, hochgewachsenen Gestalt und ihrem prächtigen lichtblonden Haar aufs vollkommenste alle äußerlichen Erfordernisse für das ihr zugedachte Friesenmädchen besaß. Mit der Beschaffung der Gewänder aber, die natürlich so echt und so kostbar als möglich sein mußten, da die Sorge, von einer erfinderischen Nebenbuhlerin überstrahlt zu werden, beständig wie ein drohendes Gespenst vor den Augen jeder der holden Evastöchter schwebte, waren die Mühen und Anstrengungen, welche man ihnen auferlegte, noch keineswegs erschöpft. Von den Veranstaltern war die Anregung ausgegangen, daß die auf dem Verkaufstisch jeder jungen Dame prangenden Schätze die Erzeugnisse des Landes darstellen sollten, in dessen Tracht die Verkäuferin gekleidet war, und wenn auch in dieser Hinsicht die Grenzen des Zulässigen ziemlich weit gezogen wurden, kostete es doch Nachdenken, Zeit und Geld genug, die zahlreich einlaufenden Geschenke entsprechend zu vertheilen und das Fehlende durch eigene Einkäufe in angemessener Weise zu ersetzen.
Der gute Wille der Jugend aber und die reichen Hilfsquellen, welche gerade dieser glücklichen Jugend fast unversieglich zu Gebote standen, halfen auch die letzten Hindernisse überwinden. Cilly verfügte am Tage vor der Eröffnung des Bazars über einen wahrhaften Schatz von Fächern, Seidenmantillen und köstlichen kleinen Kunstwerken in Eisen und Silber; Marie aber durfte sicher sein, manchen freigebigen Liebhaber für ihren Vorrath nach friesischer Art geklöppelter Spitzen und für die zierlichen Schmuckgegenstände aus Gold- und Silberfiligran zu finden, welche ein Hofjuwelier dem Bazar zum Geschenk gemacht hatte.
Die ganze Familie des Generals von Brenckendorf hatte für den Vorabend des Eröffnungstages eine Einladung zur Tafel bei dem Generallieutenant Grafen Hainried, und die jungen Damen waren eben im Begriff, sich zur Anlegung des Gesellschaftsanzugs auf ihre Zimmer zu begeben, als der Diener den Rittmeister von Boretius meldete, welcher in einer überaus dringenden Angelegenheit um Gehör bitte.
„Das kann nur unseren Bazar betreffen,“ meinte Cilly, „denn Boretius ist ja die Seele des Ganzen. Natürlich müssen wir erfahren, um was es sich handelt.“
Der trotz seiner jungen Jahre ziemlich wohlbeleibte Ulanenoffizier war ganz außer Athem vor Erregung, und die Rathlosigkeit malte sich trotz des verbindlichen Begrüßungslächelns so deutlich auf seinem Gesicht, daß Cilly ihn sogleich mit der Frage empfing, welche Hiobspost er denn zu überbringen habe.
„Ach, meine Herrschaften,“ seufzte Herr von Boretius, „wir sind in der schauderhaftesten Verlegenheit von der Welt. Nun haben wir uns von dem ersten unter den lebenden Poeten einen schwungvollen Prolog dichten lassen, mit welchem das Eröffnungskonzert eingeleitet werden sollte, – eine Hofschauspielerin hat sich acht Tage lang bemüht, unserer verehrten Gräfin Hilgers die richtige Betonung beizubringen, die Programme sind seit vorgestern auf Seidenatlas mit Goldfranzen gedruckt, und was geschieht? Vor einer Stunde läßt die verehrte Gräfin an den Vorstand die bündige Mittheilung gelangen, sie sei wegen einer hochgradigen Erkältung zu ihrem Bedauern außer stande, sich überhaupt an dem Bazar zu betheiligen, geschweige denn einen Prolog zu sprechen. Natürlich eilte ich augenblicklich zu der abtrünnigen Gräfin. Aber man hätte eher Berge versetzen als den Sinn der jungen Dame ändern können. Wäre sie wirklich nur erkältet gewesen, ja, hätte sie überhaupt nur an irgend einer körperlichen Krankheit gelitten, so würde ich mir wohl die Ueberredungskunst zugetraut haben, sie trotzdem auf das Podium zu bringen. Aber die Kammerzofe, welche beauftragt war, mich von dem Allerheiligsten ihrer Herrin fernzuhalten, ließ sich durch meine dringlichen Bitten zum Verrath des großen Geheimnisses bewegen. Das Kostüm, welches die Schneiderin heute abgeliefert hat, ist gänzlich mißglückt, und die Gräfin soll beim Anprobieren erklärt haben, so möge vielleicht eine Hottentottin im Hochzeitsstaat, niemals aber eine Georgierin aussehen. Als ich das vernahm, strich ich natürlich ohne weiteres die Segel. Um eine junge Dame in einer Toilette, welche sie selber für unkleidsam hält, vor ein großes Publikum zu bringen, muß man andere Zwangsmittel besitzen, als sie mir zu Gebote. stehen. Errathen Sie nun, meine verehrten Herrschaften, welches Anliegen ich auf meinem verzweifelten Herzen trage?“
Er hatte sich mit seiner Erzählung zwar vornehmlich an die Generalin gewendet; aber die hilfesuchenden Blicke, welche er zwischendurch zu Cilly hinübergeworfen, hatten diese längst errathen lassen, in welcher Absicht er gekommen war. Sie war denn auch mit der Antwort auf seine letzte Frage sehr rasch bei der Hand.
„Sie suchen einen Lückenbüßer, nicht wahr?“ meinte sie etwas schadenfroh. „Aber ich fürchte, daß Sie wenig Erfolg haben werden, Herr Rittmeister! Wer möchte es wagen, eine so stolze Schönheit wie die Gräfin Hilgers ersetzen zu wollen?“
Herr von Boretius neigte in drolliger Zerknirschung das Haupt.
„Ich weiß sehr wohl, mein gnädiges Fräulein, eine wie großartige That edelmüthiger Selbstverleugnung ich Ihnen da zumuthe. Es ist gewiß keine Kleinigkeit, wenn diejenige, welche in erster Linie hätte in Betracht kommen müssen, jetzt gewissermaßen nur als Helferin in der Noth eintreten soll. Aber ich beschwöre Sie: denken Sie an unsere Lage und an die armen Ueberschwemmten, für die wir uns ja alle opfern!“
„Mein Gatte ist leider nicht anwesend,“ mischte sich nun auch die Generalin ein, „und wenn er auch in Anbetracht des wohlthätigen Zweckes gegen die Mitwirkung meiner Tochter als Verkäuferin keine Einwendungen erhoben hat, so weiß ich doch wirklich nicht, Herr Rittmeister, ob er einem solchen öffentlichen schauspielerischen Auftreten seine Zustimmung ertheilen würde.“
[423] „Aber ich bitte, Excellenz – von Schauspielerei kann da doch wohl kaum die Rede sein. Sämmtliche an dem Konzert Mitwirkenden gehören der Gesellschaft an und die Eintrittskarten sind ausschließlich in unseren Kreisen verkauft worden. Man könnte ebensowohl einen Hofball ein öffentliches Vergnügen nennen.“
„Aber der Name der Gräfin Hilgers bleibt auf dem Programm – nicht wahr?“ fragte Cilly, der die Rathlosigkeit des armen Rittmeisters sichtlich einiges Vergnügen machte.
„Allerdings – es wird sich nicht ändern lassen,“ gab er kleinlaut zu. „Die Dinger sind ja nun ’mal fertig, und in so kurzer Zeit können neue nicht mehr hergestellt werden. Doch wird dem Vortrage natürlich eine entsprechende Ankündigung voraufgehen, und man wird nicht versäumen, das Verdienstliche solcher Stellvertretung gebührend zu betonen.“
In diesem Augenblick trat der General in das Zimmer, und nachdem er von dem Anliegen des Rittmeisters unterrichtet worden war, fragte er in seiner gewohnten verbindlichen Weise:
„Welchen Umfang hat das Gedicht, das hier in Frage kommen würde?“
Herr von Boretius zog die Niederschrift aus der Tasche.
„Einen ganz mäßigen, Excellenz! Acht Strophen zu je zehn Versen! Es enthält eine ergreifende Schilderung der Katastrophe sowie des Elends, welches sie im Gefolge gehabt hat, und schließt mit einem feurigen Aufruf an die Mildthätigkeit der Mitmenschen. Schon beim Lesen wird man bis zu Thränen gerührt.“
Um so größer müssen demnach auch die Anforderungen sein, welche es an die Vortragskunst der Sprecherin stellt. Das Talent meiner Tochter aber dürfte schwerlich ausreichen, ihr die Erlernung dieser Kunst innerhalb weniger Stunden zu ermöglichen, und Ihr Wunsch, mein lieber Herr Rittmeister, ist außerdem schon deshalb unerfüllbar, weil wir für den heutigen Abend zu einem Essen geladen sind, bei welchem meine Tochter aus ganz besonderen Gründen keinesfalls fehlen darf. Nicht einmal zum bloßen Auswendiglernen würde ihr da die erforderliche Zeit verbleiben.
Der bedauernswerthe Rittmeister blickte in tiefster Niedergeschlagenheit auf seine Papierrolle.
„Dann habe ich allerdings keine Hoffnung mehr! Der Prolog wird ganz ausfallen müssen! – Es ist jammerschade um das herrliche Werk, und der berühmte Dichter wird außer sich sein, um so mehr, als wir ihn schon mit ganz besonderer Feierlichkeit eingeladen haben.“
„Versuchen Sie doch Ihr Heil bei irgend einer hervorragenden Schauspielerin. Diese Damen wissen solche Aufgaben ja in kürzester Zeit zu bewältigen.“
„Unmöglich, Excellenz, leider ganz unmöglich! Das Konzert würde durch die Mitwirkung einer Berufskünstlerin sein Gepräge vollständig verlieren.“
Man gab ihm keine Antwort, und das war ein Zeichen, daß seine Sendung hier als beendet angesehen werde. Schon hatte er der Generalin seine Abschiedsverbeugung gemacht, als Marie, die sich bis dahin ganz still verhalten hatte, mit merklicher Zaghaftigkeit sagte:
„Wenn Ihre Verlegenheit wirklich so groß ist, Herr Rittmeister, und wenn Sie ganz sicher sind, einen besseren Ersatz nicht mehr zu finden, so will ich meine geringen Talente dem guten Zweck gern zur Verfügung stellen.“
Die Wirkung ihrer Worte war begreiflicherweise bei allen Anwesenden diejenige einer sehr lebhaften Ueberraschung. Herr von Boretius aber verstand sich gut auf seinen Vortheil: ehe noch ein anderes zum Worte gekommen war, versicherte er Marie in Ausdrücken überschwenglichsten Entzückens der ewigen Dankbarkeit des Ausschusses, des Publikums und sämmtlicher Ueberschwemmten. Ehe sie noch recht wußte, wie ihr geschah, hielt Marie die inhaltsschwere Rolle bereits in der Hand.
Es hatte nicht einmal den Anschein, als würde der General durch den überraschenden Entschluß seiner Nichte unangenehm berührt. Mit einem kleinen Lächeln beglückwünschte er den Rittmeister scherzend zu seinem Erfolge, und auf Mariens schüchterne Bitte, daß er es übernehmen möge, ihr Ausbleiben bei dem Grafen und der Gräfin Hainried zu entschuldigen, beruhigte er sie durch die Versicherung, daß er ihr volle Verzeihung erwirken werde.
Die „ganz besonderen Gründe“, welche Cillys Erscheinen bei dem Essen zu einem so unerläßlichen machten, mußten also für Marie wohl keine Geltung haben. –
Als sich der Rittmeister von Boretius mit erhobenem Haupte und strahlendem Antlitz entfernt hatte, gab Cilly, während sie die Verwandte in den zweiten Stock hinauf geleitete, ihrer Verwunderung lauten und lebhaften Ausdruck:
„Natürlich wirst Du einen ungeheuren Triumph feiern, denn ich glaube, Du hast zu allem Talent, was Du nur unternimmst; aber Du mußt schon verzeihen, daß ich mich von meinem Erstaunen trotzdem noch immer nicht erholen kann. Es gehört doch wirklich eine gewisse Selbstverleugnung dazu und jedenfalls heidenmäßig viel Muth.“
„Vielleicht aber leitete mich bei meinen Anerbieten weder das eine noch das andere,“ erwiderte Marie; „es war der plötzliche Entschluß des Augenblicks, und was könnte es helfen, wenn er mich jetzt reute!“
Daß der Wunsch, unter einem stichhaltigen Vorwand dem Essen bei dem künftigen Kriegsminister fernbleiben zu können, wohl den wesentlichsten Antheil an jener plötzlichen Entschließung gehabt hatte, gestand sie ihrer Base freilich nicht ein. Hätte sie doch sich selber gern davon überzeugt, daß es nicht so sei, und daß die Beklommenheit und das Unbehagen, mit welchen sie bisher dem heutigen Abend entgegengesehen hatte, ihre Ursache in irgend etwas anderem als in einem leisen Nachzittern jener eifersüchtigen Regungen gegen die junge Gräfin Hainried gehabt haben müßten.
Auf einem Ruhebett in ihrem Zimmer liegend, las sie das Gedicht, das in der That von hohem dichterischen Schwunge und von unfehlbar mächtiger Wirkung war. Das Zagen vor der Schwierigkeit ihrer Aufgabe, das sie unter dem ersten Eindruck hatte überkommen wollen, verschwand bald vor der aufrichtigen Begeisterung, mit welcher sie sich in dieselbe vertiefte. Von dem kühnen Gedankenfluge und der packenden, bilderreichen Sprache des Dichters fortgerissen, vergaß sie sehr schnell das verschmähte Abendessen und die kokette Gräfin.
Achtlos und halb unbewußt rief sie „Herein!“, als nach Verlauf einer halben Stunde an die Thür ihres Zimmers geklopft wurde, – und sie richtete sich erst in Verwunderung und leichtem Erschrecken empor, als sie Engelbert über die Schwelle treten sah.
Er schien ernster als sonst, und auch die gewohnte Sicherheit und siegesgewisse Zuversicht waren nicht in seinen Mienen.
„Außerordentliche Umstände können wohl einmal einen kleinen Verstoß gegen das Herkommen entschuldigen,“ sagte er, einer erstaunten Frage Mariens zuvorkommend. „Du darfst überzeugt sein, daß ich diesem Besuch die allerunschuldigste und glaubwürdigste Deutung geben werde, wenn wirklich irgend eine Spürnase etwas von demselben bemerkt haben sollte.“
Marie hatte sich rasch erhoben, und ohne jede Verlegenheit stand sie ihm gegenüber.
„Ich denke, Du wirst aus der Ursache dieses Besuches vor niemand ein Geheimniß zu machen brauchen,“ sagte sie, und ihre Erwiderung klang stolz und zurückhaltend, wie wenn sie zu einem Fremden spräche. Und doch schien es heute keineswegs erforderlich, ihn durch ihre Haltung an einer der gewöhnlichen Aeußerungen seiner leidenschaftlichen Zärtlichkeit zu hindern. Engelbert war hart neben der Thür stehen geblieben, und er wirbelte an seinem Schnurrbart viel eher wie ein verlegener und unbeholfener Jüngling denn wie ein stürmischer und rücksichtsloser Liebhaber.
„Du hast einen Vorwand gesucht, um uns nicht zu den Hainrieds begleiten zu müssen,“ fuhr er, ihre stolze Bemerkung unbeantwortet lassend, fort. „Man hat Dir also gesagt, um welche Absichten es sich da handelt?“
„Ich verstehe Dich nicht, Engelbert! Besondere Absichten – bei einem Abendessen? – Nein, man hat mir von nichts derartigem gesprochen!“
Der Offizier zeigte sich sehr unangenehm überrascht.
„Wirklich nicht? Und es wäre in der That nur diese alberne Bazargeschichte gewesen, welche Dich veranlaßt, daheim zu bleiben?“
„Nichts anderes als das! Aber vielleicht hast Du die Freundlichkeit, mir mitzutheilen, was mir allem Anschein nach von den anderen verschwiegen worden ist. Vermuthlich war dies doch die Veranlassung Deines Besuches.“
[424] Engelbert antwortete nicht sogleich. Augenscheinlich hatte er da einen kleinen Kampf mit sich selber zu bestehen, und die Augen des jungen Mädchens, die so ernst und unbequem fragend auf ihn gerichtet waren, setzten ihn unverkennbar in eine Verwirrung, wie sie Marie nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte.
„Was Dir verschwiegen worden?“ brachte er endlich mit einem nur halb gelungenen Versuch, seinen gewöhnlichen leichten Ton anzuschlagen, hervor. „Ich wäre vielleicht nicht gekommen, wenn ich nicht geglaubt hätte, daß Du bereits unterrichtet seiest. Es giebt eben Fälle, in denen man am besten thut, zunächst die Thatsachen selber sprechen zu lassen.“
Aufrichtiges Erstaunen prägte sich in Mariens Zügen aus. Seine Andeutungen und räthselhaften Umschreibungen mußten ihr in Wahrheit völlig unverständlich sein.
„Du hast eine seltsame Art, meine Wißbegierde rege zu machen,“ sagte sie, „das klingt ja in der That, als wäre da etwas Außerordentliches im Werke und als hätte ich Grund, mich auf schlimme Neuigkeiten gefaßt zu machen.“
Draußen ging eine Thür, und man hörte die tiefe Stimme des Generals, der nach seinem Sohne fragte. Seine bisherige Zurückhaltung plötzlich aufgebend, trat Engelbert rasch auf Marie zu. „Ach, wozu sollen wir davon reden, ehe es nöthig ist!“ flüsterte er. „Von dem Verhängniß, dessen Lauf man nicht aufzuhalten vermag, wird man ja immer noch früh genug ereilt. Sei gewiß: wenn es noch ein Mittel giebt, das Verhaßte abzuwenden, so werde ich sicherlich nicht zögern, mich desselben zu bedienen. Und was auch immer kommen mag, jedenfalls mußt Du mir glauben, daß ich nur Dich geliebt habe, nur Dich allein liebe und in alle Ewigkeit lieben werde, meine theure, angebetete Marie!“
Er hatte sie an sich gerissen und sie zweimal heiß und stürmisch geküßt, ehe sie in ihrer Ueberraschung die Kraft gefunden hatte, sich gegen sein Beginnen zu sträuben. Dann war er ohne ein weiteres Wort, ohne Gruß und Abschied, aus dem Zimmer geeilt, und Marie hörte seinen sporenklirrenden Schritt draußen auf dem Gange verhallen.
Mit einem aus Bestürzung, Beschämung und Unwillen gemischten Empfinden lauschte sie diesem Klange, unfähig, über das eben Erlebte sogleich zu voller Klarheit zu gelangen. So wie sich Engelbert jetzt von ihr getrennt hatte, pflegt man sich von derjenigen, die man liebt, doch nur zu trennen, wenn es einen Abschied für das Leben gilt, – und das gewaltsame Hervorbrechen seiner bis dahin augenscheinlich mit schwerer Selbstüberwindung zurückgedrängten Leidenschaft im Verein mit den dunklen Hinweisen auf ein Verhängniß, dessen Lauf er nicht mehr aufzuhalten vermöge, mußten sie in der Befürchtung bestärken, daß irgend ein Unglück, ein geheimnißvolles, furchtbares Unglück drohend über ihrem Haupte schwebe.
Aber sie zerbrach sich vergebens den Kopf, um über die Natur dieses Unglücks zu einer Vermuthung zu gelangen, die ihr selber halbwegs glaubwürdig erschienen wäre.
Sie dachte daran, daß er vielleicht vor einem Zweikampf stände, dessen Ausgang ein tödlicher sein könnte; doch wenn auch seine letzten Aeußerungen mit einer solchen Annahme wohl in Einklang zu bringen waren, – was konnte ein Duell Engelberts mit ihrer Anwesenheit bei der Hainriedschen Gesellschaft zu thun haben?
Wenn es sich aber nicht um eine Gefahr handelte, welche dem Leben Engelberts drohte – um was nur konnte es sich sonst handeln? – Für einen Augenblick wohl dachte Marie an die Gräfin Hainried, an die Huldigungen, welche Engelbert ihr dargebracht, und an die Gunstbeweise, durch welche die Tochter des künftigen Kriegsministers ihn in so augenfälliger Weise ausgezeichnet hatte. Doch der häßliche, mißtrauische Gedanke verschwand noch schneller, als er gekommen war. Selbst der Glaube an die tollste und abenteuerlichste Möglichkeit hätte ja mehr innere Berechtigung gehabt als dieser unwürdige Zweifel. Wäre es auszudenken gewesen, daß Engelbert in erbärmlicher und ehrloser Wandelbarkeit die Stirn haben sollte, seine Schwüre zu brechen und durch die Anknüpfung eines neuen Bandes einfach zu verleugnen, was zwischen ihm und seiner jungen Verwandten geschehen war, – so konnte es doch unmöglich seine Absicht sein, der tödlichen Kränkung auch noch den grausamsten Hohn hinzuzufügen! Vielleicht ließ sich an die Möglichkeit glauben, daß ein Mann feige genug sein könnte, schimpflichen Verrath an einem Mädchen zu begehen, ohne das Herz zu einer offenen und rückhaltlosen Erklärung zu finden, – aber nimmermehr konnte ein solcher Mann den traurigen Muth haben, mit dem Bewußtsein des begangenen Verraths im Herzen noch einmal von der Ewigkeit seiner Liebe zu sprechen und sich noch einmal das Recht einer Zärtlichkeit zu nehmen, auf die nur der künftige Gatte Anspruch erheben darf.
Nein, was auch immer geschehen konnte, und von wie furchtbarer Beschaffenheit das Unbekannte, Unbegreifliche sein mochte, dessen Herannahen Marie nach diesem seltsamen Auftritt in ahnungsvollem Bangen deutlich und immer deutlicher zu fühlen meinte, an eine Treulosigkeit Engelberts durfte sie nicht glauben, ohne sich zugleich eines schweren Unrechts gegen ihn schuldig zu machen und ohne zu ihrer eigenen Qual zu zerstören, was an Lebensmuth und gläubigem Vertrauen auf den Edelsinn der Menschen in ihrer Seele lebte.
Bis in die Tiefen ihres Wesens erschüttert, von Sorgen und Zweifeln gepeinigt und vielleicht am meisten von einer immer wieder erwachenden Regung der Unzufriedenheit mit ihrem eigenen Verhalten gequält, war Marie wahrlich in wenig geeigneter Stimmung für die Erfüllung der Aufgabe, welche sie da aus Mitleid mit der Verlegenheit des Rittmeisters von Boretius auf sich genommen hatte. Aber es handelte sich um die Erfüllung einer Pflicht, vor der es kein Entrinnen mehr gab, und mit entschlossenem Zusamenraffen ihrer starken Willenskraft vertiefte sich Marie immer aufs neue in den Wortlaut und den Geist der schönen Gelegenheitsdichtung, wie vollständig auch ihre Theilnahme an dem großartigen Wohlthätigkeitsfest geschwunden war und wie oft auch trotz des redlichsten Bemühens ihre Gedanken weit hinweg flogen zu ganz anderen Dingen.
Lauter, herzlicher, langanhaltender Beifall war den letzten Versen der ergreifenden Dichtung gefolgt, und diejenigen, welche sich in der unmittelbaren Umgebung des freudestrahlenden Dichters befanden, schüttelten ihm glückwünschend die Hände. Er war sehr niedergeschlagen gewesen, als man ihm mitgetheilt hatte, daß die Sprecherin des Prologes nur wenige Stunden gehabt habe, um sich mit demselben vertraut zu machen, nun aber erklärte er mit stolzer Bescheidenheit, daß seine kühnsten Erwartungen durch den
meisterhaften Vortrag weit übertroffen worden seien und daß die Wirkung des Gedichtes mehr als zur Hälfte auf die Rechnung der talentvollen jungen Dame gesetzt werden müsse.
In der That hatte Marie die niederdrückende Befangenheit, von welcher sie angesichts der hundertköpfigen, glänzenden Zuhörerschaft ergriffen worden war, rasch überwunden, die gluthvolle Wärme der Dichtung hatte sie schon nach den ersten Versen heiß und ungestüm mit sich fortgerissen, und ohne jedes leere theatralische Pathos, doch desto eindringlicher und zu Herzen gehender hatte ihre schöne, wohllautende Stimme den mäßig großen Raum erfüllt. Als sie am Arme des Herrn von Boretius in ihrem einfachen weißen Gewande von dem kleinen Podium herabstieg, machte sie die freudige Erregung über das Gelingen des kühnen Wagnisses, welche ihre zarten Wangen lebhafter röthete, so holdselig und lieblich, daß ein Murmeln der Bewunderung durch die Reihen der aristokratischen Versammlung ging und daß der noch einmal mit vermehrter Wärme hervorbrechende Beifall sicherlich viel weniger der Kunst der Sprecherin als ihrer siegreichen Schönheit galt.
In dem Nebenzimmer, wohin Boretius unter vielen überschwenglichen Lobeserhebungen Marie geleitete, sah es bunt genug aus. Nicht nur die vornehmen Dilettantinnen, welche in dem Konzert mitwirken sollten, sondern auch die kostümirten Verkäuferinnen hatten sich dort versammelt, und es schwirrte, flüsterte und kicherte in freudiger, erwartungsvoller Spannung wie hinter den Coulissen einer großen Bühne, auf welcher ein glänzendes Ausstattungsstück in Scene gehen soll.
Cilly von Brenckendorf, die nie zuvor so reizend ausgesehen hatte wie in ihrer koketten spanischen Tracht, eilte auf ihre Base zu und küßte sie auf beide Wangen.
„Ich habe an der Thürspalte gestanden und habe alles gehört,“ rief sie. „Tausend Glückwünsche zu Deinem großartigen Erfolg! Ich glaube, wenn Du heute abend die Julia im Schauspielhause spielen müßtest, es kostete Dich nicht mehr als eine halbe Stunde der Vorbereitung.“
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Friedhofgang.
Tiefes, tiefes Schweigen
Waltet ernst ringsum;
Baum und Blume neigen
Ihre Häupter stumm.
Hier – wie süße Ruh’,
Und wir alle wallen
Diesem Frieden zu!
Albert Kleinschmidt.
[426] „Sie haben in der That ein bewunderungswürdiges Talent, Fräulein von Brenckendorf,“ sagte die Gräfin Hainried, welche neben Cilly gestanden hatte. „Als mir Engelbert gestern abend von Ihrem Vorhaben sprach, bezweifelte ich aufrichtig, daß es möglich sei, es zur Ausführung zu bringen.“
Sie hatte mit vollkommenster Höflichkeit gesprochen, aber in dem Blick, der ihre Worte begleitete, war ein unverkennbarer Ausdruck boshaften Spottes. Stolz und kalt sah ihr Marie in das Gesicht.
„Viel zu viel Anerkennung für eine so unbedeutende Leistung!“ sagte sie frostig, und zu Cilly gewendet, fügte sie hinzu: „Es ist wohl Zeit, daß ich mich für den Bazar umkleide. Wolltest Du mir nicht ein wenig behilflich sein?“
„Gewiß, mein Herz! Drüben in dem Zimmerchen liegt alles bereit, und Chériette ist auch da, um uns zur Hand zu gehen.“
Marien hätte unter solchen Umständen des Beistandes ihrer Base für den Kleiderwechsel wohl kaum bedurft; aber sie gab sie noch nicht frei, und noch ehe sie mit ihrem Anzug ganz zu Ende gekommen war, schickte sie die Zofe mit einigen Dankesworten nach Hause.
Während sie vor dem Spiegel mit dem Ordnen ihres Kopfputzes beschäftigt war, fragte sie scheinbar gleichmüthig:
„Die Gräfin Hainried bediente sich einer recht vertraulichen Ausdrucksweise, als sie von Deinem Bruder sprach. Ist sie wirklich so eng mit ihm befreundet?“
„Das will ich meinen!“ lachte Cilly ahnungslos. „Und Du willst mich doch wohl nicht im Ernst glauben machen, daß Du noch nichts gemerkt hättest? Sie sind ja seit gestern mit einander verlobt!“
Todtenbleich und mit gleichsam versteinten Zügen starrte Marie ihr eigenes Bild aus dem Spiegel entgegen. Es war gut, daß sie Cilly den Rücken zuwandte, denn diese Veränderung in ihrem Aussehen hätte auf der Stelle zur Verrätherin ihres Geheimnisses werden müssen.
„Verlobt?“ wiederholte sie, all ihren Stolz zu trotziger Gegenwehr zusammenraffend und doch vor dem fremden Klang ihrer eigenen Stimme erschreckend. „Und das ist wirklich wahr?“
„Gewiß ist es wahr! Wie sollte ich dazu kommen, Dir ein Märchen zu erzählen! Schon auf unserer Abendgesellschaft war es so gut wie ausgemacht, und gestern wäre das Verlöbniß bereits öffentlich verkündet worden, wenn nicht Engelbert gewünscht hätte, daß man den Geburtstag der Gräfin, der am fünften des nächsten Monats ist, dafür wähle. Ich war offen gestanden anfänglich nicht sehr entzückt, denn die Gräfin und ich, wir waren niemals sehr enge Freundinnen. Aber sie ist jetzt sehr nett gegen mich, und am Ende macht Engelbert doch eine vortreffliche Partie.“
„Eine vortreffliche Partie!“ klang es wie mit schneidendem Hohn in Mariens Herzen nach. In diesem Augenblick fühlte sie etwas wie wirklichen Haß gegen ihre anmuthige junge Verwandte, die mit dem reizendsten Kinderlächeln im Tone eines Banquiers von der Verlobung ihres Bruders sprechen konnte. Ein unsäglicher Ekel erfaßte sie vor dem bunten Flitterputz, in welchen sie sich da gehüllt sah, und sie erhob die Hände, als ob sie ihn wild von ihrem Leibe reißen wollte. Er war ja Trug und Lüge wie alles um sie her, und sie war dieses Lügenleben satt, o, satt bis zur Verzweiflung!
Aber sie wollte nicht zeigen, wie tödlich sie verwundet, wie schimpflich sie gedemüthigt worden sei. Ihre Hände sanken wieder herab, und ihr Antlitz war kalt und gefaßt, als sie sich gegen Cilly wandte.
„Ich habe Engelbert vorhin nicht gesehen. Wird er den Bazar heute nicht besuchen?“
„Ohne Zweifel! Nur der Dienst kann es sein, der ihn noch fernhält. Aber wie blaß Du bist, mein Lieb! Die Aufregung von vorhin fängt an, nachzuwirken. Willst Du nicht ein wenig Roth auflegen?“
„Nein! Ich denke, es wäre der Maskerade genug. Und ich bin fertig. Wenn es Dir beliebt, wollen wir zu den anderen gehen.“ – –
Das kurze Eröffnungskonzert war vorüber. Die verführerisch geschmückten Verkäuferinnen hatten ihre Plätze eingenommen, und unter den Klängen der Musik strömte die Schar der geladenen Gäste in den prächtig herausgeputzten Saal. Ein königlicher Prinz, der im besonderen Auftrage und in Vertretung des Hofes erschienen war, ließ sich an der spitze des glänzenden Zuges von zwei Vorstandsmitgliedern an den einzelnen Verkaufstischen vorüberführen, fast überall mit einigen freundlichen Worten verweilend und hier und da gegen blinkende Goldstücke irgend eine nette Kleinigkeit eintauschend.
Auch vor Mariens Platze blieb er artig grüßend stehen.
„Wenn meine Augen mich nicht betrügen, ist die schöne Friesin mir eine Verwandlung jenes holden Genius der Barmherzigkeit, der uns vorhin so tief zu rühren wußte,“ fragte er, „Baronesse von Brenckendorf – so man mich recht berichtet hat? Eine Tochter unseres vortrefflichen Generals?“
„Nicht eine Tochter, Hoheit, – nur eine entfernte Verwandte!“ erwiderte Marie ohne jede Befangenheit und mit einem Ausdruck, als gelte es, eine entwürdigende Vermuthung zu berichtigen. Ein leichtes Erstaunen malte sich auf dem Antlitz des hohen Herrn und fast unwillkürlich wandte er den Kopf nach dem General, der kaum zwei Schritte weit hinter ihm stand. Dieser aber lächelte verbindlich und heiter wie immer, und der Prinz fuhr, indem er aufs Geratewohl einen der kleinen Schmuckgegenstände aus Silberfiligran vom Tische nahm, mit unverminderter Liebenswürdigkeit fort:
„Das holde Töchterchen des treuen Friesenlandes wird mir gestatten, dies als ein Zeichen der Erinnerung zu behalten. Es wird mich jederzeit an eine der reizendsten Erscheinungen und an einen der erlesensten künstlerischen Genüsse gemahnen.“
Der Adjutant legte einige Goldstücke in die kleine Schale und der Prinz setzte seinen Rundgang fort. Zu dem Verkaufstisch Mariens aber flogen viel neidische Blicke hinüber, denn zu so schmeichelhaften Aeußerungen hatte sich der erlauchte Herr noch keiner anderen Dame gegenüber herbeigelassen.
Und es war nur eine natürliche Folge dieser Auszeichnung, daß sich auch die Käufer zu ihr mit besonderer Lebhaftigkeit drängten. Der Inhalt des kleinen Geldschälchens vermehrte sich rasch, obwohl der Ernst und die gemessene Zurückhaltung der jungen Verkäuferin nicht ganz den heiteren Gepflogenheiten solcher Veranstaltungen entsprachen.
Ein Herr in gewählter Civilkleidung, der seinen schönen, dunkellockigen Künstlerkopf sichtlich mit demselben Stolze trug wie seinen auffallend reichen Schmuck an Orden und Ehrenzeichen, trat mit dem Anstand eines Fürsten an ihren Tisch.
„Ich hatte die Ehre, dem gnädigen Fräulein vor Beginn des Konzerts vorgestellt zu werden: – Konstantin Rainer, Direktor des Schillertheaters, wenn Baronesse sich nicht mehr erinnern sollten.“
Marie neigte das Köpfchen. Sie hatte den Schauspieler wohl erkannt.
„Selbst auf die Gefahr hin, für unbescheiden zu gelten, kann ich es mir nicht versagen, Ihnen den Zoll meiner Bewunderung zu Füßen zu legen,“ fuhr Rainer fort. „Die deutsche Bühne hat wahrlich Grund, sich bitter zu beklagen, daß ein so ungewöhnliches Talent ihr für immer entzogen bleiben wird.“
Er schrieb das lebhafte Aufsprühen in Mariens eben noch so müde blickenden Augen lediglich dem Eindruck zu, welchen die Anerkennung eines so gefeierten und vielumschwärmten Mannes nothwendig auf sie hervorbringen mußte, und der Sternenhimmel auf seiner Brust schien das Licht der elektrischen Glühlampen noch stolzer und triumphierender zurückzuwerfen.
„So glauben Sie in der That, daß ich nicht ganz ohne schauspielerische Begabung sein würde?“ fragte Marie mit einer gewissen Spannung, den Theaterdirektor als den ersten von allen Käufern einer Unterhaltung würdigend. „Oder wünschen Sie nur, mir etwas Artiges zu sagen?“
Koststantin Rainer legte die Rechte auf das Herz – eine Bewegung, die seine schön geformte Hand nicht minder zur Geltung brachte als den haselnußgroßen Solitär an seinem kleinen Finger.
„Wer eine so unbegrenzte Ehrfurcht vor der Würde seiner Kunst empfindet wie ich, mein gnädiges Fräulein, der ist sicherlich wenig geneigt, ihren Namen zu erlogenen Schmeicheleien zu mißbrauchen. Auf meine Ehre: wären Sie nicht die Baronesse von Brenckendorf, sondern die Tochter eines kleinen Beamten oder einer armen Wäscherin und würden Sie sich nur für die Dauer eines einzigen Jahres meiner Leitung anvertrauen, so wollte ich Sie einer Charlotte Wolter ebenbürtig machen.“
„Ein kühnes Versprechen, mein Herr! Und wenn ich nun Lust hätte, Sie beim Wort zu nehmen?“
[427] Konstantin Rainer stutzte ein wenig; aber er war nicht der Mann, sich durch einen Scherz verblüffen zu lassen.
„So würde ich glücklich sein, Ihnen beweisen zu dürfen, daß ich kein Freund leerer Worte bin!“ erwiderte er mit galanter Verbeugung. „Und Sie, mein gnädiges Fräulein, würden wohl den Stand vertauschen, nicht aber den Rang, denn Sie wären ohne Zweifel sehr bald eine Fürstin im Reiche Thaliens.“
In der angenehmen Gewißheit, daß keine seiner Phrasen die Probe auf ihre Ehrlichkeit zu bestehen haben würde, hätte er sich ohne Zweifel zu noch schwunghafteren Versicherungen verstiegen, wenn nicht eine plötzliche Veränderung in den Mienen und in dem Benehmen der jungen Dame dem Gespräch alsbald ein Ende bereitet hätte.
An dem mächtigen Jupiterhaupte des Schauspielvirtuosen vorbei starrte Marie mit weit geöffneten Augen nach der Mitte des Saales; in ihren Mundwinkeln zuckte es, obwohl sie die Lippen fest zusammenpreßte, und ihre Brust hob sich stürmisch, als hätte sie mit einer jähen Athemnoth zu ringen.
Unwillkürlich hatte sich Rainer umgesehen, da er aber in dem bunten Bazargewühl durchaus nichts sonderlich Auffälliges wahrzunehmen vermochte, fühlte er sich durch dies plötzliche, offenkundige Vergessen seiner Anwesenheit ein wenig verletzt und zog sich mit einigen wohlklingenden Worten, die zu seinem vermehrten Verdruß ganz unbeachtet blieben, zurück.
Mariens heißer Blick aber folgte unverwandt jeder Bewegung des schlanken Dragoneroffiziers, der in Gesellschaft mehrerer Regimentskameraden den Saal betreten hatte, um sich mit sorglosester Heiterkeit in das farbenreiche Gewoge zu drängen. Sie sah, wie Engelbert seinen Vater flüchtig begrüßte und wie er dann nach rascher Umschau zu der Gräfin Hainried trat. Was er sprach, konnte sie freilich nicht vernehmen; aber die Art, wie er die Hand der üppigen Schönheit küßte, wie er sein Haupt zu ihr neigte und seine Augen in die ihrigen senkte, ließ den Inhalt seiner Worte gut genug errathen.
Und es währte lange, ehe er diese Unterhaltung beendet hatte. Vielleicht war es nur der muntere Zuruf seiner Schwester, der ihn halb wider seinen Willen dazu nöthigte. Wenigstens war sein Auftreten viel weniger sicher und sein Blick viel unfreier, als er nun zwischen den Verkaufstischen dahinschritt, mit zaudernder Langsamkeit dem Platze Mariens näher kommend.
Sie war darauf gefaßt, daß er umkehren würde, ohne mit ihr gesprochen zu haben; denn es schien ja fast undenkbar, daß er den Muth besitzen würde, jetzt vor sie hinzutreten. Aber wenn es ihn auch sichtlich nicht geringe Ueberwindung kostete, ihr Auge in Auge gegenüberzustehen, wenn er auch auf seinem peinlichen Wege wiederholt anscheinend unschlüssig verweilte, endlich sah sie seine hohe, ritterliche Gestalt doch vor sich, straff und aufrecht wie immer und sogar mit dem gewohnten, liebenswürdig leichtsinnigen Lächeln auf den Lippen.
Er war ohne Zweifel willens, sie mit irgend einer lustigen Artigkeit zu begrüßen, aber Marie hatte die Qualen der letzten Stunde in der Erwartung dieses einzigen, unausbleiblichen Augenblicks wahrlich nicht ertragen, um nun, da er endlich gekommen war, eine Fortsetzung der schimpflichen Komödie zu dulden.
Seiner Anrede zuvorkommend, sagte sie, die klaren, ernsten Augen fest auf sein lächelndes Antlitz gerichtet:
„Man erzählt mir, Du seiest im Begriff, Dich mit der Gräfin Hainried zu verloben. Ist das die Wahrheit?“
Engelbert drehte an seinem Schnurrbart und das Lächeln verschwand. Rasch und verlegen um sich blickend, erwiderte er fast flüsternd:
„Wie können wir hier von solchen Dingen sprechen! Ich bitte Dich inständig, liebste Marie –“
„Wird es Dir so schwer, mir mit einem einfachen Ja oder Nein zu antworten? Ich verlange ja nur zu wissen, ob es die Wahrheit ist!“
Ob sie ihre Stimme wirklich um ein Geringes erhoben hatte, oder ob es Engelbert in seiner Verlegenheit nur so erschien, jedenfalls hatte er die peinliche Empfindung, daß die Blicke der ganzen Umgebung auf ihn und sie gerichtet seien.
„Nun denn, wenn Du es durchaus hören willst – ja, es ist die Wahrheit!“ stieß er zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervor. „Aber ich denke nicht daran, mich auf weitere Erklärungen einzulassen, wenigstens nicht an einem so unpassenden Orte.“
Er wollte sich hastig abwenden; aber er konnte damit ihre Antwort nicht verhindern, die ihn aufzucken ließ, wie wenn man ihn vor all diesen Hunderten ins Gesicht geschlagen hätte.
„Es ist mir um Deine Erklärungen nicht zu thun, denn ich habe der feigen, erbärmlichen Lüge nachgerade genug aus Deinem Munde vernommen!“
An den nächsten Tischen wenigstens mußten diese Worte unfehlbar gehört worden sein. Mit jenem geschärften Auffassungsvermögen, das sich in der höchsten Bedrängniß einzustellen pflegt, nahm Engelbert wahr, wie in der Nachbarschaft das muntere Geschwirr der Stimmen plötzlich verstummte. Es flimmerte ihm vor den Augen und es zuckte ihm in den Fäusten, als ob er irgend etwas zerreißen, zerdrücken, niederschmettern müßte. Aber er hatte doch Geistesgegenwart genug, zu bedenken, daß nur durch eine rasche, glückliche Eingebung dem unerhörten Skandal noch vorzubeugen sei.
Hart an den Tisch Mariens zurücktretend, neigte er sich vertraulich zu ihr hinüber und sagte laut genug, um ringsum verstanden zu werden: „Wenn Du Deine Rolle am Abend der Aufführung nur halb so natürlich spielst, werden wir uns um den Erfolg wahrlich nicht zu sorgen brauchen.“
Er hatte versucht, sie dabei unter den Bann seines funkelnden, gebieterischen Blickes zu zwingen; aber seine Macht über sie war zu Ende. Für einen Augenblick wohl hatte sein verwegener Schachzug Marie in einen Zustand regungslosen Erstaunens versetzt; dann aber flammte die heißeste Entrüstung hoch auf in ihren Wangen wie in ihren Augen.
„Elender!“ rief sie, ihrer selbst nicht mehr mächtig, und dann, als käme ihr plötzlich das Bewußtsein des Ungeheuerlichen, das sie gethan hatte, eilte sie, in Thränen ausbrechend, dem Ausgang des Saales zu.
Voll Erstaunen und Theilnahme näherte sich ihr in dem Nebenraum, wo noch vom Konzert her die Sesselreihen standen, ein ahnungsloses Mitglied des Ausschusses.
„Mein gnädiges Fräulein – um Gotteswillen – ist Ihnen etwas widerfahren? Fühlen Sie sich nicht wohl?“
Marie fuhr mit dem Taschentuch über die Augen und rang danach, ihre Fassung wiederzugewinnen.
„Wenn ich Sie bitten dürfte, mir meinen Mantel zu verschaffen – und eine Droschke! – Ich muß nach Hause fahren!“
Der Herr fragte nicht weiter. Er ging hinaus, um ihren Auftrag auszuführen. Marie aber, die halb ohnmächtig in einen der Sessel gesunken war, fühlte in der nächsten Minute einen weichen Arm liebkosend an ihrem Halse und einen warmen Athem an ihrer Wange.
„Mariechen, mein Liebling, was soll das bedeuten? Sage mir um alles in der Welt: was hat man Dir gethan?“
Cilly war es, die ihr gefolgt war und die sich nun mit aufrichtigster, zärtlichster Theilnahme über die Gebrochene neigte. Aber wie süß und schmeichelnd ihr auch die Stimme ihrer Base an das Ohr klingen mochte, Marie hörte es doch noch von derselben Stimme in ihrem Herzen widerhallen: „Am Ende macht er doch eine vortreffliche Partie!“ Und Cilly war ihr nur eine Feindin wie alle die anderen.
„Was man mir gethan hat?“ wiederholte sie, sich fast unsanft von der vertraulichen Umschlingung losmachend. „Frage Deine ritterlichen Brüder, wenn es Dich wirklich danach verlangt, es zu erfahren! Und bemühe Dich nicht weiter um mich – ich bitte Dich darum! Ihr sollt Euch künftig um meinetwillen so wenig Zwang auferlegen, wie Ihr es meines Bruders wegen thut! Es war thörichte Verblendung, daß ich wähnte, es könnte jemals Gemeinschaft sein zwischen Euch und uns!“
Bestürzt und ohne Verständniß blickte Cilly auf die Erzürnte. Ihre munteren Augen schimmerten feucht von aufsteigenden Thränen.
„Wenn Du mir nur erklären wolltest, was das alles heißen soll! Habe ich Dich irgendwie gekränkt, so bitte ich Dich um Verzeihung; aber ich schwöre Dir zugleich, daß es ohne mein Wissen geschehen sein muß!“
Der Herr vom Ausschuß erschien mit Mariens pelzgefüttertem Mantel auf der Schwelle. Bei Cillys Anblick zögerte er, näher zu treten, doch Marie streckte ihm die Hand entgegen.
„Ich danke Ihnen! Vielleicht haben Sie die Güte, mich bei Herrn von Boretius zu entschuldigen und zu veranlassen, daß [428] mein Tisch von einer der anderen Damen mit übernommen wird. Ich bin leider außer stande, auf meinen Platz zurückzukehren.“
„Noch einen Augenblick, Herr Baron!“ fügte Cilly mit raschem Entschluß hinzu. „Auch mir muß eine Vertreterin bestellt werden; denn ich werde meine Cousine selbstverständlich begleiten!“
Sie hatte ihre Worte durch einen herzlich bittenden Blick auf Marie unterstützt, doch diese blieb unerschütterlich.
„Du darfst die Verlegenheit der Herrschaften nicht ohne Noth vermehren,“ sagte sie kühl, „und mein Unwohlsein ist wirklich nicht so bedeutend, daß es eine Begleitung nothwendig machte.“
Die Zurückweisung war so unzweideutig, daß Cilly sich nicht wohl einer noch schärferen Ablehnung in Gegenwart des Dritten aussetzen konnte. Aber sie zeigte sich trotzdem ganz gegen ihre sonstige reizbare Art weder unfreundlich noch gekränkt.
„Wenn Du es wünschest, werde ich bleiben; aber sobald ich eine Gelegenheit finde, fortzukommen, eile ich zu Dir.“
Marie blieb ihr die Erwiderung schuldig. Sie nahm den Arm des Barons und ließ sich zu der Droschke hinunter führen. Die Fahrt bis zur Viktoriastraße schielt ihr fast unendlich, und die verwunderten Mienen der Dienerschaft bei ihrer vorzeitigen Heimkehr bereiteten ihr unerträgliche Pein. Die Thür ihres Zimmers hinter sich verschließend, entledigte sie sich des kostbaren Kostüms und packte die Kleider und Gebrauchsgegenstände, welche sie bei ihrem Einzuge in das Haus des Generals mitgebracht hatte, in ihren Koffer. Die Arbeit nahm nicht allzuviel Zeit in Anspruch; aber bei jedem Geräusch, das draußen vernehmlich wurde, horchte Marie doch ängstlich auf, als fürchtete sie, daß einer ihrer Verwandten ihr gefolgt sein könnte, um sie aufzusuchen und sie an der Ausführung ihres Vorhabens zu hindern.
Doch ihre Besorgniß erwies sich als unbegründet. Niemand kam, sie zum Bleiben zu bewegen, und niemand trat ihr hindernd in den Weg, als sie in einem einfachen Straßenkleide zum letzten Male die Treppen des Hauses hinabstieg, in welchem sie eine zweite Heimath zu finden gehofft hatte.
Um alles unnöthige Aufsehen bei der Dienerschaft zu vermeiden, hatte sie den verschlossenen Koffer in ihrem Stübchen zurückgelassen, und sie schlug nun zu Fuß die Richtung nach dem Brandenburger Thor und nach der Wohnung ihres Bruders ein.
Stanley im dunkelsten Afrika.
Jahrelang umgab ein undurchdringliches Dunkel das Schicksal der kühnen Forscher, welche in die Waldeswildnisse des tropischen Afrika ausgezogen waren, um Emin Pascha und der Handvoll Leute, die mit ihm in der Provinz Aequatoria geblieben waren, Hilfe und Rettung zu bringen. Endlich, nach Jahren, waren von ihnen Nachrichten eingetroffen, und die Heimkehrenden wurden mit Jubel an den Grenzen Deutsch-Ostafrikas begrüßt. Aus Briefen und kurzen Mittheilungen der Befreier und des Befreiten sind im Laufe von Wochen und Monaten einzelne Stücke aus jenem Afrikazuge bekannt geworden, welcher, was die Größe der überstandenen Gefahren, die Fülle der erduldeten Leiden, die Bitterniß der Enttäuschungen betrifft, zu den tragischsten, was die Tragweite der gemachten Entdeckungen anbelangt, zu den denkwürdigsten aller Afrikazüge gezählt werden muß. Leider begrüßte die Welt die Heimkehrenden mit getheilten Empfindungen; denn die jüngste Unternehmung Stanleys war keine reine Hilfs- und keine reine Forscherexpedition. Wohl waren die Helden, welche mit der wilden Natur und kriegerischen Stämmen rangen, bestrebt, den Schleier von dem dunkelsten Theile des dunklen Welttheiles zu reißen, wohl waren ihre Herzen von dem edlen Gefühl geleitet, einem Häuflein Hilfloser Rettung zu bringen, – aber die Wissenschaft und die Menschlichkeit waren nicht die einzigen Triebe, welche sie zu Thaten anspornten. Koloniale Pläne, politische Erwägungen bildeten gleichzeitig die Richtschnur des Unternehmens, und wie die Politik die Menschen trennt, so beeinflußt sie auch unser Urtheil. Der Ruf: „Hie Stanley, hie Emin!“ erscholl bereits, bevor man mit bestimmter Klarheit erfuhr, daß die beiden Helden nicht in einem herzlichen Einvernehmen den weiten Weg von den Quellen des Nils, von dem schneebedeckten Mondgebirge bis zur Küste des Indischen Oceans zurücklegten. Was später in die öffentliche Meinung durch weitere abgerissene Mittheilungen sickerte, konnte diesen Gegensatz nicht ausgleichen, obwohl es auch auf das Verhältniß der beiden hervorragenden Männer zu einander kein klares Licht zu werfen vermochte.
Mit um so größerer Spannung harrte man, bis Stanley und Emin die Geschichte des Zuges, den Fall von Aequatoria im Zusammenhange erzählen würden. Emin hat keine Zeit gefunden, Bücher zu schreiben, im Dienste Deutschlands wirkt er wieder im Innern Afrikas. Inzwischen ist nun Stanleys neues Werk, das so lang erwartete, erschienen. „Im dunkelsten Afrika. Aufsuchung, Rettung und Rückzug Emin Paschas, Gouverneurs der Aequatorialprovinz“[1] lautet der Titel. Durch die ausführlichen Mittheilungen Stanleys wird der Gegensatz zwischen ihm und Emin nicht gemildert. Im Gegentheil, wir erfahren, daß der Bruch zwischen beiden ein vollständiger ist, daß nicht nur politische Erwägungen ihn veranlaßt haben, sondern daß auch der Gegensatz der Charaktere, grundsätzliche Verschiedenheit [429] der Anschauung, persönliche Kränkungen mitgewirkt haben, um die Kluft zu erweitern. Leider hat bis jetzt nur der eine Theil gesprochen, und darum ist die Streitfrage keineswegs aufgehellt.
Wie aber auch die Verhältnisse in Wirklichkeit beschaffen sein mögen, die Gestalt Emins kann durch die Anklagen Stanleys nicht verkleinert werden, sie bleibt dieselbe, wie sie uns aus den früheren Mittheilungen Felkins, Junkers und Schweinfurths, aus den eigenen Briefen Emins bekannt ist. Emin bleibt für uns, was er uns war. Er ist kein General, das wußten wir längst; aber er ist muthig und unerschrocken, ein Mann der rastlosen Arbeit, ein Mann, dessen Herz auch für den Neger schlägt, ein Mann, den Afrika braucht; er ist, um einen treffenden Ausdruck zu gebrauchen, „ein Kolonist, der ein rechter Mensch ist“.
Und Stanley? Wenn er im englischen Interesse gewirkt hat, so darf uns das billigerweise nicht befremden. Das steht aber auch fest, daß er unbekümmert um Gefahren und die schlimmsten Entbehrungen den Bedrängten Hilfe bringen wollte, daß er mit eiserner Entschlossenheit die übernommene Aufgabe zu vollbringen bestrebt war. Auch er hat Großartiges geleistet in der Art, wie er litt und wie er stritt, um die Vorräthe an Pulver zu unserem tapferen Landsmann nach Aequatoria zu bringen.
Lassen wir darum, wenn wir den Leser in das neueste Werk Stanleys einführen sollen, für jetzt den politischen und persönlichen Streit bei Seite, betrachten wir Stanley als Führer, als Forscher! Das ist erfreulicher, trotz der Tragik, mit welcher die betreffenden Seiten des spannenden Werkes gefüllt sind. Greifen wir die Ereignisse heraus, deren Schauplatz die düsteren Wälder im Herzen Afrikas bilden!
Unsere Leser wissen, daß Stanley seine Truppe nach Jambuja, einer Reihe von Dörfern am Aruwimi, dem Nebenflusse des Kongo, gebracht hatte. Von hier wollte er nach dem Albertsee vordringen und hatte durch Boten, die von der Ostküste abgesandt wurden, Kawalli am Südende des Sees Emin Pascha als den Vereinigungspunkt bezeichnet.[2] Tippu-Tib, der bekannte Araberhäuptling, hatte versprochen, 600 Träger zu stellen. Bevor aber diese erschienen waren, brach Stanley mit einer Vorhut von 389 Mann mit 357 Gewehren und einer Schnellfeuerkanone sowie einem zerlegbaren Boote nach dem Albertsee auf, um baldigst die erste Hilfe zu bringen. Major Barttelot sollte mit der Nachhut folgen.
Am 28. Juni 1887 hatte die Marschkolonne am Ende der Dörfer von Jambuja Halt gemacht.
„Welches ist der Weg, Führer?“ fragte Stanley den „Kirangosi“, den wahrscheinlich stolzesten Mann der ganzen Kolonne – denn es ist ein höchst erhebendes Gefühl, die Spitze des Zuges zu bilden. Der Mann trug einen griechischen Helm wie Achilles.
„Dieser hier, der nach Sonnenaufgang führt,“ erwiderte er.
„Wie viele Stunden sind es bis zum nächsten Dorfe?“
„Das weiß nur Gott!“ antwortete er.
„Kennst Du kein Dorf oder Land in jener Richtung?“
„Nicht ein einziges; wie sollte ich auch?“ war die Entgegnung.
Das war alles, was der Klügste von der Mannschaft wußte.
„Nun denn, vorwärts in Gottes Namen! Möge Gott stets mit uns sein! Halte Dich an jeden Pfad, der am Flusse entlang führt, bis wir eine Straße finden.“
„Bismillah!“ erscholl das Echo der Pioniere, die Trompeten der Nubier bliesen das Signal „Vorwärts“, und kurz darauf verschwand die Spitze der Kolonne in dem dichten Gebüsch an den äußersten Grenzen der Lichtung von Jambuja.
Das war am 28. Juni, und bis zum 5. Dezember, also 160 Tage, ist die Vorhut durch Wald, Busch und Dickicht marschirt, ohne je ein Stück freies Land zu erblicken. „Eine afrikanische Straße,“ schreibt Stanley, „ist meist ein Fußpfad, welcher durch das Beschreiten in der trockenen Jahreszeit eine außerordentliche Glätte und die Härte des Asphalts bekommt. Da die Eingeborenen im Gänsemarsch, einer hinter dem andern, zu marschiren pflegen, ist der Weg nur 30 cm breit. Ist der Pfad alt, so gleicht er einer gewundenen schmalen Gosse, die in der Mitte mehr als an den Seiten ausgetreten ist, da das Regenwasser hindurchgeströmt ist und sie etwas ausgespült hat. Ein gerader Weg würde im Durchschnitt um etwa ein Drittel kürzer sein als der Pfad, auf welchem die Eingeborenen zu marschiren pflegen. Das ungefähr hofften wir zu finden, als wir aus dem Thore des verschanzten Lagers bei Jambuja marschirten, weil es uns auf vier früheren Expeditionen ins Innere von Afrika stets gelungen war, einen solchen Pfad Hunderte von Meilen zu verfolgen. Wir marschirten, eine Kompagnie nach der andern, im Gänsemarsch. Jede Kompagnie hatte ihre Fahnen, ihren Trompeter oder Trommler, sowie eine bestimmte Zahl von Ueberzähligen, [430] während 50 ausgesuchte Leute als Vorhut voraufmarschirten, um Haumesser und Axt zu handhaben, die jüngeren Bäume zu fällen, von den Stämmen einen handbreiten Streifen Rinde abzuschälen[3], die Blätter und Sprossen des Rotangs zu durchhauen, alle den freien Durchzug der Hunderte von beladenen Trägern hindernden Zweige zu entfernen, Bäume für den Uebergang über Flüsse zu fällen und nach Beendigung des Tagemarsches aus Buschwerk und Zweigen Seribas oder Bomas (Dornverhaue) und das Hüttenlager zu bauen. Die Vorhut muß den Pfad aussuchen oder, wenn keiner zu finden ist, die schmalste Stelle des Dickichts wählen und sich sofort durchbohren, da es außerordentlich ermüdend ist, mit einer schweren Last auf dem Kopfe in der erhitzten Atmosphäre still zu stehen. Findet sich kein dünneres Dickicht, dann geht es irgendwo hindurch, so undurchdringlich die Stelle auch erscheinen mag; die Leute müssen tüchtig darauflos hacken, sonst entsteht unter den ungeduldigen Trägern hinter ihnen ein unheilverheißendes Murren.“
Aber die Bezeichnung Wald genügt uns nicht, um die Schwierigkeiten des Marsches zu verstehen. Afrika hat verschiedene Wälder; trockene lichte Wälder im Osten, wo die Bäume ohne Unterholz, mit spärlichem Laub behangen, schattenlos weit auseinander stehen – der innerafrikanische Urwald am Aruwimi und oberen Kongo ist anders beschaffen. Einige Auszüge aus Stanleys Schilderung desselben mögen uns in seine düsteren Hallen einführen:
„Man denke sich das ganze Frankreich und die Iberische Halbinsel besetzt mit Bäumen von 6–50 m Höhe, glatten Stämmen, deren Blattkronen sich so nahe befinden, daß sie sich untereinander verwickeln und den Anblick des Himmels und der Sonne verhindern, Bäume, die bald wenige Centimeter, bald über einen Meter dick sind. Alsdann laufen von einem Baum zum andern Taue von 5–40 cm Durchmesser, welche die Form von Schlingen und Festons, eines lateinischen W und eines schlecht geschriebenen lateinischen M haben oder sich in großen dichten Kreisen wie endlose Anakondaschlangen um die Stämme ringeln, bis sie die höchste Spitze erreicht haben. Laß sie üppig blühen und Blätter treiben und sich mit dem Blattwerk der Bäume vereinigen, um die Sonne zu verbergen, laß von den höchsten Zweigen die Taue zu Hunderten bis nahe auf den Erdboden, mit ausgefransten Enden, welche die Luftwurzeln der Epiphyten (Schmarotzerpflanzen) repräsentiren, herabfallen und schlanke Ranken mit offenem Faserwerk an den Enden wie Troddeln herabhängen! Arbeite alles gehörig durcheinander, so wirr wie möglich und von einem Zweig zum andern, ohne irgendwelche Rücksicht auf die Bestandtheile, und pflanze an jeder gabelförmigen Stelle der Bäume und auf jeden horizontal stehenden Ast kohlartige Baumflechten von der größten Art, Pflanzen mit breiten speerförmigen Blättern, welche die Elefantenohr-Pflanze[4] darstellen, sowie an andern Stellen Orchideen und Gruppen vegetabilischer Wunderwerke, drapiert mit den viel vorkommenden Farnen! Nunmehr bedecke Baum, Ast, Zweig, Schlinggewächs mit dickem Moos wie mit einem grünen Pelz! Wo der Wald kompakt ist, braucht man nur noch den Boden dicht mit dickem Phryniumgesträuch, Amomum und zwerghaftem Gebüsch zu bepflanzen. Wenn aber, wie es häufig vorkommt, der Blitz die Krone eines stolzen Baumes abgeschlagen und das Sonnenlicht hereingelassen, wenn er einen Waldriesen bis zu den Wurzeln hinab zersplittert hat und der Stamm verdorrt, wenn ein Wirbelsturm einige Bäume entwurzelt hat, dann schießen eine Menge junger Stämme im Wettlauf um Luft und Licht in die Höhe, drängen sich, brechen sich, treten sich und ersticken sich gegenseitig, bis das Ganze ein undurchdringliches Dickicht bildet. –
Um das geistige Bild des unbarmherzigen Waldes zu vollenden, muß der Erdboden noch dick mit halbfertigem Humus aus vermoderten Blättern, Stielen und Zweigen bedeckt sein; alle paar Meter sollte ein gestürzter Riese liegen, eine dünstende Mischung von verwesenden Fibern, abgestorbenen Generationen von Insekten und lebenden Ameisenkolonien, halb verborgen unter der Masse von Reben und umgeben von dem Blattwerk einer Menge junger Bäumchen, langer Epheuranken und viele Meter hoher Rotangpalmen; und jeden Kilometer müßte ein schlammiger Fluß, ein stagnirender Bach oder flacher Tümpel kommen, bedeckt mit Wasserlinsen, Lotus- und Lilienblättern und einem fettigen, grünen Schaum, der aus Millionen von Pflanzentheilen besteht. Bevölkere dann diese ungeheuere Waldgegend mit unzähligen Fragmenten von Völkerstämmen, die untereinander im Kriege sind, 15 bis 80 Kilometer von einander getrennt inmitten der zu Boden gestürzten Bäume, zwischen denen sie Paradiesfeigen, Bananen, Maniok, Bohnen, Tabak, Kolokasien, Kürbisse, Melonen u. s. w. gepflanzt haben, leben und, um ihre Dörfer unzugänglich zu machen, jedes Vertheidigungsmittel angewandt haben, welches die Natur und das Leben im Walde den Wilden in die Hand gegeben hat. Sie haben Holzsplitter eingegraben und schlau unter scheinbar zufällig dort liegenden Blättern verborgen, nicht nur auf ihren Pfaden, sondern auch an der Seite von Baumstämmen, sodaß der Eindringling, wenn er mit dem nackten Fuße darauf tritt, sich diesen durchbohrt und entweder an dem auf die Holzstücke geschmierten Gift stirbt oder Monate lang lahm bleibt. Sie haben die Aeste aufgethürmt und mit den großen Bäumen Verhaue hergestellt, hinter denen sie mit Köchern voll vergifteter Pfeile und mit im Feuer gehärteten und mit Gift bestrichenen hölzernen Speeren im Hinterhalte liegen.
Der Urwald, d. h. das alte, vom Menschen noch nicht berührte und seit den frühesten Zeiten sich überlassen gebliebene Wachsthum, ist leicht von demjenigen Theil zu unterscheiden, der früher oder später einmal den Menschen Schutz gewährt hat. Die Bäume sind höher und gerader und haben einen kolossaleren Umfang, es finden sich öfter Durchgänge, wo der Marsch weniger Schwierigkeiten bietet und das Hinderniß unabänderlich in Arum, Phrynium und Amomum besteht. Der Grund ist fester und kompakter, und es befinden sich an solchen Stellen die Lieblingslagerplätze der zwerghaften Nomaden. Wenn die Pflanzen und kleinen Büsche weggehauen werden, hat man einen luftigen, kühlen Waldtempel, in dem sich angenehm leben läßt.“ –
Wild giebt es wohl in diesem Walde, aber man sieht es nicht, denn der Lärm der Karawane verscheucht es. Auf die Jagd zu gehen, ist gefährlich, denn wer sich hier verirrt, der ist rettungslos verloren, der Wald giebt nichts wieder heraus, wie das Wasser hinter dem Kiel des Schiffes schließt er sich hinter dem Verlorenen. Vögel hört man überall, aber sie sitzen unerreichbar wie auf dem Dache eines 15 Stockwerke hohen Hauses. Zahllos sind die Insekten, mit deren Beschreibung man ganze Bücher füllen könnte, die aber auch zahllose Plagen über den Wanderer verhängen. „Diese großen und kleinen Bienen, die Wespen, die Herden von Motten zur Nachtzeit, die Haus-, Tsetse-, Viehfliegen, Mücken und Schmetterlinge bei Tage, die riesenhaften Käfer, welche, durch das Licht im Zelte angezogen, durch die Dunkelheit dahersegelten, wüthend gegen die Leinwand stießen, in ihrem Zorn, immer mit heiserem Brummen, von einer Seite nach der andern zurückgeworfen wurden und schließlich mit lärmender Wuth sich auf mein Buch oder mein Gesicht stürzten, als wollten sie aus irgend einem Grunde Rache an mir nehmen; dann die Schwärme von Ameisen, welche auf meinen Teller marschirten, in meine dünne Suppe liefen und über meine Bananen krochen, die Heimchen, welche wie Dämonen umhersprangen und sich mir auf den Kopf oder die Stirn setzten, die Cikaden, deren schrilles Zirpen einen noch verrückter machte, als die hysterischen heulenden Manjemafrauen. Der Pascha (Emin) behauptet, diese Stämme zu lieben, ich gestehe aber, ich habe ihnen so viel Schaden wie möglich zugefügt.“
Da gab es kleine Bienen, deren beliebteste Angriffspunkte Augeb, Ohren und Nasenlöcher waren, kleine Käfer, die durch ein Nadelöhr hätten schlüpfen können und, durch ein Vergrößerungsglas betrachtet, besonders auf das Peinigen des Menschen eingerichtet zu sein schienen. „Selbstverständlich waren auch unsre alten Freunde, die Moskitos, in zahllosen Scharen auf den größeren Lichtungen. Wenn wir aber bei Tage von Ameisen und unzähligen Arten von Insekten gebissen und gestochen wurden, was, wie jeder zugeben wird, ebenso schlimm ist, als ob man mit Nesseln gepeitscht würde, so hatte auch die Dunkelheit ihre Unruhe, Schrecknisse und Aengste. In der Stille der Nacht, wenn die ganze Karawane im Schlummer lag, wurde plötzlich jeder von einer Reihe von Explosionen erweckt. Allnächtlich wurde ein großer Baum vom Blitze getroffen und war die Gefahr vorhanden, daß die Hälfte des Lagers von dem fallenden Stamme zermalmt wurde; das Rauschen der Aeste während eines Sturmes war wie das Getöse der Brandung und das Rollen der Wogen am Strande. Wenn es regnete, vermochte keine Stimme im Lager sich Gehör [431] zu verschaffen; es war wie ein Katarakt mit seinen tosenden Wassermassen. Fast jede Nacht fiel plötzlich ein abgestorbener Baum krachend, berstend und rauschend und schlug mit einem die Erde erschütternden Getöse auf den Boden auf.“
Düster, mit Nebeln verhüllt, mit dichtem Gebüsch am Ufer bewachsen, war auch der Strom, der anfangs in dieser Waldwildniß als Wegweiser diente. Das zerlegbare Boot und einige Kanoes bildeten die Wasserabtheilung der Karawane, der Rest zog zu Lande. Der schlimmste Feind, dem Stanley in diesem Walde begegnete, war der Hunger. Jede Banane, jedes Huhn mußte theuer erkauft oder erkämpft werden. Die Leute wurden, wenn sie einzeln auf Nahrungsmittelsuche ausgingen, von den im Hinterhalte liegenden Eingeborenen angegriffen, mit vergifteten Speerspitzen oder von den vergifteten Pfeilen verwundet, und manche erlagen trotz sorgfältigster Pflege nach Tagen und Wochen im schrecklichen Starrkrampf den gefährlichen Wunden. Die anderen waren von den Mühsalen und der schlechten Nahrung erschöpft – und immer war noch das Ende der Wildniß unabsehbar. Am 1. September 1887 war man damit beschäftigt, das Boot über Land zu befördern, um eine Stromschnelle zu umgehen. Da stürzte der europäische Diener Stanleys herbei und schrie: „Herr, o Herr, Emin Pascha ist angekommen!“
„Emin Pascha?“
„Ja, Herr! Ich habe ihn in einem Kanoe selbst gesehen. Seine rothe Flagge, gerade wie die unsrige (die ägyptische), ist am Heck aufgezogen. Es ist ganz gewiß, Herr!“
Bittere Täuschung! Man war mit Manjema[5], Sklavenjägern der Araber, zusammengekommen und näherte sich einer ihrer Ansiedelungen. Der Führer derselben hieß Ugarrowa, früher war er als Uledi Zeltdiener des Entdeckers der Nilquellen, J. Spekes, gewesen.
Stanley wurde von dem Araberhäuptling freundlich empfangen; er rückte weiter ins Innere vor, wo sich etwa 20 Tagemärsche weit eine zweite Kolonie unter Befehl des Arabers Kilonga Longa befinden sollte. 50 Invaliden mußten bereits in dem Lager Ugarrowas zurückgelassen werden. Die Vorhut begegnete wirklich einer Abtheilung der Leute Kilonga Longas und erfuhr, daß sie nur etwa fünf Tagemärsche von der Burg der Sklavenjäger entfernt sei, daß aber dazwischen ein völlig unbewohntes Land liege. Und man hatte schon so lange gehungert! Kapitän Nelson, einer der weißen Offiziere Stanleys, litt an Geschwüren und 52 Neger waren invalid, zu Skeletten abgemagert.
Da wurde beschlossen, daß die Kranken unter Befehl Nelsons in einem Lager am Flusse bleiben, die Gesunden aber Kilonga Longa zu erreichen suchen sollten, um dann den Geschwächten Nahrungsmittel zu bringen.
„Man hätte,“ schreibt Stanley über das Lager Nelsons, „keinen düstereren Ort auswählen können, als diese Terrasse. Rundherum von Felsen umschlossen, war sie von den dunkeln, vom Flußrande bis zur Höhe von etwa 185 m aufsteigenden Waldungen eingeengt und von dem unaufhörlichen Tosen umgeben, welches der kochende wirbelnde Strom und die beiden sich gegenseitig an Getöse überbietenden Wasserfälle verursachten. Die Phantasie schaudert bei dem Gedanken an die hilflose Lage der Verkrüppelten, die verdammt waren, unthätig zu sein, jeden Augenblick das schreckliche Getöse der erzürnten, in unversöhnlicher Wuth dahinstürmenden Gewässer und den eintönigen, anhaltenden Donner der fallenden Wassermassen zu hören, die springenden, rollenden und im ewigen Kampfe um die Herrschaft sich überschlagenden Wellen zu beobachten, wie sie von der unaufhörlichen Kraft der dahinschießenden Strömung in weit auseinandergerissene weiße Schaumfetzen zerpeitscht wurden, und auf die dunklen unbarmherzigen Wälder hinabzublicken, welche sich flußaufwärts und rundherum ausdehnen und beständig in ihrem langweiligen Grün dastehen und über vergangene Zeiten, Jahrhunderte und Generationen trauern. Man denke sich dann die Nacht mit ihrer greifbaren Dunkelheit, dem tiefschwarzen Schatten der bewaldeten Hügel, dem ewigen wüthenden Getöse, dem unaufhörlichen Aufruhr der Katarakte, den unbestimmten Gestalten, welche Nervosität und Furcht schaffen, dem Elend, welches die Einsamkeit und die heranschleichende Besorgniß vor dem Verlassenwerden hervorruft, und man wird sich die wahre Lage dieser armen Leute vergegenwärtigen können.“
Und nicht besser war es mit denjenigen bestellt, welche nach Kilonga Longa am 7. Oktober um 6½ Uhr morgens im Leichenträgerschritt aufgebrochen waren. „Als ich die armen Burschen betrachtete,“ erzählt Stanley, „wie sie ermattet sich weiter schleppten, schien es mir nur einiger Stunden zu bedürfen, um ihr Schicksal zu besiegeln. Noch einen, vielleicht zwei Tage, dann würde das Leben entschwinden. Wie sie mit den Augen das wilde Dickicht nach den rothen Beeren des Phrynium, den hochrothen länglichen herben Früchten des Amomum durchsuchten! Wie sie sich auf die faden Bohnen des Waldes stürzten und nach seinen Schätzen von Schwämmen stierten! Kurz, in dieser schweren Noth, in welcher wir uns befanden, wurde nichts zurückgewiesen, außer Blättern und Holz.“
Freudentage waren es, wenn die Fouragiere hier oder dort verlassene Hütten entdeckten und in ihnen etwas Vorrath gefunden wurde. Ein paar Bananen oder Tassen Mais für den Mann – das bedeutete den Aufschub des Todes. Zu Kilonga Longa waren einige Boten vorausgesandt worden; jetzt mußte auch das Boot zurückgelassen werden unter Obhut Uledis, des kühnen Steuermanns Stanleys auf dessen Kongofahrt durch den dunklen Welttheil. Langsam rückte Stanley vorwärts, der Weg durch das Dickicht führte jetzt bergan und die Ermatteten mußten mit klopfendem Herzen steile Hänge ersteigen, sich fortwährend Bahn hauend. „O, es war ein trauriger, ein unaussprechlich trauriger Anblick, so viele Männer blindlings durch den endlosen Wald sich arbeiten zu sehen, einem Weißen folgend, dessen Ziel niemand kannte und von dem die meisten glaubten, daß er es selbst nicht wüßte. Sie befanden sich schon jetzt in einer wirklichen Hölle des Hungers. Auch mein armer Esel, den ich aus Sansibar mitgebracht hatte, zeigte Symptome, daß es mit ihm zu Ende gehe. Seit dem 26. Juni jeden Tag Arum und Amomum waren keine passende Nahrung für einen zierlichen Esel aus Sansibar, und ich erschoß ihn deshalb, um seinem Elend ein Ende zu machen. Das Fleisch wurde so sorgfältig getheilt, als wenn es das kostbarste Wildpret gewesen wäre, da die wilde, halbverhungerte Menge der Disciplin zu trotzen drohte. Als das Fleisch in unparteiischer Weise vertheilt worden war, entstand eine Prügelei wegen des Fells. Die Knochen wurden ergriffen und zerschlagen, die Hufe stundenlang gekocht, und von meinem treuen Thier blieb nichts übrig als das vergossene Blut und die Haare; eine Schar Hyänen hätten nicht gründlicher mit demselben aufräumen können.“
Die fünf Tagemärsche waren längst vorüber und von den Manjema keine Spur zu sehen. Endlich am 16. Oktober brachen die Pioniere durch ein Dickicht von Amomum und stießen auf eine Straße. Und siehe da, an jedem Baum war das besondere Zeichen der Manjema, eine Entdeckung, welche von der Spitze der Kolonne bis zum letzten Mann der Nachhut von allen wiederholt und mit frohlockendem Jubel aufgenommen wurde. Noch eine Nacht im Walde, dann begegnete man den Bewohnern der Niederlassung, und zwischen schönstehenden Feldern mit Mais, Reis, süßen Kartoffeln und Bohnen rückten die Hungernden in Kilonga Longas Lager Ipoto ein.
Anfangs wurde die Karawane Stanleys freundlich empfangen. „Für uns selbst,“ schreibt er, „erhielten wir drei Ziegen und zwölf Körbe Mais, bei deren Vertheilung jeder Mann sechs Kolben erhielt. Sie dienten uns zu zwei Mahlzeiten, nach denen viele wie ich sich neu belebt und erfrischt gefühlt haben müssen. In den ersten Tagen unseres Aufenthalts in Ipoto litten wir beträchtlich an Mattigkeit. Die Natur giebt uns entweder Hunger und nichts zu essen oder bereitet uns ein Fest und beraubt uns jeglichen Appetits. An diesen zwei Tagen hatten wir reichlich Reis und Pilau sowie geschmortes Ziegenfleisch gegessen und infolgedessen begannen wir an allerlei Beschwerden zu leiden. Die Kauwerkzeuge hatten ihre Funktion vergessen, die Verdauungsorgane wollten die Leckerbissen nicht annehmen und schienen in Unordnung zu sein.“
Die Freundlichkeit der Manjema wurde jedoch abgekühlt, als sie bemerkten, daß Stanley nicht die von ihnen gewünschten Stoffe und Perlen besaß, da diese zum Theil im Lager bei Kapitän Nelson zurückgeblieben, zum Theil auf dem Marsche verloren gegangen waren. Sie verkauften die Lebensmittel immer theurer, [432] und die ausgehungerten Sansibariten trennten sich zunächst von ihrem persönlichen Besitz, von ihren Hemden, Turbanen, Ueberkleidern, Westen, Messern und Gürteln; dann opferten sie für ein paar Maiskolben ihre Munitionstaschen, Lädestöcke, Haumesser und endlich die Remingtongewehre. „Wir waren also,“ ruft Stanley aus, „nachdem wir den schrecklichen Leiden des Hungertodes und dem Schaden, den die vielen wilden Stämme uns hätten zufügen können, entgangen waren, in drohender Gefahr, die Sklaven der arabischen Skaven zu werden.“
Um das Schlimmste zu verhüten, griff Stanley zu abschreckenden Mitteln; ein Sansibarite, der überführt worden war, daß er ein Gewehr entwendet und verkauft hatte, wurde aufgeknüpft. Diese Maßregel stellte die Disciplin wieder her, und die Entschlossenheit machte auch auf die Manjema den gewünschten Eindruck. Aber erst am 26. Oktober konnte der Offizier Mounteney Jephson mit 40 Sansibariten und 30 Manjemasklaven, die genügende Lebensmittel trugen, den Marsch zum Entsatz Nelsons antreten. Auf bereits gebahntem Wege, der von Leichen und Gerippen der verhungerten Karawanenmitglieder bezeichnet war, ging er rasch zurück.
„Sobald es am 29. Oktober Tag wurde,“ heißt es in seinem Berichte an Stanley, „brach ich auf, da ich entschlossen war, Nelson an diesem Tage zu erreichen und die Frage zu entscheiden, ob er noch am Leben sei. In Begleitung von nur einem Mann befand ich mich bald meinen übrigen Leuten weit voraus. Als ich mich dem Lager Nelsons näherte, überkam mich eine fieberhafte Ungeduld, sein Schicksal zu erfahren, und ich drang rasch vor, durch Fluß und Bach, über Ufer und Sumpf, über welche sich unsere verhungernden Leute mit den Abtheilungen des Bootes langsam und mühsam weiter gearbeitet hatten.
Als ich von dem Hügel in Nelsons Lager hinabkam, hörte ich keinen weiteren Laut als das Aechzen zweier Sterbenden in einer nahen Hütte; der ganze Platz hatte das Aussehen des Verlassenseins und der Trauer. Ich ging leise um das Zelt herum und fand Nelson dort sitzen; wir schüttelten uns die Hand, dann wandte der arme Bursche sich ab und seufzte und murmelte etwas über seine sehr große Schwäche. Das Aussehen Nelsons hatte sich sehr verändert; er sah matt und hager aus und hatte tiefe Ringe um die Augen und Linien am Mund. Er erzählte mir von seiner Sorge, als ein Tag nach dem andern verstrich und keine Hilfe kam; endlich war er zu der Ueberzeugung gekommen, daß uns etwas passirt sei und wir gezwungen gewesen seien, ihn zu verlassen. Er hatte hauptsächlich von Früchten und Schwämmen gelebt, die seine beiden Jungen ihm täglich brachten. Von den 56 Mann, die Sie bei ihm gelassen haben, waren nur 5 übrig, und von diesen lagen 2 im Sterben. Alle übrigen waren desertirt oder umgekommen.“
Bonny (einer der weißen Offiziere Stanleys) brachte die Geretteten in die Niederlassung der Manjema nach Ipoto, wo Kapitän Nelson sich allmählich erholte, so daß er später alle weiteren Strapazen des Zuges theilen konnte.
Nachdem Stanley die Kranken unter Obhut Dr. Parkes und das Boot bei Kilonga Longa zurückgelassen hatte, trat er mit der geschmälerten Mannschaft den Weitermarsch an. Er gelangte jetzt in das Land der Balesse, das sich durch eine eigenthümliche Bauart der Dörfer auszeichnet. Auf den ersten Anblick scheinen diese Dörfer ein langes mit schrägem Dach versehenes Gebäude zu sein, welches genau dem First des Daches entlang in der Mitte durchgeschnitten ist, und es sieht aus, als ob beide Hälften des Hauses 6 bis 9 Meter zurückgeschoben und dann an den inneren Seiten mit Brettern bekleidet und mit niedrigen Thüren versehen worden seien, welche die Eingänge in die verschiedenen Gemächer bilden. Der Marsch durch den Wald der Balesse bot neue Schwierigkeiten. Die nachfolgende Schilderung möge uns darüber belehren:
„Eine weitere Eigenthümlichkeit des Balesselandes ist der Zustand seiner Waldlichtungen, die zum Theil sehr ausgedehnt sind, einen Durchmesser bis zu 2½ km haben und sämmtlich überall mit den Ueberresten, Trümmern und Stämmen des Urwaldes bedeckt sind. In der That läßt sich eine Lichtung der Balesse mit nichts besser vergleichen, als mit einem das Hauptdorf umgebenden mächtigen Verhau, über welchen der Reisende sich einen Weg zu suchen [433] hat. Tritt man aus dem Schatten des Waldes heraus, so führt der Pfad anfänglich vielleicht 30 Meter dem Stamme eines großen Baumes entlang, wendet sich dann im rechten Winkel einen Meter längs eines starken Astes und führt darauf einige Schritte über den Erdboden, bis man vor einem gefällten dicken Baume von 1 Meter Durchmesser steht, über den man hinwegklettern muß, um sich im nächsten Augenblicke dem ausgedehnten Geäst eines weiteren Baumriesen gegenüber zu finden, durch welches man kriechen, gleiten und sich winden muß, um festen Fuß auf einem Zweige zu bekommen. Aus dem Geäst gelangt man auf den Stamm, worauf man eine halbe Wendung nach rechts macht, dem an Stärke zunehmenden Baum entlang geht, bis man einen auf und über den ersten hinweg gefallenen Stamm zu erklettern hat, dem man nach einer halben Wendung nach links aufwärts folgt, bis man die Höhe von 6 Metern über dem Erdboden erreicht hat.
Zwischen dem Geäste in dieser Höhe muß man vorsichtig, kaltblütig, überlegt und nervenstark sein. Unter mißlichem, gefährlichem Balanciren setzt man den Fuß auf einen Zweig und steigt dann vorsichtig von der steilen Höhe herab, bis man etwa 2 Meter vom Erdboden ist, von wo man wieder auf einen andern allmählich dünner werdenden Ast springt, um ihn bis zur Höhe von 6 Metern zu verfolgen. Darauf geht es wieder über einen Baumriesen, dann nach dem Erdboden hinab und auf diese Weise stundenlang weiter in der heißen brennenden Sonne und der dumpfen, dunstgefüllten Atmosphäre der Lichtung, bis der Schweiß in Strömen aus den Poren fließt. Dreimal bin ich bei diesen schrecklichen gymnastischen Uebungen nur mit genauer Noth dem Tode entgangen. Ein Mann blieb nach dem Falle auf der Stelle todt, mehrere andere erhielten fürchterliche Verletzungen. Und doch ist der Uebergang über den Verhau für den fast nackten Fuß nicht so gefährlich wie für den Stiefel, namentlich am frühen Morgen, wenn der Thon noch nicht getrocknet ist, und nach einem Regenguß oder wenn die Vorhut die Stämme mit schmierigem Thon beschmutzt hat. Ich bin innerhalb einer Stunde sechsmal gefallen. – Das Dorf steht im Mittelpunkt der Lichtung. Wir haben uns oft, wenn wir zu der Zeit, um welche wir das Lager aufzuschlagen pflegten an einer Lichtung eintrafen, beglückwünscht, dann aber oft noch anderthalb Stunden gebraucht, um das Dorf zu erreichen. Es ist ein seltsamer Anblick, eine mit schweren Lasten beladene Karawane über dieses Wrack eines Waldes, über die mit Stämmen bedeckte Lichtung und die Flüsse, Moräste, Wasserzüge und Gräben schreiten zu sehen, die oft 6 bis 7 Meter unter einem zu passirenden dünnen, nur 15 Centimeter starken, gleichsam eine Brücke bildenden glatten Baum liegen, von dem die Rinde herabgefallen ist. Einige Leute stürzen, andere taumeln, einer oder zwei sind bereits gefallen, einige befinden sich in der Höhe von 6 Metern, andere kriechen auf dem Erdboden unter den Bäumen hindurch; viele dringen durch ein Gewirr von Aesten, dreißig Mann oder mehr stehen auf einem einzigen geraden, dünnen Stamm, etliche sind wie Schildwachen auf einen Zweig postirt und wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen. Alles das wird aber noch viel beschwerlicher und viel gefährlicher, wenn aus hundert Richtungen die todbringenden Pfeile der im Hinterhalt verborgenen Eingeborenen herumfliegen, die, Gott sei Dank, nicht sehr zahlreich waren. Wir waren so vorsichtig, daß dies nicht oft vorkam, obwohl wir selten eine dieser schrecklichen Lichtungen haben verlassen können, ohne daß diesem oder jenem der Fuß durch ein spitzes Holzstück verletzt oder der eine oder andere gelähmt worden war.“
In dem Distrikt Ibwiri erreichte die Karawane zunächst die Grenze der Verwüstungen der Manjema und fand reichliche Lebensmittel. Gestärkt trat sie den Weitermarsch an und stand bald darauf auf der Spitze eines Berges, von dem sie über das grüne Dach des grausamen Waldes nach dem Graslande, den gesegneten Weiden von Aequatoria, hinüberblickte. Frohen Muthes stiegen alle von dem Berge Pisgah ins Thal, in einigen Tagen mußte ihre bittere Noth ein Ende erreichen, und wahrlich, am 5. Dezember stießen sie auf ein Dorf mit runden Hütten, deren spitze Dächer [434] mit Gras bedeckt waren. Dieser Anblick versetzte alle in ungestüme Freude, und ein Bursche aus dem Zuge stürmte vorwärts und küßte das dürre Gras. Dann zerstreuten sich einige Leute, und einige kehrten mit frischen grünen Grasbüscheln zurück und wurden von den im Lager Zurückgebliebenen mit derselben Freude begrüßt wie die Taube mit dem Oelzweige vom Vater Noah und seiner Familie!
Am 13. Dezember endlich erreichte die Karawane den Rand eines Hochplateaus, zu dessen Füßen sich das ersehnte Ziel ihrer Reise, der Albertsee, ausbreitete. Aber eine Enttäuschung ward ihr zu Theil – Emin Pascha, der zu Befreiende, war nicht da! Stanley entschloß sich, da er den weiteren Landmarsch nach Wadelai mit seiner erschöpften Mannschaft nicht wagte, das Boot aber bei Kilonga Longa zurückgelassen hatte, zu dessen Station zurückzukehren und sein Fahrzeug herbeizuholen. Für alle Fälle wurde unterwegs in dem fruchtbaren Bezirke Ibwiri das Fort Bodo, das „Friedensfort“, angelegt. Dann ging’s abermals vorwärts nach dem Albertsee, und hier erfolgte endlich – am 29. April 1888 – das erste Zusammentreffen mit Emin.
Stanley hatte nun dem „Geretteten“ drei Vorschläge zu unterbreiten, die sich in der Kürze dahin zusammenfassen lassen: 1) Emin und seine Truppen verlassen mit Stanley die von Aegypten aufgegebene Provinz, ziehen hinab nach Sansibar und kehren von da nach Kairo zurück; wollen sie aber in der Aequatorprovinz bleiben, so mögen sie dies auf ihre eigene Verantwortung thun. 2) Emin übergiebt seine Provinz an den Kongostaat und tritt selbst in dessen Dienste. 3) Emin Pascha macht mit seinen Soldaten Eroberungen für die britisch-ostafrikanische Gesellschaft.
Zur unangenehmen Ueberraschung Stanleys ging aber Emin auf keinen dieser Vorschläge ein, sondern berief sich einfach auf die Entscheidung seiner Leute, deren Schicksal er auch ferner zu theilen gesonnen sei. So ging denn der schon genannte Mounteuey Jephson mit Emin nach dessen Provinz ab, um dort diese Entscheidung einzuholen. –
Die in Jambuja zurückgelassene Nachhut Stanleys war inzwischen nicht eingetroffen, und Stanley entschloß sich, noch einmal den Weg durch den Wald nach Jambuja zurückzulegen, um die Hauptvorräthe zu holen.
Auf dem bereits gebahnten Wege drang er rasch bis Banalja, wenige Tagemärsche oberhalb Jambuja, vor, wo er die Trümmer der Nachhut fand und erfuhr, daß Major Barttelot von einem Skaven Tippu-Tibs erschossen worden war. Er ordnete die Nachhut frisch und brach zum dritten Male nach dem Albertsee auf.
In den von den Sklavenjägern ausgeplünderten Distrikten trat noch einmal das furchtbare Gespenst der Hungersnoth an die vielgeprüfte Expedition heran. Das geschah im Dezember 1888 in der Nähe des Zusammenflusses des Ihuru und des Dui.
In den Bananenpflanzungen von Ngwetsa ließ Stanley jeden Mann genügenden Mundvorrath mitnehmen, um damit Fort Bodo zu erreichen, bei welchem von der Expedition Felder bestellt worden waren. Alles lief verhältnismäßig gut ab. Man bestand Kämpfe mit den Eingeborenen, schlug sie aber immer zurück; auch einige Zwerge wurden gefangengenommen und sagten unter anderem aus, daß man in einigen Tagen eine herrliche Bananenpflanzung erreichen werde. Stanley ahnte nicht, wie verhängnißvoll die Aussage der Zwerge für ihn werden sollte. Er erfuhr es erst am 8. Dezember. Bald nachdem das Zelt des Hauptquartiers aufgeschlagen und das aus blattreichen Pflanzen bestehende Unterholz etwas ausgerodet war, beobachtete Stanley einen jungen Burschen, welcher wankte. Er ging zu ihm und fragte ihn nach der Ursache, woraus er zu seiner Ueberraschung erfuhr, daß Schwäche infolge Mangels an Lebensmitteln der Grund seines schwankenden Ganges sei. „Habt Ihr denn Eure ganzen fünftägigen Rationen schon aufgegessen?“
Nein, er hatte sie fortgeworfen, weil die gefangenen Zwerge gesagt hatten, daß sie in einem Tage eine Pflanzung erreichen würden, die wegen ihrer Bananen, „der größten in der Welt“, berühmt sei.
Nachforschungen im Lager ergaben, daß mindestens 150 Leute dasselbe gethan hatten und nun nichts mehr besaßen. Man war wieder in einem Hungerlager. Ngwetsa war nur 19½ Marschstunden entfernt. Am 9. Dezember morgens brachen darum etwa 200 Mann nach den Bananenpflanzungen auf, nachdem sie für die 130 Personen im Lager etwa 200 Pfund Mehl zurückgelassen hatten.
Tage vergingen und die Fouragierer kehrten nicht zurück.
Die Leute sahen jämmerlich aus. Stanley öffnete die Kisten mit europäischem Proviant und vertheilte Butter und kondensirte Milch zur Verbesserung der Mehlsuppe, je einen Topf Butter und Milch für 130 Personen, die sich nach dieser Mahlzeit im Walde zerstreuten, um Beeren und Pilze zu suchen. Einige verirrten sich und wurden vermißt, andere starben im Lager.
„Nachts auf meinem Lager,“ schreibt Stanley, „beunruhigte mich der Gedanke an die Abwesenden; aber wie unangenehm die Idee, daß ein schreckliches Unglück – sie konnten sich im Walde verirrt haben und vor Hunger zusammengebrochen sein, ehe sie die Bananenpflanzung erreicht hatten – sich ereignet habe, auch sein mochte, ich konnte nicht umhin, auch die dunkelsten Aussichten zu berücksichtigen und das Schlimmste zu erwarten, um wenn möglich die Ueberbleibsel der Expedition zu retten, damit die Nachricht an den Pascha und durch ihn eines Tages an die Civilisation gelange. Ich malte mir aus, daß die ganze Kolonne in diesem Lager umgekommen sei, wie der Pascha einen Monat nach dem andern sich wunderte, was aus uns geworden sei, wie wir in diesem unbekannten Winkel des großen Waldes vermoderten und verwesten, jedes Zeichen an den Bäumen verwuchs und jede Spur von uns innerhalb eines Jahres verwischt sein würde, so daß unser Begräbnißplatz auf ewige Zeiten unbekannt bleiben würde. In der That schien es mir, als ob wir gerade solchem Schicksal stetig entgegengetrieben würden. Da waren ungefähr 200 Mann, welche ohne Lebensmittel 55 km weit gingen, um solche zu suchen. Nicht 150 von ihnen würden den Ort erreichen, die übrigen würden sich wie die Madi[6] auf den Boden werfen, um zu warten und von den andern zu betteln, falls diese etwa zurückkehren sollten. Und wenn den 50 Tapfersten ein Unglück zustieß, was dann? Einige werden einzeln von den Zwergen niedergeschossen, die übrigen im ganzen von den größern Eingeborenen angegriffen. Die Leute haben keinen Führer, sie zerstreuen sich, verlieren den Kopf, verirren sich und werden einer nach dem andern von den Speeren der Wilden niedergemacht. Während wir warten und ewig warten auf Leute, die nicht wiederkehren können, sterben die meinigen erst zu dreien, sechsen, zehnen, zwanzigen, bis alles vorüber ist, wie ein erloschenes Licht. Nein, es muß irgend etwas geschehen. – –
Bonny (der oben genannte Offizier Stanleys) erbot sich, mit 10 Mann im Lager bei den Vorräthen zu bleiben, wenn ich für ihn und die Leute Lebensmittel für zehn Tage, die Zeit, welche wir fort zu sein beabsichtigten, zurücklassen würde. Das Material, um eine dünne Brühe für eine so kleine Zahl auf zehn Tage zu bereiten, war nicht schwer zu finden. Wir maßen eine halbe Tasse voll Maismehl pro Kopf für 13 Mann und zehn Tage und zählten 4 Milchbiskuits pro Mann und Tag ab; außerdem ließen wir ihnen noch einige Büchsen mit Butter und kondensirter Milch zur Verbesserung der Mehlsuppe zurück. Für diejenigen, welche nicht gewillt oder nicht imstande waren, uns zu den Bananen zu folgen, vermochten wir nichts zu thun. Was eine kleine Besatzung von 13 Mann viele Tage unterhalten konnte, würde das Leben von 50 Leuten nicht retten, die schon so schwach waren, daß nur eine große Menge des leicht verdaulichen Bananenmehls sie möglicherweise noch erhalten konnte.
Am Morgen des 15. Dezember musterten wir alles, was im Lager noch am Leben war. Der Manjema-Anführer Sadi meldete, daß von seinen Leuten 14 nicht imstande seien, sich zu bewegen; Kibbobora berichtete, daß von seiner Abtheilung nur sein kranker Bruder nicht gehen könne, und bei Fundi war nur ein Weib und ein kleiner Knabe zu schwach für den Marsch. Die Expedition mußte 43 Personen zurücklassen, die der Auflösung nahe waren, wenn nicht innerhalb 24 Stunden Lebensmittel herbeigeschafft wurden. Einen hoffnungsvollen Ton anschlagend, obwohl das Herz mir fast brach, sagte ich ihnen, sie sollten guten Muthes sein, ich würde die Abwesenden aufspüren, die sich vermuthlich vollstopften. Höchst wahrscheinlich würde ich ihnen unterwegs begegnen, in welchem Falle sie den ganzen Weg zum Lager zurück springen sollten. ‚Betet inzwischen für meinen Erfolg. Gott allein kann euch jetzt helfen!‘“
[435] Noch eine furchtbare Nacht im Walde; dann stieß man am 16. Dezember auf die heimkehrenden mit großen Haufen grüner Früchte beladenen Fouragierer, und nachdem der erste Hunger gestillt worden war, eilte man zurück in das Hungerlager, wo die Ersehnten willkommen geheißen wurden, wie nur Sterbende die Hand willkommen heißen können, welche sie retten will.
Es war im Januar 1889, als Stanley zum dritten Male am Albertsee eintraf; aber Emins Schicksal hatte sich inzwischen ganz anders entschieden, als man noch vor 8 Monaten hatte annehmen können. Die Aegypter hatten gemeutert, Emin und Jephson verhaftet, und obwohl der Einbruch der Mahdisten den Gefangenen die Freiheit wiederbrachte, so hatte doch Emin über keine Provinz und keine Truppen mehr zu verfügen. Nunmehr blieb nichts anderes mehr übrig als der Rückzug nach Sansibar. Emin war „gerettet“, aber von den wichtigen, vielleicht wichtigsten Nebenzwecken der Stanleyschen Unternehmung war keiner erreicht.
Wenn die Bewohner des offenen Landes, der Grasebene, sich nur bei der ersten Begegnung den Fremden feindlich gegenüberstellten und dann, von der furchtbaren Wirkung der Feuerwaffen belehrt, sich vor den Mächtigeren beugten, verhielten sich die Stämme des Waldes ganz anders. Bei den wiederholten Zügen der Karawane durch die Waldwildnisse hatten sie bald in Erfahrung gebracht, daß sie, da ihnen die Wildniß genau bekannt war, vor den Fremden im Vortheil seien. Sie konnten ihre vergifteten Pfeile aus dem Versteck abschießen, sie konnten einzeln Dahinziehende überrumpeln und niederstechen und machten von dieser Kriegslist gerade beim letzten Marsch Stanleys durch den Wald den ausgiebigsten Gebrauch.
In hinterlistigen Ueberfällen zeichneten sich namentlich die Zwerge aus. Seit uralten Zeiten wurde das Innere Afrikas als die Heimath der Zwerge betrachtet. Seit den Reisen Schweinfurths im Monbuttulande weiß die Welt, daß die Pygmäen keine Sagengestalten sind. Schweinfurth hat den Zwergstamm der Akka entdeckt, die vermuthlich entfernte Verwandte der Buschmänner in Südafrika sind. Zwergstämme sind auch in Westafrika im Aschantilande, in dem Kongobecken als Waldnomaden gefunden worden, und man nimmt an, daß sie den Rest einer Urbevölkerung Afrikas bilden. Ihre Lebensweise ist überall die gleiche. Sie leben von der Jagd, benutzen vergiftete Pfeile, nomadisiren im Walde. Auch die Zwergstämme, denen Stanley begegnete, zeigen dieselben Charakterzüge, wie dies die nachfolgenden Stellen aus den Schilderungen Stanleys darthun:
„Zerstreut unter den Balesse zwischen Ipoto und dem Berge Pisgah im Lande zwischen den Flüssen Ngaiju und Ituri, einer Region, welche etwa zwei Drittel so groß ist wie Schottland, leben die Wambutti, die auch Batua, Akka und Basungu genannt werden. Diese Leute sind Nomaden von weniger als normaler Größe, Zwerge oder Pygmäen, leben in dem ungelichteten Urwalde und ernähren sich von Wild, das sie sehr geschickt zu fangen verstehen. Ihre Größe ist verschieden, von 90 cm bis 1,4 m. Ein ausgewachsener männlicher Zwerg wiegt 40 kg. Sie schlagen ihre Dorflager in der Entfernung von 3–5 km im Umkreise um einen Stamm der ackerbautreibenden Eingeborenen auf, von denen die meisten schöne kräftige Leute sind. Um eine große Lichtung haben sich vielleicht 8, 10 oder 12 getrennte Gemeinden dieser kleinen Leute niedergelassen, die insgesammt 2000–2500 Seelen zählen mögen. Mit ihren Waffen, kleinen Bogen und Pfeilen, deren Spitzen dick mit Gift beschmiert sind, und Speeren, tödten sie Elefanten, Büffel und Antilopen; außerdem graben sie Gruben und bedecken sie in geschickter Weise mit leichten Stöcken und Blättern, worauf sie Erde streuen, um die unten drohende Gefahr den ahnungslosen Thieren zu verbergen. Sie stellen schuppenartige Bauwerke her, deren Dach an einer Ranke hängt, und breiten Nüsse oder reife Bananen darunter aus, um die Schimpansen, Paviane und sonstige Affen hineinzulocken, worauf bei der geringsten Bewegung die Falle zufällt und die Thiere gefangen sind. Längs der Fährten der Zibethkatzen, Bandiltisse, Ichneumone und kleiner Nagethiere stellen sie Bogenfallen auf, welche dieselben beim eiligen Durchschlüpfen festhalten und erdrosseln. Außer dem Fleisch des geschlachteten Wildes benutzen sie die Haut, um Schilde herzustellen, den Pelz und das Elfenbein; ferner fangen sie Vögel der Federn wegen, sammeln Honig im Walde, bereiten Gift und verkaufen alles an die größern Eingeborenen für Bananen, süße Kartoffeln, Tabak, Speere, Messer und Pfeile. Der Wald würde bald von Wild entblößt sein, wenn die Zwerge sich nicht auf wenige Quadratmeilen um die Lichtungen beschränkten; sobald das Wild spärlich wird, sind sie daher gezwungen, nach andern Niederlassungen weiterzuziehen.
Sie leisten übrigens den ackerbautreibenden größer gewachsenen Klassen der Eingeborenen noch weitere Dienste. Sie sind vorzügliche Kundschafter und ermöglichen durch ihre bessere Kenntniß in den Wirrsalen des Waldes, rasch Nachrichten von dem Herannahen von Fremden zu erhalten und ihren angesessenen Freunden Mittheilung davon zu machen. Sie sind alle gewissermaßen freiwillige Posten, welche die Lichtungen und Ansiedelungen bewachen. Jeder Pfad, gleichviel nach welcher Richtung er geht, führt durch ihr Lager; ihre Dörfer beherrschen jeden Kreuzweg. Gegen fremde Eingeborene, welche angriffslustig sind, würden sie sich mit ihren größern Nachbarn vereinigen, und sie sind als Feinde keineswegs zu verachten. Wenn Pfeil dem Pfeil, Gift dem Gift und Verschlagenheit der Verschlagenheit gegenübersteht, dann wird vermuthlich diejenige Partei gewinnen, der die Zwerge beistehen. Ihre kleine Gestalt, bessere Weidmannskunst und größere Böswilligkeit würden sie zu sehr starken Gegnern machen, und das sehen die ackerbautreibenden Eingeborenen sehr gut ein. Manchmal dürften sie allerdings wünschen, daß die kleinen Leute sich sonstwohin begeben möchten, da die Bevölkerung der nomadischen Gemeinden oft zahlreicher ist als diejenige der Niederlassung und letztere für kleine und oft unzureichende Gegengaben an Pelzen und Fleisch den Zwergen freien Zutritt zu ihren Bananenhainen und Gärten lassen muß. Mit einem Wort, keine Nation der Welt ist frei von menschlichen Schmarotzern; die Stämme des centralafrikanischen Waldes haben viel von diesen kleinen wilden Leuten zu ertragen, welche sich an die Lichtungen heften und ihren Nachbarn schmeicheln, wenn sie gut genährt werden, sie aber sonst durch ihre Erpressungen und Räubereien bedrücken.
Die Zwerge stellen ihre Wohnungen, niedrige Bauwerke in Gestalt eines der Länge nach durchschnittenen eiähnlichen Körpers mit einer Thür von 60 bis 90 cm Höhe an jedem Ende, roh in einem Kreise auf, dessen Mittelpunkt für die Residenz des Häuptlings und seiner Familie, sowie als gemeinsamer freier Platz reservirt ist. Etwa 100 m vor dem Lager befindet sich auf jedem Pfade ein Schilderhaus, das gerade groß genug für zwei der kleinen Leute ist und auf den Weg hinausblickt.
Es giebt unter diesen Zwergen zwei Nationen, die sich an Hautfarbe, Form des Kopfes und charakteristischen Gesichtszügen durchaus unähnlich sind. Ob die Batua die eine und die Wambutti die andere Nation bilden, wissen wir nicht, jedoch unterscheiden sie sich ebensosehr voneinander wie der Türke von dem Skandinavier. Die Batua haben längliche Köpfe, lange, schmale Gesichter und röthliche kleine, nahe zusammenstehende Augen, die ihnen einen mürrischen, ängstlichen und zänkischen Blick geben. Die Wambutti haben ein rundes Gesicht, gazellenartige, weit voneinander entfernte Augen, hohe Stirn, die ihnen den Ausdruck unverhüllter Offenheit giebt, und sind von dunkelgelber Elfenbeinfarbe. Die Wambutti bewohnen die südliche, die Batua die nördliche Hälfte des geschilderten Distrikts und dehnen sich auf beiden Ufern des Semliki und östlich vom Ituri, südöstlich bis zu den Wäldern von Awamba aus.
Das Leben in den Walddörfern ähnelt demjenigen der ackerbautreibenden Klassen. Die Weiber verrichten alle Arbeit, indem sie Brennholz und Lebensmittel sammeln, kochen und den Transport der Güter der Gemeinde übernehmen, die Männer jagen und kämpfen, rauchen und besorgen die Politik des Stammes. Einiges [436] Wild ist stets im Lager, außerdem auch Pelze, Federn und Häute. Sie fertigen Fischnetze und Fallen für kleineres Wild an. Die Knaben müssen sich stets mit Bogen und Pfeil üben, da wir niemals eins der Zwergendörfer passiert haben, ohne mehrere ganz kleine Bogen und Pfeile mit abgestumpften Spitzen zu sehen; auch scheinen sie reichlichen Gebrauch von den Aexten zu machen, da die Bäume ringsumher viele Zeichen tragen, die nur von dem Probieren der Aexte herrühren konnten. Ferner fanden wir in jedem Lager einen Baum mit Einschnitten von mehreren Zoll Tiefe, sowie etwa 450 m von dem Lager eine Anzahl rautenförmiger Einschnitte auf der quer über den Weg liegenden Wurzel eines Baumstammes, die uns jedesmal anzeigten, daß wir uns einem Dorfe der Wambutti-Zwerge näherten.“
Das sind nur einige Proben aus der Fülle der eigenartigsten Erscheinungen, welche uns Stanleys Werk aus dem centralafrikanischen Wald am Aruwimi mittheilt. Nicht minder merkwürdig sind die Abschnitte, die uns mit den Völkern des Graslandes bekannt machen und in denen das schneebedeckte Mondgebirge, Ruwenzori, der „Wolkenkönig“, geschildert werden. Der Naturforscher und der Geograph werden das neueste Werk Stanleys mit demselben Interesse verfolgen, wie sein berühmtes „Durch den dunklen Welttheil“. Die große Masse der Leser werden die zahlreichen Abenteuer, die Kämpfe und Gefahren fesseln, und der Kolonialpolitiker wird vieles über das Verhältniß Stanleys zu Emin daraus erfahren. Leider ist diese Seite des Buches, an und für sich in unseren Tagen die spannendste und wichtigste, keineswegs eine Glanzseite desselben; denn wir erfahren daraus, daß, ganz abgesehen von den verschiedenen politischen Zielen, persönliche Gegensätze die beiden hervorragenden Männer in solchen Zwiespalt versetzt haben, so daß der Gerettete zuletzt bedauerte, sich dem Retter angeschlossen zu haben, und sogar bei den Missionaren am Viktoriasee zurückbleiben wollte!
Stanley hofft selbst, daß alles, was in seinem Werke von Emin Pascha berichtet ist, „dem hohen Begriffe von unserem Ideal“ nicht den geringsten Abbruch thun werde. Es ist aber unmöglich zu verkennen, daß die Haltung seines Buches mit diesem Ausspruch schwer in Einklang zu bringen und eher geeignet ist, Emins Größe in den Augen Europas zu verdunkeln. Uns Deutschen ist diese Haltung nur ein Grund mehr, an der Bewunderung für unsern großen Landsmann standhaft festzuhalten, bis er selbst einst auftreten wird, um wie einst seine Provinz gegen seine Feinde so seinen Namen gegen die Angriffe seines Befreiers zu vertheidigen.
Alle Rechte vorbehalten.
Flammenzeichen.
Der nächste Tag brachte klares Frostwetter, aber die Kälte hatte einigermaßen nachgelassen und die Sonne schien hell herab. In dem Quartier des Fürsten Adelsberg befanden sich Eugen Stahlberg und Walldorf, von welchen der letztere heute dienstfrei war, wenn auch gezwungenermaßen. Er war gestern bei der Rückkehr von der Feldwache auf dem eisglatten Boden gestürzt und hatte sich eine Verletzung der Hand zugezogen, die ihn hinderte, heute morgen mit seiner Kompagnie auszurücken, wie Egon es gethan hatte. Die Herren warteten auf ihren fürstlichen Kameraden, der bald zurückkehren mußte, und unterhielten sich inzwischen damit, Peter Stadinger zu necken, der heute pflichtschuldigst bei seinem Herrn erschienen war und nun gleichfalls wartete.
Die jungen Offiziere wußten noch nichts von der Nachricht, die man gestern im Hauptquartier erfahren hatte, sie waren daher in bester Laune und gaben sich alle mögliche Mühe, auch jetzt wieder Stadingers vielgerühmte Grobheit hervorzurufen. Aber das wollte heute nicht glücken; der Alte blieb wortkarg und verschlossen, er fragte nur immer wieder, wann denn Durchlaucht zurückkäme und ob es ein ernstes Gefecht sei, zu dem Durchlaucht ausgerückt wäre, bis Walldorf endlich die Geduld verlor.
„Ich glaube, Stadinger, Sie packten den Fürsten am liebsten ein und nähmen ihn mit nach Ihrem bombensicheren Rodeck,“ sagte er ärgerlich. „Die Aengstlichkeit müssen Sie sich hier im Kriege abgewöhnen, merken Sie sich das!“
„Und überdies ist der Fürst heute nur auf Rekognoscirung,“ fiel Eugen ein. „Er macht mit seinen Leuten vom Kapellenberge aus nur einen kleinen Spaziergang in die benachbarten Thäler und Schluchten, um festzustellen, wie es da eigentlich aussieht. Man wird vermuthlich nur einige Liebenswürdigkeiten mit den Herren Franzosen austauschen und sich dann höflich zurückziehen, die Unhöflichkeiten folgen erst in den nächsten Tagen.“
„Aber geschossen wird doch auch dabei?“ fragte Stadinger mit so angstvoller Miene, daß die beiden Offiziere laut auflachten.
„Ja, geschossen wird auch dabei,“ bestätigte Walldorf. „Sie scheinen eine heillose Angst vor dem Schießen zu haben und sind doch weit genug davon.“
„Ich?“ Der Alte richtete sich tiefbeleidigt auf. „Ich wollte, ich könnte mit dabei sein!“
„Wohl um Ihre vielgeliebte Durchlaucht zu schützen? Das würde sich der Fürst verbitten. Sie würden ihn am Rockschoße festhalten und fortwährend rufen: ‚Nehmen Sie sich in acht, Durchlaucht, da kommt eine Kugel!‘ Das müßte sich köstlich ausnehmen!“
„Herr Lieutenant,“ sagte der Alte so ernst, daß der Spottlustige verstummte, „das sollten Sie doch einem alten Jäger nicht anthun, der früher oft genug den Gemsen nachgestiegen ist und geschossen hat, wo er kaum einen fußbreit Raum zum Stehen hatte. Mir ist nur heute so schwer und angst zu Muthe – ich wollte, der Tag wär’ erst vorbei!“
„Nun, es war nicht schlimm gemeint,“ begütigte Eugen. „Wir glauben es Ihnen schon, Stadinger, Sie sehen nicht aus wie jemand, der sich fürchtet. Aber mit Ihrer ‚ahnungsvollen‘ Stimmung bleiben Sie uns vom Leibe, darauf giebt man nichts mehr, wenn man so und so viele Male im Kugelregen gestanden hat. Wenn wir glücklich wieder daheim sind, komme ich mit meiner Schwester nach Ostwalden, und dann wollen wir auch gute Nachbarschaft mit Rodeck halten. Der Fürst liebt sein altes Waldnest ja so sehr! – Und nun lassen Sie Ihre grämliche Miene fahren, da kommt er ja schon zurück!“
In der That vernahm man draußen auf der Treppe einen raschen Schritt; der Alte athmete erleichtert auf, aber es war nur der Bursche Egons, der in der geöffneten Thür erschien.
„Nun, kommt Seine Durchlaucht?“ fragte Walldorf; aber Stadinger ließ dem Manne keine Zeit zur Antwort. Er hatte einen Blick auf sein Gesicht geworfen, nur einen einzigen, und plötzlich faßte er mit krampfhaftem Griffe seine Hand.
„Was ist’s? Wo – wo ist mein Herr?“
Der Bursche zuckte traurig die Achseln und deutete stumm auf das Fenster; die beiden Offiziere eilten bestürzt dorthin, aber Stadinger nahm sich keine Zeit dazu. Er stürzte hinaus, die Treppe hinunter, in das Gärtchen, das sich vor dem Hause befand, und sank dort mit einem lauten Aufschrei in die Kniee vor der Bahre, die zwei Krankenträger soeben niedersetzten und auf welcher eine jugendliche Gestalt ausgestreckt lag.
„Still!“ sagte der Arzt, der den traurigen Zug begleitet hatte und jetzt herantrat. „Beherrschen Sie sich, der Fürst ist schwer verwundet!“
„Das sehe ich!“ keuchte der Alte. „Aber nicht tödlich – nicht wahr, nicht tödlich? – Sagen Sie es doch nur, Herr Doktor!“
Er blickte zu dem Arzte auf mit so verzweiflungsvollem Flehen, daß dieser nicht das Herz hatte, ihm die Wahrheit zu sagen. Er wandte sich zu den beiden Offizieren, die jetzt auch herbeieilten und ihn mit leisen, angstvollen Fragen bestürmten.
„Eine Kugel in der Brust,“ antwortete er ebenso leise. „Der Fürst verlangte, nach seinem Quartier gebracht zu werden, und wir haben bei der Herschaffung alle mögliche Sorgfalt angewendet, aber es geht doch schneller zu Ende, als ich dachte.“
„Also tödlich?“ fragte Walldorf.
[437] „Unbedingt tödlich!“ Der Arzt gab den Krankenträgern, die ihre Last eben wieder aufnehmen wollten, um sie in das Haus zu tragen, einen Wink, davon abzustehen.
„Lassen Sie! Der Fürst scheint seinem Diener noch etwas sagen zu wollen, und hier handelt es sich nur noch um Minuten.“
Stadinger sah und hörte nichts von dem, was neben ihm verhandelt wurde, er sah nur auf seinen Herrn. Egon schien bewußtlos zu sein, das blonde Haupt war matt zurückgesunken, die Augen geschlossen, und unter dem Mantel, mit dem man ihn bedeckt und der sich etwas verschoben hatte, wurde die geöffnete blutgetränkte Uniform sichtbar.
„Durchlaucht!“ flehte der Alte der Warnung des Arztes eingedenk halblaut, aber in einem herzzerreißenden Tone. „Sehen Sie mich doch an, reden Sie doch zu mir! Ich bin’s ja, der Stadinger!“
Die bekannte Stimme fand den Weg zu dem Ohre des Schwerverwundeten; er schlug langsam die Augen auf und ein mattes Lächeln flog über seine Züge, als er den Alten erkannte, der neben ihm knieete.
„Mein alter Waldgeist,“ sagte er leise, „dazu mußtest Du herkommen!“
„Aber Sie werden ja doch nicht sterben, Durchlaucht!“ murmelte Stadinger, der am ganzen Leibe bebte, aber doch keinen Blick von seinem sterbenden Herrn verwandte. „Nein, nicht sterben – gewiß nicht!“
„Meinst Du, daß das so schwer ist?“ sagte Egon ruhig. „Gestern – Du hast ganz recht gesehen – da war mir schwer ums Herz, jetzt ist es leicht. Grüße mir mein Rodeck und meine Wälder und – sie auch, die Schloßherrin von Ostwalden.“
„Wen? Frau von Wallmoden?“ fragte Stadinger, fast entsetzt über diese Wendung.
„Ja – bringe ihr meinen letzten Gruß – sie soll bisweilen an mich denken!“
[438] Die Worte kamen mühsam, abgebrochen von den Lippen, die bereits ihren Dienst zu versagen schienen, aber sie ließen doch keinen Zweifel über die Bedeutung dieses Grußes. Eugen war aufgefahren, als er den Namen seiner Schwester hörte, und beugte sich jetzt über den sterbenden. Dieser sah nach den Bruder Adelheids, er erkannte die Züge, die den ihren so ähnlich waren, und wieder flog jenes Lächeln über sein Antlitz. Dann legte er ruhig und matt das blonde Haupt an die Brust seines alten „Waldgeistes“, und die schönen sonnigen Augen schlossen sich für immer.
Es war ein kurzer, schmerzloser Todeskampf, fast ein Entschlummern. Stadinger regte sich nicht, gab keinen Laut von sich, denn er wußte, daß das seinem jungen Herrn wehethun würde, den er als Kind auf den Armen getragen hatte und der nun in seinen Armen den letzten Athemzug that. Als es aber vorbei war, da brach auch die Fassung des Alten zusammen, er warf sich verzweiflungsvoll über den Todten und weinte wie ein Kind.
Auch drüben, jenseit der Bergpässe, leuchtete die klare, helle
Wintersonne dem neuen Erfolge, den die siegreichen deutschen
Truppen errungen hatten. Die Verhandlungen mit dem Kommandanten
von R. waren zum Abschluß gebracht, die Festung
übergeben. Soeben zog die kriegsgefangene Besatzung ab, während
ein Theil der Sieger bereits eingerückt war.
Auf dem Hauptplatze der tiefer gelegenen Stadt hielt General Falkenried mit seinem Stabe, gleichfalls im Begriff, nach der Festung aufzubrechen. In dem Sonnenschein sah man die Helme und Gewehre der Mannschaften blitzen, die den Weg zur Citadelle hinaufzogen und denen immer neue Abtheilungen folgten. Falkenried hatte noch verschiedene Befehle ertheilt, jetzt setzte er sich an die Spitze seiner Offiziere und gab das Zeichen zum Aufbruch.
Da kam von der Hauptstraße her in rasendem Galopp ein Reiter angejagt, das edle Thier, das er ritt, war mit Schweiß und Schaum bedeckt und die Weichen bluteten von den scharfen Sporen, die es immer wieder angestachelt hatten, wenn ihm die Kraft zu versagen drohte. Aber auch das Gesicht des Reiters war entstellt von dem Blute, das unter dem um die Stirn gewundenen Tuch niederrieselte. Wie vom Sturm getragen flog er heran, so daß alles aus seinem Wege stob, erreichte den Platz, und sprengte mitten durch die Offiziere auf den General zu.
Aber wenige Schritte vor dem Ziele erlag die Kraft des Thieres, es stürzte zusammen. Doch in demselben Augenblick sprang der Reiter auch aus dem Sattel und eilte stürmisch auf den Oberbefehlshaber zu.
„Vom kommandirenden General!“
Falkenried zuckte zusammen beim ersten Worte, er hatte das vom Blute entstellte Antlitz nicht erkannt, er sah nur, daß der Mann, der so auf Tod und Leben daherjagte, eine dringende Botschaft bringen mußte, erst beim Klange dieser Stimme blitzte eine Ahnung der Wahrheit in ihm auf.
Hartmut schwankte und legte einen Augenblick die Hand an die Stirn – es schien, als wollte er wie sein Roß zusammenstürzen, aber er raffte sich gewaltsam wieder auf.
„Der General läßt warnen – es wird Verrath geplant, die Festung fliegt in die Luft, sobald die Besatzung abgezogen ist – hier ist die Depesche!“
Er riß ein Papier hervor und reichte es Falkenried. Die Offiziere waren aufgefahren bei der entsetzlichen Nachricht und umdrängten ihren Befehlshaber, als erwarteten sie von ihm die Bestätigung des Unglaublichen, aber sie hatten einen seltsamen Anblick. Ihr General, dessen eiserne Ruhe sie alle kannten, der nie die Fassung verlor, selbst wenn das Unerhörteste hereinbrechen mochte, er war todtenbleich geworden und starrte den Redenden an, als sei ein Gespenst vor ihm aus dem Boden emporgestiegen, während er das Papier noch uneröffnet in der Hand hielt.
„Herr General – die Depesche!“ mahnte halblaut einer der Adjutanten, der den Vorgang so wenig begriff wie die anderen. Aber das war genug, um Falkenried zur Besinnung zu bringen. Er riß die Depesche auf und durchflog sie, und jetzt war er wieder der Soldat, der nichts kannte als seine Pflicht.
Mit lauter, fester Stimme gab er seine Befehle, die Offiziere sprengten davon, Kommandorufe und Signale wurden in allen Richtungen laut, und wenige Minuten später sah man bereits, wie die nach der Festung hinaufziehende Abtheilung zum Stillstand kam, während die abrückende Besatzung ebenso plötzlich Halt machte. Jetzt erscholl auch droben auf der Citadelle das Alarmzeichen. Weder Freund noch Feind wußte, was das bedeuten sollte, es sah ja aus, als wollte man den eben erst eroberten Platz sofort wieder räumen. aber die Befehle wurden mit gewohnter Schnelligkeit und Pünklichkeit ausgeführt, die Bewegungen vollzogen sich trotz der Eile in vollster Ruhe, und die Truppenmassen wandten sich wieder nach der Stadt zurück.
Falkenried hielt noch auf dem Platze, Befehle ertheilend, Meldungen empfangend und mit dem Blick alles überwachend und leitend. Aber er fand doch eine Minute Zeit, sich zu seinem Sohne zu wenden, dem er bis dahin noch kein Zeichen des Erkennens gegeben hatte.
„Du blutest – laß Dich verbinden!“ sagte er.
Hartmut schüttelte heftig den Kopf.
„Später, erst muß ich den Rückzug, die Rettung sehen.“
Die furchtbare Erregung hielt ihn in der That aufrecht, er schwankte nicht mehr, sondern folgte mit fieberhafter Spannung jeder Bewegung der Truppen. Falkenried blickte ihn an, dann fragte er: „Auf welchem Wege kamst Du?“
„Ueber die Bergpässe.“
„Ueber die Pässe?“ rief der General, „Dort steht ja der Feind!“
„Ja – dort steht er.“
„Und Du kamst doch auf diesem Wege?“
„Ich mußte, sonst wäre die Nachricht nicht rechtzeitig hier gewesen. Ich bin gestern abend erst fortgeritten.“
„Das ist ja ein Heldenstück ohnegleichen! Mann, wie haben Sie das zustande gebracht?“ rief einer der höheren Offiziere, der soeben eine Meldung gebracht hatte und die Worte hörte.
Hartmut schwieg, er hob nur langsam den Blick zu seinem Vater empor. Jetzt scheute er nicht mehr diese Augen, die er so lange gefürchtet hatte, und was er darin las, sagte ihm, daß er auch hier freigesprochen war.
Aber selbst die äußerste Willenskraft hat ihre Grenze, und diese war jetzt erreicht bei dem Manne, der fast Uebermenschliches geleistet hatte. Das Antlitz des Vaters war das letzte, was er sah, dann legte es sich wie ein blutiger Schleier vor seine Augen, er fühlte es wieder heiß und feucht über seine Stirn rinnen, und dann wurde es Nacht um ihn und er sank zu Boden.
Da ertönte ein Schlag, unter dessen Gewalt die ganze Stadt erbebte und erzitterte. Die Citadelle, deren Umrisse sich eben noch so scharf und klar von dem blauen Himmel abgehoben hatten, wurde urplötzlich zu einem Krater, der Gluth und Verderben ausspie. In den berstenden Mauern dort oben schien sich die ganze Hölle aufzuthun, ein Regen von Stein- und Felstrümmern erhob sich hoch in die Luft, um dann zerschmetternd niederzusinken, und alsbald züngelte und lohte es überall auf in dem riesigen Trümmerhaufen und aus Rauch und Qualm loderte eine mächtige Feuersäule zum Himmel empor – ein grauenhaftes Flammenzeichen!
Die Warnung war noch in letzter Stunde gekommen. Es hatte trotzalledem Opfer gekostet, denn was noch im unmittelbaren Bereich der Citadelle sich befand, das war zerschmettert oder schwer verwundet, aber im Vergleich mit dem unabsehbaren Unglück, das ohne jene Warnung geschehen wäre, konnten die Verluste für gering gelten. Der General mit seinen Offizieren und fast allen seinen Truppen war gerettet.
Falkenried hatte sofort mit gewohnter Umsicht und Thatkraft alle Maßregeln getroffen, welche die entsetzliche Katastrophe erheischte. Er war überall, und seinem Eingreifen, seinem Beispiel gelang es auch, den in vollster Siegesfreude von dem Verrath überraschten Mannschaften die Ruhe wiederzugeben. Erst als der Befehlshaber seine Pflicht gethan hatte, trat der Vater in seine Rechte.
In einem der nahegelegenen Häuser, wohin man ihn getragen hatte, als er zu Boden sank, lag Hartmut noch immer besinnungslos. Er sah und hörte den Vater nicht, der mit einem der Aerzte an seinem Lager stand, die Betäubung hielt ihn schwer und tief umfangen. Falkenried blickte eine Weile stumm nieder auf das bleiche Antlitz mit den geschlossenen Augen, dann wandte er sich an den Arzt.
„Sie halten also die Wunde nicht für tödlich?“
Der Arzt zuckte mit bekümmerter Miene die Achseln.
„Die Wunde selbst nicht, aber die furchtbare Ueberanstrengung bei diesem Ritt auf Tod und Leben, der starke Blutverlust, die eisige Kälte der Nacht – ich fürchte, Herr General, Sie müssen sich auf alles gefaßt machen.“
[439] „Ich bin auf alles gefaßt!“ sagte Falkenried ernst, dann kniete er nieder und küßte den Sohn, den er vielleicht nur wiedergefunden hatte, um ihn zu verlieren; und ein paar heiße Thränen fielen auf die todtenblassen Züge.
Aber es war dem Vater nicht lange vergönnt, bei seinem Kinde zu bleiben, er mußte wieder hinaus. Schon nach wenigen Minuten erhob er sich, empfahl dem Arzte nochmals die äußerste Sorgfalt und ging dann.
Auf dem Platze war der Stab des Generals und ein Theil der anderen Offiziere zusammengetreten und wartete auf den Befehlshaber. Dieser befand sich, wie sie wußten, augenblicklich bei dem Verwundeten, der die Warnung überbracht hatte und den niemand kannte, aber man hatte erfahren, daß er über die Bergpässe gekommen war, durch das vom Feinde besetzte Gebiet, daß er einen Ritt gewagt hatte, den ihm keiner nachthat in der ganzen Armee, und als der General endlich erschien, umdrängte ihn alles mit Fragen.
Falkenried war tiefernst, aber das Starre, Düstere, das sein Antlitz sonst immer zeigte, war gewichen und hatte einem Ausdruck Platz gemacht, den seine Umgebung zum ersten Male sah. In seinen Augen schimmerte es noch feucht, aber seine Stimme klang fest und klar, als er antwortete:
„Ja, meine Herren, er ist schwer verwundet, und vielleicht war es sein Todesritt, mit dem er uns allen die Rettung brachte. Aber er hat als Mann und Soldat seine Pflicht gethan, und wenn Sie seinen Namen wissen wollen – es ist mein Sohn, Hartmut von Falkenried!“
Das alte Herrenhaus von Burgsdorf lag friedlich und behaglich
im hellsten Sonnenglanze. Es hatte vor kurzem seinen
Herrn empfangen, der fast ein Jahr lang fern gewesen und nun
nach beendigtem Feldzuge in die Heimath und zu seiner jungen
Gattin zurückgekehrt war.
Das große Gut mit seiner ausgedehnten Wirthschaft hatte nicht gelitten unter dieser langen Abwesenheit, denn es war in sicherer Obhut geblieben. Die Mutter des Gutsherrn war in ihre alten Rechte getreten und hatte mit gewohnter fester Hand die Zügel geführt bis zu der Rückkehr ihres Sohnes; jetzt legte sie diese Zügel feierlichst wieder in seine Hände und bestand trotz aller Bitten und Vorstellungen darauf, Burgsdorf zu verlassen und in ihre Stadtwohnung überzusiedeln.
Augenblicklich stand Frau von Eschenhagen auf der Terrasse, deren breite, steinerne Stufen in den Garten hinabführten, und sprach mit Willibald, der sich an ihrer Seite befand. Dabei ruhte ihr Blick mit unverkennbarem Wohlgefallen auf der kraftvoll männlichen Erscheinung ihres Sohnes, die durch die jetzt so gewohnte militärische Haltung noch stattlicher wurde. Sie mochte wohl selbst fühlen, daß aus dem jungen Gutsherrn etwas Anderes und Besseres geworden war, als sie mit ihrer Erziehung zustande gebracht hatte, aber zugegeben hätte sie das um keinen Preis.
„Also Du willst bauen?“ fragte sie. „Ich habe es mir beinahe gedacht. Das alte schlichte Haus, in dem ich und Dein Vater so lange Jahre gewohnt haben, ist natürlich nicht gut genug für Deine kleine Prinzessin, die muß mit allem nur möglichen Glanze umgeben werden! Meinetwegen! Das Geld hast Du ja dazu, Du kannst Dir die Geschichte allenfalls erlauben, und mich geht sie, Gott sei Dank, nichts mehr an.“
„Stelle Dich doch nicht so grimmig an, Mama,“ sagte Willibald lachend. „Wenn man Dich hört, sollte man meinen, Du seiest die schlimmste aller Schwiegermütter, und wenn ich es nicht schon wüßte durch Mariettas Briefe, so sehe ich doch jetzt täglich, wie Du sie verwöhnst und auf Händen trägst.“
„Nun ja, man spielt auch in seinen alten Tagen noch manchmal gern mit hübschen Puppen,“ versetzte Regine trocken, „und Deine Frau ist solch ein zierliches Püppchen, das nur zum Spielen taugt. Bilde Dir nur ja nicht ein, daß sie jemals eine tüchtige Gutsfrau wird. Ich habe das im ersten Augenblick gesehen und sie deshalb gar nicht an die Wirthschaft herangelassen.“
„Und da hast Du recht getan,“ fiel der junge Gutsherr ein. „Die Arbeit und die Wirthschaft sind meine Sache, mrine Marietta soll sich damit nicht plagen; aber glaube mir, Mama, es lebt und schafft sich ganz anders, wenn solch ein süßer kleiner Singvogel einem Mut und Lust zur Arbeit in das Herz singt.“
„Junge, ich glaube, Du bist noch immer verrückt,“ sagte Frau von Eschenhagen mit ihrer alten Derbheit. „Ist es erhört, daß ein vernünftiger Mensch, ein Ehemann und Gutsbesitzer so von seiner Frau spricht? ‚Süßer kleiner Singvogel‘! Das hast Du wohl von Deinem Busenfreunde, dem Hartmut, der Euch allen als ein so großmächtiger Dichter gilt? Du hast ihm ja schon in der Jugend alles nachgemacht.“
„Nein, Mama, das ist wirklich meine eigene Poesie,“ vertheidigte sich Willibald. „Gedichtet habe ich überhaupt nur einmal in meinem Leben, an jenem Abende, wo ich Marietta wiedersah in Hartmuts ‚Arivana‘. Das Gedicht fiel mir jetzt, als ich meinen Schreibtisch ordnete, wieder in die Hände, und ich gab es Hartmut mit der Bitte, es ein wenig zu ändern, denn merkwürdigerweise wollte sich die Geschichte nicht reimen und mit dem Versmaß war ich auch nicht recht zustande gekommen. Weißt Du, was er mir antwortete? ‚Mein lieber Willy, Dein Gedicht ist sehr schön, was die Empfindung betrifft; aber laß das Dichten doch lieber bleiben! Solche Verse sind wirklich nicht auszuhalten, und Deine Frau läßt sich scheiden, wenn Du sie in dieser Weise ansingst!‘ – So urtheilt mein ‚Busenfreund‘ über meine poetische Begabung!“
„Das geschieht Dir recht, was hast Du Dich als Landwirth mit Versen abzugeben!“ rief Regine ärgerlich. Da wurde die Thür des Eßzimmers geöffnet, ein Köpfchen mit krausen dunklen Locken wurde sichtbar und eine neckische Stimme fragte:
„Ist es erlaubt, die gestrengen Herrschaften in ihren hochwichtigen landwirthschaftlichen Gesprächen zu stören?“
„Komm nur heraus, Du Kobold,“ sagte Frau von Eschenhagen; aber die Erlaubniß war überflüssig, denn die junge Frau flog bereits in die offenen Arme ihres Mannes, der sich zärtlich zu ihr niederbeugte und ihr etwas in das Ohr flüsterte.
„Fangt Ihr schon wieder an?“ schalt die Mutter. „Es ist wahrhaftig nicht mehr auszuhalten in Eurer Nähe!“
Marietta wendete nur den Kopf, ohne sich aus den Armen loszumachen, die sie noch immer festhielten, und sagte schelmisch:
„Wir feiern ja jetzt erst unsere Flitterwochen nach der langen Trennung, und Du mußt es doch aus eigener Erfahrung wissen, wie man sich dabei benimmt, gelt, Mama?“
Regine zuckte die Achseln. Ihre Flitterwochen mit dem seligen Eschenhagen waren freilich anderer Art gewesen.
„Du erhieltest vorhin einen Brief von Deinem Großvater, Marietta,“ sagte sie abbrechend. „Hast Du gute Nachrichten?“
„Die allerbesten! Großpapa ist ganz wohl und freut sich sehr darauf, im nächsten Monat nach Burgsdorf zu kommen; aber er schreibt, daß es in diesem Sommer recht still sei in der Umgegend von Waldhofen. Seit Rodeck seinen Herrn verloren hat, seit dem Tode des jungen Fürsten ist dort alles verödet und verschlossen, Ostwalden liegt gleichfalls ganz vereinsamt, und in Fürstenstein wird es auch leer und still werden. Toni heirathet ja in vierzehn Tagen, und dann ist der Onkel Schönau ganz allein.“
Die letzten Worte wurden mit einer gewissen Betonung gesprochen, und es war ein ganz eigenthümlicher Blick, den die junge Frau ihrer Schwiegermutter dabei zusandte. Diese achtete aber nicht darauf, sondern bemerkte nur: „Ja, es ist ein merkwürdiger Einfall von Hartmut und Adelheid, hier in den Föhrenwäldern in einer kleinen gemietheten Villa die ersten Wochen ihrer Ehe zu verleben, während ihnen das große Schloß von Ostwalden und die sämmtlichen Stahlbergschen Landsitze zur Verfügung stehen.“
„Sie wollten wohl noch gern in der Nähe des Vaters bleiben,“ meinte Willibald.
„Nun, in dem Falle hätte Falkenried Urlaub nehmen und zu ihnen gehen können. Gott sei Dank! Der Mann lebt förmlich auf, seit die furchtbare Bitterkeit von ihm genommen ist und er seinen Sohn wieder hat. Ich weiß es am besten, wie schwer ihn damals die Flucht des Jungen traf, den er insgeheim vergötterte, während er ihm nur Strenge zeigte und nur Gehorsam forderte. Freilich, was Hartmut geleistet hat bei seinem nächtlichen Ritt, mit dem er den Vater und seine Truppen rettete, das löscht wohl mehr aus als einen unsinnigen Knabenstreich, den im Grunde nur die Mutter verschuldet hat.“
„Aber wir kommen um all die Hochzeitsfeierlichkeiten in der Familie,“ schmollte Marietta. „Willy und ich mußten uns in aller Stille trauen lassen, weil der Krieg ausbrach, und jetzt, wo der Krieg glücklich beendet ist, machen es Hartmut und Ada genau ebenso.“
„Mein Kind, wenn man solche Dinge durchgemacht hat wie Hartmut, dann vergeht einem die Lust zu Festlichkeiten,“ sagte Frau von Eschenhagen ernst. „Ueberdies ist er noch nicht völlig
[440][441] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [442] wiederhergestellt. Du sahst es ja, wie bleich er noch war bei der Trauung. Adelheids erste Vermählung ist allerdings glanzvoller gefeiert worden, ihr Vater bestand darauf trotz seines leidenden Zustandes, und die Braut war in ihrer Atlasschleppe und ihren Spitzen und Diamanten eine wahrhaft königliche, wenn auch kalte Erscheinung. Jetzt freilich sah sie anders aus, als sie mit ihrem Hartmut vor den Altar trat, in dem einfachen weißen Seidenkleide und dem duftigen Schleier! So habe ich sie überhaupt noch niemals gesehen im Leben! Der arme Herbert! Er hat nie die Liebe seiner Frau besessen."
„Wie kann man eine so alte Excellenz im Diplomatenfrack lieben! Ich hätte es auch nicht gekonnt,“ rief Marietta vorlaut; aber da kam sie übel an bei der Schwiegermutter, die das Andenken ihres Bruders hoch in Ehren hielt.
„Du wärst wohl auch nie in diese Nothwendigkeit gekommen,“ versetzte sie gereizt. „Um Dich hätte ein Mann wie Herbert von Wallmoden schwerlich geworben, Du kleines, übermüthiges Ding –“
Sie kam nicht weiter in ihrer Strafpredigt, denn der kleine Uebermuth hing bereits an ihrem Halse und schmeichelte:
„Nicht böse, Mama! Ich kann doch nicht dafür, daß mir mein undiplomatischer Willy lieber ist als alle Excellenzen der ganzen Welt – und Dir ist er es auch, gelt, Mama?“
„Du Schmeichelkätzchen!“ sagte Regine mit einem vergeblichen Versuche, ihre strenge Miene festzuhalten, „Du weißt es recht gut, daß man Dir nicht böse sein kann, und hier in Burgsdorf wird nun wohl eine Pantoffelwirthschaft anfangen, wie sie noch nicht dagewesen ist. Augenblicklich schämt sich Willy noch etwas vor mir, aber wenn ich erst fort bin, ergiebt er sich Dir auf Gnade und Ungnade.“
„Mama, hältst Du denn noch immer fest an dem Gedanken?“ fragte Willibald vorwurfsvoll. „Jetzt willst Du gehen, wo alles Liebe und Frieden zwischen uns ist?“
„Gerade jetzt gehe ich, damit es Frieden bleibe! Rede mir nicht darein, mein Sohn! Ich muß nun einmal die Erste sein da, wo ich lebe und schaffe. Das willst Du jetzt auch sein, also taugen wir nicht mehr zusammen, und Deine kleine Prinzessin wird auch nicht böse darüber werden. Bis jetzt hatten wir genug zu thun mit der Angst und Sorge um Dich. und man zankt sich nicht, wenn man jeden Tag von neuem für den Sohn und Mann zittern muß. Nun ist das vorbei, und ich bin doch noch zu sehr vom alten Schlage, um mich in die Jugend finden zu können. Macht, was Ihr wollt, aber in meinem Hause muß es nach meinem Kopfe gehen, und deshalb ziehe ich fort.“
Sie wandte sich um und ging in das Haus, während der junge Gutsherr ihr mit einem halb unterdrückten Seufzer nachblickte.
„Vielleicht hat sie recht,“ sagte er leise; „aber sie wird sich unglücklich fühlen bei dem Alleinsein und ohne die langgewohnte Thätigkeit. Sie hält die erzwungene Ruhe nicht aus, ich weiß es. Du hättest sie doch auch bitten sollen, zu bleiben, Marietta!“
Die junge Frau legte das krauslockige Köpfchen an die Schulter ihres Mannes und sah schelmisch zu ihm auf.
„O nein, ich thue etwas Besseres. Ich sorge dafür, daß die Mama nicht unglücklich wird, wenn sie von uns geht.“
„Du? Wie willst Du denn das anfangen?“
„Ganz einfach – ich verheirathe die Mama.“
„Aber Marietta, was fällt Dir ein?“
„O Du kluger Willy, hast Du wirklich gar nichts gemerkt?“ lachte Marietta auf; es war das alte, silberhelle Lachen, womit sie ihn schon damals in Waldhofen so berückt hatte. „Du ahnst also gar nicht, weshalb der Onkel Schönau in so grimmiger Laune war, als wir ihn vor drei Tagen in Berlin trafen, und weshalb er durchaus nicht nach Burgsdorf kommen wollte, obgleich wir ihn dringend einluden? Die Mama lud ihn nicht ein, weil sie einen neuen Heirathsantrag fürchtete, er verstand das, und darum war er so wüthend. Ich wußte schon längst Bescheid; schon damals, als die Mama zu uns nach Waldhofen kam und er ihr so bitter vorwarf, daß sie ihn nur als Nebenperson bei einer Hochzeit verwenden wollte, merkte ich, daß er gern die Hauptperson wäre. – Willy, jetzt machst Du aber ein köstliches Gesicht! Jetzt siehst Du gerade wieder so aus wie im Anfange unserer Bekanntschaft.“
Der junge Gutsherr sah in seiner grenzenlosen Ueberraschung allerdings nicht sehr geistreich aus. Er hatte nie an die Möglichkeit gedacht, daß sich seine Mutter wieder vermählen könnte, und nun vollends mit ihrem Schwager! Aber es leuchtete auch ihm ein, daß dies ein ganz vorzüglicher Ausweg wäre.
„Marietta, Du bist unendlich klug!“ rief er, voll Bewunderung seine Frau anstaunend, die das mit höchster Genugtuung hinnahm.
„Ich bin noch viel klüger, als Du glaubst,“ triumphirte sie, „denn ich habe die Sache wieder in Ordnung gebracht. Ich machte mich an den Onkel Schönau und gab ihm zu verstehen, daß, wenn er jetzt nochmals Sturm liefe, die Festung sich wohl ergeben würde. Er brummte zwar gewaltig und meinte, er habe genug davon und wolle nicht wieder zum Narren gemacht werden; aber er überlegte sich die Sache schließlich doch. Vor einer Viertelstunde kam er an, ich durfte der Mama aber nichts davon sagen und – da ist erl“
Sie wies auf den Oberforstmeister, der soeben auf die Terrasse trat und die letzten Worte hörte.
„Ja, da bin ich!“ bekräftigte er; „aber gnade Gott der kleinen Frau, wenn sie mich hinters Licht geführt hat, auf ihre Verantwortung allein bin ich gekommen. Sie wird Dir wohl Bescheid gesagt haben, Willy, wie es mit uns steht, das heißt, mit mir, denn Deine Frau Mutter ist natürlich wieder unvernünftig, eigensinnig, starrköpfig, wie sie das gewöhnlich ist – aber heirathen will ich sie doch.“
„In Gottes Namen, Onkel, wenn sie Dich nur will!“ rief Willibald, der doch nicht umhin konnte, diese Schilderung seiner Mutter von seiten eines Freiers etwas sonderbar zu finden.
„Ja, das ist eben die Frage,“ sagte Schönau bedenklich, „aber Deine Frau meint –“
„Ich meine, daß wir keine Minute mehr verlieren dürfen,“ fiel Marietta ein. „Die Mama ist in ihrem Zimmer und ahnt nichts von dem Ueberfall. Willy und ich bleiben im Hinterhalte, und im allerschlimmsten Falle greifen wir auch in das Gefecht ein. Vorwärts Onkel, vorwärts Willy!“
Und Frau Marietta von Eschenhagen schob mit ihren kleinen, zierlichen Händchen den stattlichen Oberforstmeister und ihren riesigen Ehegemahl ohne weiteres vorwärts; sie ließen sich auch ganz geduldig schieben und Schönau brummte nur:
„Merkwürdig, das Kommandiren verstehen sie alle, groß oder klein – das ist ihnen angeboren!“
Regine von Eschenhagen stand am Fenster ihres Zimmers und blickte hinaus auf ihr geliebtes Burgsdorf, das sie in wenigen Tagen verlassen wollte. So sehr sie auch von der Nothwendigkeit dieses Entschlusses überzeugt war, leicht wurde er ihr nicht. Die kräftige, rastlos thätige Frau, die dreißig Jahre lang an der Spitze eines großen Hauswesens gestanden hatte, empfand ein Grauen vor der Ruhe und Unthätigkeit, die ihrer warteten. Sie hatte dies Stadtleben ja bereits kennengelernt bei jener ersten Trennung von ihrem Sohne und sich grenzenlos unglücklich darin gefühlt. Da öffnete sich die Thür und der Oberforstmeister trat ein.
„Moritz, Du bist es?“ fuhr Regine überrascht auf. „Das ist vernünftig, daß Du doch gekommen bist.“
„Ja, ich bin immer vernünftig,“ sagte Herr von Schönau sehr anzüglich. „Du hattest zwar nicht die Gnade, mich einzuladen, aber ich wollte mir doch persönlich Deine Zusage für Tonis Hochzeit holen. Du kommst doch mit Deinen Kindern nach Fürstenstein?“
„Gewiß kommen wir, aber wir waren alle überrascht von dieser Eile. Du wolltest dem jungen Paare doch erst ein Gut kaufen, und das geht sonst nicht so über Hals und Kopf.“
„Nein, aber geheirathet muß trotz alledem werden. Unsere Herren Krieger sind etwas anspruchsvoll geworden nach ihren Heldenthaten. Walldorf erklärte mir nach der Rückkehr kurz und bündig: ‚Papa, Du hast mir beim Abschiede gesagt: Erst siegen und dann heirathen! Nun habe ich gesiegt und nun heirathe ich und warte nicht länger. Der Gutskauf hat Zeit, die Hochzeit aber nicht, denn die ist das Wichtigste!‘ Und da Toni gleichfalls von dieser Wichtigkeit durchdrungen war, so blieb mir nichts übrig, als den Hochzeitstag anzusetzen.“
Frau von Eschenhagen lachte.
„Ja, die Jugend ist schnell bei der Hand mit dem Heirathen, und sie hat doch Zeit zum Warten.“
„Das Alter aber nicht!“ fiel Schönau ein, der nur nach einem Anknüpfungspunkte suchte und sich schleunigst dieser Aeußerung bemächtigte. „Hast Du Dir die Geschichte nun endlich überlegt, Regine?“
„Welche Geschichte?“
„Nun, unsere Heirath. Hoffentlich bist Du jetzt in der ‚Stimmung‘ dazu.“
Regine wandte sich etwas verletzt ab.
„Du liebst es, mit der Thür ins Haus zu fallen, Moritz. Wie kommst Du denn so plötzlich darauf?“
[443] „Was, das nennst Du mit der Thür ins Haus fallen?“ rief der Oberforstmeister entrüstet. „Vor fünf Jahren habe ich Dir den ersten Antrag gemacht, vor einem Jahre den zweiten, jetzt komme ich zum dritten Male, und Du hast noch nicht genug Zeit zur Ueberlegung gehabt? Ja ober nein? Wenn Du mich jetzt wieder fortschickst, komme ich nicht wieder, verlaß Dich darauf, und dann hole die ganze Freierei der Kuckuck!“
Regine antwortete nicht, aber es war nicht Unentschlossenheit, die sie zögern ließ. Auch diese derbe, urwüchsige Natur trug ein Stück Poesie tief im Herzen, die Liebe zu dem Manne, der einst ihr Gatte hatte werden sollen, zu Hartmut von Falkenried. Als er eine andere heimführte, da hatte sie freilich auch einem anderen die Hand gereicht, denn sie war nicht geschaffen, ihr Leben nutzlos zu vertrauern; aber dasselbe bittere Weh, das sich damals in dem Inneren des jungen Mädchens geregt hatte, als es vor den Altar trat, wachte jetzt wieder auf in dem Herzen der alternden Frau und schloß ihr die Lippen. Doch das dauerte nur wenige Minuten, dann warf sie entschlossen den Erinnerungstraum von sich und streckte ihrem Schwager die Hand hin.
„Nun denn, ja, Moritz! Ich will Dir eine gute und treue Frau sein!“
„Gott sei Dank!“ rief Schönau, mit einem tiefen Athemzuge, denn er hatte dies Zögern für die Vorbereitung zu einem dritten Korbe gehalten. „Das hättest Du eigentlich schon vor fünf Jahren sagen können, Regine, aber besser spät als gar nicht. Endlich sind wir so weit!“
Und damit schloß der beharrliche Freier die nun doch noch errungene Lebensgefährtin herzlich in die Arme. –
Es war ein heißer Sommertag und selbst im Walde fühlte
man etwas von der Sonnengluth, die draußen auf Wiesen und
Feldern flimmerte. Auf dem Waldwege, unter den hohen Föhren,
schritt eine kleine Gesellschaft dahin, General Falkenried mit Sohn
und Tochter, die ihm bei dem Besuche, den er in Burgsdorf abstatten
wollte, noch eine Strecke das Geleit gaben.
Falkenried war freilich ein anderer geworden, als er in den letzten zehn Jahren gewesen war. Der Krieg, der trotz aller Siege und Triumphe so manchem der Zurückgekehrten verhängnißvoll wurde und ihn vor der Zeit altern ließ, schien für ihn ein Verjüngungsquell gewesen zu sein. Wohl waren das weiße Haar und die tiefdurchfurchten Züge geblieben als unverwischbare Zeugen einer bitteren, schweren Zeit, aber diese Züge hatten doch wieder Leben, die Augen wieder Feuer gewonnen, und man sah es jetzt auf den ersten Blick, daß der Mann kein Greis war, sondern noch in der Fülle der Kraft und des Lebens stand.
Der Sohn Falkenried war in der That noch nicht völlig wiederhergestellt, das verrieth sein Aeußeres. Ihn hatte das Kriegsleben nicht verjüngt, er war im Gegentheil älter, ernster geworden, und das noch immer so bleiche Antlitz, die breite, dunkelrothe Narbe auf der Stirn redeten von einer schweren Leidenszeit. Die an sich nicht allzuschwere Kopfwunde war durch den starken Blutverlust, durch die Ueberanstrengung bei dem nächtlichen Ritte und die eisige Kälte so gefahrdrohend geworden, daß man anfangs alle Hoffnung aufgab und es monatelanger Pflege bedurfte, um Hartmut dem Leben wiederzugeben. Aber in dieser Leidenszeit war auch der alte Hartmut, der Sohn Zalikas mit ihrem wilden Blute und ihrem zügellosen Lebensdrange, zu Grunde gegangen. Es schien, als wäre mit dem Namen Rojanow, den er für immer von sich geworfen hatte, auch das unselige Erbtheil der Mutter begraben. Die dunklen, dichten Locken fingen eben erst wieder an, zu wachsen, aber um so deutlicher trat die hohe, machtvoll gewölbte Stirn hervor und damit auch die Aehnlichkeit mit dem Vater.
Die junge Frau an seiner Seite dagegen blühte in der vollen Schönheit der Jugend und des Glückes. Wer sie früher gesehen hatte in ihrer stolzen Kälte, ihrer eisigen Unnahbarkeit, der hätte sie kaum wiedergefunden in dieser schlanken, blonden Erscheinung, in dem einfachen, lichten Sommerkleide, mit dem Sträußchen eben erst gepflückter Waldblumen in der Hand. Das Lächeln und den Ton, mit dem sie zu dem Gatten und dem Vater sprach, hatte Frau von Wallmoden freilich nie gekannt, das hatte erst Ada Falkenried gelernt.
„Nun aber nicht weiter!“ sagte der General, stehen bleibend. „Ihr habt den ganzen Rückweg zu machen, und Hartmut darf sich noch nicht allzuviel zumuthen, der Arzt verlangt dringend, daß er sich noch schont.“
„Wenn Du nur wüßtest, Vater, wie niederdrückend es ist, immer noch als Kranker zu gelten, wenn man längst schon wieder Kraft und Leben in sich fühlt,“ warf Hartmut unmuthig ein. „Ich bin wirklich kräftig genug –“
„Um das eben erst gewonnene wieder aufs Spiel zu setzen,“ ergänzte der Vater. „Geduldig zu sein hast Du noch immer nicht gelernt, aber zum Glück weiß ich Dich unter Adas Aufsicht, und sie ist streng in diesem Punkte.“
„Ja, wenn Ada nicht gewesen wäre, gäbe es wohl überhaupt nichts mehr zu schonen,“ sagte Hartmut, mit einem Blick inniger Zärtlichkeit auf seine Gattin. „Ich glaube, es stand ziemlich hoffnungslos mit mir, als sie zu mir kam.“
„Die Aerzte wenigstens gaben mir keine Hoffnung, als ich die Depesche absandte, die Ada zu Dir rief. Du verlangtest in der ersten Minute des Bewußtseins nach ihr, zu meiner grenzenlosen Ueberraschung, denn ich ahnte nicht, daß Ihr Euch überhaupt kanntet.“
„War Dir das vielleicht nicht recht, Papa?“ fragte die junge Frau, lächelnd zu dem Vater aufblickend, der sie an sich zog und einen Kuß auf ihre Stirn drückte.
„Du weißt am besten, was Du mir und Hartmut bist, mein Kind! Ich danke Gott, daß ich ihn unter Deiner Pflege zurücklassen konnte, als ich weiter mußte. Und Du hattest auch recht, als Du ihn jetzt bestimmtest, hierzubleiben, obwohl der Arzt ihn fortschicken wollte. Er muß erst wieder heimisch werden im Vaterlande, muß die Heimath erst wieder verstehen und lieben lernen, der er so lange entfremdet war.“
„Erst lernen?“ fragte Ada vorwurfsvoll. „Was er Dir und mir heute vorlas, das zeigt doch wohl, daß er es längst schon gelernt hat, wenn seine jetzige Dichtung auch eine andere Sprache redet, als die wilde, flammensprühende ‚Arivana‘.“
„Ja, Hartmut, Dein neues Werk ist etwas werth,“ sagte Falkenried, seinem Sohne die Hand reichend. „Ich glaube, das Vaterland wird noch einmal Ehre erleben an meinem Jungen, auch in Friedenszeiten.“
Hartmuts Augen leuchteten auf, während er den Händedruck erwiderte. Er wußte, was dies Lob im Munde seines Vaters bedeutete.
„Und nun lebt wohl!“ rief der General, seine Schwiegertocher noch einmal zum Abschied küssend. „Ich fahre von Burgsdorf sogleich nach der Stadt, aber in einigen Tagen sehen wir uns wieder. Lebt wohl, Kinder!“
Als er zwischen den Bäumen verschwunden war, traten Hartmut und Ada den Rückweg an, der sie an dem Burgsdorfer Weiher vorüberführte. Sie blieben unwillkürlich stehen und blickten auf das stille, kleine Gewässer, das in seinem Kranze von Schilf und Wasserrosen so leuchtend im Sonnenscheine lag.
„Hier habe ich so oft die Knabenspiele mit Willy getrieben,“ sagte Hartmut leise, „und hier entschied sich mein Schicksal, an jenem verhängnißvollen Abende. Ich weiß es erst jetzt voll und ganz, was ich meinem Vater anthat in dieser unseligen Stunde.“
„Aber Du hast es doch ganz und voll gut gemacht,“ erwiderte Ada, indem sie ihr Haupt an die Schulter des Gatten lehnte. „Auch vor der Welt ist es ausgelöscht, das zeigt Dir die Bewunderung und Anerkennung, die Dich und den Vater von allen Seiten überströmte, als es bekannt wurde, wer die Heldenthat vollbracht hatte.“
Hartmut schüttelte ernst und düster den Kopf.
„Es war eine Verzweiflungsthat, kein Heldenthum. Ich glaubte nicht, daß sie gelingen werde, niemand glaubte es; aber selbst wenn ich gefallen wäre, hätte ich mir mit jenem Ritt durch die Feinde die verlorene Ehre zurückerobert. Das wußte Egon, und darum legte er die Rettung in meine Hand. Als wir damals Abschied nahmen, in der eisigen Winternacht, in den zerschossenen Mauern des kleinen, halb zerstörten Gotteshauses, da fühlten wir es wohl, daß es ein Abschied für immer war, aber wir glaubten beide, ich würde das Opfer sein, denn ich ging ja einem beinahe gewissen Tode entgegen. Das Schicksal hatte es anders beschlossen, es führte mich wie mit Geisterhand mitten durch Gefahren, denen ich nach menschlicher Voraussicht erliegen mußte, bis zu meinem Ziele, und fast in derselben Stunde fiel Egon! – Du brauchst die Thränen nicht vor mir zu verbergen, Ada, ich bin nicht eifersüchtig auf den Todten. Ich habe ihn ja so geliebt, wie er – Dich liebte.“
„Eugen brachte mir seinen letzten Gruß,“ sagte die junge Frau, der die heißen Thränen im Auge standen, die sie anfangs dem Gatten nicht hatte zeigen wollen. „Und auch Stadinger schrieb mir, um den Auftrag seines sterbenden Herrn zu erfüllen. [444] Ich fürchte, der Alte überlebt ihn nicht lange, sein Brief klang, als wäre er völlig gebrochen.“
„Mein armer Egon!“ Man hörte dem Tone Hartmuts an, wie tief und schmerzlich ihn die Erinnerung durchbebte. „Er war so voll sonniger Heiterkeit und Lebensfreude, so ganz geschaffen, Glück zu empfangen und zu geben. Vielleicht wärst Du an seiner Seite glücklicher geworden, Ada, als mit Deinem wilden, stürmischen Hartmut, der Dich noch oft genug quälen wird mit all den finsteren Schatten seines Wesens.“
Ada blickte, noch mit der Thräne im Auge, lächelnd zu ihm auf.
„Ich liebe aber nun einmal diesen wilden, stürmischen Hartmut und will kein anderes Glück, als sein Weib zu heißen! –
Wald und See ruhten in träumender Mittagsstille. Ernst und dunkel standen die alten Föhren, leise flüsterte das Schilf am Ufer und auf dem Wasserspiegel tanzten Tausende von strahlenden Funken. Darüber aber wölbte sich die strahlende Himmelsbläue, in die der Knabe einst hatte hinaufsteigen wollen, den Falken gleich, von denen sein Geschlecht den Namen führte, immer höher, der Sonne entgegen! Sie strahlte auch jetzt dort oben in leuchtender Pracht – das mächtige, ewige Flammenzeichen des Himmels!
Vollendet! Das Wort schließt eine fünfhundertdreizehnjährige Baugeschichte ein, eine lange Flucht von Jahren der Arbeit, des Stillstands, der Verheerung, des Todesschlafs und endlich des herrlichen Wiederauferstehens des Ulmer Münsters, wie der Dichter Ed. Paulus davon singt:
„Das Wunder, das wir kaum geahnt im Liede,
Darf nun versteinert in den Himmel streben.“
Folge mir, geneigter Leser, in die altersgraue Vorzeit, in jenes 14. Jahrhundert, da man noch keine gedruckten Bücher kannte, aber um so gewandter und freudiger die Waffen gebrauchte, da die aufstrebenden Städte mit den Landesfürsten erbitterte Kämpfe führten, und doch, von dem tiefgewurzelten idealen Sinne des Mittelalters getragen, die gewaltigste aller Künste mächtig blühte und gepflegt wurde: die Baukunst. Schon standen oder stiegen empor die glänzenden Kathedralen, mit welchen die Bischöfe und Erzbischöfe der Kirche ihre Sitze verherrlichen wollten und für welche ihre reichen Mittel flossen: die Münster zu Freiburg und Straßburg, der Dom zu Köln (gegründet 1248), sämmtlich in dem herrschenden gothischen Stil erbaut. In Ulm, der Freien Reichsstadt, welche damals ihre 20 000 bis 25 000 Einwohner zählte und nicht mehr, war kein solcher Sitz eines Kirchenfürsten, aber ein starker muthiger Bürgersinn, welcher beim allgemeinen Aufwärtsstreben der Stadt auch sein großes Gotteshaus haben wollte, sogut wie die Bischofsstädte, und am 30. Juni 1377 den Grundstein dazu legte. „Wir haben,“ sagt ein Kunsthistoriker, „im Ulmer Münster die großartigste Schöpfung des deutschen Bürgerthums des Mittelalters“; und wir dürfen hinzusetzen, daß die große Einfachheit der inneren und äußeren Anlage ohne Querschiff aus diesem Ursprung uns erklärlich, ja mehr noch, uns werth und lieb wird. Das Machtvolle, Gediegen-Einfache, Selbstbewußte, das in seiner massigen Wucht und ruhigen Hoheit des Zieraths nicht bedarf, dies ist der Haupteindruck des Ganzen, wenn wir von dem Hauptthurm zunächst absehen.
Es waren auch die Zeiten nicht mehr zur Entfaltung der ganzen Pracht des frühen Mittelalters. Bereits begann der ganze Stand der Dinge in den Grundfesten gelockert zu werden, und es klopfte die neue Zeit an die Pforte, welche in dem ungeheuren Umschwunge des nächstfolgenden, des 15. Jahrhunderts, der das Mittelalter zu Grabe trug, ihre Herrschaft antrat. Unter dieser Zeitlage und bei häufigem Wechsel der Baumeister – im ganzen sind es zehn – ging der Bau in Ulm immerhin verhältnißmäßig rasch von statten. Wir können vier große Bauperioden bis zum Stillstand des Werkes unterscheiden. Die erste und die dritte sind die produktiven, schöpferischen; sie sind bezeichnet durch zwei große Namen, welche als leuchtende Sterne in der Geschichte der Architektur glänzen und deren Klang durch das ganze deutsche Volk geht, dessen Stolz sie sind: Ulrich Ensinger und Matthäus Böblinger. Beide sind geborene Schwaben, Württemberger; aber ihr Ruf ging damals über den Rhein und die Alpen.
Der große Ulrich Ensinger trat urkundlich 1392 in Ulmer Dienste, als der Chor des Münsters mit dem Unterstock der beiden Seitenthürme (Chorthürme) – das Werk der beiden ersten Baumeister – schon fertig stand. Seine Schöpfung ist die ganze Anlage des ursprünglich dreischiffigen Langhauses mit dem Hauptthurm. Er selbst brachte nur die unteren Theile zur Ausführung, indeß das Amt des „Kirchenmeisters“ sich in seiner Familie forterbte auf den Schwiegersohn und Enkel Hans und Kaspar Kun, dann den Sohn und Enkelsohn, Matthäus und Moritz Ensinger, welche die Weiterführung im 15. Jahrhundert leiteten. Aber als kostbares Erbe hinterließ Ulrich, der 1399 die Bauleitung am Münsterthurm von Straßburg übernahm und 1419 dort starb, den Plan des Hauptthurms bis zum Viereck, dessen erstes Drittel er selbst ausführte.
Der außerordentlich geniale Entwurf dieser Hauptzierde des Ulmer Münsters gehört Ulrich von Ensingen. Darum ist auch die Verwandtschaft des Straßburger mit dem Ulmer Thurm so in die Augen fallend. Auf breiter Grundlage mit weit vorspringenden Hauptpfeilern strebt dieser aufwärts. Das Problem der Entwicklung, der architektonischen Auflösung der Massen erscheint in vollendetster Weise gelöst. Wo an den Kölner Domthürmen die Vertikale, d. h. die Richtung nach oben ganz einseitig vorherrscht, zeigt sich hier die Längsrichtung durch die wagerechten Brustwehren der drei Stockwerke des Vierecks angenehm unterbrochen. Das große Fenster, das hier statt der Rose in die Fassade eingesetzt ist, bringt den Zug nach oben dagegen wieder aufs entschiedenste zur Geltung. Und diesem Riesenfenster – von der Glasmalerei „Martinsfenster“ benannt – wie den oberen ist jenes leichte Stabwerk vorgelegt, welches man auch am Straßburger Thurm findet und welches die inneren Oeffnungen mit einem zauberhaften, phantastisch wirkenden Netzwerk überspinnt. Der ganze Thurm ist von reichster Fülle ausschmückender Pflanzenornamente der Spätgothik überzogen. „Kein Thurm der Welt, einschließlich St. Stefan zu Wien und die Kölner Thürme, zeigt einen so verschwenderischen Reichthum und so unvergleichliche Ornamentik wie der Ulmer, er ist der Thurm der Thürme.“ In die weit vorspringenden Pfeiler am Fuß ist eine gewölbte Portalhalle eingelegt, welche den mit Statuen und
[446] Reliefs geschmückten Eingang zum Dom bildet, „vielleicht die schönste Vorhalle der Welt“, wie ein Kenner bezeugt. So ist auf dieser unten breiten massigen Anlage die wundervolle Zuspitzung des Thurms begründet, welche die Hand des anderen der genannten großen Meister vorgezeichnet hat, des Matthäus Böblinger.
In einer Kapelle des Ulmer Münsters befindet sich der Originalriß, worauf Ulrichs Viereck durch Achteck und Helm zur Vollendung gebracht ist. An der Stelle, wo Ulrichs Sohn Matthäus den Bau stehen ließ, sind die Worte geschrieben: „da hat angefangen zuo machen an dem duoren (Thurm) zuo ulm mathe(us) Böblinger.“ Und weiter oben am Schluß des Vierecks: „da hat uffgehert zuo buowen an dem duoren mathe(us) Böblinger.“ Der ganze Thurm ist aber darüber ausgezeichnet bis zur Spitze. – Es waren fast 60 Jahre nach Ulrich Ensingers Tod, als Meister Matthäus Böblinger, der Erbauer der Eßlinger Frauenkirche, von dort 1477 nach Ulm berufen ward an den Münsterbau, nachdem er schon zuvor dorthin gearbeitet hatte. War ihm nur ein kleines Stück, das letzte Drittel des Vierecks, am Thurm auszuführen beschieden gewesen, als er spätestens 1494 nach Eßlingen zurückkehrte [7], so hinterließ er doch die Durchführung jenes Ensingerschen Originalrisses, nach welchem fast vier Jahrhunderte nachher der Ulmer Thurm ausgeführt steht.
Böblingers Abgang bezeichnet die Wende des Jahrhunderts. Große Umwälzungen warfen ihre Schatten voraus. An ein Weiterbauen war nicht zu denken. Die vierte, letzte Bauperiode ist der Erhaltung des Vorhandenen gewidmet. Aus der dreischiffigen Kirche machte Burkhard Engelberg eine fünfschiffige. Die schlanken Rundsäulen und köstlichen Sterngewölbe, wodurch er das eine Seitenschiff jederseits theilte, sind weltbekannt, die schönsten Zierden des Innenbaues, die sich unvergänglich erhielten, während das Innere sonst vom 16.–19. Jahrh. vielfach seiner Kunstschätze beraubt, an den bemalten Wänden übertüncht ward und das unvollendete Aeußere düster zum Himmel starrte, wie auch unsere Ansicht aus dem Jahre 1666 es zeigt, auf welcher wir den zur Jahresfeier der Grundsteinlegung veranstalteten Festzug erblicken. Doch ward der Bau mit rührender Sorgfalt gehütet von der Bürgerschaft Ulms, welche ihr Münster seit dem Uebertritt der Stadt zur Reformation als den einzigen protestantischen der großen deutschen Dome ehrt und gebraucht.
Da brach der neue deutsche Frühling herein seit den Freiheitskriegen von 1813. In der wiedererwachenden Liebe für das Mittelalter, für die altdeutsche Kunst erstieg das deutsche Volk die erste Sprosse seiner Wiedergeburt.
Auch in der indessen dem Königreich Württemberg zugefallenen alten Reichsstadt Ulm regte sich dieser Geist. Durch die Bemühungen des dort gegründeten „Vereins für Kunst und Alterthum“, durch die Bereitwilligkeit der Ulmer städtischen Körperschaften, für das ehrwürdige Denkmal ihrer alten Größe etwas zu thun, kam der Gedanke der Ulmer Kunstfreude, unter denen besonders der spätere württembergische Landeskonservator und Oberstudienrath Dr. K. D. Haßler zu nennen ist, zu That und Leben. Am 21. August 1844 ward in aller Stille das Werk der Restauration begonnen. Das Ziel dachte man sich damals hoch genug zu stellen in der Rettung der dem Verfall entgegengehenden Theile, in der Ergänzung des Nöthigsten, in der Einfügung der fehlenden Strebebögen von der Hauptschiffwand zur äußeren Mauer der Seitenschiffe herab.
Mit der Ausführung der letzteren (1856–70) schuf sich der erste Baumeister der Restauration, Karl Ferdinand Thrän, sein größtes Denkmal. Diese majestätischen Bogen, welche der Besucher Ulms jetzt den Seiten des riesigen Gebäudes entlang bewundert, sind mit 18,4 Metern Spannweite die mächtigsten, welche ein deutscher Dom aufweist, und auf ihrem Fuß ruhen die 20 Meter hohen Belastungspyramiden in herrlicher Flucht hintereinander. Dem zweiten Baumeister der Restauration, Ludwig Scheu, fällt die Ausführung des reizvoll äußeren Chorumgangs und der beiden Chorthürme von 86 Metern Höhe zu, diese wie jener im Bauplan angelegt und vorbereitet. – Schon 1857 äußerte der kunstsinnige Friedrich Wilhelm IV. von Preußen gegen den genannten Dr. Haßler erstmals, „man solle nicht bloß an die Restauration des Münsters, sondern auch an den Ausbau des Thurmes denken“. Das Königswort fand Widerhall in allen deutschen Herzen. Wir müssen hier dankbar gedenken, wie viel das württembergische Königshaus, das Hohenzollernhaus und die ganze deutsche Nation durch Gaben und Spenden an dem Werk gethan haben. Es bedurfte aber in Ulm selbst einer thatkräftigen und weitblickenden Persönlichkeit, welche mit organisatorischem Geschick alle Kräfte auf das höchste Ziel, den Ausbau des Hauptthurmes, zusammenzufassen verstand. Das ist der Oberbürgermeister der Stadt seit 1863, von Heim. Der Baumeister dazu wurde in Professor August Beyer gefunden, dem Schüler von Josef Egle, welcher seine Berufung nach Ulm vorschlug. Wir bringen unsern Lesern das Bild Beyers, welcher durch Vollendung des Thurms nach dem erwähnten alten Böblingerschen Plan einen unvergänglichen Ruhmeskranz sich ums Haupt geflochten hat.
Wir sehen nun das Achteck, von vier zierlichen Treppenthürmchen flankirt, sich auf dem Viereck erheben und darüber in 6 Stockwerken die Pyramide in glänzendster Verzierung. Statt des einförmigen Vierpasses, d. h. eines sich gleichmäßig wiederholenden, in eine viereckige Umfassung eingesetzten Maßwerks wie bei den Thurmhelmen von Freiburg, Köln, Regensburg etc. etc. hatte der alte Meister in seinem Entwurf in mehreren Stockwerken übereinander hohe lustige Fenster mit Bogenmaßwerk vorgesehen, deren Spitzen in Wimpergen über die Seitenrippen hinausschießen. Diese umgeben nun Stockwerk für Stockwerk mit einem Kranze von zauberhafter Wirkung, die ihresgleichen an keinem Thurme der Welt hat! Die obere Abbildung auf Seite 447 macht das deutlich. Sie zeigt eben den eigenartigen Schmuck der Pyramide, das Heraustreten der ausgeschweiften Wimpergen, deren letzte Spitze noch fehlt.
Wo sonst die acht Rippen der Thurmpyramiden die gleichmäßig sich wiederholenden Krabben zeigen, werden die Tausende, welche jetzt das Fest der Einweihung und künftig ihr Reiseziel nach Ulm führt, mit Staunen das Wunderwerk dieses Helms beschauen, wo alles in Fülle und Abwechslung so frei und leicht nach oben steigt – ein steinern Blüthengebilde von Knospen und Zweigen umrankt, von der großen Kreuzblume bekrönt, über welcher die kleinere in harmonischer Verjüngung zur himmelragenden Spitze überleitet.
Wie schön ist das Wagniß gelungen, das immer in der Umfangsberechnung der großen Kreuzblume auf die Höhe ihres Standorts liegt! Diese kolossale Steinarbeit aus vier Stücken, deren Durchmesser 3 Meter, deren Gesammtgewicht 700 Centner beträgt [8], sieht nun von oben herab so zierlich und leicht drein wie eine Blumenkrone, dennoch kräftig genug, um der Thurmsilhouette eine schöne wellenförmige Ausladung zu geben.
Aber noch schwieriger als dies Meisterstück unseres Thurmvollenders war die Aufgabe Beyers, den ganzen leicht hingezeichneten Riß Böblingers überhaupt in die Ausführung zu übersetzen. Die hervorragende technische Leistung, die hierin liegt, werden die Fachmänner zu würdigen wissen. Wir erwähnen hier gelegentlich die Verstärkungsbauten von unten auf, welche der Tragkraft wegen auszuführen waren, ehe nur an einen Aufbau zu denken war; ferner daß Professor Beyer mit richtigem Gefühl die Verhältnisse des Originalrisses dahin abänderte, daß das Achteck etwas niedriger (32 Meter), der Helm ziemlich höher (59 Meter) gehalten ward, wodurch der Thurm selbst statt auf 151 auf 161 Meter Höhe vom Boden der Portalhalle aus kam (von der Linie des Platzes aus gegen 162 Meter). So ist er der höchste künstlerische Thurm der Welt geworden, die Kölner Domthürme um 5 Meter überragend. Es sollte dadurch erreicht werden und ist erreicht worden, daß der Ulmer Helm nicht die Fehler so mancher theilt, von unten sich zu sehr zu verkürzen und zu tief im Achteckskranz drinnen zu stecken. Nein, frei und mit mächtigem Ruck springt er vom Achteck weg; schlank und kühn, in leichter Einziehung und harmonischer Verjüngung schießt er hinauf und reißt unser entzücktes Auge mit. Aber unser Meister hat noch etwas Weiteres gethan. Er hatte den überaus glücklichen Gedanken, die Hinaufführung einer Wendeltreppe durch die Pyramide von der Frauenkirche in Eßlingen, die ja Böblingers Werk ist, herüberzunehmen und hier in größerem Stil durchzuführen. Und so erhebt sich denn vom Boden der Pyramide (zu welchem die Seitenwendeltreppen führen), freistehend auf acht Tragebogen, ein steinerner Treppencylinder mit Fensterchen [447] und steigt mitten empor bis zur Höhe von 143 Metern, wo der Austritt auf eine Kranzplattform gestattet ist. Nirgends ist ein solcher Aufstieg durch eine Thurmpyramide zu finden; man glaubt zu träumen, wenn man von der festen Warte dieser überaus kühnen Treppe aus durch die luftigen Fenster des Helms schaut und sich erinnert, daß man nicht am Erdboden, sondern von einem 102 Meter hohen Springpunkt aus über der Menschenwelt diese Wanderung macht.
Uebrigens ist diese Treppe mit den Pfeilern und Rippen des Helms durch kühngeschwungene Bogen verspannt, die sich in 3 Stockwerken übereinander wiederholen. Man erhält bei dem Durchblick den Eindruck einer himmelansteigenden Halle. Und oben erst! Wie viele werden es dereinst nicht wagen, auf diesen letzten Kranz zu treten, und von denen, die, wie der Schreiber dieser Zeilen schon so manchesmal, oben stehen und so jäh und senkrecht in die Tiefe sehen, wird nicht mancher ein leises Grauen empfinden neben der stolzen Freude? Ueber uns erhebt sich das letzte ganz massive Stockwerk der Pyramide mit 18 Metern Höhe, in dessen schmaler Rinne eine mächtige eiserne Stange steckt oder vielmehr oben aufgehängt ist, die unten, wo sich die Höhlung erweitert, ein 12 Centner schweres Gewicht trägt. Durch beides soll die ganze Thurmspitze gegen Schwankungen bei starkem Sturme eine Versteifung erhalten. Sicherlich wird künftig diese Thurmbesteigung in Ulm zum Merkwürdigsten und Kühnsten gehören, womit ein Besucher der Stadt, die dieses nun vollendete großartige Kunstdenkmal zu besitzen das Glück hat, seine Münsterwanderung beschließen und krönen kann. Und dann wird er lächelnd herabblicken auch auf den „Ulmer Spatz“, den der Ulmer Humor nach Vollendung der bunten Ziegelbedeckung wieder auf den Dachfirst zu setzen sich nicht nehmen ließ; eine Ulmer Gesellschaft hat das neue Exemplar in getriebener Arbeit mit Vergoldung gestiftet; der alte „Vogel“, wie er ursprünglich genannt ist, sollte einfach den Mittelpunkt der Stadt bedeuten! Und hinaufblickend zur sonnenvergoldeten Spitze wird der Wanderer auch an des alten Kirchenmeisters Töchterlein denken – ihr Vater soll Böblinger gewesen sein – von welcher die Sage geht, daß Kaiser Maximilian II. einen Kuß von ihr verlangt habe. Da sprach sie: „Ja, droben auf des Thurmes Spitze könnt Ihr ihn haben.“ Und heute, wo diese Spitze vollendet ist, wäre sie noch sicher, daß die heißeste Liebe sich da nicht hinaufwagen würde? – Es ist etwas Großes, Hochbefriedigendes, daß bei diesem ganzen Thurmaufbau, welcher alles in allem fast das jetzt zu Ende gehende Jahrzehnt (1882 bis 90) in Anspruch nahm, kein einziges Menschenleben durch Unglücksfall zu Grunde gegangen ist, wo doch die Bauhütte 100–120 Mann betrug und die jahrelange Arbeit in solcher Höhe an und für sich des Gefährlichen genug bot. Es wirft diese Thatsache ein Licht auf die rühmliche Sorgfalt und Vorsicht der Bauleitung, auf die vollbewußte Sicherheit, mit der Prof. Beyer die ganz riesigen und schwierigen Gerüste Stockwerk für Stockwerk aufeinander zu thürmen verstand, welche schon allein eine bauliche Merkwürdigkeit sind. Noch werden diese Gerüste, mit Ausnahme der Pyramidenspitze, die freigelegt wird, einige Jahre den kühnen Bau verschleiern. Erst mit der Ergänzung fehlender Einzelheiten, wie z. B. des reichen Achteckskranzes, können dieselben allmählich abgebrochen werden. Auch im Innern der Kirche ist mit der Bemalung der Gewölbe an den Seitenschiffen erst begonnen worden und noch manches unvollendet, manches nöthig und geplant, wozu das bevorstehende Fest die fernere opferwillige Theilnahme der Nation erwecken möge! Dennoch wird der Eindruck überwältigend sein für jeden, der durch das große Hauptportal mit der erwähnten herrlichen Vorhalle – welches zum ersten Male seit 10 Jahren bei diesem Fest wieder dem allgemeinen Gebrauch übergeben wird – in die neue Thurmhalle eintritt und von hier aus durch den 13,50 Meter hohen Ostbogen den Blick durch die majestätische Halle bis zu dem im Zauberlicht schwimmenden
[448] Chor schweifen läßt! Die Wirkung des ganzen, allerdings sehr einfach gehaltenen Innenraums (s. unser Bild S. 445) ist eben infolge dieser Einfachheit eine ungetheilt mächtige und weihevolle, was durch die vortheilhaften Raumverhältnisse unterstützt wird. Die harmonische Gleichbreite der 5 Schiffe mit zusammen 48,75 Metern (je 15 Meter im Lichten) wiegt die Höhe des Mittelschiffs von 41,6 Metern wohlthätig auf, während beim Kölner Dom die übermäßige Höhe des Mittelschiffs mit fast 44 Metern nahezu der Gesammtbreite von 45 Metern gleichkommt und die Seitenschiffe mit 19 Metern Höhe verhältnißmäßig niedrig erscheinen gegen 20,35 Meter der Ulmer. Die Länge des Münsters im Lichten beträgt 123,75 Meter (Köln 119 Meter), wobei auf das Langhaus allein 75,50, auf die lichte Thurmhalle 17,50, auf den Chor 30,75 kommen. Das Münster zu Straßburg hat 30 Meter Mittelschiffhöhe. Der Flächeninhalt in Ulm beträgt im Lichten nach Abzug der Pfeiler etwa 5100 Quadratmeter, was dem Raum für 28-30000 Personen gleichkommt (Köln 6200 qm durch das Querschiff, Straßburg 4100, St. Stefan 3200, Freiburg 2960).
Indem der Besucher durch den herrlichen Säulenwald der Seitenschiffe das Auge schweifen läßt und am 3. Pfeiler linker Hand im Mittelschiff die Kanzel mit dem geschnitzten Kanzeldeckel des jüngern Sürlin (1510), am 7. rechter Hand das Relief der Grundsteinlegung bemerkt, zieht es ihn hinauf zum Chor. Als dessen Wächter steht links das 90 Fuß hohe Sakramentshäuschen aus den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts, dem späteren der Nürnberger Lorenzkirche ebenbürtig, ja an Reinheit der Formen überlegen – „gegossener Stein“, wie die Alten bewundernd sagten. Vom Triumphbogen hängt ein riesiger Kruzifixus herab, in der Hütte nach einem früher dem Münster gehörigen alten Original sürlinscher Zeit (jetzt in der alten Klosterkirche Wiblingen) geschnitzt, ein Geschenk der Ulmischen Garnisonsgemeinde an das Münster zum Lutherjubeljahr 1883. Ueber diesem Hängekreuz breitet sich an der Triumphbogenwand ein erst seit 1880 wieder aufgedecktes altes Freskogemälde aus, „Das jüngste Gericht“, das unsere Innenansicht zeigt, ein Werk aus dem Jahre 1470, welches sich durch seine Riesenausdehnung (es bedeckt 136 Quadratmeter, zählt nicht weniger als 213 Köpfe und die Christusfigur ist 3½ Meter hoch) den größten Darstellungen dieser Art zur Seite stellt, aber durch innere Vorzüge der lebendigen Gruppirung und Individualisierung alle überragt.
Aber die größten Kunstschätze birgt der Chor des Münsters. Die Berühmtheit des Dreisitzes und großen Chorgestühls von Jörg Sürlin d. ä. (1469 bis 1474/75) mit seinen unvergleichlichen Büsten von 7 Sibyllen und 7 heidnischen Weisen und Dichtern hat längst die ganze Welt durcheilt. Ebenso auch der Ruf der beiden gemalten Fenster von Hans Wild vom Jahre 1480 mit dem Stammbaum Christi etc. Indessen besitzt das Münster aus Stiftungen von Ulmern wie den Familien Bürglen, Daumer, Leube-Dieterich, Wieland im Chor und Seitenschiff neue Glasmalereien, die zu den besten gehören, welche die Neuzeit aufzuweisen hat. Je fader vielfach die neuen Glasmalereien sich in der Farbe geben, desto mehr ist die glückliche Nachahmung der Alten in den neuen Ulmer Fenstern hervorzuheben, die Gluth und Harmonie, die Tiefe der Farben, welche hier von den Münchener Anstalten (Burckhardt, Zettler) erreicht ist. Die wunderbare Kunst der Glasmalerei war lange wie verloren. Ihr Wiederentdecker ist der Nürnberger Siegmund Frank (1769 bis 1847), welcher damals die Münchener Werkstätten schuf, aus denen eine Erneuerung der herrlichen Kunst hervorging. Ulm selbst rühmt sich, den Dominikaner Jakob Griesinger seinen Sohn zu nennen, welcher 1441 bis 1491 der gefeierte Glasmaler des Bologneser Doms war und dort begraben liegt. Es ist zwar nur eine Sage, daß dieser Jacobus Allemanus das Gelb der alten Glasmalerei erfunden habe, dessen mondscheinmilden zarten Glanz man vergeblich bis heute wieder zu erreichen trachtet. Aber diese Sage bezeugt immerhin, wie es mit solchen Dingen zugehen mochte, und wir wollen sie erzählen: Der Bruder Jacobus war eben mit Einbrennen von Schmelzfarben beschäftigt, als ihm ein silberner Gewandknopf auf eine in der Schmelze befindliche Glasplatte fiel. In diesem Augenblick wurde er zu seinem Abte abgerufen. Als er wiederkam, sah er von jener Stelle das köstliche Kunstgelb sich entgegenleuchten, das aus Ocker und schwefelsaurem Silber hergestellt wird. - Es kam aber dasselbe nachweislich schon vor Griesinger vor.
Größere Beachtung als bisher verdienen die Oelgemälde, welche das Ulmer Münster besitzt; vor allem die unzweifelhaft echten Bilder aus Martin Schaffners bester Zeit. So wenig wir Sicheres von dieses Meisters Geburts- oder Todesjahr und seiner Heimath wissen, so kommt er doch 1521-1535 urkundlich in Ulm vor. Wir geben unsern Lesern die Ansicht des Choraltars (Schaffneraltars, S. 447). Es ist ein sogenannter Sippenaltar, dessen plastische und bildliche Darstellungen die heilige Sippe, d. i. den weiteren Familienkreis der Maria nach der Legende, zum Gegenstand haben. Demnach zeigt der Altarschrein die heilige Anna und Maria mit Kind, hinter diesen die drei Männer der ersteren (Cleophas, Salome, Joachim, den Vater der Maria) und dann den heiligen Joseph. Die Flügelgemälde führen nun die Sippe der beiden ersteren vor, Maria Cleophä mit ihrem Gatten Alphäus und Kindern, den zukünftigen Aposteln Jacobus dem älteren etc. etc. Es sind köstliche Verherrlichungen deutschen Familienlebens, voll Anmuth und Grazie. Die Kindlein spielen auf dem Schoße oder zu Füßen der Mütter mit Steckenpferd und [449] ABC-Täfelchen, die Väter sehen zu und haben die charaktervollen Porträtköpfe der Stifter. In gewisser Hinsicht noch bedeutsamer ist das Abendmahl in der Altarstaffel, das so merkwürdig an Lionardos bekanntes Bild anklingt und zeigt, daß Schaffner Italien gesehen hat, wie denn Thorwaldsen bei Anblick desselben ausrief: „Der muß ja Lionardos Abendmahl gesehen haben!“
Tausende unserer Leser werden, bis diese Blätter in ihre Hand kommen, gelegentlich des bevorstehenden Festes vom 28. Juni bis 1. Juli d. J. mit dem Strom der Gäste die Hallen des Münsters durchwandelt und die genannten wie noch viele andere Kunstschätze desselben, besonders auch noch in der Sakristei, betrachtet haben. Die Klänge des Mendelssohnschen „Elias“, von einem Chor von dreihundert Sängern und entsprechendem Orchester im Münster ausgeführt, werden majestätisch widerhallen; das Festspiel, von Ulmer Bürgern dargestellt, wird die Hauptepochen der Geschichte der Stadt und des Münsterbaues am Auge vorüberführen, und der große historische Festzug von 1500 Theilnehmern wird den Glanz der alten Reichsstadt neu aufleben lassen. Aber die wenigen, welchen es vergönnt war, an der feierlichen Versetzung des Schlußsteins des Thurmes auf der schwindelnden Höhe des Gerüsts theilzunehmen, werden die Ueberzeugung lebenslang in sich tragen, daß die erhabene Weihe dieses Augenblicks alles, was Festesglanz zu bieten vermag, weit hinter sich läßt.
Eine stille andächtige Gemeinde, versammelten wir uns am Abend des 31. Mai um den Meister und die Werkleute auf der schwindelnden Höhe der obersten Plattform des Gerüstes, aus welcher eben noch die äußerste Spitze des vollendeten Thurmes heraustrat, um nun bald frei in die Lüfte zu ragen. Lichter Abendsonnenschein übergoldete das weite Land und die Häuser der Stadt tief unten, aus deren Giebelfenstern wehende Tücher zu uns heraufgrüßten, indeß vom Thurme die deutsche und die württembergische Fahne herabwallten. Auf dieser Höhe, wußten wir, wird keiner mehr stehen, kein Auge den sonnenbeglänzten, sturmumtobten, majestätischen Gipfel je wieder aus dieser Nähe grüßen! Wir waren alle durchdrungen von der Größe des Augenblicks, durch welchen in die Geschichte Ulms, des evangelischen Gotteshauses und der deutschen Kunst ein neues unvergängliches Blatt eingefügt werden sollte.
Da klangen die Glocken des Domes herauf zu uns. Die am Morgen von den Geistlichen und den bürgerlichen Kollegien der Stadt unterzeichnete Urkunde von Pergament, welche besagt, daß
wird in die Höhlung des vorletzten Steins, welcher dem Thurmknopf zur Unterlage dient, eingelegt und vermauert – und langsam senkt sich dieser herab auf denselben. Ein frommer Segensspruch zuerst; dann klingt unser dreifacher Jubelruf hinaus in die Lüfte, dem Könige als dem hohen Förderer und Protektor, dem Baumeister mit seinen Gehilfen als dem ruhmreichen Vollender des großen Werkes! Und in feierlichen Accorden des Chorals „Nun danket alle Gott“ scholl es vom Thurmkranz unter uns nieder, der harrenden Menge zur frohen Kunde, was droben geschehen!
Schulschluß und Ferien.
Die „großen Ferien“ nahten auf den schweren Flügeln dumpfer Sommerhitze, die erfahrungsmäßig nie hartnäckiger, schattenloser und anhaltender ist als in den letzten drei Wochen vor Schulschluß, um sich ebenso erfahrungsmäßig mit dem ersten Ferientage in kalte, regnerische und unfreundliche Witterung zu verwandeln – gleichsam, als hätte die Mutter Natur mit der weisen und mächtigen Schulbehörde den Grundsatz gemeinsam in Pacht, daß man den Kindern das Leben so sauer zu machen habe, als es irgend angehen will!
In zahlreichen Familien, welche große Städte bewohnen, macht sich um diese Zeit eine innere Gährung bemerklich! Väter suchen nach brauchbaren Vorwänden, um die Ihrigen auf eine möglichst erträgliche Insel zu bannen und mit dem beruhigten Bewußtsein, daß sie vier Wochen lang nicht davon weg können, selbst frank und frei die Welt nach allen Himmelsrichtungen zu durchstreifen.
Mütter beginnen, die Sommer- und Herbstgewänder ihrer Nachkommenschaft mit mißtrauischen Blicken auf Schönheit und Dauerhaftigkeit zu prüfen, und werden in diesen kritischen Lebensabschnitten meist nur mit einem über die Hand gezogenen Strumpf gesehen, den sie auf die wichtige Frage hin: „stopfen oder anstricken?“ zweifelhaft betrachten.
Die Kinder wagen sich vor der gelösten Censur- und Versetzungsfrage – im westlichen Deutschland mit den großen Ferien zusammenfallend – noch nicht zu freuen, da ihnen bei jedem Nachlassen in ihrer armen, kleinen Sisyphusarbeit die furchtbare Drohung entgegengeschleudert wird: „Wer sitzen bleibt, darf nicht mitreisen und bekommt Privatstunden während der Ferien.“ „Und es sollen Fälle vorgekommen sein, wo Eltern wirklich so ,entmenscht‘ waren, ihre Kinder nicht mitzunehmen,“ versicherte Paul Langer seine Geschwister, als die obige Frage zur Verhandlung kam.
Dr. Langers waren übrigens fest entschlossen, dies Jahr in die Sommerfrische zu gehen, und nur das Wo und Wie bedurfte noch der Feststellung. Hausvater und Hausmutter schworen jeder auf ein anderes Reisehandbuch, und der Streitruf „hie König – hie Becker!“ spaltete vorläufig die Familie in zwei feindliche Lager.
Die Schweiz mit ihren himmelhohen Bergen und blauen Seen lockte unwiderstehlich, und endlich war der Riesenentschluß gefaßt, daß man vollzählig diesen Aufenthalt wählen würde – und zwar unter Mitnahme des Dienstmädchens, da Frau Langer aus Sparsamkeitsrücksichten überall ihr Wirthschaftsbuch mit hinschleppen mußte und der furchtbaren Frage: „Was kochen wir morgen?“ in keiner Lage des Lebens zu entgehen bestimmt war.
Für die arme Hausfrau war daher der Zustand der Seligen im Paradiese vor allem an die Bedingung geknüpft, daß man daselbst nie vorher eine Ahnung haben dürfte, was auf dem Mittagstisch erscheinen werde – viel weniger denn eine bohrende Verantwortlichkeit im Innern fühlen, ob der Braten zu sehr „durch“ sei – ein Vorkommniß, welches den sonst milden und gütigen Hausvater mit Blitzesschnelle in einen tobenden Tyrannen zu verwandeln pflegte.
Ehe an die Ausführung des großen Reiseplans gegangen wurde, waren aber wie gesagt noch die Schulprüfungen und ihre Ergebnisse abzuwarten. Langers sahen sich demgemäß vor die süße und ehrenvolle Aufgabe gestellt, in den letzten drei Tagen vor der Abreise zu mehreren, verschiedenen Stunden sich durch den Augen- und Ohrenschein zu überzeugen, ob man nicht besser thäte, sich das Schulgeld für Paul, Karl, Elli und Anna baar wieder herauszahlen zu lassen, – oder ob das wochenlange Eintrichtern bestimmter Fragen und Antworten am Prüfungstage auch die gewünschten Erfolge haben werde.
Die Mutter hatte bereits einen lebhaften Vorgeschmack der zu erwartenden Freuden gehabt, indem Paul und Anna zu öffentlichem Hersagen je einer Dichtung von ihren verschiedenen Lehrern bestimmt waren.
Paul schnatterte daher seit vier Wochen bei jeder Gelegenheit, beim Essen, beim Schlafengehen, beim Aufstehen, sowie er der Mutter ansichtig wurde, los: „Une cigale ayant chanté tout l'été“ und setzte jedem Versuch, ihn zu dramatischer Auffassung des Gedichts von der „Grille, die den ganzen Sommer gesungen hatte“, zu bringen, einen dumpfen Widerstand entgegen, der wenigstens darüber beruhigte, daß er zu dem dornenvollen Pfade des Schauspielers keine Neigung zeigen werde. – Anna hatte ein kindlich belehrendes Zwiegespräch zwischen zwei Bäumen vorzutragen [450] und begrüßte auch täglich die Mutter beim Frühstück mit der wenig schmeichelhaften Anrede:
„Du alte Tanne im dunkeln Kleid,
Du solltest dich schämen zur Frühlingszeit!“
Der große Tag des „Mädelexamens“, wie die Brüder sich ausdrückten mit männlicher Verachtung des niederen Standpunkts, auf dem die Gelehrsamkeit der höhern Töchterschule in ihren Augen stand, war herangekommen. Die jungen Damen legten eine betrübend aufs Aeußerliche gerichtete Gesinnung an den Tag, indem beide viel aufgeregter darüber waren, ob die blauen Kleider gut paßten und die Schleifen an den Zöpfen auch die richtige Abschattirung dazu zeigten, als darüber, ob die Punischen Kriege und die amerikanischen Städte – die beiden Bildungszweige, über die kein Schulmädchen von der letzten bis zur ersten Klasse hinauskommt! – auch in den Köpfen fest säßen.
Die Mutter war mißgestimmt, da das Examen die Rücksichtslosigkeit beging, nachmittags um drei Uhr stattzufinden, zu einer Tageszeit, in welcher der normale Mensch sich mit Bewußtsein und Genuß dem Verdauungsgeschäfte anheimgiebt und zu nichts weiter Neigung hat, als sich aufs Sofa zu legen und bei einem Schmöker die Welt und ihre Sorgen auf eine halbe Stunde zu verabschieden.
Statt dessen mußte die Hausfrau unmittelbar nach dem letzten Bissen sich mit Hut und Tuch bekeiden und in wahrer Bratenhitze mit ihren fieberhaft aufgeregten Töchtern nach dem Schulhause wandern, wo bereits eine Schar hüpfender, schnatternder, langzöpfiger Mädchen vor der Hausthür stand und mit jenem prüfenden Blick die gegenseitige Toilette musterte, ohne den auch erwachsenere Damen schwer aneinander vorbeikommen können!
Oben angelangt, fand die Mutter zu ihrer Empörung und Beschämung, daß sie von der zum Zuhören eingeladenen Elternschaft „die erste“ war, ein Zustand, der merkwürdigerweise für jeden Menschen das Gefühl einer gewissen Blamage in sich schließt, wogegen „der letzte“ sich immer einigerniaßen vornehm vorkommt, – ein seelischer Vorgang, der ebenso räthselhaft als unbestreitbar ist!
Ein Tisch, mit Handarbeiten bedeckt, zeigte zur Befriedigung unserer Hausfrau, daß die dem weiblichen Geschlecht angemessenen Beschäftigungen noch nicht im Wuste der Gelehrsamkeit erstickt waren, und ihre Freude wäre noch größer gewesen, wenn ihr nicht Anna ein graubraunes, räthselhaftes Gewebe mit schönem Selbstgefühl als „mein Strumpf“ vorgestellt und sogar sich nicht entblödet hätte, eine Karte mit dem auf diese Weise recht gebrandmarkten Familiennamen an dem furchtbaren Werk zu befestigen. Als Erstgekommene wurde die Mutter auf einen der allgemeinen Aufmerksamkeit ausgesetzten Platz in dem etwas dumpfen, heißen Raum genöthigt und saß daselbst wohl zwanzig Minuten lang regungslos und schmorend einer Reihe leerer Bänke gegenüber, indem sie sich geradezu tödlich langweilte und sich beständig innerlich erbittert ausrechnete, wie gut und reichlich sie in dieser Zeit hätte Siesta halten können!
Endlich gab der Klingelton das Zeichen zum Beginn der „Vorstellung“, die jungen Damen erschienen paarweis, verlegen lächelnd, und nahmen ihre Plätze ein. Die beiden Schwestern unserer Familie Langer gehörten zum Glück derselben Klasse an und waren die zunächst Examinirten.
Die Mutter hatte nun den Hochgenuß, das Gedicht von der „alten Tanne“ mit wenigstens der Abwechselung wieder zu hören, daß Elli, von Schüchternheit übermannt, gänzlich unhörbar flüsterte und die Versammlung in lebhafter Spannung darüber erhielt, ob sie die Schillersche „Bürgschaft“ oder „Gott grüß' Euch, Alter, schmeckt das Pfeifchen?“ deklamire – ein Zweifel, der auch noch ungelöst blieb, als Elli mit einem Tanzstundenknix von etwas windschiefer Richtung der Oeffentlichkeit für heut Lebewohl gesagt hatte.
Das nun folgende Examen in der Erdkunde war für die Mutter ebenfalls kein glücklicher Zustand. Der drohende Zeigefinger des lehrenden Fräuleins kehrte von den Mägen ihrer Töchter, auf die er bei jeder Frage gerichtet war, leer und unverrichteter Sache zurück, ja, nicht genug damit, – Anna suchte sogar zweimal zu zeigen, daß sie Bescheid wisse, und als sie auf diese Andeutungen hin mit einem ermutigenden „Nun, Aennchen?“ zum Verwerten ihrer Kenntnisse aufgefordert wurde, schwieg sie gänzlich und ließ es ewig unaufgeklärt, warum sie sich so löwenkühn der furchtbaren Möglichkeit des Gefragtwerdens ausgesetzt habe!
Das einzige Mal, wo Frau Langer die Stimme einer ihrer Töchter vernahm, war, als Elli auf die bescheidene Anfrage: „Welcher bekannte Held war in Küstrin gefangen?“ mit sanfter Sicherheit die überraschende Antwort gab: „Columbus!“, ein geringfügiger Irrthum, den das gewandte Fräulein mit einem schnellen und unbefangenen „ganz recht – Friedrich der Große!“ in einen Treffer erster Güte umzuwandeln wußte.
Die Mutter, auf ihrem bevorzugten Platz, wünschte fortgesetzt, daß sie die Erde verschlänge, da sie die Kritik sämmtlicher Bekannten fürchtete, – eine Besorgniß, die darum recht unbegründet war, weil alle Eltern nur auf ihre eigenen Paulas, Emmys oder Elsen achteten und hinterher beim besten Willen nichts darüber hätten berichten können, was die Töchter anderer Leute gewußt oder in diesem Fall nicht gewußt hätten!
Die Prüfung ging solchergestalt ruhmlos für die Familie Langer zu Ende, und als die Mutter mit ihren beiden jungen Damen den Heimweg antrat, that sie als einzige Kritik den vernichtenden Ausspruch: „Wie gut, daß der Papa nicht mit war!“ eine Wahrheit, der sich der betreffende Papa nachher aus voller Seele anschloß, indem er auf den Bericht der Mutter nach etwas roher Männerart bemerkte: „Es ist mir übrigens ganz einerlei, Auguste, ob die Mädel etwas lernen – wenn sie eine gute Suppe kochen können, so mögen sie meinetwegen sagen: ‚Der Cid ist in Preußisch-Eylau geboren und in Myslowitz erzogen worden‘ – darauf kommt es nicht an!“
Die Prüfung der Söhne hätte naturgemäß ernster genommen werden müssen, doch da sich dieselbe für die in Frage kommenden Klassen nur auf ein Deklamatorium beschränkte und die entscheidende Thatsache, daß sowohl Paul wie Karl – letzterer allerdings als neunundzwanzigster unter einunddreißig Schülern! – versetzt seien, bereits auf geheimnißvollem Wege durchgesickert war, so konnte man diesem großen Akt mit heiterer Ruhe entgegensehen.
Die Kleiderfrage der namenlos glatt gebürsteten jungen Männer war ja auch viel leichter zu entscheiden! Paul wüthete allerdings im letzten Augenblick durch das ganze Haus, um alle Schubfächer und sogar die Speisekammer aufzureißen und einen dunkelblauen Shlips zu suchen, den er verlegt hatte, und Karl vergoß ein paar stille, aber bittere Zähren über einen Kittel, dessen Schnitt ihm die schimpfliche Bezeichnung „Mädeljacke“ eingetragen hatte. Aber im großen und ganzen wurde die Sache doch weniger wichtig behandelt, und die Eltern – bei den Jungen gingen beide Eltern mit! – begaben sich in gehobener Stimmung nach dem Turnsaal des Gymnasiums, wo das Deklamatorium stattzufinden hatte.
Die Sexta eröffnete dasselbe mit ihren rührenden Piepsstimmen und dem Gesang: „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus“ – eine Zeitverwechselung, welche in der Glut des Augustmorgens allerdings nicht zu streng genommen werden durfte!
Dann betrat ein beseligter Abiturient, der schon wußte, daß ihm die Marteranstalt der Schule nichts mehr anhaben konnte, freien Blicks die erhöhte Rednerbühne und donnerte eine vernichtende Verurtheilung der spartanischen Einseitigkeit und ein ebenso begeistertes Loblied auf die perikleische Hochbildung, die auch dies Gymnasium durchwehe, in den Zuhörerkreis, zugleich die Versicherung abgebend, daß die Studentenzeit vom ersten Semester an für ihn und seine Genossen nur eine Gelegenheit zu eisernem Fleiß und unaufhörlichem Arbeiten sein werde – ein kühner Ausspruch, der von den Vätern mit säuerlichem Lächeln und mäßig überzeugt angehört wurde.
Als erste Frucht der perikleischen Bildung trat nun unser Paul mit der wochenlang eingeübten Dichtung von der Grille und der Ameise auf die Bretter, die ihm heute die Welt bedeuteten, und fing auch ganz frisch an, bis etwa zur Hälfte, wo das ruchlose Gedächtniß ihm plötzlich mitten durchzuknicken schien, er bis unter die Haarwurzeln erröthete und einen wilden, flehenden Blick in die Menge warf.
Ein freundlicher Mitschüler überlieferte ihm übrigens im brüllenden Flüsterton das verhängnißvolle Fehlwort, und somit durfte der Kunstgenuß nun ohne weitere Unterbrechung zu Ende gehen.
Die Mutter konnte sich aber, ehe Paul mit fürstlichem Anstand von seinem erhöhten Standpunkt herabkroch, eines leisen, mißbilligenden Kopfschüttelns an seine Adresse nicht erwehren, da ihr die beständigen häuslichen Uebungen der letzten Wochen angesichts dieses Unfalls als recht überflüssig erscheinen mußten.
Karl war einer ähnlichen Probe überhoben. Da er nur, wie er zu Hause triumphirend erzählte, „solo mit sechzig andern“ ein Lied vortrug, so war nicht anzunehmen, daß er so betrübend falsch singen werde, um sämmtliche sechzig Solisten zu übertönen, [451] und das „Ade, du mein lieb Heimathland“ ging denn auch glänzend und glatt vorüber.
Einige erheiternde Zwischenfälle fehlten dem großen Tage nicht. Daß dem Wilhelm Tell beim Verkünden seines Vorhabens
„Mach deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt,
Fort mußt du, deine Uhr ist abgelaufen!“
die Stimme vom dräuenden Baß zu quietschender Kindlichkeit umschlug, nahm der Sache viel von ihrem unheimlichen Charakter. Der „Die Kraniche des Ibykus“ Vortragende machte sich des kleinen Versehens schuldig, in tiefbewegtem Ton zu verkünden:
„Er sieht, schon kann er nicht mehr sehn,
Die nahen Stimmen furchtbar krähn!“
eine Leistung, die bei der Schwierigkeit der Ausführung ein verwundertes Gefühl in der Brust der Hörer weckte.
Jetzt traten zwei Obertertianer auf, von denen der eine sich durch einen kugelrunden, schwarzen Krauskopf auszeichnete und zu allgemeiner stürmischer Heiterkeit von seinem Gefährten angeredet wurde: „O König, schöner König mit Deinem goldnen Haar“ – eine Mißachtung der Thatsachen, die allerdings dem tragischen Inhalt des Gedichts vom armen König Enzio einen drolligen Beigeschmack verlieh, der den Verfasser gewiß recht schmerzlich berührt hätte.
Noch stärkere Zumuthungen an die Einbildungskraft der Hörer wurden aber gestellt, als zwei muntere Sekundaner sich als Elisabeth und Maria Stuart in den bekannten lebhaften Zank einzulassen hatten. Und als der eine in seinem Fräckchen in die Kniee sank und von dem andern beschuldigt wurde, daß er durch seine Schönheit und Gefallsucht in der Männerwelt doch unverantwortlich viel Schaden angerichtet habe, – da brach minutenlang ein so tosender Jubel los, wie er kaum je eine Maria Stuart lebhafter gefeiert haben dürfte, wenn ihr auch vielleicht eine weniger heitere Färbung des Beifalls angenehmer gewesen wäre!
Wie alle Freuden der Erde, so nahm auch diese ein Ende! Der Oberlehrer, ein zweiter Paris, der statt der Aepfel die Zeugnisse in Händen hielt, hatte das Urtheil über die Häupter seiner Untergebenen gerufen – Karl und Paul waren versetzt!
Diese Thatsache ist für Eltern und Kinder ja stets beglückend, obwohl sie, bei Licht besehen, zunächst die gänzlich unbeschäftigten, tobenden Ferien ohne Aufgaben und sodann die massenhafte Anschaffung neuer Schulbücher nach sich zieht. Während nämlich Schiller, Goethe, Homer, Shakespeare und andere gewöhnliche Sterbliche die angenehme Eigenschaft besitzen, daß ihre Werke jahraus, jahrein dem Wechsel der Moden Trotz bieten, haben der unsterbliche Plötz, der gesegnete Ostermann und der brave Daniel die berechtigte Eigenthümlichkeit, mit rasender Schnelle zu „veralten“ und bei jeder Klasse einer neuen Ausgabe zu bedürfen, so daß in Elternherzen der schmerzliche Seufzer aufsteigt, ob nicht ihr Inhalt von etwas dauerhafterem Stoff gemacht werden könnte. Selbst Lesebücher „veralten“ von Jahr zu Jahr und können nicht von vorgerückten Geschwistern geerbt werden, obwohl nach vielfacher Erfahrung die Schüler und Schülerinnen nach der Auffassung des beschränkten Elternverstandes gerade so gut nach einer Ausgabe von 1875 lesen lernen könnten, als nach der „neuesten“ und „allerneuesten“.
Doch das ist nun nicht zu ändern, und wie andere Leute, so finden sich auch Langers mit Würde in das Unvermeidliche und freuen sich der Thatsache, nun wieder auf ein Jahr der bangen Frage „sitzen bleiben oder nicht?“ überhoben zu sein, einer Frage, welche Söhne nur durch ihre Kindheit zu begleiten – bei Töchtern dagegen erst nach der Einsegnung entscheidende Wichtigkeit zu erlangen pflegt.
Da diese ernste Angelegenheit nun abgethan war, so konnte sich die Mutter mit ganzer Seele dem Packen des Frachtkorbes zuwenden, eine Beschäftigung, in der sie nur durch das kleinste Kind des Hauses unterbrochen wurde, welches alles, was zu Reisezwecken dienen sollte, als eßbar aufzufassen geneigt war und von der Hausfrau durch beständige eintönige Zurufe. „Nicht in den Mund!“ an diesem unheilvollen Beginnen gehindert wurde.
Die größeren Kinder brachten voll Eifer allerhand geschleppt, was sie für die Reise unbedingt zu brauchen betheuerten.
Die beiden Puppen wurden, ohne Rücksicht auf ihre Gliedmaßen, auch glücklich mit eingestopft, ebenso eine Schachtel Bleisoldaten. Als aber Paul mit einem Schild von etwa zwei Metern Länge und entsprechender Breite antrat und ohne diesen nicht vier Wochen leben zu können behauptete, schien es doch an der Zeit, den übermäßigen Ansprüchen Einhalt zu thun; der Indianerschild blieb zurück und ebenso die Steinsammlung, da die letztere der Leichtigkeit des Frachtgepäcks nicht eben förderlich erschien.
Nachdem der umfangreiche Korb als solider Zugvogel den Weg in die wärmere Zone der Schweiz vorangeflogen war, nahte für die Familie selbst der Reisetag. Der Vater, dessen kurz bemessene Urlaubszeit bedächtiges Eintheilen derselben benöthigte, machte sich bereits vorher von der Familie los, da er es sich mit Recht nicht allzu niedlich dachte, mit fünf Kindern unter zwölf Jahren zu reisen.
Als unsere Hausmutter am Morgen mit ihrer etwas verdrießlichen Küchenfee und allen Kindern reisefertig dastand, überzählte sie mit Feldherrnblick das Handgepäck. Da nämlich die genommenen Rundreisebillette kein Freigepäck gestatteten, so mußte alles, was eine große Familie auf der Reise und in den ersten Tagen am neuen Aufenthaltsort etwa gebraucht, „auf Händen“ getragen werden, ein Verfahren, welches nur der zu schätzen weiß, der es „schaudernd selbst erlebt“. Die Gepäckstücke erreichten die erfreuliche Zahl elf ohne das Tragkind, welches als einjähriges Menschenwesen doch vollberechtigt war, ebenfalls als Handgepäck zu gelten.
Die elf Gegenstände, beginnend bei der Rolle mit Regenschirmen und endend bei dem Korbe mit gewärmten Milchflaschen, wurden nun zu übersichtlicher Vertheilung gruppirt; da aber beständig einer noch etwas hinzubrachte oder wegnahm, so gestaltete sich dieses Bild etwa wie die Figuren in einem Kaleidoskop. Besonders ein kleiner, grauer Koffer zeichnete sich durch beständiges, tückisches Verschwinden aus, so daß der Ruf: „Wo ist der graue Koffer?“ mit solcher Regelmäßigkeit erklang wie der Schlag einer Kuckucksuhr.
Jetzt wurden nach dem Spruch: „Ein jeder Stand hat seine Last“ den einzelnen Mitgliedern der Familie ein oder mehrere Stücke zugetheilt. Die Jungen, die es erniedrigend für ihre gesellschaftliche Stellung fanden, überhaupt etwas zu tragen, erlagen im ersten Augenblick schon unter dem Gewicht jedes, auch des kleinsten Päckchens, das ihnen zugemuthet wurde, und mußten erst durch die höfliche Anfrage: „Ihr habt wohl schon lange keine Prügel mehr gekriegt?“ auf den Weg der Mannszucht zurückgeführt werden.
In zwei Droschken wurde nun die Familie mit allen Sachen hoch aufgethürmt; allein die Ueberfüllung der Gefährte hatte die betrübende Wirkung, daß unterwegs mehrere Stücke Gepäck, darunter natürlich der boshafte graue Koffer, herausfielen, so daß man halten und unter dem Angstgeschrei der Kinder: „Wir kommen zu spät!“ das Entrollte wieder holen mußte.
Man kam erstaunlicherweise doch noch rechtzeitig an und fand, dank einem Fünfzigpfennigstück, welches in die Hand eines vollständig ahnungslos dabei dreinschauenden Schaffners wanderte, ein Coupé für sich allein, in dem man nun, wie sich mit Leichtigkeit berechnen ließ, etwa anderthalb Stunden lang reisen würde.
Die schon vor der Abfahrt fast zu Tode erschöpfte Mutter befand sich aber noch immer in qualvoller Verfassung, da das Dienstmädchen einen Theil des Handgepäcks mit in der andern Wagenklasse hatte und beständige Zweifel die Seele der Hausfrau zerwühlten, ob die verhängnißvolle Zahl elf auch stimmte. Infolgedessen wurde auf jeder Station mit Wagenwechsel der Zettel mit dem Verzeichniß der Sachen wie das Aufgebot in der Kirche abgelesen, ein Verfahren, welches die Reise zu einer beständigen Hetzjagd gestaltete, da zum Zugwechsel gewöhnlich nur zehn Minuten Zeit war.
Die Kinder waren zuerst noch artig genug! Sie hatten ein segensreiches Spiel alter Karten mit und spielten auf Pauls Tornister „Tod und Leben“, während das Kleine ein Biskuit unparteiisch in seinen Mund, über sein Gesicht und seine Kleider vertheilte und in dieser Beschäftigung vollstes Genügen zu finden schien.
Nach dem dritten Male Umsteigen aber, und nachdem der Korb mit den Eßwaren infolge der an ihn gestellten ungeheuren Anforderungen fast geleert war, begann die Reiseungezogenheit in ihrer furchtbarsten Gestalt Platz zu greifen. Man war zum Ueberfluß noch mit einigen schwer zu beklagenden Mitreisenden in ein Coupé gekommen, deren einer, augenscheinlich ein Handlungsdiener mit einer lawn-tennis-Mütze, der gern für einen Lord gehalten sein wollte, beim Erblicken der Kinderschar und des eben heftig schreienden Nesthäkchens fast in Weinkrämpfe verfiel und der [452] verlegenen Mutter solche giftigen Blicke zuwarf, als wenn Kinder überhaupt etwas Verwerfliches, schreiende Kinder aber eine ganz ausgesuchte Niederträchtigkeit wären.
So kam man bis Luzern, wo die Alpenkette in ihrer ganzen Schönheit sich vor den Blicken der Fremden aufthat und die Mutter, in großer Besorgniß vor der berufenen Theuerung großer Gasthöfe, ihre Angehörigen in eine kleine, furchtbare Räuberkneipe führte, bei Ueberreichung der Rechnung für das ungenießbare Futter aber trotzdem fast ohnmächtig wurde, da dieselbe ihre kühnsten Erwartungen um das Dreifache ungefähr übertraf und die Kinder beständig laut und leise versicherten, sie wären nicht satt geworden! –
Blätter und Blüthen.
Emin Pascha. (Zu dem Bilde S. 421.) Schicksale, wie Emin Pascha sie erlebt hat, gehen auch an dem wetterhärtesten Manne nicht spurlos vorüber. Das zeigt die Vergleichung unseres heutigen Bildes von Emin mit demjenigen, welches wir vor zwei Jahren (Jahrg. 1888, S. 621) unseren Lesern vorlegen konnten. Die Züge des Paschas sind ernster geworden, und deutliche Furchen auf Stirn und Schläfen verrathen die ausgestandenen körperlichen und seelischen Leiden. Aber dieses Antlitz zeugt nach wie vor für die unerschütterliche Thatkraft und den hohen Forschersinn des Mannes, der an der Spitze einer deutschen Unternehmung jetzt aufs neue dem Innern des schwarzen Erdtheils zugezogen ist, aus dem er kaum unter so eigenthümlichen Umständen „gerettet“ worden war.
Ueber die ganze civilisirte Welt schreitet jetzt Stanleys Buch „Aus dem dunkelsten Afrika“, von dem wir unseren Lesern in diesem Halbheft Kunde geben; ein Buch, das mancherlei Lobsprüche auf den Pascha von Aequatoria enthält, aber auch schwere Angriffe auf ihn, der sich nicht so ohne weiteres nach dem Herzen Stanleys und seiner englischen Auftraggeber retten lassen wollte. Man wußte schon lange, daß solche Dinge in dem Buche stehen würden, und am besten wußte es gewiß derjenige, dem Lob wie Tadel gilt. Aber Emin Pascha hat es bis jetzt vorgezogen, zu schweigen; noch ist ihm die That wichtiger als das Wort, und während sein amerikanischer Rivale sein umfangreiches Werk schrieb, traf er, der kaum von seinem schweren Unfall Genesene, bereits die Vorbereitungen zu einem neuen Zuge in das Innere – wohin, das hüllt sich vorderhand noch in undurchdringliches Dunkel.
Am Gelegenheit zur Niederlegung seiner Vertheidigung hätte es Emin Pascha nicht gefehlt. Die „Gartenlaube“ hatte sich sofort an ihn gewandt und ihm ihre Spalten zu einer Schilderung seiner Erlebnisse und Erfahrungen zur Verfügung gestellt. Leider aber hat ihn erst seine Krankheit, dann sein rascher Wiederaufbruch daran verhindert, für jetzt von dem Anerbieten der „Gartenlaube“ Gebrauch zu machen. Er schrieb uns aus Bagamoyo, 1. April 1890:
„Im Begriffe, eine neue Expedition ins Innere Afrikas zu leiten, wird es mir kaum möglich sein, mich schriftstellerischen Arbeiten zu unterziehen oder auch nur die durch ziemlich langen Aufenthalt in Afrika gewonnenen Resultate zu verarbeiten. Ich muß deshalb zu meinem Leidwesen das mich als alten Leser der ‚Gartenlaube‘ sehr erfreuende Anerbieten einer Veröffentlichung meiner Erfahrungen ablehnen. Wollen Sie mir jedoch gestatten, Ihnen hin und wieder einen Reisebrief aus dem Innern zu senden, so will ich das gern thun, ohne mich jedoch an bestimmte Termine zu binden. Genehmigen Sie u. s. w. Dr. Emin Pascha.“
Demnach dürfen wir also, wenn auch nicht in unmittelbarster Zukunft, so doch in einiger Zeit interessanten Mittheilungen des berühmten Afrikaforschers in den Spalten der „Gartenlaube“ entgegensehen. =
Unsere eßbaren Pilze. Jedes Jahr liest man in Zeitungen Nachrichten von Erkrankungen und Todesfällen infolge des Genusses von giftigen Pilzen. Jedes Jahr werden bei dieser Gelegenheit Warnungen erlassen und Vorschläge zur Ueberwachung des Marktes gemacht; wir besitzen eine ganze Litteratur von „Pilzsammlern“ und „Pilzführern“, und trotzdem kehren die Unglücksfälle immer wieder. „Und doch ist es so leicht, giftige Pilze von eßbaren zu unterscheiden,“ meint noch heute so manche Hausfrau, „man braucht ja nur einen silbernen Löffel in die gekochten Pilze einzutauchen! Wird er schwarz, so ist das Gericht giftig.“ Unzählige Male wurde dieses Mittel als ganz und gar unzuverlässig bezeichnet (vergl. „Gartenlaube“ 1885, S. 563). Aber trotzdem giebt es noch unzählige Menschen, die es anwenden und fest daran glauben.
Freilich, das einzige Mittel, welches uns wirklich vor der Vergiftung schützt, ist nicht so einfach, obwohl es sich in die wenigen Worte: „die eßbaren Pilze genau kennenlernen!“ zusammenfassen läßt. Wer Pilze sammelt, kauft oder kocht, muß diese Kenntniß besitzen, sonst kann er leichtfertigerweise das Leben seiner Nächsten gefährden. Von dem Bewußtsein dieser Pflicht sind viele noch lange nicht durchdrungen. Ich kenne Hausfrauen, die in der Küche Vortreffliches leisten, infolge ihrer Schulbildung aber kaum die Merkmale des Champignons oder des Steinpilzes kennen. Sie kochen auch Pilze und vertrauen dabei dem Wissen des Sammlers oder Verkäufers. Im großen und ganzen leiden sie dabei keinen Schaden; denn die Landbevölkerung und die Marktweiber kennen in der Regel die eßbaren Arten aufs genaueste. Es giebt aber keine Regel ohne Ausnahme – und wenn man bedenkt, wie oft unerfahrene Kinder auf die Pilzjagd geschickt werden und was für Personen mitunter sich dem Marktgeschäfte widmen, so wird es uns nicht wundern, daß so oft Vergiftungen infolge des Pilzgenusses vorkommen. Aus diesem Grunde möchten wir unsere Hausfrauen, die der Küche vorstehen, ganz besonders auf die Pflicht, eßbare Pilze genau kennenzulernen, aufmerksam machen. Gekocht oder zubereitet wird nur der Pilz, den man genau als eßbaren kennt; alles andere wird zurückgewiesen: das sollte ein feststehender Grundsatz in der Küche sein. Das Kennenlernen verursacht allerdings Mühe, aber so überaus schwierig ist es nicht. Es wird von den Hüterinnen des häuslichen Herdes durchaus nicht verlangt, daß sie sich in die Geheimnisse der Pilzkunde vertiefen. Sie sollen in dieser nur ebenso bewandert sein wie in der Fleischkunde. Ob sie wissen, woraus ein Muskel besteht, oder nicht, ist ganz gleichgültig, aber sie müssen auf den ersten Blick Rindfleisch vom Schweinefleisch, oder eine Taube von einem Rebhuhn unterscheiden können. Ebenso einfach ist die Forderung, die eine Pilzart von der andern unterscheiden zu können. In der Schule haben wir es nicht gelernt, also müssen wir es nachholen durch Selbststudium.
Für einige der am häufigsten vorkommenden eßbaren Pilze hat die „Gartenlaube“ Seite 514 des Jahrgangs 1889 nützliche Winke gegeben. Außerdem giebt es eine große Zahl von Handbüchern der Pilzkunde; als die zweckmäßigsten aber erscheinen uns diejenigen, welche in kurzer bündiger Form das Nöthigste enthalten und vor allem gute naturgetreue Abbildungen bringen. Ein solches Büchlein ist das beste Pilzlexikon für den Haushalt. Da haben wir z. B. einen verdächtigen, uns nicht bekannten Pilz vor uns; wir sehen die Abbildungen der eßbaren Pilze in unserem Büchlein durch, und finden wir den Verdächtigen darin nicht – so werfen wir ihn weg. Sein Name und seine übrigen Eigenschaften können uns gleichgültig sein, er ist eben nicht eßbar.
Auf ein solches Büchlein, das bereits in zweiter Auflage vorliegt, möchte ich nun die Leser und namentlich Leserinnen aufmerksam machen. Es verdient unbedingt ein Plätzchen neben dem „Kochbuche“, und es wird in allen fraglichen Fällen die beste Auskunft geben. Der Titel desselben lautet: „Unsere eßbaren Pilze in natürlicher Größe dargestellt und beschrieben mit Angabe ihrer Zubereitung von Dr. Julius Röll“ (Tübingen, Verlag der H. Lauppschen Buchhandlung). Wir lernen in demselben nur unsere eßbaren Pilze kennen und zwar in trefflichen „Porträts“, denen sozusagen lediglich das „Signalement“, die Beschreibung ihrer äußeren Eigenschaften, beigegeben ist. Nur ein Giftpilz findet sich in dieser ehrenwerthen Gesellschaft: es ist der giftige Knollen- oder Gichtblätterpilz, der in seinem Jugendzustand mit dem edlen Champignon leicht verwechselt werden kann und dem die „Gartenlaube“ im Jahrg. 1885, S. 219 wegen seiner Gemeingefährlichkeit einen besonderen Artikel gewidmet hat. *
Auflösung des Zifferräthsels auf S. 420: Bart – Trab. |
Auflösung des Doppellogogriphs auf S. 420: I. Duell, Duett, II. Spinell, Spinett. Auflösung des Buchstabenräthsels auf S. 420:
Frösche – Frische. |
Auflösung des Bilderräthsels auf S. 420: Werkzeug will gebraucht sein. Auflösung des Schieberäthsels auf S. 420: Riesa, Meise, Nisch, Last, Hero, Sir, Ebro, Maid, Arad, Emin, Zebu, Degen, Thun, Gera, Damm, Ar, Karte, Strich. Die Endbuchstaben ergeben, rückwärts gelesen: Hermann und Dorothea. Auflösung der Dominoaufgabe auf S. 420:
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Im Talon lagen: |
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C behielt: |
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- ↑ Die autorisirte deutsche Ausgabe erscheint bei F. A. Brockaus in Leipzig. Sie umfaßt zwei Bände mit etwa 140 Abbildungen und 3 großen Karten.
- ↑ Vgl. auch die Karte Seite 17 dieses Jahrgangs.
- ↑ Zeichen für die Nachfolgenden, damit sie den Weg finden.
- ↑ Großblätterige Farrnkräuter, die auf Baumästen wachsen und Elefantenohren ähnlich sehen, weshalb sie von Schweinfurth Platycerium elephantotis benannt wurden.
- ↑ Die Manjema bewohnen das Land östlich von Nyangwé am oberen Kongo oder dem Lualaba. Von den Arabern unterworfen, bilden sie jetzt die Helfershelfer derselben bei der Verwüstung anderer Gebiete in Innerafrika.
- ↑ Eingeborene aus der Aequatorialprovinz, die Emin Stanley als Träger mitgegeben hatte.
- ↑ Die Sage führt das Herabfallen zweier Steine aus dem Steingewölbe während des Gottesdienstes als ersten Anlaß seines Weggangs, seiner „Flucht“ an.
- ↑ Unsere Abbildung giebt eine Aufnahme der vor Versetzung im Münster aufgestellten Helmspitze mit beiden Kreuzblumen und Knopf wieder.