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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1890
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[357]

Halbheft 12.   1890.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1890.      Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.


Madonna im Rosenhag.
Roman von Reinhold Ortmann.
(Fortsetzung.)


Prinz Lamoral von Waldburg, von dem General mit jener höflichen Auszeichnung empfangen, auf welche seine hohe Geburt ihm ein Anrecht gab, hatte sogleich mit weidmännischem Scharfblick Cillys dunkellockiges Titusköpfchen in einer dichten, fröhlichen Gruppe erspäht. Rasch ging er auf sie zu und machte ihr eine Verbeugung, wie er sie ehrerbietiger nicht für eine Prinzessin des Königshauses gehabt haben würde. Marie, welche in der Nähe stand, blickte in hochgradiger Spannung und mit einigem Bangen auf Cilly, deren Unberechenbarkeit und gelegentliche Rücksichtslosigkeit sie gut genug kannte. Aber die Tochter des Generals schien das Geheimniß, welches sie der Freundin zur Pflicht gemacht hatte, auch vor dem Urheber des Unfalls vom heutigen Vormittag wahren zu wollen. Sie hätte seine Begrüßung sonst schwerlich mit einem so ruhigen Lächeln erwidern und ihm so bereitwillig die Tanzkarte überlassen können, um die er nach einer etwas süßlichen und gedrechselten Schmeichelei gebeten hatte.

„Ah, Sie sind nicht sonderlich bescheiden gewesen,“ sagte sie nur, indem sie einen Blick auf das zierliche Elfenbeintäfelchen warf, das er ihr zurückreichte. „Eins – zwei – drei – vier Tänze – und den Tischwalzer obendrein! Hielten Sie sich meiner Zustimmung so gewiß?“

„Ich fürchte in der That nicht, daß Sie mich durch einen Refus unglücklich machen werden, Baronesse! Mein Kutscher hatte sich verspätet; aber ich habe meine Pferde fast zu Tode jagen lassen, um zu verhindern, daß mir hier vor dem Throne der Anmuth ein Glücklicherer zuvorkäme.“

„Ein solcher Opfermuth darf allerdings nicht ohne die gebührende Belohnung bleiben! Bis nachher also!“

Sie nickte ihm zu, während sie ihre Hand auf den Arm eines Majors vom Großen Generalstabe legte, welchem sie den ersten Tanz bewilligt hatte.

„Sie muß in der That mehr als eine oberflächliche Theilnahme für ihn empfinden,“ dachte Marie, „wenn sie ihn den Schrecken vom heutigen Morgen so wenig entgelten läßt.“

Eine leichte Regung des Bedauerns beschlich sie bei dieser Erkenntniß, denn die Persönlichkeit des verlebten und geistig beschränkten Prinzen sprach sie sehr wenig an. Aber sie war jetzt doch nicht in der Stimmung, sich lange mit den Herzensangelegenheiten ihrer Base zu beschäftigen. Schon spielte man drinnen in dem großen Festsaal Webers „Aufforderung zum Tanz“, und sie hatte auf ihrer Karte bisher nur einen einzigen unleserlichen Namen für einen der späteren Tänze. Es hatte ihr wenig Kummer gemacht, daß man sie minder lebhaft umwarb als die Mehrzahl der übrigen jungen Damen. Sie war ja sicher, daß sie einen Tänzer finden würde, der ihr lieber war als alle anderen Kavaliere. Nun aber war es an der Zeit, daß er sich einstellte; denn die Nebenräume

Unschuld.
Nach einem Gemälde von Theo Grust.

[358] entleerten sich rasch, und nach wenig Minuten, wenn der Tanz begonnen hatte, würde sie hier ganz allein und verlassen sein.

Da wurde der Vorhang vor der Thüröffnung mit einer ungestümen Handbewegung zurückgeschlagen, wie sie Engelbert eigenthümlich war. Er blieb auf der Schwelle stehen und schaute suchend umher. Sein Gesicht war etwas erhitzt, aber seine Augen leuchteten vor Vergnügen.

„Ah, da bist Du ja!“ sagte er freudig, als er Marie auf dem Rundsofa unter dem hohen Pflanzenaufbau erspäht hatte. „Ich hatte kaum noch Hoffnung, Dich erwischen zu können, darf ich um Deine Tanzkarte bitten?“

Er sprach ganz so unbefangen und vertraulich wie sonst. Marie athmete in glücklicher Erleichterung auf; denn schon hatte sie angefangen zu fürchten, daß er ihre Zurückweisung von vorhin durch schmollendes Sichfernhalten strafen würde.

In fliegender Hast hatte Engelbert ein paar Bleistiftstriche auf das Täfelchen geworfen.

„Es ist ein Unglück, daß ein Theil der Pflichten des Wirthes auch auf meine Schultern fällt,“ sagte er, indem er es ihr zurückgab; „wenn ich Herr über mich wäre, hätte ich Dich für den ganzen Abend keinem anderen gegönnt.“

Dabei wandte er den Kopf schon wieder nach der Thür, als fürchtete er, irgend jemand könnte ihn vermissen und sein Fernbleiben übel vermerken. Und es entging ihm infolge dieser Bewegung, daß Marie für einen Augenblick die Lippen schmerzlich zusammenpreßte und daß ihre Finger die zierlichen Stäbe des Fächers umklammerten, als ob sie ihn zerdrücken wollten.

Nur für eine Polka-Mazurka hatte sich Engelbert eingeschrieben, für die vorletzte Nummer der ganzen Tanzordnung!

„Wahrhaftig, da geht der Rummel schon los!“ meinte er aufhorchend und allem Anschein nach in Mariens Schweigen gar nichts Auffälliges findend. „Ich habe die kleine Hainried engagiert, und wenn der Alte Anwartschaft auf das Portefeuille des Kriegsministers hat, darf man die Tochter natürlich nicht warten lassen.“

Als er ihre Karte in der Hand hielt, mußte er gesehen haben, daß sich bei ihr noch niemand um den ersten Tanz beworben hatte, und er mußte auch wissen, daß sie dadurch in eine peinliche Verlegenheit gerieth. Aber es fiel ihm nicht ein, sich darum im mindesten zu kümmern. Ohne ein weiteres Wort eilte er wieder hinaus, und zwei Minuten später klang seine fröhliche volltönende Stimme an Mariens Ohr, als er mit der Gräfin Hainried, einer üppigen und sehr koketten Dame, an der offenen Thür vorüberging.

Von einer Empfindung tiefschmerzlicher Bitterkeit erfüllt, hatte Marie die über dem Fächer gefalteten Hände in den Schoß sinken lassen. All ihre Herzensheiterkeit und die selige, erwartungsvolle Stimmung, die noch soeben ihre weichen Wangen hatte erglühen lassen, waren unwiederbringlich dahin. Nicht Eifersucht war es, was sich in ihrem Innern regte und ihr die Thränen heiß in die Augen drängte, sondern ein Gefühl herber Enttäuschung und Ernüchterung, wie es nach Augenblicken froher Erregung und hochgemuther Zuversicht sich mit doppelter Grausamkeit in die Seele bohrt.

„Wie? Du bist noch hier, Marie?“ tönte es da plötzlich an ihrer Seite. „Willst Du mir gestatten, Dich in den Saal zu führen, und willst Du es mit einem Tänzer von sehr zweifelhafter Geschicklichkeit versuchen?“

Ihr Vetter Lothar war es, der im schlichten schwarzen Ballanzuge und nicht sorgfältiger frisirt als an jedem anderen Tage vor ihr stand. Sein ernster Blick war so forschend und zugleich theilnahmsvoll auf sie gerichtet, daß sie im Augenblick des ersten Ueberraschtseins die Empfindung hatte, er müßte bis auf den Grund ihrer Seele geschaut und ihre geheimsten Gedanken gelesen haben. Mit den Fingerspitzen hastig über Stirn und Augen streichend, als gelte es, die Spuren wirklicher Thränen zu verwischen, richtete sie sich auf.

„Ich – ich wünschte eine kurze Zeit allein zu bleiben,“ sagte sie mit einer Unwahrhaftigkeit, welche sie trotz der Geringfügigkeit schwere Ueberwindung kostete, „denn ich befand mich nicht ganz wohl.“

„Du siehst wirklich angegriffen aus. Darf ich Dir ein Glas Wein oder ein anderes Belebungsmittel besorgen?“

Je tiefer Marie den Gegensatz zwischen seiner herzlichen Theilnahme und der selbstsüchtigen Gleichgültigkeit Engelberts empfand, desto übermächtiger quoll die schmerzliche Bitterkeit in ihrem Innern auf. „Nein!“ erwiderte sie mit einer Schroffheit, die nicht beabsichtigt, sondern nur ein natürlicher Ausfluß ihrer Stimmung war. „Es war ganz unbedeutend und ist schon wieder vollständig vorüber. Ich werde Dir dankbar sein, wenn Du die Güte hast, mich in den Festsaal zu führen. Weitere Opfer aber muthe ich Dir nicht zu; denn ich werde heute überhaupt nicht tanzen.“

Lothar reichte ihr seinen Arm und that, wie sie begehrte. Aber der sorgende Blick, der noch immer auf ihrem blassen Antlitz ruhte, verrieth, daß er an die vorgebliche Beseitigung ihres Unwohlseins nicht recht zu glauben vermochte. –

Der Major vom Großen Generalstab, in dessen Arm sich Cilly dem Wirbel des Tanzes überlassen hatte, war mit seinen vierundvierzig Jahren nicht mehr so ausdauernd und elastisch, daß die junge Dame nicht bald ein menschliches Rühren gefühlt und ihm, indem sie selber Athemlosigkeit erheuchelte, seine Freiheit wiedergegeben hätte. Er führte sie zu einer der kleinen Ruhebänke, die an den Wänden entlang standen, und er machte ein etwas verwundertes Gesicht, als nach einer Pause von weniger als einer Minute das Töchterchen des Generals schon wieder Athem genug hatte, um mit einem blutjungen, unbärtigen Sekondlieutenant, dem die Fähnrichstage noch sehr frisch in der Erinnerung sein mußten, davon zu fliegen.

Der jugendliche Krieger hatte augenscheinlich bis dahin wenig Gelegenheit gehabt, sich in der schwierigen Kunst des Verbergens seiner geheimsten Gedanken zu üben; denn noch ehe er in dem verzweifelten Bemühen, eine nicht gar zu alltägliche Unterhaltung anzuknüpfen, mehr als zwanzig Worte über die neuesten Nachrichten aus Deutsch-Ostafrika hervorgestottert hatte, wußte Cilly mit unumstößlicher Gewißheit, daß er bis über die Ohren in ihre glänzenden Augen und in ihre rothen Lippen verliebt sei. Und während sie sich sonst über die stumme Anbetung solcher halbreifen und unbeholfenen Helden unbarmherzig lustig zu machen pflegte, gefiel sie sich diesmal darin, den armen Menschen durch allerlei kleine Koketterien vollends in lichterloh aufschlagende Flammen zu setzen. Als sie, vom Tanze sich erholend, durch den Saal schritten, hatte er zu seinem eigenen Erstaunen bereits die beispiellose Kühnheit, ihren Arm ganz leise an sich zu drücken, und mitten in dem ernsthaftesten Gespräch über den Negeraufstand und den Sultan von Sansibar sagte er plötzlich mit einem gar nicht mehr mißzuverstehenden Seufzer:

Auch ich hatte mich für die Schutztruppe des Reiches nach Ostafrika gemeldet, denn diesen unendlichen, thatenlosen Frieden hier in Europa vermag kein rechter Soldat zu ertragen. Aber man hatte bereits alle Stellen besetzt, als mein Gesuch eintraf. Ich war zu spät gekommen! Zu spät – das ist von jeher das Unglück meines Lebens gewesen! Es ist, als ob in dieser Beziehung ein unerbittliches Verhängniß über mir waltete. Möchte ich doch fast darauf schwören, daß auch gnädiges Fräulein bereits über den ersten Walzer verfügt haben!“

Ob es in Anerkennung dieses wahrhaft geistreichen Gedankensprunges aus dem äquatorialen Afrika in den Festsaal des Generals von Brenckendorf, oder ob es aus irgend einer andern, geheimnißvollen Ursache geschah – genug, Cilly strahlte den weltschmerzlich angehauchten Jüngling mit einem verwirrenden Blick ihrer dunkeln Gluthaugen an und erwiderte aufmunternd:

„Vorläufige Verfügungen lassen sich rückgängig machen. Einen thatenlustigen Mann sollten solche Hindernisse nicht schrecken.“

Der Lieutenant sah etwas betroffen aus. Vielleicht dämmerte ihm trotz eines nicht zu gering bemessenen Selbstbewußtsein eine dunkle Ahnung auf, daß sie sich möglicherweise über ihn lustig machen könnte.

„Wenn ich gnädiges Fräulein recht verstehe –“ stammelte er . . . „es würde mich natürlich unaussprechlich glücklich machen –“

„Nun wohl!“ sagte sie, ihm die Tanzkarte entgegen haltend. „Jeder ist der Herr seines Schicksals!“

Er hatte den Bleistift in der Hand, aber er las den Namen des Prinzen Lamoral an der Stelle, die er vermessen genug für sich selbst begehrte, und die Verlegenheit machte ihn erröthen wie ein junges Mädchen.

„Ach – gnädiges Fräulein beschämen mich durch so viel Güte – aber ich weiß nicht – es ist vielleicht nicht schicklich – so ohne die Erlaubniß eines Kameraden –“

„Ach, wie ängstlich Sie sind!“ lachte Cilly. „Und Sie wollten gegen Sklavenjäger und Menschenfresser kämpfen! – Da – nun brauchen Sie niemand mehr um Erlaubniß zu fragen!“ Sie hatte einen so dicken Strich über den Namen des Prinzen gemacht, daß die Spitze des Bleistifts abgebrochen war und daß der Lieutenant sich seines eigenen bedienen mußte, als er jetzt mit [359] etwas unsicherer Hand sein „von der Hacke“ darunter schrieb. Nun aber schien Cilly plötzlich die Lust an seinem kriegerischen Geplauder vergangen zu sein. Sie gab ihm kaum noch eine Antwort und benutzte die erste Gelegenheit, sich von ihm loszumachen.

„Die Erkenntniß, daß sie mir zu weit entgegengekommen ist, hat sie verschüchtert,“ dachte der Lieutenant, und sein jugendlich unerfahrenes Herz klopfte höher im stolzen Bewußtsein des ersten, leicht errungenen Triumphes.

Die Tochter des Generals aber hatte ihn sicherlich schon ganz und gar vergessen, während sie einer lustigen Geschichte des ebensosehr um seiner witzigen Einfälle als um seiner chirurgischen Geschicklichkeit willen berühmten Generalarztes von Herger lauschte. Eben sollte die Pointe der Anekdote kommen, als die Stimme des Prinzen Lamoral neben Cilly laut wurde, der sich bei ihr um die Gewährung einer Extratour bewarb.

„Der Tanz wird ja gleich zu Ende sein, Durchlaucht,“ erwiderte sie, „und man darf im Anfang nicht allzu verschwenderisch umgehen mit seinen Kräften. Lassen Sie uns ein wenig plaudern, ohne zu tanzen!“

Obwohl der Prinz sich auf letzteres entschieden viel besser verstand als auf das erstere, stellte er sich doch ganz entzückt über ihren Vorschlag. Sie umwandelten Arm in Arm den Saal, und Cilly deutete dann auf ein Ecksofa, in dessen unmittelbarer Nähe sich eben niemand befand.

„Setzen wir uns, Durchlaucht! Mir fällt da eben ein, was Sie vorhin von Ihrem Kutscher sagten. Warum in aller Welt jagen Sie einen so unbrauchbaren Menschen nicht davon?“

„Unbrauchbar? Ganz im Gegentheil, meine Gnädigste – Sie müssen mich gänzlich mißverstanden haben – er ist einer der schneidigsten Kerls, die jemals auf einem Bock gesessen haben. Wenn es sein muß, fährt er wie der Teufel!“

„Ja – wie der Teufel! Etwas Aehnliches habe ich allerdings auch von anderer Seite gehört. Man erzählte mir, daß er heute unter den Linden absichtlich eine Droschke zu Schanden gefahren habe.“

Der Prinz lächelte geschmeichelt und liebkoste seinen langen Schnurrbart.

„Merkwürdig, wie schnell alles herumkommt in diesem kleinen Berlin! Kann allerdings nicht leugnen, verehrte Baronesse, daß man Ihnen die Wahrheit erzählt hat; aber mein Iwan war in diesem Falle unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Ich mußte nach Charlottenburg zum Dienst, hatte keine Achtelminute zu verlieren – und Baronesse können sich denken, in was für eine Stimmung es mich versetzte, als da so ein elender Droschkenkarren hartnäckig mitten auf dem Fahrdamm vor mir hinzottelte, so daß mein Iwan nicht rechts und nicht links an ihm vorüber konnte. Er rief den Kerl an, viermal – fünfmal – alles umsonst. Ja, der Plebejer hatte sogar die Unverschämtheit, grob zu werden! Na, da riß mir endlich die Geduld, und ich kommandirte: ‚Vorwärts – wenn auch die Schindmähre und der ganze andere Krempel drauf geht!‘ – Und richtig! Mein Coupé konnte den morschen Karren kaum gestreift haben, und doch legte er sich auf die Seite wie ein umgeblasenes Kartenhaus. Ich weiß nicht, wie die Sache schließlich abgelaufen ist; aber der freche Patron hatte seine Lehre jedenfalls vollauf verdient.“

Cilly hatte während seiner lebhaften Erzählung ihren Fächer unaufhörlich in rascher Bewegung erhalten, ihre Augen hingen unverwandt an dem Gesicht ihres Kavaliers, und Prinz Lamoral fühlte sich sehr angenehm durchschauert von dem Feuer, das aus ihnen sprühte.

„Natürlich hatten Sie sich zuvor vergewissert, daß die Droschke leer sei, ehe Sie jenen Befehl ertheilten?“

„Da ich nicht durch Holz und Leder sehen kann – nein! Aber ich bitte Sie, theuerste Baronesse – was sitzt denn am Ende in so einer Droschke zweiter Klasse? Wenn man auch noch anfangen wollte, auf die zarten Nerven solcher Leute Rücksicht zu nehmen, so könnte man ja lieber gleich – na, das wäre wirklich eine allerliebste Zumuthung!“

„Wollen Sie mir eine Bitte erfüllen, Durchlaucht?“

„Fordern Sie mein Leben – es gehört Ihnen!“

„Sie werden dem Droschkenkutscher seinen Schaden ersetzen – nicht wahr? Und auch auf eine kleine Entschädigung für den ausgestandenen Schrecken wird es Ihnen nicht ankommen. Es ist gewiß ein Leichtes, auf der Polizei seine Nummer zu erfahren.“

„Ich beneide den Menschen um die Theilnahme, die Baronesse ihm zuwenden. Aber ein Wunsch aus solchem Munde ist mir natürlich Befehl. Er soll mit mir zufrieden sein!“

„Ihr Wort darauf, Durchlaucht?“

„Mein Wort darauf!“ erwiderte er, sichtlich etwas betroffen, aber noch immer in vollendet liebenswürdigem Ton.

„Ich danke Ihnen!“ sagte sie sehr kühl, und indem sie sich erhob, fügte sie hinzu: „Ah, der Walzer! – Ich muß meinem Tänzer wohl zu Hilfe kommen, denn der bedauernswerthe junge Mann, der mich da so verzweifelt sucht, scheint an Kurzsichtigkeit zu leiden.“

Prinz Lamoral reckte sich in die Höhe.

„Das gnädige Fräulein belieben zu scherzen. Ihr Tänzer hat seit zehn Minuten die Ehre, sich an Ihrer Seite zu befinden.“

Cilly hob die Tanzkarte auf, die an seidener Quaste von ihrem Gürtel herabhing, und hielt sie so, daß auch der Prinz den grausamen Strich, der da durch seinen Namen ging, nothwendig sehen mußte.

„Ah, wahrhaftig!“ meinte sie mit einem Ausdruck flüchtigen Bedauerns. „Ich vergaß, Ihnen vorhin zu sagen, daß ich den Tischwalzer dem Lieutenant von der Hacke zugedacht hatte. – Durchlaucht werden sich nach einem Ersatz umsehen – nicht wahr?“

Kerzengerade stand Prinz Lamoral vor ihr. Sein ernstes Gesicht sprach es besser als tausend Worte aus, wie tief er beleidigt war.

„Baronesse!“ sagte er nur, und in seiner Stimme klang es wie eine Mahnung, die Herausforderung nicht bis zum äußersten zu treiben. Cilly aber sah ihn groß an und um ihre Mundwinkel zuckte es wie Zorn oder vielleicht auch wie verhaltenes Weinen.

„Nun?“ fragte sie. Und da er schwieg, fuhr sie mit gedämpfter Stimme, aber mit allen Zeichen tiefster Erregung fort:

„Wollen Sie sich im Ernst auf Ihr älteres Recht berufen, wenn ich Ihnen sage, daß – daß ich bedaure, Ihnen dasselbe eingeräumt zu haben?“

„Nein!“ erwiderte der Prinz mit eisiger Kälte. „Nach solcher Erklärung kann ich nur das höfliche Ersuchen stellen, mich auch von allen weiteren Verpflichtungen gnädigst entbinden zu wollen. Ich würde zu ihrer Einlösung außer stande sein, da ich nicht länger die Ehre haben kann, ein Gast dieses Hauses zu sein.“

Seine haarscharf abgemessenen Worte, von denen Cilly sehr gut wußte, daß sie nichts anderes bedeuteten, als eine unwiderrufliche Absage für das ganze Leben, ließen sie bis in die innersten Tiefen ihres Wesens erbeben. Es kümmerte sie sehr wenig, daß ihre Handlungsweise den lebhaften Unwillen ihres Vaters herausfordern würde; aber sie erkannte das volle Gewicht und die ganze Tragweite derselben doch erst jetzt, wo sie eine angenehme Hoffnung, die ihr durch monatelanges Tändeln lieb geworden war, anscheinend rettungslos zusammenbrechen sah.

Sekundenlang schwankte sie allen Ernstes, und das strahlende Antlitz des blutjungen Sekondlieutenants, der sie jetzt endlich entdeckt hatte und geradeswegs auf sie zusteuerte, erschien ihr so unsäglich albern und lächerlich, daß sie schon aus Beschämung, diesen fast noch in den Knabenschuhen steckenden Ritter vorschieben zu müssen, nahe daran war, ein Einlenken zu versuchen.

Aber wie sie die Lippen öffnete, erinnerte sie sich plötzlich mit merkwürdiger Deutlichkeit des Augenblicks, da sie auf dem Ruhebett in dem Operationszimmer des Zahnarztes aus der Ohnmacht erwacht war, und sie sah im Geiste wieder das ruhige, männliche Antlitz ihres Vetters vor sich, wie er lächelnd und doch mit eigenthümlichem Nachdruck gesagt hatte: „Es giebt Fälle, in denen man ein lebhaftes Verlangen fühlen kann, den Staatsanwalt in Thätigkeit treten zu sehen!“ All ihr Abscheu über die Rohheit des Prinzen erwachte mit vermehrter Lebhaftigkeit von neuem, und sie kam sich beinahe erbärmlich vor um ihres Zögerns und Schwankens willen.

„Ich habe natürlich keinen Einfluß auf die Entschließungen Eurer Durchlaucht,“ sagte sie als Erwiderung auf seine letzten Worte, „aber ich möchte mich nicht von Ihnen verabschieden, ohne Ihnen eine kleine Unwahrhaftigkeit eingestanden zu haben. Nicht der Erzählung eines Dritten verdanke ich die Kenntniß des Vorfalls, von welchem wir soeben gesprochen haben, sondern meiner eigenen unangenehmen Erfahrung. Die Insassen des Wagens, den Eure Durchlaucht umzuwerfen beliebten, um dem Kutscher eine Lehre zu ertheilen, waren meine Verwandte und ich.“

Wie sie ihn jetzt ansah, wollte es sie doch beinahe bedünken, als sei die Strafe härter denn das Vergehen. Von der unnahbaren Höhe fürstlichen Stolzes, auf welche sich Prinz Lamoral soeben der vermeintlich ganz unbegründeten Beleidigung gegenüber gestellt hatte, war er mit jähem Stoße in einen Abgrund so [360] jämmerlicher Beschämung hinabgestürzt worden, daß er nicht nur die Fähigkeit zu sprechen, sondern auch die Herrschaft über seine aristokratischen Züge gänzlich eingebüßt zu haben schien. Niemals wenigstens war der Ausdruck seines Antlitzes eine zutreffendere Bestätigung für Engelberts Behauptung gewesen, daß die Prinzen von Waldburg das Pulver sicherlich nicht erfunden haben würden. Seine ohnehin etwas starren und wässerigen Augen irrten mit dem Verzweiflungsblick eines sterbenden Rehbocks von einem Ende des Saales zum anderen; er bewegte die Lippen, um einige ganz unverständliche Laute hervorzubringen, und er machte dann plötzlich, offenbar einer glücklichen unbewußten Eingebung folgend, der Tochter des Generals die tiefste, feierlichste und ehrfurchtsvollste seiner Verbeugungen.

Ohne auch nur nach rechts oder links zu blicken, schritt er nach diesem stummen Abschied quer durch den Festsaal einem den Ablegeräumen zunächst gelegenen Ausgange zu. Vielleicht geschah es ihm zum ersten Mal in seinem Leben, daß er die bitterste Unzufriedenheit gegen seine eigene erlauchte Person empfand.

Der Lieutenant von der Hacke aber, welcher sich achtungsvoll zurückgehalten hatte, so lange Cillys Gespräch mit dem Prinzen währte, glaubte die Unterhaltung mit dem Gegenstand seiner glühenden Verehrung jetzt kühnlich durch eine sehr geistreiche Schmeichelei einleiten zu dürfen, an welcher er während der letzten Viertelstunde in einer verschwiegenen Fensternische gearbeitet hatte. Doch er war noch nicht zu Ende gekommen, als ihn ein so kühl verwunderter und zugleich hoheitsvoll verweisender Blick aus den angebeteten dunkeln Augen traf, daß es sich ertödtend und erstarrend wie ein Reif in der Frühlingsnacht auf die zarten Blaublümelein seiner Hoffnungen und Träume legte. Eine kleine halbe Stunde später schlich er, von einer wahrhaft Schopenhauerischen Verachtung des gesammten weiblichen Geschlechts erfüllt, aus dem Speisesaal in einen jener kleinen gemüthlichen Nebenräume, wo man Cigarren, Münchener Hofbräu und eine Partie Skat oder Pikett haben konnte. Er war nicht im Zweifel, daß dies von den vielen unglücklichsten Abenden seines Lebens der allerunglücklichste sei, und während er das erste Seidel schäumenden Gerstensaftes aus bloßer Zerstreutheit ohne Athemholen bis auf den Boden leerte, sah er sich im Geiste nun doch noch unter afrikanischem Himmel im wilden Kampfe mit Negern, Arabern und Krokodilen. Es war unmöglich, mit dieser Wunde im Herzen Tag für Tag nur Griffe und langsamen Schritt üben zu lassen – es war unerträglich, unausdenkbar!

Und im Vorgefühl künftiger Heldenthaten trank der arme Verrathene in seinem stillen Schmollwinkel Glas auf Glas, bis ihm die Zukunft allgemach wieder in einem rosigeren Lichte aufdämmerte und eine sehr behagliche Stimmung gänzlicher Gleichgültigkeit gegen alles Vergangene und Gegenwärtige die letzten düsteren Schatten verzweifelter Lebensmüdigkeit verscheuchte. –

Marie von Brenckendorf hatte von der schnöden Behandlung, welche Cilly ihrem anfänglich so huldvoll ermuthigten jugendlichen Verehrer zu theil werden ließ, ebensowenig wahrgenommen als von der ernsthaften Auseinandersetzung ihrer Base mit dem Prinzen von Waldburg. Obwohl sie leidenschaftlich gern tanzte und obwohl die glänzendsten unter den jüngeren Kavalieren sich nach ihrem Erscheinen im großen Festsaal bei ihr um die Vergünstigung eines Tanzes beworben hatten, war sie doch standhaft bei der Erklärung geblieben, welche sie ihrem Vetter Lothar gegeben hatte. Es zuckte und prickelte ihr in den Füßen, wenn die verführerischen Weisen in feurigem Rhythmus den glänzenden Raum durchrauschten; aber sie widerstand der lockenden Versuchung in jenem trotzigen Eigensinn, welcher uns so häufig veranlaßt, zu dem Schmerz der Kränkung, die wir von anderen erlitten haben, auch noch die Pein unbarmherziger Selbstquälereien zu fügen.

Aeußerlich freilich verrieth sich nichts mehr von jener Bitterkeit und herben Enttäuschung, welche vorhin so übermächtig über sie gekommen waren. Ohne gerade ausgelassen und übermüthig zu sein, zeigte sie doch in dem Geplauder, in welches sie von ihrer Umgebung fortwährend hineingezogen wurde, Heiterkeit genug, um niemand errathen oder auch nur ahnen zu lassen, wie wenig fröhlich und festlich es in ihrem Herzen aussah. Es konnte ihrer Aufmerksamkeit unmöglich entgehen, daß Engelbert auch den Walzer mit der Gräfin Hainried tanzte und daß er somit ihr erklärter Kavalier für diesen Abend war. Ja, ein tückischer Zufall fügte es, daß die üppige, viel umschwärmte Schönheit ihren Platz während des Essens in geringer Entfernung von demjenigen Mariens wählte, und daß diese wider ihren Willen mehr als einmal zur Ohrenzeugin der oft recht verwegenen Artigkeiten werden mußte, mit denen Engelbert seiner Dame huldigte. An das Dasein seines Bäschens schien der Dragoneroffizier in dem Wirbel des rauschenden Festes überhaupt nicht mehr zu denken. Wiederholt streifte er ganz nahe an ihr vorüber, ohne sie zu sehen, und als sich ihre Blicke einmal zufällig begegneten, las Marie in seinen Augen nur den Rausch des Vergnügens über den raschen Erfolg, dessen er sich unverkennbar bei der Tochter des künftigen Kriegsministers zu erfreuen hatte.

Der Regierungsrath Thomas, ein feingebildeter und liebenswürdiger Herr in mittleren Jahren, hatte sich die Erlaubniß erbeten, Marie in den Speisesaal zu führen. Er bediente sie mit der Zuvorkommenheit und zarten Achtsamkeit eines wohlerzogenen Mannes, und Marie würde unter allen anderen Umständen an seiner lebhaften und gedankenreichen Unterhaltung sicherlich das aufrichtigste Vergnügen gefunden haben. Heute aber mußte sie sich mit dem ganzen Aufgebot ihrer starken Willenskraft zwingen, ihm nur so viel Aufmerksamkeit zuzuwenden, als die Pflicht der Höflichkeit von ihr forderte. Sie hatte unglücklicherweise den brennenden, stumm beredten Blick aufgefangen, mit welchem Engelbert der Gräfin Helene Hainried das erste Glas perlenden Champagners kredenzte, und wie gewaltig sich auch ihr Stolz gegen die demüthigende Vorstellung aufbäumte, daß es die schimpflichen Martern niedriger Eifersucht seien, welche in ihrem Innern wühlten, so wenig vermochte doch dieser Kampf zur Linderung der Pein beizutragen, welche sie seit jenem Augenblick erduldete.

Sie erschrak aufs heftigste, als sie gewahrte, daß Engelbert nach einer Weile seine Dame verließ und mit raschen Schritten geradeswegs auf ihren eigenen Platz zukam. Nur jetzt wollte sie nicht gezwungen sein, mit ihm zu sprechen – nur nicht unter dem unmittelbaren Eindruck einer Entdeckung, welche ihr sein Verhalten bei der vorigen Begegnung unter vier Augen nur noch im Lichte einer unerhörten Beschimpfung erscheinen lassen konnte.

Aber sie vermochte seine Annäherung so wenig zu vereiteln, als sie es hindern konnte, daß sich gerade in diesem Augenblick der Regierungsrath erhob, um sich an eines der Büffets zu begeben. Engelbert stand vor ihr, den gefüllten Champagnerkelch in der Hand, und während er ihr denselben mit leicht herabgeneigtem Oberkörper entgegenhielt, kam es in vorsichtig gedämpften Flüsterlauten von seinen Lippen:

„Auf Dein Wohl, mein Liebling! Ach, Du kannst nicht ahnen, was ich heute auszustehen habe. Lieber vierzehn Tage Felddienst als eine einzige Stunde vor dem Triumphwagen dieser Göttin! – Aber was ist das? Du thust mir nicht Bescheid? Bist Du mir etwa böse?“

Es war eine seltsame Kraft der Ueberredung in dem treuherzigen Klang seiner Stimme und in dem liebenswürdig heiteren Ausdruck seines frischen Gesichts. War es denn möglich, daß er die Stirn haben konnte, so vor sie hinzutreten, wenn er wirklich nur ein frevelhaftes Spiel mit ihr zu treiben gedachte? Langsam und zaudernd erhob Marie ihr Glas.

„Böse?“ wiederholte sie. „Nein – vielleicht nur ein wenig traurig.“

Engelbert warf einen raschen Blick hinter sich und nahm den leer gewordenen Stuhl des Regierungsraths ein.

„Aber Du sollst nicht traurig sein,“ flüsterte er warm und eindringlich, „und so weit es sich um mich handelt, hast Du auch keinen Grund dazu. Ich mußte mich heute nun einmal gewissen höheren Rücksichten zum Opfer bringen, und ich habe eine viel zu hohe Meinung von Dir, als daß ich glauben könnte, Du seiest eifersüchtig auf diese unbedeutende und kokette Person.“

Wie hätte sie ihm nun noch eingestehen können, daß sie wirklich eifersüchtig gewesen war! Sie war fast unzufrieden mit sich selbst, daß sie ihren Groll gar so schnell entschwinden fühlte, aber in der leichtfertigen Fröhlichkeit, mit welcher Engelbert über alle unangenehmen Dinge hinwegzutändeln wußte, lag nun einmal ein unwiderstehlicher Zauber. Und Engelbert las es ihr vom Gesicht ab, daß sie versöhnt sei.

„Noch einmal also: auf Dein Wohl, meine einzig geliebte Marie!“ hauchte er ihr ins Ohr. Die Krystallpokale klirrten zusammen, und er leerte den seinen bis auf den letzten Tropfen. Dann stand er rasch auf, nachdem er wieder einen hastigen Blick nach dem Tische der Gräfin Hainried hinübergeworfen hatte.

[361]

„Wenn dich die bösen Buben locken!“
Nach einem Gemälde von J. Kleinmichel.

[362] „Die Mazurka, die wir nachher tanzen werden, ist für mich der einzige Stern in der trostlosen Oede dieser Ballnacht. Ich freue mich auf sie wie auf eine Erlösung.“

„Aber ich habe sowohl Deinem Bruder wie einer ganzen Anzahl anderer Herren erklärt, daß ich heute nicht tanzen werde. Man könnte mir leicht verübeln, wenn ich es nun dennoch thäte.“

„Mag man doch! Glaubst Du, ich würde mich bereit finden lassen, auf mein gutes Recht zu verzichten? Ich würde Dich zu diesem Tanze holen, auch wenn ich wie Don Ramiro in der Heineschen Romanze nur noch meinen Schatten schicken könnte. Du kennst doch das schöne Gedicht mit den schauerlichen Schlußversen:

‚Herrin, forscht nicht blut’ge Kunde – heute mittag starb Ramiro!‘

Also bereite Dich immerhin auf eine kleine Nothlüge für die anderen vor! – Auf Wiedersehen, mein holdes Bäschen!“

Er schwirrte davon, fest überzeugt, sich sehr edel und großmüthig benommen zu haben. Der Regierungsrath aber war merklich überrascht von der Veränderung, die während seiner kurzen Abwesenheit in den Mienen und in dem Wesen seiner Nachbarin vor sich gegangen war.

„Hat man schon eine Spur gefunden, welche zur Entdeckung des merkwürdigen Diebstahls in der Gemäldegalerie führen könnte?“ fragte er im Verlaufe ihrer jetzt um vieles lebhafteren Unterhaltung. „Ich höre ja, daß der Assessor von Brenckendorf mit der Führung der Untersuchung betraut worden sei, und gnädiges Fräulein sind darum vielleicht besser unterrichtet als das große Publikum.“

Marie mußte mit einiger Beschämung gestehen, daß sie von einem solchen Diebstahl überhaupt noch kein Wort gehört habe, aber sie zeigte große Wißbegierde, etwas darüber zu erfahren, und der Regierungsrath erzählte bereitwillig, was ihm selber aus den Zeitungen bekannt geworden war.

„Aber ich bin ein schlechter Berichterstatter,“ unterbrach er sich plötzlich, „und der Herr Assessor, den ich da eben kommen sehe, wird uns gewiß Neueres und Zuverlässigeres zu melden wissen. Mit Ihrer Erlaubniß nehme ich ihn in Beschlag.“

Marie hätte vielleicht gern widersprochen, aber sie würde keinen Vorwand dazu gefunden haben, und so trat Lothar auf den heiteren Zuruf des Regierungsraths artig an ihren Tisch.

„Es giebt da wenig zu erzählen,“ sagte er, als er von dem Gegenstand der Unterhaltung in Kenntniß gesetzt worden war, „denn die Untersuchung bewegt sich bis zur Stunde noch völlig im Dunkeln. Soweit sich das eben feststellen läßt, ist das Bild bisher nirgends zum Kauf angeboten worden, und die Vermuthung gewinnt immer mehr an Boden, daß es sich gar nicht um einen Diebstahl aus gewöhnlicher Gewinnsucht, sondern um die That eines halb unzurechnungsfähigen Kunstliebhabers handle.“

Der Regierungsrath lächelte ungläubig.

„Sind Sie etwa ein Vertheidiger der Theorie von der Kleptomanie, der Stehlsucht, Herr Assessor?“ fragte er. „Ich für meine Person habe mich nie entschließen können, an das Vorhandensein einer so merkwürdigen Krankheit zu glauben.“

„Allerdings haben Sie hervorragende Männer der Wissenschaft auf Ihrer Seite,“ sagte Lothar. „Aber wer weiß, ob man nicht nach hundert Jahren mehr als die Hälfte jener Leute, die man nach dem heutigen Stande der Rechtspflege und der Wissenschaft nur ins Gefängniß schicken kann, in besonderen Heilanstalten behandeln wird!“

„Ein solches Zeitalter der reinen Menschlichkeit wird meiner Meinung nach schon um deswillen niemals kommen können, weil die gesittete menschliche Gesellschaft sich nicht des wirksamsten Vertheidigungsmittels gegen ihre Feinde entäußern darf. Mag ein Raubmörder mit klarem Verstande oder in zeitweiligem Wahnsinn gehandelt haben, jedenfalls ist es für die Gesellschaft eine unabweisliche Pflicht der Selbsterhaltung, ihn nicht nur dauernd unschädlich zu machen, sondern auch das zur Abschreckung leicht bereiter Nachahmer nothwendige warnende Beispiel an ihm aufzustellen. Mag der einzelne dadurch vielleicht auch hier und da härter betroffen werden, als er es verdiente, jedenfalls hat die Justiz ihre Aufgabe erfüllt, wenn ihr Spruch die Gesammtheit vor weiterem Schaden bewahrte. Die reine, vollendete Gerechtigkeit, die allezeit ein haarscharfes Gleichgewicht zwischen Schuld und Sühne herzustellen weiß, ist eben nichts als ein schöner Traum, der hier auf Erden auch nach weiteren zehntausend Jahren seiner Verwirklichung nicht viel näher gekommen sein wird als heute.“

„Ich vermag Ihnen nicht zuzustimmen, Herr Regierungsrath, und wenn ich es vermöchte, so würde ich mich sicherlich niemals zu einem Werkzeug solcher Justiz hergeben. Eine Gesellschaft, die sich zu ihrer Erhaltung lediglich auf eine nach dem Recht des Stärkeren zugeschnittene Handhabung ihrer Strafgesetze angewiesen sähe, würde der Erhaltung überhaupt kaum noch werth sein. Hat uns die Wissenschaft erst einmal dahin geführt, zu erkennen, wo die viel umstrittene Grenze zwischen Krankheit und Verbrechen liegt, so werden sich unsere Gesetze und die Urtheile unserer Richter unverzüglich dieser Erkenntniß anzubequemen haben. Einst schleppte man Pestkranke und Aussätzige an abgelegene Orte, um sie da ihrem Schicksal zu überlassen, denn man meinte, kein besseres Mittel zum Schutze der Gesammtheit gegen die Gefahr der Verseuchung zu besitzen. In menschlicheren Zeiten ersann man zu dem nämlichen Zwecke gute und schlechte Arzneien für die Unglücklichen, die von einer ansteckenden Krankheit ergriffen worden waren. Und heute – nun, heute ist man zu der Einsicht gekommen, daß das einzige wirksame Vertheidigungsmittel in dem Bemühen zu suchen ist, den Unheil bringenden Keimen, die vielleicht immer im Boden, im Wasser, in den Lüften schlummern, die Möglichkeit der Entwicklung zu nehmen. Man findet, daß es leichter sei, dem Ausbruch einer Seuche vorzubeugen, als die einmal ausgebrochene zu bekämpfen. Warum sollte man nicht in Bezug auf Verbrechen und Verbrecher nach gleichen Wandlungen der Ansichten zu demselben Endergebniß gelangen? Warum sollte man nicht auch hier das Hauptgewicht auf die Vorbeugemittel legen, wenn man nur erst mit Sicherheit die verderblichen Keime kennengelernt hat, die es zu tödten gilt?“

Mit einer Empfindung stetig wachsenden Erstaunens hatte Marie den – ausschließlich an den Regierungsrath gerichteten – Worten Lothars gelauscht. Sie erkannte den schweigsamen Vetter, der sich fast nie an den lustigen Tischgesprächen in seinem Elternhause betheiligte, kaum noch wieder, wie er da mit einer unverkennbar aus dem tiefsten Herzen quellenden Wärme seine idealistischen Anschauungen vertrat. Gleich seinen Eltern und seinen Geschwistern hatte ihr bis zu diesem Augenblick für Lothars Uebertritt in die richterliche Laufbahn jedes Verständniß gefehlt. Sie hatte sich daran gewöhnt, ihn im Stillen ebenso wie die anderen als eine eigensinnige Schrulle zu belächeln, – und jetzt erst dämmerte ihr unter der Wirkung seiner Worte eine Ahnung auf von den edlen und ernsten Beweggründen, welche die anscheinend so unbegreifliche Handlungsweise dieses verschlossenen Mannes bestimmt haben mochten. Und es stieg in ihrem Herzen auf wie ein sehnliches Verlangen, ihn so weiter sprechen zu hören und einen noch tieferen Einblick zu gewinnen in das Gedankenleben, das er selbst vor seinen nächsten Angehörigen sonst so ängstlich verborgen hielt. Sie wäre dem Regierungsrath aufrichtig dankbar gewesen, wenn er ihn durch weiteren Widerspruch gereizt oder einige von den hundert Fragen an ihn gerichtet hätte, die ihr selber auf der Seele brannten.

Aber ihr Kavalier konnte natürlich nichts von solchem Verlangen ahnen, und es war begreiflich, daß er sie vielmehr im Gegentheil durch solche akademische Erörterungen gelangweilt glaubte.

„Ich sehe wohl, mein lieber Herr von Brenckendorf,“ sagte er ablenkend, „daß wir in dem karg bemessenen Zeitraum einer Ballpause schwerlich zu einem Einvernehmen gelangen würden. Und wir sind ja auch ein wenig von unserem ursprünglichen Thema, dem Bilderdiebstahl im Museum nämlich, abgekommen. Ich muß gestehen, daß ich bei der ersten Kunde von dem Ereigniß aufrichtig verwundert war, wie etwas derartiges bei dem großen Aufsichtspersonal überhaupt hatte geschehen können.“

„Auch die größte Aufmerksamkeit und Gewissenhaftigkeit der Beamten wird das Vorkommen solcher Fälle niemals ganz ausschließen,“ erwiderte Lothar. „Ich für meine Person bin überzeugt, daß den bedauernswerthen Mann, in dessen Revier das winzige van Eycksche Gemälde hing, gar kein ernstlicher Vorwurf treffen kann. Da ihm die Beobachtung mehrerer Räume obliegt und da er sehr häufig von Besuchern mit Fragen in Anspruch genommen wird, wäre es unbillig, zu verlangen, daß er jeden einzelnen Punkt der ihm anvertrauten Räume beständig im Auge behalte. Und ein einziger unbewachter Augenblick war für den Dieb ja hinreichend, einen Gegenstand von so geringem Umfange unter seinem Ueberrock oder Mantel verschwinden zu lassen.“

„Und besitzt das Kunstwerk wirklich einen so bedeutenden Werth?“

„Die Museumsverwaltung hat es vor kurzem für zwölftausend Mark erstanden; aber es ist nach dem Urtheil Sachverständiger nicht zweifelhaft, daß mancher Liebhaber gerade für diese [363] meisterlich ausgeführte und ausgezeichnet erhaltene ‚Madonna im Rosenhag‘ einen viel höheren Betrag gezahlt haben würde.“

„Der Dieb muß also in gewissem Sinne Kenner gewesen sein!“

„Ohne Frage! Auf den ersten Blick hat das Bildchen so wenig Bestechendes, daß ein Laie sicherlich eine andere Wahl getroffen haben würde.“

„Und der Aufseher hat gar nichts Verdächtiges wahrgenommen?“

„Nichts, das einen Anhalt zu Nachforschungen in einer bestimmten Richtung ergeben hätte.“

„Aber man verhaftete doch noch in der Vorhalle des Museums einen Menschen, der als verdächtig bezeichnet wurde?“

„Es geschah infolge eines Mißverständnisses, dessen Aufklärung alsbald erfolgte. Eine junge Dame, welche in dem an das fragliche Kabinett anstoßenden Oberlichtsaale mit dem Kopiren eines Rubens’schen Gemäldes beschäftigt war, hatte dem Galeriediener sofort nach der Entdeckung des Diebstahls die Mittheilung gemacht, daß ihr ein armselig aussehender Mensch durch sein anscheinend zweckloses Umherstreifen und durch seine merkwürdig verstörten, irren Blicke aufgefallen sei. Der Betreffende hatte sich angeblich erst wenige Minuten früher entfernt, und die Malerin eilte darum mit dem vor Bestürzung fast sinnlosen Beamten und mit einem ganzen Haufen rasch zusammengeströmter Neugieriger in die Eingangshalle hinab. Dort sah sie wirklich den Gesuchten noch im Gespräch mit zwei anderen Museumsdienern stehen; ihr Zuruf aber, den Verdächtigen festzuhalten, wurde in der allgemeinen Aufregung auf einen andern bezogen, und ehe sich der Irrthum aufgeklärt hatte, war der zuerst Bezichtigte verschwunden.“

„Und trotzdem sind Sie der Ansicht, Herr Assessor, daß keine Spur des Diebes vorhanden sei? Erscheint denn dieser Verschwundene nicht schon um seines Verschwindens willen verdächtig genug?“

Nein! Ein Zufall hat es übernommen, ihn zu entlasten, ohne daß er selber genöthigt gewesen wäre, seine Unschuld zu betheuern. Beim Verlassen des Museums, das nach der übereinstimmenden Bekundung der beiden Thürhüter in durchaus ruhiger und unauffälliger Weise erfolgt war, hatte dieser Unbekannte das Mißgeschick gehabt, seinen Geldbeutel zu verlieren, und einer der beiden Beamten, die den Fund gemacht hatten, war ihm nachgeeilt, um ihn zurückzurufen. Wäre er nun wirklich der Dieb gewesen und hätte er das Bild also unter seinen Oberkleidern verborgen gehalten, so ist doch wohl tausend gegen eins zu wetten, daß er der Aufforderung zur Umkehr nicht ohne weiteres Folge geleistet, sondern viel eher sofort die Flucht ergriffen haben würde. Und selbst angenommen, daß er in unglaublicher Frechheit die Stirn gehabt hätte, mit seinem Raub die Innenräume des Museums noch einmal zu betreten, wie sollte er es angefangen haben, während eines minutenlangen Gespräches vor den Blicken der Galeriediener zu verheimlichen, daß er etwas unter dem Mantel versteckt halte? Die beiden Männer erklärten bei ihrer Vernehmung aufs bestimmteste, ein solches Bemühen hätte ihnen unmöglich entgehen können, und sie weisen die Vermuthung, daß der Verlierer des Geldbeutels der Dieb der van Eyckschen Madonna gewesen sei, mit aller Entschiedenheit zurück.“

„Wenn aber sein Gewissen rein war, warum hatte es der Mann denn so eilig, sich zu entfernen, als er von der Entdeckung des Diebstahls Kenntniß erhielt? Jeden andern hätte doch sicherlich schon die Neugier zurückgehalten.“

„Selbstverständlich würde auch ich mir diese Frage vorgelegt haben, wenn nicht die Aussagen der beiden erwähnten Thürhüter ihre einleuchtende Beantwortung enthalten hätten. Die Beamten hatten sich nämlich, wie dies durch die Umstände geboten war, zuvor von dem Inhalt des gefundenen Geldbeutels unterrichtet, und da derselbe nur aus zwei Fünfpfennigstücken, dem Pfandschein über eine versetzte Uhr und einem werthlosen Pferdebahnfahrschein bestand, muß es ziemlich begreiflich erscheinen, daß den Verlierer die Scham, seine Armuth geoffenbart zu sehen, zu eiligem Rückzug veranlaßte. – Trotz aller dieser Umstände indessen, welche mich bestimmen, der vermeintlichen Wahrnehmung der jungen Malerin sehr wenig Gewicht beizulegen, würde es mir von großem Werthe gewesen sein, die Persönlichkeit des Mannes festzustellen. Aber meine Bemühungen, ihn durch die Organe der Polizei ausfindig zu machen, sind bisher ohne Erfolg geblieben. Des auf dem Pfandscheine angegebenen Namens vermag sich keiner der beiden Thürhüter mehr zu erinnern, und da ich einen meiner innersten Ueberzeugung nach ganz unschuldigen Menschen doch nicht steckbrieflich verfolgen lassen kann, werde ich wohl dem Zufall überlassen müssen, ob ich seine Bekanntschaft machen werde oder nicht.“

Die dröhnenden Schläge eines im Festsaal aufgestellten chinesischen Tam-Tams zeigten die Beendigung der Eßpause an, und man erhob sich eilig von den kleinen Tischen, um zu der bevorstehenden Quadrille rechtzeitig am Platze zu sein.

Auch Lothar, welcher selbst nicht zu tanzen beabsichtigte, zog sich sofort mit einer verabschiedenden Verbeugung zurück, um dem Paare, dessen Gesellschaft er so lange genossen hatte, volle Freiheit zu lassen.

Marie hätte ihn wohl jetzt gern noch durch ein freundliches Wort zurückgehalten, aber wie ihre Beziehungen sich nun einmal gestaltet hatten, wagte sie ein solches Wort nicht. In einer Schüchternheit, die ihr sonst ihm gegenüber ganz fremd gewesen war, hatte sie sogar nicht einmal den Muth, zu ihm aufzusehen, während sie am Arm des Regierungsraths in den Festsaal zurückkehrte; seine Worte aber beschäftigten ihre Gedanken auch noch unter dem Rauschen der Musik und inmitten des lauten Geschwirrs lebhafter Unterhaltung. –

Die Mazurka kam heran, und Engelbert, der sich auch nach dem Essen ausschließlich der Gräfin Hainried gewidmet hatte, ließ seine Base nicht vergeblich auf sich warten. Mit festem Drucke legte er seinen muskelschwellenden Arm um ihre schlanke Gestalt, und so kraftvoll und sicher leitete er sie durch den Wirbel der Tanzenden dahin, daß sie kaum den Boden zu berühren meinte, und daß ein Gefühl wonniger Sicherheit über sie kam. Und nachdem sie sich einige Sekunden lang schweigend dem Genusse des berauschenden Vergnügens hingegeben hatten, so Arm in Arm zu ruhen und sich gleichsam allein zu wissen inmitten des bunten, geräuschvollen Menschenschwarmes, begann Engelbert seiner Tänzerin allerlei kühne, leidenschaftliche, heißathmige Worte in das Ohr zu flüstern. Hier, wo sie ihm nicht entrinnen und ihn nicht zurückweisen konnte, sprach er zu ihr, wie er nie zuvor gesprochen hatte. Der scherzhaft übermüthige Klang, den bis dahin selbst seine Liebesversicherungen gehabt hatten, war ganz aus seiner Stimme geschwunden; er sprach ernsthaft, aber in raschen, abgebrochenen, sich überstürzenden Worten wie jemand, der aus dem Schlafe oder im Fieber redet. Er sagte, daß ihr jeder Pulsschlag seines Blutes gehöre, daß er nie eine andere geliebt habe oder lieben werde als sie, daß sie ihm zu eigen werden müsse um jeden Preis, und gelte es, eine Welt in Trümmer zu legen. Er ließ ihr nicht Zeit zu antworten oder abzuwehren. Je stürmischer er ihr Herz an dem seinigen klopfen fühlte, desto wilder schien ihn die Raserei seiner Leidenschaft zu erfassen, und Marie ließ den schrankenlosen Gluthstrom seiner Rede über sich ergehen wie einen Sturm von Naturgewalten, dem man sich beugen muß, weil es unmöglich ist, ihm zu entfliehen.

Zuletzt hämmerte und wirbelte es in ihren Schläfen ebensosehr von der Erregung, welche Engelberts Worte hervorriefen, als von der übermäßigen Anstrengung des Tanzes. Willenlos und nur durch ihres Tänzers stählerne Kraft aufrecht erhalten, lag sie in seinem Arme, ihr blondes Haupt neigte sich wie das Blüthenköpfchen einer verschmachtenden Pflanze, und sie hatte nicht einmal die Kraft, es zu erheben, als sie fühlte, wie seine brennenden Lippen einmal und noch einmal ihre Stirn streiften.

Mit einer letzten Anstrengung nur vermochte sie zu flüstern:

„Laß mich – ich bitte Dich!“ – Dann schlossen sich unwillkürlich ihre Augen, weil sich ihr plötzlich der ganze Saal in ein kreisendes und tosendes Feuermeer zu verwandeln schien.

Ihrer Bitte ungeachtet, tanzte der Dragoneroffizier wohl noch zwei Minuten lang fort; dann erst ließ er die halb Ohnmächtige aus seinem Arm in einen Sessel gleiten, und mit der Unverwüstlichkeit einer kräftigen, durch ritterliche Uebungen und soldatische Strapazen gestählten Natur forderte er eine andere Dame zum Tanze auf, ohne sich auch nur die flüchtigste Erholung zu gönnen.

Für Marie aber bedurfte es einer langen Zeit, ehe ihre raschen Athemzüge und das ungestüme Wogen ihres Blutes sich gesänftigt hatten. Sie hörte inzwischen kaum, was in ihrer Nähe gesprochen wurde, und erst als die Musik verstummt war, ließ der Klang ihres Familiennamens, der da irgendwo in der Nachbarschaft laut geworden war, ihre Theilnahme für die Vorgänge in ihrer Umgebung wieder etwas rege werden.

Mehrere Offiziere und ein Herr in bürgerlicher Kleidung [364] hatten sich da, drei oder vier Schritte von ihr entfernt zu einer kleinen Gruppe vereinigt, und sie führten ihre Unterhaltung so laut, daß Marie gezwungen war, von dem Gegenstand derselben Kenntniß zu nehmen, wenn sie nicht ihren Platz verlassen wollte.

„Wenn er ein Schwindler ist, so ist er doch wenigstens als solcher ein Genie,“ sagte der Herr in Civil. Sein Aufenthalt in Berlin zählt erst nach Wochen, und er hat heute schon eine Kundschaft, die ihn in wenig Jahren zu einem steinreichen Manne gemacht haben wird. Vor drei Tagen traf ich in seinem Wartezimmer die beiden Gräfinnen Kosadini und den Fürsten Hardegg, gestern vormittag aber sah ich im Vorübergehen sogar einen königlichen Wagen vor seinem Hause halten. Kann man diesem Zahnarzt, der nicht einmal einen Doktortitel hat, danach nicht mit Sicherheit prophezeien, daß er als Millionär und Geheimer Hofrath endigen wird?“

Marie wußte, daß von ihrem Bruder die Rede sei, und sie hatte die peinliche Empfindung, als ob sie sich zu der unwürdigen Rolle einer Horcherin hergebe; trotzdem aber zwang sie eine unsichtbare Gewalt, auf ihrem Sessel zu verharren.

„Der Mann hat eben Gluck gehabt,“ meinte einer der Offiziere als Erwiderung auf die Worte des ersten Sprechers. „Er hatte von drüben her eine Empfehlung an den amerikanischen Gesandten, und der Zufall wollte, daß er die Tochter desselben innerhalb acht Tagen von einem quälenden Mundübel befreite, an welchem die größten Chirurgen seit einem halben Jahre erfolglos herumkurirt hatten. Ist es da ein Wunder, wenn der Amerikaner und seine Gemahlin überall, wo sie hinkommen, mit dem Brustton der Ueberzeugung das Lob des neuerstandenen Tausendkünstlers singen?“

„Aber für einen Schwindler halte ich ihn trotz alledem,“ mischte sich ein anderer schnarrend ein. „Meine Mama, die seit zwanzig Jahren mit ihrem Hofrath Bauer vollkommen zufrieden gewesen war, hatte natürlich neuerdings auch keine Ruhe mehr, bis sie dem großen Manne ihre kleinen Leiden vorgetragen hatte. Ich mußte sie hegleiten, denn Herr Brenckendorf behandelt ja als echter Grandseigneur nur in seinem eigenen Hause. – Na, und ich sage Ihnen, meine Herrschaften – ich war einfach baff, als ich mir die Bude dieses Zahnarztes ansah. Echte Gobelins, orientalische Teppiche, Pariser Bronzen, Originalgemälde von Achenbach und Knaus – enfin, fürstlich! – Und dabei taxire ich den ganzen Mann auf etwa dreißig Jahre! – Wenn er schon als Anfänger solche Aufwendungen machen kann, so mag er ja meinetwegen ein Genie von einem Schwindler sein, aber ein Schwindler ist er doch unbedingt.“

Marie von Brenckendorf erbebte vor Scham und Zorn. Sie war nahe daran, aufzuspringen und selbst auf die Gefahr hin, sich eines groben Verstoßes gegen die Schicklichkeit schuldig zu machen, die Ehre ihres so schimpflich verdächtigten Bruders zu vertheidigen. Da sah sie, daß Engelbert in seiner stolzen männlichen Schönheit und seiner unverwüstlichen, strahlenden Heiterkeit an die kleine Gruppe herantrat, und in ihrem Antlitz leuchtete es auf, denn nun war sie ja sicher, daß Wolfgang auf der Stelle die Genugthuung erhalten würde, auf welche er wenigstens im Hause seiner Verwandten nach solchem Angriffe einen gerechten Anspruch hatte.

Sie fürchtete nur, daß man bei Engelberts Annäherung das Thema abbrechen könnte; aber ihre Besorgniß erwies sich rasch als unbegründet.

„Wissen Sie auch, Herr Kamerad,“ wandte sich der letzte Redner lachend an den Dragoner, „daß ich Sie vor ein paar Tagen in unserem Regimentskasino allen Ernstes gegen einen ganz tollen Verdacht in Schutz nehmen mußte?“

„Da bin ich in der That neugierig,“ meinte Engelbert sorglos, „ich habe zwar manche Sünde auf dem Gewissen und ermangle durchaus des Ruhmes, den ich haben sollte; aber daß man mich unter Kameraden in Schutz nehmen müßte, hätte ich allerdings nicht für möglich gehalten.“

„Na, der dicke Trenck behauptete nicht mehr und nicht weniger, als daß Ihr Namensvetter, der Charlatan von einem Zahnarzt, der neuerdings die ganze Welt von sich reden macht, eben nicht bloß ein Namensvetter, sondern ein ganz naher Verwandter Ihres Hauses sei, der sich nur gegen entsprechende klingende Belohnung dazu verstanden habe, den Adel abzulegen.“

Erschreckt und in ängstlicher Spannung blickte Marie, die glühenden Wangen hinter dem Fächer verbergend, auf ihren Vetter. Engelbert drehte etwas nervös an seinem Schnurrbart; aber auf seinem lächelnden Gesicht lag nicht der leiseste Schatten einer Verlegenheit.

„Aeh – sehr gut – wirklich sehr gut!“ erwiderte er mit überzeugender Unbefangenheit. „Bin Ihnen aufrichtig verbunden, Herr Kamerad! – Habe auch schon von dem Menschen reden hören! – Also ein Charlatan ist er? – Und das ist ganz gewiß?“

Als hätte man ihr hinterrücks einen Peitschenhieb versetzt, sprang Marie auf. Sie wollte und durfte nichts weiter hören. Aber als sie sich hastig zum Gehen wandte, fiel ihr Blick auf Lothar, der in demselben Augenblick aus einer Fensternische hervorgetreten war. Seine Brauen hatten sich finster zusammengezogen und eine tiefe Falte lag zwischen ihnen. Es war kein Zweifel, daß er geradenwegs auf die kleine plaudernde Gruppe zuschreiten wollte. Mehr einer Eingebung der Herzensangst als einem klarbewußten Gedanken folgend, trat ihm Marie hindernd entgegen.

„Lothar!“ sagte sie leise und bittend, „was willst Du thun?“

Er hatte ihre Nähe offenbar nicht geahnt, und es war ihm anzusehen, wie er bei ihrem unerwarteten Anblick erschrak.

„Du bist hier, Marie? – Und Du hast gehört –?“

„Daß man meinen Bruder verleumdete und verleugnete, ja! Ich mußte es wohl schweigend anhören, denn ich bin ein Mädchen! Aber Du, Lothar, was willst Du thun?“

„Was meine Pflicht ist! Ich werde die Verleumder Lügen strafen.“

„Auch Deinen eigenen Bruder, Lothar?“

„Auch ihn!“ erwiderte er ohne Zögern und es war ein Ausdruck von Strenge auf seinem Gesicht, welcher ihr Furcht einflößte. „Soll ich mich zum Helfershelfer einer Erbärmlichkeit machen, nur weil es mein Bruder ist von dem sie ausgeht?“

Marie warf einen raschen, scheuen Blick nach der kleinen Gruppe hinüber. Nein, wenn man so rosig und heiter aussehen, so liebenswürdig lächeln konnte, wie es Engelbert in diesem Augenblick that, dann konnte man unmöglich mit Absicht und Bewußtsein eine Erbärmlichkeit begangen haben. Trotz ihrer heftigen Erregung eine gelassene Miene erzwingend, legte Marie ihre Hand auf den Arm Lothars.

„Komm’!“ sagte sie. „Führe mich in den Speisesaal! – Es ist hier so unertraglich heiß!“

Er rührte sich nicht von der Stelle, und er sah sie mit einem Ausdruck an, vor dem sie wider ihren Willen die Augen niederschlagen mußte.

„Du hast also den Wunsch, daß das, was soeben dort gesprochen wurde, ohne Berichtigung bleibe?“ fragte er mit tiefem Ernst.

„Ich will jedenfalls nicht, daß es zum Anlaß eines ernsten Zwistes zwischen Dir und Deinem Bruder werde. Eine öffentliche Beschämung wie diese könnte Engelbert Dir niemals vergeben.“

Um die Mundwinkel Lothars zuckte rasch verschwindend ein bitteres Lächeln.

„In Deiner Sorge um die Anwesenden vergissest Du, was wir dem Abwesenden schuldig sind. Oder möchtest Du Deinem Bruder wirklich eine unverdiente Beschimpfung widerfahren lassen, nur um Deinem Vetter eine wohlverdiente Beschämung zu ersparen?“

Trotzig hob Marie das Köpfchen. Das war wieder der hofmeisternde Ton, den sie nicht ertragen konnte – nicht ertragen wollte, wenn auch vielleicht nur deshalb, weil er sie jedesmal so nachdrücklich empfinden ließ, daß sie im Unrecht sei.

„Und wenn es so wäre – welche Pflicht geböte Dir, weniger nachsichtig zu sein als ich? Ich weiß, daß Wolfgang höchstens ein mitleidiges Lächeln für das Gerede dieser männlichen Klatschbasen haben würde, und daß ihm nichts weniger erwünscht sein kann als ein öffentliches Aergerniß um seinetwillen.“

„Es ist möglich, daß er nach solchen Erwägungen handeln würde, wenn er hier wäre; aber er ist nicht hier, und als sein Freund habe ich kein Recht, anderen Geboten zu folgen als denen der Kameradschaft und der Ehre.“

„Auch auf die Gefahr hin, Dich selber einem recht häßlichen Verdacht auszusetzen?“

„Einem häßlichen Verdacht – ich?“ fragte er in offenem Erstaunen.

„Ja, denn es giebt sicherlich viele, die der Meinung sind, daß ein Bruder den anderen niemals ohne zwingendste Noth und auch dann nicht anders als unter vier Augen demüthigen soll – es giebt sicherlich auch viele, die nach einem solchen Auftritt überzeugt sein würden, Du habest längst einen verborgenen Groll [365] gegen Deinen Bruder gehegt und nur auf die Gelegenheit gewartet, ihm mit der Miene des unbestechlichen Biedermannes den empfindlichsten Schlag zu versetzen.“

„Und diese Überzeugung – auch Du würdest sie theilen, Marie?“

Sie antwortete ihm nicht, und nachdem er vielleicht eine halbe Minute lang vergebens auf ihre Erwiderung gewartet hatte, sagte er in einem ganz veränderten, höflich fremden Ton: „Wünschest Du noch jetzt, daß ich Dich in einen kühleren Raum geleite?“

Verwirrt und unschlüssig blickte sie zu ihm auf; aber da er ihr nun mit einer Verbeugung seinen Arm bot, legte sie die Hand hinein und verließ an seiner Seite den Saal. Sie hatte ihr Ziel erreicht; aber es war gewiß nicht Genugthuung, was sie darüber empfand. Die Wirkung ihrer Worte bedrückte und beunruhigte sie, und nur zu gerne hätte sie jetzt die Antwort nachgeholt, welche sie ihm vorhin schuldig geblieben war. Aber sein Schweigen und seine ernste, verschlossene Miene raubten ihr den Muth dazu.

(Fortsetzung folgt.)




Die Berliner Elektricitätswerke.

Von Gustav Schubert.0 Mit Zeichnungen von E. Thiel.
„Das Neue dringt herein mit Macht.“
  (Schiller, „Tell“.)


Einen Aufschwung, wie er auf keinem Gebiete menschlichen Schaffens und Ringens beobachtet werden kann, hat während des letzten Jahrzehntes die Anwendung der Elektricität genommen, jener wunderbaren Naturkraft, in deren Zeichen unsere Zeit steht. Wohl ist die Elekricität selbst keine neue Entdeckung. Als älteste bekannte Quelle derselben darf die Reibung gelten; über die Eigenschaften geriebenen Bernsteins (Elektron) schrieb schon der griechische Philosoph Thales von Milet um das Jahr 500 v. Chr., und später wurde die geheimnißvolle Kraft auch an dem Glase nachgewiesen, welche Entdeckung wieder zur Unterscheidung der Harz- (negativen) und Glas- (positiven) Elektricität führte. Angeregt durch die oft geschilderten Froschschenkelversuche des Italieners Galvani (1789), entdeckte Volta (1800) die Kontakt- oder Berührungs-Elektricität, welche sich auf die durch gegenseitige Berührung zweier verschiedener Metalle, bez. Metalle und Flüssigkeiten, hervorgerufene chemische Wirkung gründet und in den der Telegraphie und Galvanoplastik dienenden Batterien zu höchster Leistungsfähigkeit gelangt. – Hiermit schien die Ausbeutung dieser Naturkraft auf lange Zeit abgeschlossen zu sein. Da wurde 1866 fast gleichzeitig von zwei Gelehrten, Wilhelm Siemens in Berlin und Wheatstone in London, noch ein anderes Mittel der Elektricitäts-Erzeugung, ein wirklich unerschöpflicher Brunnen, aufgefunden, die dynamo-elektrische Maschine, das ist eine Maschine, welche mechanische Kraft (Dampf, Wasser, Wind etc.) in Elektricität umsetzt. Sie ist mit Recht die „Königin“ aller Maschinen genannt worden und hat schon, obgleich sie erst am Anfange ihres Triumphzuges und ihrer völkerbeglückenden Wirksamkeit steht, unermeßlichen Segen verbreitet.

Ueber der Eingangspforte der Centralstation der Berliner Elektricitätswerke in der Markgrafenstraße, in welche wir unsere Leser einzutreten bitten, müßte das Dichterwort stehen:

„Unergründlich ist das Wirken,
Unerforschlich ist die Kraft.“

Aus den Maschinenräumen tönt uns dumpfes Rollen und Summen entgegen. Hier arbeiten in dem größten bis jetzt für diese Zwecke verwendeten Maßstabe neun Kessel mit je 180 bez. 200 Quadratmeter Heizfläche; der dadurch erzeugte Dampf treibt mit 3200 Pferdekräften die Dynamomaschinen. Bei jeder derselben (vergl. die Abbildung S. 366) spielt sich folgender Vorgang ab: zehn feststehende, wie die Speichen eines Rades gestellte, dicke Eisenstäbe, sogenannte „magnetische Schenkel“, werden von einem Eisenring, auf welchem sich eine eng gewundene Kupferleitung (Spirale) befindet, mit großer Geschwindigkeit (80 bis 100 Umdrehungen in der Minute) umkreist. Die dadurch in den Kupferdrähten, fachgemäß „Anker“ genannt, erzeugte Elektricität wird mittels sinnreicher Vorrichtungen, sogenannter „Bürsten“, aufgefangen und durch Kabel weiter geleitet. Gleich dem Wasser, das von einem Sammelpunkte aus in Röhren nach allen Seiten vertheilt wird, strömt die Elektricität von der Centralstation durch weitverzweigte Kabelnetze nach den Orten ihrer Bestimmung; da der elektrische Strom aber stets einen Kreislauf beschreibt, so kehrt er nach verrichteter Arbeit in geschwächtem Zustand durch eine zweite Leitung an den Ausgangspunkt zurück.

Herstellung der Dynamomaschinen.

Ein sehr wichtiger Theil der Anlage ist der Schaltapparat mit dem Schaltbrett, denn von hier aus läßt sich die Regelung des Stromes bewerkstelligen und nach Wunsch und Bedürfniß eine einzelne Leitung ein- oder ausschalten; die angebrachten Meß-Apparate ermöglichen dabei eine genaue Feststellung der Spannungshöhe in den Haupttheilen der Leitung, während andere sinnreiche Vorrichtungen die Isolation prüfen und den Betrieb nach allen Seiten hin kontrollieren. Sollte der kaum denkbare Fall eintreten, daß alle diese Vorrichtungen und Apparate versagten, so würde durch ein selbstthätiges Zerschmelzen einer Bleiverbindung die Leitung augenblicklich unterbrochen [366] und die etwa überschäumende Naturkraft sofort in Fesseln gelegt werden.

Von großer Bedeutung ist die Frage: welche Gefahren sind mit der Anwendung der Elektricität verknüpft?

Man hat zum Messen der bewegenden elektrischen Kraft als Einheit das „Volt“ (Abkürzung für Volta) angenommen. Ströme von einer geringen Anzahl Volt, etwa 40 bis 100, sind dem menschlichen Organismus unschädlich, hochgespannte Ströme dagegen von 5000 bis 10000 Volt, wie sie in Amerika zur Verwendung kommen, erweisen sich nach den dort gemachten Erfahrungen für Menschen und Thiere todbringend. In der Technik herrscht nun das Bestreben vor, mit starken Strömen zu arbeiten, und zwar aus verschiedenen Gründen, als deren hauptsächlichster die billige Herstellung der Anlagen zu nennen ist. Die Sachlage läßt sich durch folgendes Beispiel annähernd veranschaulichen: Ein Wasserstrom wird mit einem gewissen Druck durch ein Rohr von 10 Centimetern Durchmesser gepreßt, um, am Ziele angekommen, das Triebrad einer Maschine zu bewegen. Dieselbe Arbeit würde geleistet, wenn das Wasser mit doppeltem Drucke durch ein Rohr von 5 Centimeter Weite getrieben würde, in letzterem Falle erfordert aber die Anlage natürlich weniger Kosten. Aehnlich verhält es sich bei der Bewegung durch Elektricität. Ein elektrischer Strom von 1000 Volt braucht einen verhältnißmäßig dünneren Draht als ein solcher von 100 Volt, und letztere Elektricitätsmenge müßte durch eine entsprechend stärkere und dickere Leitung fließen, um dieselbe Arbeit wie jener Strom von 1000 Volt zu leisten.

Die Berliner Elektricitätswerke arbeiten im Gegensatz zu den New-Yorker Anlagen mit niedrigen Spannungen (100 bis 140 Volt); sie machen infolgedessen theurere Anlagen nothwendig, gewähren aber den vom menschlichen Standpunkte aus hoch zu veranschlagenden Vortheil, daß sie Gesundheit und Leben nicht gefährden können.

Elektrische Kabel erfordern eine mit peinlicher Sorgfalt durchgeführte und bewachte Isolirung, welche wie bekannt durch Umhüllung der Leitungsdrähte mit harzgetränkten Stoffen, Porzellanträger u. s. f. erzielt wird; eine solche Isolirung verhindert Stromverluste und macht jede schädliche oder unerwünschte Einwirkung des Stromes unmöglich. Bei tadelloser Isolirung ist auch Feuersgefahr ausgeschlossen, und jener Unglücksfall im Berliner Opernhause, wo das mit Metallfäden durchwobene Gewand einer Tänzerin durch einen elektrischen Funken in Brand gesetzt wurde, ist nur auf eine zufällige Beschädigung der Drahtumhüllung zurückzuführen. Neuerdings leitet man den Strom durch Kupferschienen, die unter dem Straßenpflaster oder den Bürgersteigen (vgl. die Abbildung S. 367) in eigens dazu angefertigten Cementkästen oder Eisenröhren liegen.

Bei den Dynamomaschinen.

Mit der Dynamomaschine ist der Ruf: „Mehr Licht!“ vollständig verstummt, denn mit ihr blitzte in den meisten Kulturländern jenes herrliche Licht auf, das unsere Bewunderung stets von neuem wachruft. Keine andere irdische Lichtquelle kann mit den elektrischen Strahlen wetteifern.

In der deutschen Hauptstadt, welche der berühmte amerikanische Elektriker Edison bei seinem Besuche im vorigen Jahre die „am besten beleuchtete Stadt“ nannte, kommen zwei elektrische Beleuchtungsarten zur Anwendung: die nach dem Beispiele Edisons hergestellte Glühlampe und die Bogenlampe. Die Glühlampe besteht aus einer luftleeren Glaskugel, in welcher sich ein dünner gewundener Kohlenfaden befindet. Der elektrische Strom drängt sich, einen großen Widerstand überwindend, mit verstärkter Gewalt hindurch und versetzt den Faden in glühenden Zustand. Das hierdurch erzeugte Licht hat eine goldene, wohlthuende Färbung, es ist milde, gleichmäßig und erfüllt seinen Beruf überall da, wo dem Auge die Aufgabe gestellt wird, scharf zu sehen und zu unterscheiden. Deshalb hat sich das Glühlicht in Schreibstuben, Lesezimmern, am Familientische und in Räumen, wo feinere technische Arbeiten angefertigt werden, schnell eingebürgert und beliebt gemacht.

Da die Edisonlampen in jeder Stellung gleichmäßig wirken, so erblicken wir sie in den mannigfachsten künstlerisch ersonnenen Formen als Blüthen, Früchte, Kelche, Guirlanden, Bouquetts etc., dem Auge stets Entzücken, Behagen und Freude bereitend. Daß sich die Theater solche Wirkungen nicht entgehen lassen, braucht wohl kaum gesagt zu werden.

Eine andere Beleuchtungsart hat unser Künstler durch die Zeichnung der Berliner Schloßbrücke veranschaulicht. Welch ein Fortschritt von der öltriefenden, traurig flackernden Straßenlaterne bis zu der sonnenhaften Klarheit der Bogenlicht-Lampen! Bei diesen wird der elektrische Strom durch zwei senkrecht übereinander stehende, sich fast berührende Kohlenstäbe geführt; die Luftschicht zwischen den Spitzen setzt dem Durchgang großen Widerstand entgegen, sodaß der Strom unter starker Wärmeentwickelung einen Bogen bildet und die Enden der Leiter in weißglühenden Zustand versetzt. Dieses sonnengleiche Licht eignet sich vortrefflich zur Beleuchtung von Plätzen, Straßen, Brücken, Hafenanlagen, Fabriksälen, Unterrichtsräumen, Theatern, Bahnhöfen, Markthallen, Schlachthöfen etc. Einen besonderen Vortheil gewährt es dadurch, daß es alle Farben unverändert wie bei Tageslicht erscheinen läßt. Die Pflege dieser Lampen beschränkt sich auf die tägliche Erneuerung der Spitzen, bez. der ganzen Kohlenstäbe, eine von jedermann leicht zu erlernende Arbeit. Schwieriger ist die Behandlung der allerdings viele Monate ausdauernden Glühlampen, da die verbrauchten Kohlenfäden nur von technisch geschulten Kräften ersetzt werden können.

Zu den schon geschilderten Vorzügen des elektrischen Lichtes treten noch andere wichtige Umstände hinzu: es entwickelt keine Kohlensäure, verschlechtert nicht die Luft und schont die Athmungsorgane, während Gas, Kerzen, Petroleum und Oellampen lästig und schädlich sind. Das elektrische Licht erzeugt auch weniger Wärme, doch darf dieser Vorzug nicht überschätzt werden, denn die von der Edisonlampe ausströmende Wärme ist recht fühlbar, wenn sie auch hinter derjenigen zurückbleibt, welche von einer Gasflamme verbreitet wird. Obgleich die letztere stündlich nur 2 Pfennig kostet, so wird sie doch von dem elektrischen Licht, das jetzt mit etwa 31/2 Pfennig berechnet wird, allmählich verdrängt werden, um so sicherer, als die Verwaltung der Berliner Elektricitätswerke das Bestreben zeigt, die Preise möglichst herabzusetzen.

Berlin hat bis jetzt fünf Centralstationen (Markgrafenstraße, [367] Mauerstraße, Friedrichstraße, Spandauerstraße und Schiffbauerdamm). In diesen arbeiten Dampfmaschinen mit einer Gesammt-Leistung von 8000 Pferdekräften; durch ein über den Haupttheil der Stadt verbreitetes Leitungsnetz von etwa 150 Kilometern Länge werden jetzt schon 90000 Lampen, jede zu 16 Kerzen, gespeist.

Sinnreich ist die Vorrichtung für die Verbrauchsberechnung. In der Wohnung eines jeden Abnehmers sind nämlich zwei durch Gewichte getriebene Uhren aufgestellt, von denen nur eine mit der Leitung in Verbindung steht; der Gang dieses Werkes wird nun durch elektromagnetische Anziehung während der Arbeitsleistung aufgehalten und verlangsamt, so daß sich später aus dem Unterschiede der Zeigerstellung beider Uhren die verbrauchte Elektricitätsmenge berechnen läßt.

Den mächtig aufstrebenden Berliner Elektricitätswerken ist die Lösung großer Aufgaben vorbehalten, denn wir stehen erst am Anfange einer neuen Zeit, und ein Blick in die Zukunft scheint uns eine Märchenwelt zu öffnen. Läßt sich doch der an seinem Ziel angekommene Strom nicht allein in Licht, sondern auch in Bewegung umsetzen, so daß damit der Menschheit eine neue unversiegliche Kraftquelle erschlossen ist! Bei der Kraftübertragung, einem wichtigen Zweige der Elektricitätsverwendung, wird durch den Strom eine sogenannte sekundäre Dynamomaschine, ein Elektromotor, in Drehung versetzt und als Arbeitskraft verwendet. Die Vortheile und Bequemlichkeiten, welche diese bietet, haben ihr bereits in vielen amerikanischen Städten eine weite Verbreitung im häuslichen und gewerblichen Leben verschafft. Die Maschine, welche keine behördliche Genehmigung, sehr geringen Raum, eine geringe Fundirung und keine Rohrleitung erfordert, deren Betrieb keine Gefahr und Belästigung verursacht, die sich jederzeit von jedem Orte aus augenblicklich in oder außer Thätigkeit setzen läßt, wird in Wohnhäusern und Wirthschaftsräumen zum Betriebe von Aufzügen, Nähmaschinen, Ventilatoren, Pumpen, Wringmaschinen, Eismaschinen, Drehbänken, Bohrmaschinen, Blasebälgen, Schleifsteinen, Drucker- und Lithographenpressen, überhaupt zu allen Vorrichtungen, welche einer bewegenden Kraft bedürfen, werthvolle Verwendung finden.

Kabellegung in einer Straße Berlins.

Die Einführung elektrischer Eisenbahnen, deren Schienennetze sich jenseit des Oceans täglich weiter ausbreiten, ist für Berlin nur eine Frage der Zeit; die neue Maschine schont das Straßenpflaster, ist sparsam, beansprucht wenig Raum, trotzt allen Einflüssen der Jahreszeiten, arbeitet geräuschlos und verbraucht vom Augenblicke des Stillstandes an keine Kraft mehr. Die elektrische Eisenbahn scheint daher berufen, mit der Zeit allen anderen Verkehrsmitteln den Rang abzulaufen.

Die Wirkung der Elektricität auf Metalle und Flüssigkeiten eröffnet der Elektrotechnik und der Chemie ein unabsehbares Arbeitsfeld, Bleicherei und Färberei finden in dem elektrischen Strom einen mächtigen Förderer, Häute lassen sich in kurzer Zeit mit Hilfe der Elektricität gerben; die für die Großstadt so verhängnißvollen Abwässer können durch den elektrischen Strom zersetzt und geklärt werden. Jene wunderbare Kunst, die Galvanoplastik, welche die Aufgabe hat, Gegenstände mit einer dünnen Kupfer-, Silber-, Gold- oder anderen Metallschicht zu überziehen, wird zu erhöhter Thätigkeit angeregt.

Dem Jahrtausende alten Verfahren der Metallgewinnung durch Feuer erwächst in der Elektricität ein mächtiger Gegner, fast mühelos werden jetzt damit Metalle aus Erzen und Salzen geschieden oder behufs chemischer Untersuchung in ihre Bestandtheile zerlegt. Hochwichtig ist das von Thomson erfundene elektrische Schweißverfahren: man befestigt die zu schweißenden Metallstücke aneinander, leitet den Strom durch die Berührungsstellen, dieser erzeugt starke Glühhitze, ein Hebeldruck, und die beiden Stücke sind zu einem Ganzen verbunden. Das Verfahren eignet sich vortrefflich zur Herstellung von Kesseln ohne Naht, wodurch der Eisentechnik ein unschätzbarer Vortheil gewonnen und die Sicherheit des Dampfbetriebes erhöht wird. Durch seine überall hinzuführende Leuchtkraft, Wärmeentwickelung und wunderbare Einwirkung auf Nerven, Muskeln etc. stellt sich der dynamoelektrische Strom in den Dienst der medizinischen Wissenschaft. Radirungen, Zeichnungen etc. lassen sich mittels der Elektricität leicht und billig vervielfältigen, wodurch der Verbreitung veredelnden Kunstsinnes kräftig Vorschub geleistet wird.

Jenes „Metall der Zukunft“, das Aluminium, bewirkt in seinen nur durch den elektrischen Strom ermöglichten Verbindungen mit unedlen Metallen wahre Wunder, und fast möchte man sagen, der bisher vergeblich gesuchte Stein der Weisen sei in der Dynamo-Elektricität gefunden, denn durch das geheimnißvolle Schaffen dieser Naturkraft entstehen Rubin und Korund.

„Das Neue dringt herein mit Macht!“

Ueberwältigt von diesem Gefühl verlassen wir die Berliner Elektricitätswerke; wir sehen in ihnen den vorgeschobenen Posten einer neuen Zeit.




[368]

Die elektrische Beleuchtung der Schloßbrücke in Berlin.
Zeichnung von E. Thiel.

[369] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[370]

Der Schlaf.

I. Der lange Schlaf. – Sagen und Mysterien.

Seit vielen Jahrhunderten ist der 27. Juni ein „Lostag“ ersten Ranges, für die Wetterpropheten wichtiger als Falbs kritische Tage; denn nach altem Volksglauben zeigt er für volle sieben Wochen das Wetter an: regnet es an diesem Tage, so wird es sieben Wochen lang fortregnen und die Erntezeit für den Landwirth höchst ungünstig sein. Diese Bauernregel hat ohne Zweifel viel dazu beigetragen, daß die Legende von den Siebenschläfern, denen der 27. Juni in deutschen Volkskalendern geweiht ist, eine so große Verbreitung und sozusagen Berühmtheit erlangt hat. Die Beziehungen der Siebenschläfer zur Meteorologie sind in Wirklichkeit von einer sehr luftigen Beschaffenheit; eher dürfte das Studium dieser Legende für die Geschichte der volksthümlichen Naturkunde von Bedeutung sein, denn es führt uns nicht allein in das Reich der Phantasie, die so viele Kaiser, Könige, Ritter und holde Jungfrauen bei Elfen und Zwergen im Bergesschoß schlummern läßt, sondern es zwingt uns unwillkürlich zum Nachdenken über die sonderbarsten Lebensräthsel.

Zur Zeit, als Kaiser Decius im römischen Reiche regierte, so läßt sich der Inhalt der Legende[1] kurz zusammenfassen, wurden die Christen verfolgt, und der Kaiser begab sich selbst nach Ephesus, um dort die Verfolgung zu leiten. Unter denen, die sich weigerten, den heidnischen Göttern zu opfern, befanden sich auch sieben edle Jünglinge: Achillides, Diomedes, Eugenius, Stephanus, Probatius, Sabbatius und Cyriacus, Diener im Palaste des Kaisers. In ihrer Bedrängniß flohen sie aus der Stadt und verbargen sich in der Höhle des Berges Anchilus. Als Decius ihren Zufluchtsort ausgekundschaftet hatte, befahl er, den Zugang zu der Höhle mit großen Steinen zu verschließen, „daß sie lebend begraben seien und in jenem Kerker elend sterben.“ Aber der gnädige und gütige Gott ließ sie einen sanften Tod erleiden, indem sie schon vor der Ankunft des Kaisers in einen tiefen Schlaf verfielen.

Nach etwa zweihundert Jahren, zur Regierungszeit des Kaisers Theodosius, da man in Ephesus den Märtyrertod der sieben Jünglinge längst vergessen hatte, wollte ein begüterter Mann, dem der Berg gehörte, einen Stall für sein Vieh erbauen und ließ die Steine am Eingang der Höhle wegräumen. Da flößte Gott den Heiligen in der Höhle ein neues Leben ein. Sie erwachten, setzten sich aufrecht und begrüßten einander, wie sie gewohnt waren, denn sie sahen kein Zeichen, aus dem sie schließen konnten, daß sie so lange wie todt gelegen hätten; ihre Kleider waren noch in demselben Zustande wie zuvor, und ihre Leiber waren frisch und blühend. Daher glaubten sie, daß sie nur vom Abend bis zum Morgen geschlafen hätten, und sie waren in Angst und Sorge, daß der Kaiser Decius sie suchen lasse. Einer von ihnen entschloß sich indessen, in die Stadt zu gehen, um Brot zu kaufen. Er fand Ephesus verändert, auf allen Thoren glänzte das Kreuz, und er meinte, er habe den Verstand verloren. Als er mit der alten, in der Stadt nicht mehr gebräuchlichen Münze das Brot bezahlen wollte, wurde er verhaftet, und erst der Bischof, den er zu seinen Genossen in der Höhle führte, erkannte das Wunder Gottes. Selbst der Kaiser eilte von Konstantinopel herbei und ging zur Höhle, wo ihm die Heiligen mit strahlendem Antlitz entgegenkamen. Nachdem sie ihn aber gesegnet, legten sie ihre Häupter nieder auf die Erde und entschliefen und gaben ihren Geist auf nach dem Befehle Gottes. Der Kaiser ließ das Gewölbe mit Gold und kostbaren Steinen schmücken und über der Höhle eine große Kirche erbauen. –

Diese Legende, deren Inhalt im Laufe der Zeit manche Zusätze erhalten hat, ist eine der ältesten in der christlichen Kirche, denn sie wird schon in einem Vorgänger des Bädeker, in dem Reisebüchlein „Theodosius de situ terrae sanctae“, welches zwischen 520 und 530 für Besucher des Gelobten Landes verfaßt wurde, erwähnt; es heißt an einer Stelle desselben: „In der Provinz Asien ist der Stadtbezirk Ephesus, wo sich die sieben schlafenden Brüder befinden und zu ihren Füßen das Hündchen Viricanus.“

Aber nicht nur die Christen kannten diese Sage, auch Mohammed erzählt sie, wenn auch in zerrissener Form, im Koran, wobei er auf die verschiedenen Darstellungen eingeht, indem er mit den Worten schließt: „Einige sagen: drei waren ihrer, und ihr vierter war ihr Hund; andere sagen: fünf waren ihrer, und ihr sechster war ihr Hund, rathend über das Geheime; andere sagen: sieben waren ihrer, und ihr achter war ihr Hund. Sprich: mein Herr weiß am besten ihre Zahl, nur wenige sollen sie wissen. – Und sie verblieben in ihrer Höhle dreihundert Jahre, denen noch hinzugefügt wurden neun. – Sprich: Gott weiß am besten, wie lange sie dort blieben.“

Die Siebenschläfer oder die „Männer der Höhle“ und ihr Hund Kitmir werden bei den Mohammedanern als Schutzgeister der Schifffahrt verehrt und ihre Zeichen auf Schiffen eingeschnitten.

Gegen das Ende des 8. Jahrhunderts wird ähnliches auch aus Deutschland in Warnefrieds Langobardengeschichte erzählt. „Im äußersten Norden dieses Landes,“ heißt es darin, „am Ufer des Oceans schlafen in einer Höhle unter einem gewaltigen Felsen sieben Männer seit unbestimmt langer Zeit. Ihre Leiber sind jedoch unversehrt, wie auch ihre Kleider, und sie werden darum von den barbarischen Völkern jener Gegend verehrt. Nach dem Gewande zu urtheilen, müssen es Römer sein. Als jemand aus Habsucht einen von ihnen seiner Kleidung berauben wollte, da verdorrten ihm die Arme, durch welche Strafe die andern von einem solchen Wagniß abgeschreckt wurden.“

Auch bei anderen Völkern finden wir Sagen vom langen Schlaf. Im Talmud wird von Chone Hamagel erzählt, er habe einen Mann verspottet, der einen Johannisbrotbaum pflanzte, da dieser erst nach 70 Jahren Früchte trage. Chone Hamagel schlief darauf ein, und ein Felsen zog sich um ihn herum, unter welchem er 70 Jahre ungesehen in den Armen des Schlafes ruhte. Als er erwachte, pflückte der Enkel des Baumpflanzers die Früchte, und als er in sein Haus kam, fand er hier seinen Enkel als Herrn, da sein Sohn längst gestorben war. Er gab sich zu erkennen, fand aber keinen Glauben und sehnte sich nach dem Tode, der ihn auch bald darauf erreichte.

Auch Griechenland kannte berühmte Schläfer. Endymion erhielt von Zeus ewiges Leben in Gestalt eines ewigen Schlummers. In seiner Höhle besucht ihn allnächtlich seine Geliebte, die Mondgöttin Selene. Von Epimenides auf Kreta wird erzählt, daß er einst von seinem Vater ausgeschickt wurde, um ein verlorenes Schaf zu suchen. Er legte sich in einer Höhle nieder und verschlief hier 57 Jahre, und als er erwachte, suchte er das Schaf weiter; denn er glaubte, nur eine Nacht geschlafen zu haben. Er fand das Schaf nicht, aber er war glücklicher als Chone Hamagel; denn sein Bruder, der inzwischen ein Greis geworden war, erkannte ihn wieder, und Epimenides wurde als ein Liebling der Götter verehrt.

Sind alle diese Sagen der Alten nur Schöpfungen der Phantasie, oder liegen ihnen irgendwelche wirkliche Thatsachen zu Grunde? Man hat sie verschiedenartig gedeutet. Sehr beachtenswerth sind die Studien, welche J. Koch in seinem Werke „Die Siebenschläferlegende“ (Leipzig, Karl Reißner) veröffentlicht hat. Die Siebenschläfer, bei den Mohammedanern Schutzheilige der Schifffahrt, sollen seiner Ansicht nach an die phönicischen Kabiren erinnern, die bei diesem seefahrenden Volke gleichfalls die Schiffe beschützten und deren achter Bruder Esmun oder der Aeskulap war. Dieser göttliche Erfinder der Medizin, der die Kraft besaß, selbst die Todten wieder zu erwecken, hat neben der Schlange auch den Hund als sein Attribut, und unter seinen Heilmitteln befand sich auch der Schlaf. Kranke gingen in die Heiligthümer des Aeskulap, um durch den Tempelschlaf Heilung zu erlangen. War dieser Schlaf immer ein natürlicher oder wurde er künstlich von den Priestern erzeugt? Der Schleier, der über den medizinischen Mysterien aller Kulte ruht, ist ja kaum gelüftet, und vieles war in alten Zeiten wohl bekannt, was in unseren Tagen neu erscheint.

Auffallend ist es gewiß, daß uns die Forschung über die Schlaf-Legenden zum Gott der Medizin führt! Wir wollen daraus keine Schlüsse ziehen, aber wir wollen noch länger bei altersgrauen Religionen verweilen, um noch überraschendere Thatsachen zu erfahren.

Im 2. Jahrhundert v. Chr. trat in Indien Patanjali mit einer Lehre auf, welche die Bekenner des Brahma zu einer besonderen Art von Gottesdienst aufforderte. Die Inder, welche an die Seelenwanderung glaubten, fürchteten die Wiedergeburt, [371] da diese einer Strafe gleich galt; denn nur der Sünder, dessen Seele nicht zur Gottheit, zu der Weltseele zurückkehren durfte, mußte noch einmal die Wanderung durch das Pflanzen- und Thierreich antreten. Der Eingang in Brahmas Schoß konnte aber nur durch den gänzlichen Sieg des Geistigen über die Materie, durch die Erstickung aller sinnlichen Triebe und Leidenschaften erworben werden. Darum wurden auch von den Brahmanen die härtesten Bußübungen erdacht, darum heißt es in ihren Lehren: „Wer einem Blinden gleich nicht sieht, einem Tauben gleich nicht hört, dem Holze gleich ohne Empfindung ist, von dem wisse, daß er die Ruhe erreicht hat.“ Die Askese der Inder gipfelte schließlich in dem religiösen Selbstmord; in den Fluthen des Ganges oder unter den Rädern des Götterwagens suchten die Frommen ihr Heil.

Patanjali erklärte nun diese strengen Bußübungen als thörichten Wahn und stellte die Lehre von der „Yoga“ auf. „Yoga“ bedeutet Vertiefung, Versenkung in das höchste Wesen durch die Kraft des Nachsinnens. Dieses mußte aber auf eine besondere Art ausgeführt werden. „Der sich der Vertiefung Widmende,“ schreibt Humboldt, „soll in einer menschenfernen reinen Gegend einen einsamen, nicht zu hohen und nicht zu niedrigen, mit Thierfellen und Opfergras bedeckten Sitz haben, Hals und Nacken unbewegt, den Körper im Gleichgewicht halten, den Odem hoch in das Haupt zurückziehen und gleichmäßig durch die Nasenlöcher aus- und einhauchen, nirgends umherblicken, seine Augen gegen die Mitte der Augenbrauen und die Spitze der Nase richten und den geheimnißvollen Namen der Gottheit ‚Om!‘ aussprechen.“

Dann kommt Ruhe über ihn; dann schwindet ihm das Bewußtsein und das Gefühl, und seine Seele kehrt zu Brahma zurück.

Unser Jahrhundert, welches in so vielen Besessenen früherer Zeiten Geistes- und Nervenkranke erkannte, versteht auch die Folgen der Yoga zu deuten. Diese Andachtsübung muß den Yogin in einen ähnlichen Zustand versetzen, in welchen so viele von uns verfallen, wenn sie einen blitzenden Knopf unverwandt ansehen, in den seltsamen Zustand, der nicht Wachen und nicht Schlaf ist, aber mit dem letzteren so viel Aehnlichkeit besitzt, daß er mit dem Namen „Hypnose“ (vom griechischen Worte Hypnos: der Schlaf) bezeichnet wird. Und in der That zeitigte die Yogalehre in Indien allerlei Blüthen des Hypnotismus, die selbst die Leistungen unserer nach Aufsehen ringenden Magier und Hypnotiseure übersteigen.

Im Dabistan, einem persischen Werke über die Religionssekten in Indien, heißt es an einer Stelle:

„Bei den Yogins findet man den Gebrauch, sich lebendig begraben zu lassen, wenn eine Krankheit sie befällt. Sie gewöhnen sich, mit offenen Augen den Blick starr auf die Mitte der Augenbrauen zu richten, bis ihnen die Gestalt eines Mannes erscheint; erscheint dieselbe ohne Hand, Fuß oder sonst ein Glied, so berechnen sie daraus, innerhalb wie vieler Jahre, Monate oder Tage ihr Leben zu Ende gehen werde. Sehen sie die Gestalt ohne Kopf, so wissen sie, daß ihnen nur noch ein sehr kurzes Leben beschieden ist, und dann lassen sie sich lebendig begraben.“

Dieses geschah nun in der Weise, daß die Büßer durch Unterdrückung der Athmung und Fixiren der Geistesthätigkeit sich in einen dem Winterschlaf der Thiere oder der kataleptischen Starre ähnlichen Zustand versetzten. Die fanatischen Yogins betreiben dies noch in unserer Zeit gewissermaßen als Gewerbe, indem sie sich gegen Belohnung zur Buße für andere lebendig begraben lassen, um nach einigen Tagen oder sogar Wochen wieder ausgegraben zu werden und ins Leben zurückzukehren. Diese Fälle, welche Braid zuerst gesammelt und zu deuten versucht hat, sind so bekannt, daß ein ausführliches Eingehen auf dieselben überflüssig erscheint. Sie lehren uns aber, daß der unnatürliche Schlaf schon in ältesten Zeiten den Menschen bekannt war, daß er ihnen Veranlassung zu Sagen- und Mythenbildung gab, daß er in den Dienst der Gottesandacht gestellt wurde, weil er wie alles Ungewöhnliche räthselhaft und darum überirdischen Ursprungs zu sein schien.

Während aber die Dichter den Stoff verarbeiteten und die Legenden in ein poetisches Gewand kleideten, wie dies noch Goethe in seinem West-östlichen Divan gethan hat, kam allmählich die Zeit, wo auch die Wissenschaft sich mit der Erscheinung des unnatürlichen Schlafes näher befassen sollte.


II. Berühmte Langschläfer.

Wer an die Möglichkeit eines ungewöhnlich langen Schlafes nicht glauben wollte, der mußte zu allen Zeiten durch die immer und immer wiederkehrenden Berichte von Fällen der Schlafsucht von seinem Zweifel geheilt werden. Die medizinische Literatur kennt eine ganze Anzahl solcher Fälle, von denen wir an dieser Stelle nur einige wiedergeben.

Einer der größten Schläfer war Samuel Chilton, gebürtig aus Tinsbury bei Bath. Er war Handarbeiter, 25 Jahre alt, nicht fett, aber muskulös; er hatte dunkelbraunes Haar. Im Jahre 1694 schlief er ein und verschlief einen ganzen Monat, dann wachte er auf und ging wie gewöhnlich an seine Arbeit; während seiner Schlafzeit nahm er von den Speisen, die man ihm ans Lager setzte, und hatte seine normalen Entleerungen, ohne jedoch zu erwachen. 1696 schlief er wieder ein und schlief diesmal 17 Wochen lang, und während der letzten 6 aß er gar nichts. Leider ist dabei nicht einmal die Gewichtsabnahme des Körpers festgestellt worden. Im Jahre 1697 schlief Samuel Chilton wieder, und der Schlaf dauerte diesmal 6 Monate; in dem Berichte von Dr. Oliver wird aber gar nichts davon erwähnt, wie es mit der Nahrungsaufnahme Chiltons bestellt war. Wir erfahren nur, daß man mit ihm allerlei ungewöhnliche und selbst grausame Versuche angestellt habe, um festzustellen, ob er wirklich keinen Schmerz empfinde oder nur ein Betrüger sei. Chilton gab keine Schmerzensäußerungen von sich und hatte nach dem Erwachen keine Erinnerung an die mit ihm vorgenommenen Proben.

Aehnliche Krankengeschichten hat auch Macnisch in seinem Buche „Der Schlaf in allen seinen Gestalten“ zusammengestellt. Er erzählt von einem Schlafsüchtigen, der 8 Tage lang keine Nahrung genoß, und von einem anderen, der 3 Wochen lang schlief und während dieser Zeit keinen Bissen Essen zu sich nahm, keinen Tropfen trank, der durch nichts auch nur für einen Augenblick erweckt werden konnte, während sein Schlaf ruhig und natürlich schien. Weiter wird noch ein polnischer Soldat erwähnt, der vor Schrecken erstarrte und 20 Tage lang ohne Nahrung blieb.

Dr. Jarrold behandelte einen 44jährigen Mann wegen eines Anfalls von kataleptischer Starre, die 8 Tage lang anhielt. Der Arzt hatte den Kranken aufgegeben, denn der Puls war kaum fühlbar und die Athemzüge, die sehr oberflächlich waren, traten in je 45 Sekunden ein. Nach acht Tagen erwachte aber der Mann, der bis dahin nichts genossen hatte, verlangte ein Beefsteak und genoß vor den Augen des Arztes eine reichliche Mahlzeit.

Es wäre jedoch müßig, eine Geschichte der berühmten Schläfer aus früheren Zeiten zusammenzustellen. Die Berichte sind sehr unzuverlässig; Fälle von Schlafsucht wechseln in ihnen ab mit Erzählungen von Scheintodten, langen Ohnmachtsanfällen u. dergl. Ja, es fehlt darunter selbst nicht ein europäischer Yogin, der sozusagen nach Belieben „sterben“ konnte, um wieder zu erwachen. Braid berichtet diesen seltsamen Fall mit folgenden Worten des Dubliner Arztes Dr. Cheyne:

„Oberst Townsend konnte nach Belieben sterben, d. h. aufhören zu athmen, und durch bloße Willensanstrengung oder sonstwie wieder ins Leben zurückkommen. Er drang so sehr in uns, den Versuch einmal anzusehen, daß wir schließlich nachgeben mußten. Alle drei fühlten wir erst den Puls; er war deutlich fühlbar, obwohl schwach und fadenförmig, und das Herz schlug normal. Er legte sich auf den Rücken zurecht und verharrte einige Zeit regungslos in dieser Lage. Dr. Baynard legte seine Hand auf das Herz des Obersten und Herr Skrine hielt ihm einen reinen Spiegel vor den Mund. Ich fand, daß die Spannung des Pulses allmählich abnahm, bis ich schließlich auch bei sorgfältigster Prüfung und bei vorsichtigstem Tasten keinen mehr fühlte. Dr. Baynard konnte nicht die geringste Herzzusammenziehung fühlen und Herr Skrine sah keine Spur von Athemzügen auf dem breiten Spiegel, den er vor den Mund des Daliegenden hielt. Dann untersuchte jeder von uns nacheinander Arm, Herz und Athem, konnte aber selbst bei der sorgfältigsten Untersuchung auch nicht das geringste Lebenszeichen an ihm finden. Wir besprachen lange, so gut wir es vermochten, diese überraschende Erscheinung. Als wir aber fanden, daß der Mann immer noch in demselben Zustande verharrte, schlossen wir, daß er doch den Versuch zu weit geführt habe, und waren schließlich überzeugt, daß er wirklich todt sei, und wollten ihn nun verlassen. So verging eine halbe Stunde. Gegen 9 Uhr früh, als wir [372] weggehen wollten, bemerkten wir einige Bewegungen an der Leiche und fanden bei genauerer Beobachtung, daß Puls und Herzbewegung allmählich zurückkehrten. Der Mann begann zu athmen und leise zu sprechen. Wir waren alle aufs äußerste über diesen unerwarteten Wechsel erstaunt und gingen nach einiger Unterhaltung mit ihm und untereinander von dannen, von allen Einzelheiten des Vorgangs zwar völlig überzeugt, aber ganz erstaunt und überrascht und nicht imstande, eine vernünftige Erklärung dafür zu geben.“

Während der Oberst in jüngeren Jahren sich in diesen Zustand ohne sichtlichen Schaden versetzen konnte, wurde ihm dieser Versuch im späteren Alter verderblich; denn nachdem er von einem solchen freiwilligen Tode erwacht war, verfiel er dem wirklichen Tode, aus dem es kein Erwachen giebt.

Zu Anfang dieses Jahrhunderts brachten Aerzte, die in fernen Kolonien thätig waren, die Nachricht von einer Schlafkrankheit, die ziemlich häufig unter den Negern in Westafrika, auf den Antillen und in Mittel- und Südamerika vorkommt. Man nannte sie die Schlafsucht. Ihr Verlauf wird in folgender Weise geschildert:

„Bevor der Kranke in Schlaf verfällt, fühlt er sich niedergeschlagen und schwach. Bald hat der Kranke keinen Appetit, bald verspürt er Heißhunger, seine Schwäche nimmt immer mehr zu und es wird ihm immer schwieriger, Bewegungen auszuführen. Hierauf stellt sich ohne Fiebererscheinungen ein taumelnder Gang ein, die Theilnahme an der Außenwelt geht verloren, die Sinne trüben sich, und während der Puls langsamer wird, tritt ein tiefer Schlaf ein. Der Kranke sucht eine möglichst platte Lage auf dem Boden einzunehmen, von da ab macht er aus eigenem Antriebe keine Bewegungen und reagirt nur schwach oder gar nicht auf äußere Reize. Während der Puls immer langsamer wird, der Kranke abmagert und seine Haut eine erdfarbene Erblassung annimmt, tritt nach etwa 2 bis 3 Monaten fast regelmäßig der Tod ein. Obwohl Hunderte von diesen Schlafsuchtfällen beobachtet und viele Sektionen gemacht worden sind, ist das Wesen der Krankheit räthselhaft geblieben.“

Die meisten verbürgten Fälle, die in neuerer Zeit in civilisirten Staaten beobachtet wurden, erwiesen sich als Theilerscheinungen anderer Krankheiten, die einen ungeübten Beobachter leicht zu der Annahme verleiten können, daß er einen Schlafsüchtigen vor sich habe. Unnatürliche Schlaferscheinungen kommen bei Erkrankungen des Nervensystems, namentlich aber bei der Hysterie vor. Es ist seit geraumer Zeit bekannt, daß Hysterische durch äußere Reize in einen schlafartigen und der Starre ähnlichen Zustand verfallen, aus dem sie mitunter schwer zu erwecken sind. Aber die Hysterischen, die ja auch zum Nachtwandeln neigen, verfallen auch von selbst in Schlaftrunkenheit. Diese kann die verschiedensten Formen annehmen; in leichteren Fällen ist sie nur ein Halbschlummer; die Kranken erwachen von Zeit zu Zeit und versorgen ihre natürlichen Bedürfnisse, oder sie schlafen fortwährend, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, und dieser Schlaf kann mehrere Tage andauern. Sehr selten geht der Schlaf in völlige Lethargie, in den sogenannten hysterischen Scheintod über. In diesem Zustande ist der Athem selten und kaum merklich, der Puls kaum fühlbar, der Stuhl wochenlang angehalten. Fälle, wo solche Zustände mehrere Tage dauerten, sind nicht selten, und selbst solche sind verbürgt, deren Dauer sich auf Monate erstreckte.

Auch die Starrsucht, Katalepsie, die oft auf hysterischer Grundlage entsteht, kann von Uneingeweihten mitunter als Schlafsucht gedeutet werden; in älteren Berichten wird oft die Starrsucht mit der Schlafsucht verwechselt.

Diese Leiden hat es zu allen Zeiten gegeben; schon bei den ältesten medizinischen Schriftstellern werden sie erwähnt. Wir haben gesehen, in welcher Weise sie und die Erscheinungen der Hypnose zu Mythenbildungen und religiöser Schwärmerei Anlaß gegeben haben. Sie bilden auch heutzutage ein Gebiet, auf das sich die sensationssüchtige Phantasie flüchtet. Solche Krankengeschichten werden gern erzählt und gedruckt, und der Welt wird die Ausbreitung einer neuen Schlafkrankheit, für die leicht irgend ein Name gefunden wird, verkündigt. Geht dann die Forschung der Sache auf den Grund, so entpuppt sich vielfach die Krankheit, wie dies bei einigen Fällen der jetzt so viel besprochenen Nona der Fall war, als Typhus, Entzündung der Gehirnhäute, so erkennt man in den berühmten Schläfern der Neuzeit Hysterische und andere Nervenkranke. An gut beobachteten Fällen reiner Schlafsucht, wie sie aus älteren Berichten volksthümlich geworden sind, scheint es in der neueren medizinischen Litteratur zu fehlen.




Flammenzeichen.

Roman von E. Werner.

(Fortsetzung.)

[„]Das hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen, Ihnen hier zu begegnen, Durchlaucht,“ sagte Schönau. „Es hieß ja, Sie würden in diesem Sommer gar nicht nach Rodeck kommen, und Stadinger, den ich vorgestern sprach, wußte noch keine Silbe von Ihrer bevorstehenden Ankunft.“

„Stadinger hat auch Ach und Weh geschrieen, als ich ihm so unvermuthet in das Haus fiel,“ versetzte der junge Fürst. „Es fehlte nicht viel, so hätte er mich aus meinem eigenen Schlosse hinausgeworfen, weil ich meinem Telegramm auf dem Fuße folgte und noch nichts in Ordnung war. Aber die Hitze in Ostende wurde nachgerade unerträglich, ich hielt es nicht mehr aus an dem sonnendurchglühten Strande und bekam eine unwiderstehliche Sehnsucht nach meinem kühlen, stillen Waldschlößchen – Gott sei Dank, daß ich der Hitze und dem Lärm dieses Badelebens entronnen bin!“

Seine Durchlaucht geruhte, in diesem Falle nicht die Wahrheit zu sagen. Fürst Egon war schleunigst vom Strande der Nordsee herbeigeeilt, um einer gewissen „Nachbarschaft“ theilhaftig zu werden, von der er zufällig erfahren. Stadinger hatte bei einem Bericht, in welchem er um Erlaubniß bat, einige Veränderungen in Rodeck vornehmen zu dürfen, erwähnt, daß die betreffenden Einrichtungen bereits in Ostwalden beständen, wo Frau von Wallmoden gegenwärtig weile. Zu seiner Ueberraschung traf drei Tage später statt der erwarteten Erlaubniß sein junger Herr in höchsteigener Person ein, der auf diese Nachricht hin nichts Eiligeres zu thun gewußt hatte, als seine sämmtlichen Reise- und Sommerpläne über den Haufen zu werfen. Auch der Oberforstmeister schien nicht an den erwähnten Vorwand zu glauben, denn er bemerkte etwas spöttisch:

„Dann wundert es mich in der That, daß unser Hof so lange in Ostende aushält. Der Herzog und die Herzogin sind ja dort, auch Prinzessin Sophie mit einer fürstlichen Nichte, einer Verwandten ihres verstorbenen Gemahls, wie ich hörte.“

„Ja, mit einer Nichte!“ Egon wendete sich plötzlich um und sah den Sprechenden an. „Herr Oberforstmeister, Sie wollen mir auch einen Glückwunsch aussprechen, ich sehe es an Ihrem Gesichte! Wenn Sie das aber thun, so fordere ich Sie hier mitten im Walde und auf der Stelle.“

„Nun, Durchlaucht, ich beabsichtige mir keineswegs eine Forderung auf den Hals zu ziehen,“ versetzte Schönau lachend. „Aber die Zeitungen sprechen doch bereits ganz offen von einer bevorstehenden oder bereits vollzogenen Verlobung, die besonders in den Wünschen der fürstlichen Damen liegen soll.“

„Meine allergnädigsten Tanten wünschen manches,“ sagte Egon kühl, „ihr allerungehorsamster Neffe ist nur bisweilen anderer Meinung als sie, und das war leider auch diesmal der Fall. Ich kam nach Ostende auf höchsten Befehl, nämlich auf eine Einladung des Herzogs, die ich nicht ablehnen konnte, aber die Luft bekam mir durchaus nicht und ich durfte meine Gesundheit doch nicht so leichtsinnig preisgeben. Ich spürte bereits die ersten Anzeichen eines Sonnenstiches, der unfehlbar ausgebrochen wäre, und da entschloß ich mich noch rechtzeitig –“

„Selbst auszubrechen!“ ergänzte der Oberforstmeister. „Das sieht Ihnen ähnlich, Durchlaucht, aber nun können Sie sich auch auf eine dreifache allerhöchste Ungnade gefaßt machen.“

„Möglich, ich werde das in der Einsamkeit und Selbstverbannung tragen. Uebrigens beabsichtige ich“ – der junge Fürst nahm eine sehr feierliche Miene an – „mich in diesem Sommer [373] ganz meinen Gütern zu widmen, besonders meinem Rodeck. Es soll da ein Umbau stattfinden. Stadinger hat mir bereits darüber geschrieben, aber ich hielt eine persönliche Besichtigung doch für nothwendig.“

„Wegen der Schornsteine?“ fragte Schönau verwundert. „Stadinger meinte, die Kamine im Schlosse hätten im Winter geraucht und er wolle einen neuen Schornstein bauen.“

„Was weiß denn Stadinger davon!“ rief Egon, ärgerlich darüber, daß sein alter „Waldgeist“ ihm schon wieder mit seiner unbequemen Wahrheitsliebe dazwischen kam. „Ich habe sehr großartige Verschönerungspläne – ah, da sind wir schon am Ziel!“

Er setzte sein Pferd in schärferen Trab und der Oberforstmeister folgte seinem Beispiel, denn Ostwalden lag in der That vor ihnen. Der große Umbau, mit dem der verstorbene Wallmoden es zu einem Prachtsitze umschaffen wollte, war allerdings unterblieben; aber das alte, epheuumrankte Schloß mit den beiden Seitenthürmen und dem schattigen, wenn auch ein wenig verwilderten Park hatte etwas ungemein Malerisches. Die jetzige Herrin beabsichtigte, wie man hörte, eine Veränderung so wenig wie einen Verkauf. Für eine Erbin des Stahlbergschen Vermögens kam es auch in der That nicht darauf an, ob sie einen Landsitz mehr oder weniger zu ihrer Verfügung hatte.

Die Herren vernahmen bei ihrer Ankunft, daß Frau von Wallmoden im Park, Frau von Eschenhagen dagegen in ihrem Zimmer sei. Der junge Fürst ließ sich bei der Dame des Hauses melden, während der Oberforstmeister zunächst seine Schwägerin aufsuchte, die er seit dem Winter nicht gesehen hatte. Er schritt nach ihrer Wohnung und trat ohne weiteres bei ihr ein.

Ungelehriger Zögling.
Nach einem Gemälde von Carl Voß.

„Da bin ich!“ sagte er in seiner gewohnten formlosen Art. „Ich brauche mich wohl nicht erst anmelden zu lassen bei meiner Frau Schwägerin, obgleich sie mich und mein Haus in Acht und Bann gethan zu haben scheint. Weshalb bist Du nicht mitgekommen, Regine, als Adelheid vorgestern nach Fürstenstein fuhr? An den Vorwand, den sie mir in Deinem Namen vermeldete, glaube ich natürlich nicht, und nun bin ich in der Hitze zwei Stunden lang geritten, um mir eine Erklärung auszubitten.“

Regine reichte ihm die Hand. Sie hatte sich äußerlich nicht verändert in den sechs oder sieben Monaten, sie war noch dieselbe kraftvoll derbe Erscheinung mit ihrem entschiedenen Auftreten; aber die frühere trotz aller Derbheit doch so gewinnende Heiterkeit in ihrem Wesen war verschwunden. Wenn sie es auch um keinen Preis zugab – man sah es doch, wie sie darunter litt, daß ihr einziger Sohn, dem bis dahin der Wille und die Liebe seiner Mutter das Höchste gewesen waren, sich ihr so vollständig entfremdete.

„Ich habe nichts gegen Dich, Moritz,“ versetzte sie. „Ich weiß es ja, daß Du mir die alte Freundschaft bewahrt hast trotz allem, was man Dir und Deiner Tochter anthat; aber Du mußt doch einsehen, daß es mir peinlich ist, wieder nach Fürstenstein zu kommen.“

„Etwa wegen der aufgehobenen Verlobung? Darüber kannst Du Dich füglich trösten. Du hast es ja damals selbst gesehen und gehört, wie gemüthlich Toni die Sache nahm. Sie gefiel sich in der Rolle eines Schutzengels entschieden besser als in der einer Braut, und sie hat inzwischen ja auch einige Male brieflich versucht, Dich umzustimmen, ebenso wie ich. Leider hatten wir beide keinen Erfolg damit.“

[374] „Nein. aber ich weiß Eure seltene Großmuth zu schätzen.“

„Seltene Großmuth?“ wiederholte Schönau lachend. „Nun ja, es mag nicht gerade häufig vorkommen, daß die ehemalige Braut und der ehemalige Schwiegervater ein gutes Wort einlegen für den durchgegangenen Bräutigam und Schwiegersohn, damit ihm und seiner Herzallerliebsten endlich der mütterliche Segen zutheil wird. Aber wir sind nun einmal so erhaben in unseren Gesinnungen, und überdies haben wir beide eingesehen, daß der Willy eigentlich jetzt erst ein vernünftiger Mensch geworden ist, und das hat – ja, ich kann Dir nicht helfen, Regine – das hat einzig und allein die kleine Marietta zustande gebracht.“

Frau von Eschenhagen runzelte die Stirn bei dieser Bemerkung; sie fand nicht für gut, darauf zu antworten, sondern fragte in einem Tone, der deutlich verrieth, daß sie das Gespräch über diesen Gegenstand abzubrechen wünschte:

„Ist Toni angekommen? Ich erfuhr von Adelheid, daß sie in der Stadt sei, aber täglich zurückerwartet werde.“

Der Oberforstmeister, der inzwischen Platz genommen hatte, lehnte sich behaglich in seinen Stuhl zurück.

„Ja, sie ist gestern wiedergekommen – aber in doppelter Auflage. Sie hat sich nämlich jemand mitgebracht, von dem sie behauptet, er solle und müsse ihr künftiger Ehegemahl werden, und er behauptet das ebenfalls mit solcher Bestimmtheit, daß mir wirklich nichts anderes übrig blieb, als Ja und Amen zu sagen!“

„Wie? Toni ist wieder verlobt?“ fuhr Frau von Eschenhagen überrascht auf.

„Ja, diesmal machte sie das aber allein ab, ich wußte keine Silbe davon. Du weißt ja, sie hatte sich damals in den Kopf gesetzt, sie wolle nun auch ganz übermäßig geliebt werden und die nöthige Romantik dabei genießen. Das scheint Herr Lieutenant von Walldorf denn auch besorgt zu haben. Er hat, wie sie mir mit höchster Genugthuung erzählte, vor ihr auf den Knieen gelegen und erklärt, er könne nicht ohne sie leben, sie hat ihm eine ähnliche rührende Versicherung gegeben, und so weiter. Ja, Regine, es geht heutzutage nicht mehr, die Kinder noch am Gängelband zu führen, wenn sie heirathsfähig sind, sie bilden sich ein, das Heirathen sei ihre Sache allein, und da haben sie wirklich nicht so unrecht.“

Die letzte Bemerkung klang sehr anzüglich, aber Regine überhörte sie vollständig. Nachsinnend wiederholte sie:

„Walldorf? Der Name ist mir ganz fremd. Wo hat Toni denn den jungen Offizier kennengelernt?“

„Er ist ein Freund meines Sohnes, der ihn bei seinem letzten Besuche als Gast mitbrachte. Infolge dessen spann sich auch die Bekanntschaft mit seiner Mutter an, die Toni auf einige Wochen zu sich einlud, und da ist denn das Verlieben und Verloben vor sich gegangen. Ich habe im Grunde nichts dagegen einzuwenden. Hübsch ist Walldorf, lustig und bis über beide Ohren verliebt; ein wenig flott und leicht scheint er allerdings auch zu sein, aber das wird sich geben, wenn er eine vernünftige Frau bekommt. Die Musterknaben sind gar nicht mein Geschmack, die sind die allerschlimmsten, wenn sie erst einmal wild werden, das haben wir an Deinem Willy gesehen. Also wird Walldorf im Herbste seinen Abschied nehmen, denn zur Lieutenantsfrau paßt meine Tochter nicht; ich werde dem jungen Paare ein Gut kaufen, und zu Weihnachten ist die Hochzeit.“

„Das freut mich um Tonis willen,“ sagte Frau von Eschenhagen mit aufwallender Herzlichkeit. „Du nimmst mir eine Last vom Herzen mit dieser Nachricht.“

„Ist mir lieb,“ nickte der Oberforstmeister; „aber nun solltest Du meinem Beispiele folgen und einem gewissen anderen Brautpaar auch eine Last vom Herzen nehmen. Sei vernünftig, Regine, und gieb nach! Die kleine Marietta ist brav geblieben, trotzdem sie beim Theater war, alle Welt giebt ihr und ihrem Ruf das beste Zeugniß. Du brauchst Dich Deiner Schwiegertochter nicht zu schämen!“

Regine erhob sich plötzlich und stieß mit einer heftigen Bewegung ihren Stuhl zurück.

„Ich bitte Dich ein für allemal, Moritz, mich mit solchen Zumuthungen zu verschonen. Ich bleibe bei meinem Worte. Willibald kennt die Bedingung, unter der allein ich nach Burgsdorf zurückkehre; wenn er sie nicht erfüllt, bleibt es bei der Trennung.“

„Er wird sich hüten!“ meinte Schönau trocken. „Die Braut und die Hochzeit aufzugeben, nur weil sie seiner Frau Mutter nicht recht ist – solche Bedingungen erfüllt man überhaupt nicht.“

„Du drückst Dich ja recht liebenswürdig aus!“ rief Frau von Eschenhagen gereizt. „Freilich, was wißt Ihr Männer von der Sorge und Liebe einer Mutter, von der schuldigen Dankbarkeit der Kinder! Ihr seid allesammt undankbar, rücksichtslos, selbstsüchtig –“

„Oho, dergleichen Ausfälle verbitte ich mir im Namen meines Geschlechtes,“ fiel der Oberforstmeister ebenso hitzig ein. Urplötzlich aber besann er sich und lenkte ein:

„Wir haben uns seit sieben Monaten nicht gesehen, Regine, da brauchen wir uns wirklich nicht gleich am ersten Tage wieder zu zanken, das können wir spater abmachen. Lassen wir also vorläuflg Deinen widerspenstigen Majoratsherrn bei Seite und sprechen wir von uns! Wie gefällt es Dir in der Stadt? Du siehst nicht gerade sehr zufrieden aus.“

„Ich bin außerordentlich zufrieden,“ erklärte Regine mit großer Bestimmtheit. „Was mir fehlt, ist nur die Arbeit, ich bin den Müßiggang nicht gewohnt.“

„So schaffe Dir eine Thätigkeit! Es steht ja nur bei Dir, wieder an die Spitze eines großen Hauswesens zu treten –“

„Fängst Du schon wieder an?“

„Nun, ich meinte diesmal nicht Burgsdorf,“ sagte Schönau, mit seiner Reitgerte spielend. „Ich meinte nur – Du sitzest doch ganz allein in der Stadt, und ich sitze auch allein in Fürstenstein, wenn Toni heirathet – das ist sehr langweilig! Wie wäre es denn – nun, ich habe Dir das ja schon einmal auseinandergesetzt, damals wolltest Du nicht, vielleicht hast Du Dich jetzt eines Besseren besonnen – wie wäre es denn, wenn wir bei dieser doppelten Heirath das dritte Paar abgäben?“

Frau von Eschenhagen sah finster zu Boden und schüttelte den Kopf.

„Nein, Moritz, ich bin jetzt weniger als je in der Stimmung, zu heirathen!“

„Schon wieder ein Nein!“ rief der Oberforstmeister aufgebracht. „Das ist nun der zweite Korb, den Du mir giebst! Erst wolltest Du mich nicht, weil Dir Dein Sohn und Dein geliebtes Burgsdorf an das Herz gewachsen waren, jetzt, wo Du siehst, daß sie sich alle beide ohne Dich behelfen, willst Du mich wieder nicht, weil Du ‚nicht in der Stimmung‘ bist. Stimmung gehört überhaupt gar nicht zum Heirathen, nur etwas Vernunft; aber wenn man die Unvernunft und der Starrsinn in höchsteigener Person ist –“

„Du wirbst ja in einer recht schmeichelhaften Weise um mich,“ unterbrach ihn Regine, nun auch in voller Entrüstung. „Das würde eine friedliche Ehe werden, wenn Du schon als Freier so auftrittst!“

„Friedlich würde sie nicht, aber langweilig auch nicht,“ erklärte Schönau. „Ich glaube, wir hielten sie beide aus. Noch einmal, Regine – willst Du mich, oder willst Du mich nicht?“

„Nein! Ich habe keine Lust, eine Ehe ‚auszuhalten‘!“

„So laß es bleiben!“ rief der Oberforstmeister wüthend, indem er aufsprang und nach seinem Hute griff. „Wenn es Dir so großes Vergnügen macht, immer und ewig nein zu sagen, so thue es; aber Willy heirathet doch, und da thut er recht, und jetzt werde ich bei seiner Hochzeit den Brautführer machen, nur um Dich zu ärgern!“

Damit stürmte er fort, ganz außer sich über diese erneute Abweisung, und Frau von Eschenhagen blieb in einer ganz ähnlichen Stimmung zurück. Sie hatten sich richtig wieder gezankt bei dem ersten Wiedersehen und dem zweiten Korbe, sie konnten nun einmal nicht lassen von dieser freundlichen Gewohnheit. –

Inzwischen befand sich Fürst Adelsberg bei Frau von Wallmoden im Parke. Er hatte sie dringend gebeten, ihren Spaziergang nicht zu unterbrechen, und nun schritten sie beide im Schatten der mächtigen Bäume dahin, im kühlen, grünen Dämmerlicht, während draußen auf den Wiesen noch heiße Sonnengluth lag.

Egon hatte die junge Frau nicht wiedergesehen seit dem Tode ihres Gemahls; der förmliche Beileidsbesuch, den er damals abgestattet hatte, war von Eugen Stahlberg im Namen seiner Schwester angenommen worden, und gleich darauf hatten die Geschwister die Stadt verlassen. Adelheid trug selbstverständlich noch die Witwentrauer, aber ihr Begleiter glaubte sie nie so schön gesehen [375] zu haben wie heute in dem tiefen düsteren Schwarz, in dem Kreppschleier, unter dem das blonde Haar schimmerte. Sein Blick streifte immer wieder dies schöne, blonde Haupt, und immer wieder fragte er sich, was denn eigentlich mit diesem Antlitz vorgegangen sei, daß es so ganz anders erschien als sonst.

Auch Egon hatte die Frau, an deren Seite er jetzt dahinschritt, bisher nur in jener kühlen, stolzen Ruhe gekannt, die sie ihm und der Welt gegenüber so unnahbar gemacht hatte. Jetzt war diese Kälte geschwunden, er sah und fühlte es, aber er vermochte nicht, den seltsamen Zug zu enträthseln, der an ihre Stelle getreten war. Die junge Witwe konnte doch unmöglich so tief und schwer um einen Gatten trauern, der ihr im Alter so fern stand und der, selbst wenn er jung gewesen wäre, ihr mit seiner nüchternen, kalt berechnenden Natur nie die Liebe hätte geben können, welche die Jugend verlangt. Und doch lag über ihrer ganzen Erscheinung der Ausdruck eines geheimen Leidens eines stumm, aber schwer getragenen Wehs. Woher stammte denn nur dieser räthselhafte Zug, dieser feuchte Schimmer in den blauen Augen, die jetzt erst die Thränen kennengelernt zu haben schienen?

„Mir ist es immer, als könnte da einmal Gluth und Leben aufstrahlen und die Schneeregion in eine blühende Welt verwandeln!“ hatte Fürst Adelsberg einmal halb im Scherze ausgerufen. Jetzt vollzog sich diese Wandlung, langsam, fast unmerklich, aber dieser weiche, halb schmerzliche Zug, der den früheren strengen Ernst verdrängte, dieser träumerische Blick gaben der jungen Frau einen Reiz, der ihr bisher bei all ihrer Schönheit gefehlt hatte – die Anmuth!

Das Gespräch berührte anfangs nur gleichgültige Dinge, man tauschte die üblichen Fragen und Erkundigungen aus; Egon erzählte einiges, was während des Winters bei Hofe und in der Stadt vorgefallen war, und brachte dann auch hier dieselbe Erklärung seiner plötzlichen Ankunft vor, indem er von der unerträglichen Hitze in Ostende und seiner Sehnsucht nach der kühlen stillen Waldeseinsamkeit sprach. Ein flüchtiges Lächeln, das um die Lippen seiner Begleiterin zuckte, verrieth ihm jedoch, daß sie dem Vorwande ebensowenig glaubte wie der Oberforstmeister, und daß die betreffende Zeitungsnachricht auch bereits zu ihr gedrungen war. Er ärgerte sich unbeschreiblich darüber und sann eben nach, wie er hier, wo er doch nicht so offen sein durfte, den Irrthum aufklären könnte, als Adelheid plötzlich fragte:

„Werden Sie diesmal allein in Rodeck bleiben, Durchlaucht? Im vergangenen Sommer hatten Sie ja einen – Gast dort.“

Ueber das Gesicht des jungen Fürsten flog ein Schatten, er vergaß die Verlobungsgerüchte und seinen Aerger darüber bei dieser Erinnerung.

„Sie meinen Hartmut Rojanow?“ versetzte er ernst. „Er wird schwerlich kommen, er ist gegenwärtig in Sicilien, oder war es wenigstens nach vor zwei Monaten. Seitdem habe ich keine Nachricht von ihm und weiß nicht einmal, wohin ich ihm schreiben soll.“

Frau von Wallmoden beugte sich nieder und pflückte einige Blumen, die am Wege standen, während sie leise bemerkte:

„Ich glaubte, Sie ständen in lebhaftem brieflichen Verkehr miteinander.“

„Das hoffte ich auch bei unserer Trennung und an mir liegt die Schuld nicht, aber Hartmut ist mir in der letzten Zeit ein vollständiges Räthsel geworden. Sie waren ja Zeuge davon, welchen glänzenden Erfolg seine „Arivana“ bei uns davontrug, seitdem hat sich das an verschiedenen Bühnen wiederholt, das Werk siegt im Sturme, wo es nur erscheint, und der Dichter entreißt sich all diesen Triumphen, flüchtet förmlich vor seinem aufsteigenden Ruhme und verbirgt sich vor aller Welt, auch vor mir – das begreife, wer es kann!“

Adelheid hatte sich wieder emporgerichtet, aber ihre Hand, welche die eben gepflückten Blumen hielt, zitterte leise, während sich ihre Augen wie in athemloser Spannung auf den Fürsten richteten.

„Und wann hat Herr Rojanow Deutschland verlassen?“ fragte sie.

„Im Anfang des Dezember. Er war kurz vorher auf einige Tage nach Rodeck gegangen, unmittelbar nach der ersten Aufführung seines Werkes. Ich hielt das für eine Lanne und gab nach, da erscheint er urplötzlich bei mir in der Stadt, mit einem Aussehen und in einer Stimmung, die mich geradezu erschrecken, und kündigt mir seine Abreise an, hört auf keine meiner Bitten, hält keiner Frage stand, sondern bleibt dabei, daß er fort müsse, und geht auch wirklich wie im Sturmwinde! Es vergingen Wochen, ehe ich überhaupt wieder etwas von ihm hörte, und seitdem gab er mir bisweilen Nachricht, wenn auch selten genug, aber ich wußte doch wenigstens, wo er sich befand, und konnte ihm antworten. Er war einige Monate lang in Griechenland, bald hier, bald dort, dann ging er nach Sicilien, aber jetzt bleiben die Nachrichten aus und ich bin in der größten Unruhe.“

Egon sprach mit mühsam verhaltener Erregung. Man sah es, wie nahe ihm die Trennung von dem so leidenschaftlich geliebten Freunde ging. Er ahnte nicht, daß die junge Frau an seiner Seite ihm die Lösung des Räthsels hätte geben können. Sie wußte, was Hartmut jetzt so unstät von Land zu Land trieb, was ihn zurückschaudern ließ vor dem gefeierten Dichternamen, der einen geheimen, aber furchtbaren Makel trug. – Es war die erste Nachricht von ihm, die sie hörte, seit jener verhängnißvollen Nacht in Rodeck, die ihr alles enthüllt hatte.

„Dichter sind eben anders geartet als gewöhnliche Menschen,“ sagte sie, während sie langsam eine der Blumen zerpflückte. „Sie haben bisweilen das Vorrecht, unbegreiflich zu sein.“

Der junge Fürst schüttelte ungläubig und traurig den Kopf.

„Nein, das ist es nicht, das stammt aus ganz anderen Quellen! Ich ahnte ja längst, daß in Hartmuts Leben irgend etwas Dunkles, Räthselhaftes liegt, aber ich habe dem nie nachgeforscht, denn er vertrug auch nicht die leiseste Berührung dieses Punktes und verschloß sich hartnäckig, auch vor mir. Es ist, als stehe er unter einem Verhängniß, das ihm nirgends Ruhe und Frieden gönnt und plötzlich, wenn man es längst gebannt glaubt, wieder hereinbricht. Den Eindruck habe ich aufs neue empfangen, als er in dieser wilden Verstörtheit von mir Abschied nahm – es war unmöglich, ihn zu halten! Aber Sie ahnen es nicht, wie er mir fehlt! Mehr als zwei Jahre lang hat er mich verwöhnt, mit seiner Nähe, mit all den Gaben seiner reichen, feurigen Natur, die er verschwenderisch ausstreute. Jetzt ist mir alles öde und farblos geworden, und ich weiß oft nicht, wie ich das Leben aushalten soll ohne ihn.“

Sie waren stehen geblieben, denn sie hatten die Grenze des Parkes erreicht. Vor ihnen lagen grüne Wiesen im Sonnenglanz und drüben stiegen die Höhen des Waldgebirges empor. Adelheid hatte schweigend zugehört, während ihr Blick sich träumerisch in die Ferne verlor; jetzt aber wandte sie sich plötzlich um und streckte ihrem Begleiter die Hand hin.

„Ich glaube, Sie können ein sehr aufopfernder Freund sein, Durchlaucht. Herr Rojanow hätte Sie nicht verlassen sollen, vielleicht hätten Sie ihn gerettet vor diesem – Verhängniß!“

Egon glaubte seinen Sinnen nicht trauen zu dürfen. Der warme, aus dem Herzen kommende Ton, der Blick, in dem eine Thräne funkelte, diese ganze beinahe leidenschaftliche Theilnahme an seinem Schmerze überraschte ihn ebenso sehr, als sie ihn entzückte. Er ergriff stürmisch die dargebotene Hand und drückte heiß und fest seine Lippen darauf.

„Wenn mich irgend etwas trösten kann über Hartmuts Entfernung, so ist es Ihre Theilnahme,“ rief er. „Sie erlauben mir doch, das Recht des Nachbars geltend zu machen und bisweilen nach Ostwalden zu kommen? Versagen Sie mir das nicht, ich bin ja ganz einsam in Rodeck und ich kam ja einzig und allein –“

Er hielt plötzlich inne, denn er fühlte doch, daß ein solches Geständniß jetzt noch nicht am Platze sei, und es verletzte auch, er sah es deutlich. Die junge Frau entzog ihm rasch ihre Hand und trat zurück; nur eines Augenblickes hatte es bedurft, um sie wieder in das kalte „Nordlicht“ zu verwandeln.

„Um der Hitze und dem geräuschvollen Badeleben in Ostende zu entrinnen,“ ergänzte sie kühl. „Das sagten Sie wenigstens vorhin, Durchlaucht.“

„Es war ein Vorwand,“ erklärte der junge Fürst ernst. „Ich verließ Ostende nur, um gewissen Gerüchten, die sich an meinen dortigen Aufenthalt knüpften und sogar in die Zeitungen ihren Weg fanden, ein für allemal ein Ende zu machen. Sie waren vollkommen grundlos, soweit ich dabei in das Spiel kam – ich gebe Ihnen mein Wort darauf, Excellenz.“

Er hatte schleunigst die Gelegenheit ergriffen, um den Irrthum aufzuklären, den er gerade an dieser Stelle um keinen Preis dulden wollte, aber der Eindruck entsprach nicht seinen Erwartungen. [376] Frau von Wallmoden hatte sich wieder in ihre frühere Unnahbarkeit gehüllt und ließ ihn seine Uebereilung büßen.

„Wozu denn diese feierliche Erklärung, Durchlaucht? Es waren ja nur Gerüchte, und ich begreife es ebenso vollkommen wie Ihre anderen Gutsnachbarn, daß Sie sich vorläufig noch die Freiheit Ihrer Entschlüsse wahren wollen. Doch ich glaube, wir müssen nach dem Schlosse zurückkehren; Sie sagten ja, mein Schwager Schönau sei gleichzeitig mit Ihnen gekommen, und ich möchte ihn doch begrüßen.“

Egon verneigte sich zustimmend und war gehorsam bemüht, während des Rückweges einen möglichst gleichgültigen und harmlosen Ton anzuschlagen, er sollte ja hier nichts anderes als der „Gutsnachbar“ sein. Im Schloßhofe ergriff er den ersten besten Vorwand, um sich zu verabschieden, der auch sofort angenommen wurde, jedoch nicht, ohne daß eine Einladung zum Wiederkommen hinzugefügt worden wäre, und das war für jetzt die Hauptsache.

„Verwünschte Uebereilung!“ murmelte er, als er davonsprengte. „Jetzt werde ich wieder so fern als möglich gehalten, vielleicht auf Wochen. Sobald man dieser Frau nur einen Schritt näher kommen will, starrt einem wieder das Eis entgegen. Aber –“ hier leuchtete das Antlitz des jungen Fürsten auf – „aber dies Eis beginnt doch endlich zu schmelzen, ich sah und hörte es an diesem Ton und Blick, da heißt es geduldig sein – der Preis ist es schon werth, daß man ausharrt!“

Egon von Adelsberg ahnte es nicht, daß jener Blick und Ton, auf den er seine Hoffnungen baute, einem anderen galt, und daß man nur von diesem anderen hören wollte, wenn man ihm selbst die Erlaubniß zum Wiederkommen gab.




Der Juli war erst zur Hälfte vorüber, aber die Welt, die eben noch im tiefsten Frieden zu liegen schien, wurde plötzlich aufgeschreckt aus ihrer Ruhe. Am Rhein war ein Blitz aufgeflammt, dessen grelles, unheimliches Leuchten bis zum Meere und zu den Alpen zuckte, im Westen stand schwer und drohend ein Kriegsgewitter, und bald hallte der Kriegsruf durch das ganze Land.

Auch in Süddeutschland brach es herein wie ein Sturmwind, riß die Männer aus ihren Lebenskreisen, änderte alle Verhältnisse und stürzte alle Pläne und Berechnungen um. Was vor acht Tagen noch behaglich und sicher im gewohnten Geleise dahinschritt, das wurde jetzt von diesem Sturme ergriffen und fortgerissen.

In Fürstenstein, wo die Tochter des Hauses ihre Verlobung feierte, mußte sie zugleich Abschied nehmen von ihrem Bräutigam, der zu seinem Regimente abging. In Waldhofen, wo man Willibald zu einem längeren Aufenthalt erwartete, erschien dieser plötzlich in stürmischer Eile, um Marietta wiederzusehen in den wenigen Tagen, die ihm noch bis zu seiner Einberufung vergönnt waren. In Ostwalden rüstete sich Adelheid zur Abreise, um ihren Bruder, der bereits unter den Fahnen stand, noch einmal in die Arme zu schließen. Fürst Adelsberg hatte schon auf die ersten Nachrichten hin Rodeck verlassen und war nach der Stadt geeilt, wo er gleichzeitig mit dem Herzog eintraf. Die Welt schien auf einmal ein ganz anderes Gesicht bekommen zu haben und die Menschen mit ihr.

In Waldhofen, in dem kleinen Gärtchen des Doktorhauses, stand Willibald und sprach lebhaft und eindringlich zu dem Großvater seiner Braut, der vor ihm auf der Bank saß und nicht ganz einverstanden schien mit dem, was Willy ihm auseinandersetzte.

„Aber, lieber Willy, das ist ja eine Ueberstürzung ohnegleichen,“ sagte er kopfschüttelnd. „Ihre Verlobung mit Marietta ist noch nicht einmal veröffentlicht, und jetzt wollen Sie sich Hals über Kopf trauen lassen! Was wird die Welt dazu sagen?“

„Die Welt findet alles erklärlich im Angesicht der jetzigen Verhältnisse,“ entgegnete Willibald, „und um äußere Rücksichten können wir uns überhaupt nicht kümmern. Ich muß in den Krieg, und da ist es meine Pflicht, Mariettas Zukunft zu sichern, für alle Fälle. Ich ertrage den Gedanken nicht, daß sie nach meinem Tode jemals die Bühne wieder betreten oder von der Gnade meiner Mutter abhängig sein könnte; das Vermögen, dessen Erbe ich dereinst werden sollte, ist in den Händen meiner Mutter, die ausschließlich darüber verfügt. Ich besitze nur das Majorat, das, wenn ich falle, an eine Seitenlinie übergeht, aber unser Familiengesetz sichert der Witwe des früheren Majoratsherrn ein reiches Witthum. Ich will meiner Braut, wenn es mir nicht vergönnt sein sollte, aus dem Kriege heimzukehren, wenigstens den Namen und die Lebensstellung geben, auf die sie ein Recht hat – ich kann nicht ruhig in das Feld ziehen, wenn das nicht alles zuvor geordnet ist!“

Er sprach ruhig, aber mit voller Bestimmtheit. Der blöde, unbeholfene Willibald war nicht wiederzuerkennen in diesem jungen Manne, der so klar die Verhältnisse überschaute und seine Wünsche so entschieden vertrat. Er hatte freilich eine Schule der Selbständigkeit durchgemacht in den letzten sechs Monaten, wo er ganz auf sich allein gestellt war und seine Festigkeit im Kampfe mit der Mutter fortwährend erproben mußte, und er hatte etwas gelernt in dieser Schule, das sah man. Auch sein Aeußeres erschien männlicher, vortheilhafter als sonst, er war, wie der Oberforstmeister sich ausdrückte, jetzt erst zum Menschen geworden.

Doktor Volkmar konnte sich seiner Beweisführung nicht verschließen; er wußte am besten, daß Marietta, wenn der Krieg ihr den Verlobten nahm, wieder schutzlos und mittellos dastand, und auch ihm sank eine Last vom Herzen, wenn er ihre Zukunft gesichert wußte. Er gab daher die Einwendungen auf und fragte nur:

„Was sagt Marietta dazu? Ist sie einverstanden?“

„Gewiß, wir haben das schon gestern abend, gleich nach meiner Ankunft, beschlossen. Ich sprach ihr natürlich nicht von Versorgung und Witthum, denn sie wäre außer sich gewesen, wenn ich den Fall meines Todes so ausführlich erörtert hätte, aber ich stellte ihr vor, daß sie, wenn ich verwundet werden sollte, als meine Frau sofort, ohne Umstände und Begleitung zu mir eilen und bei mir bleiben könnte, und das entschied. – Wir würden ja ohnehin nur eine stille Hochzeit gefeiert haben.“

Sein Gesicht verdüsterte sich bei den letzten Worten und der Doktor sagte seufzend:

„Jawohl, wir hätten wohl alle keine Neigung gehabt, ein großes Fest zu feiern, wenn das Brautpaar ohne den Segen der Mutter vor den Altar treten muß. Haben Sie denn auch wirklich alles versucht, Willy?“

„Alles!“ versetzte der junge Majoratsherr ernst. „Glauben Sie, daß es mir leicht wird, an einem solchen Tage meine Mutter zu entbehren? Aber sie hat mir keine Wahl gelassen, so muß ich es denn tragen. Ich werde also sofort die nöthigen Schritte thun und habe in Voraussicht dessen bereits meine Papiere mitgebracht.“

„Und Sie glauben, daß eine Verbindung in wenig Tagen möglich ist?“ fragte der Doktor zweifelnd.

„In jetziger Zeit gewiß, die Förmlichkeiten sind auf das Nothwendigste beschränkt und alle Weitläufigkeiten aufgehoben, um eine schleunige Trauung zu ermöglichen, wo es gewünscht wird. Sobald Marietta meine Frau ist, begleitet sie mich nach Berlin und bleibt dort, bis mein Regiment abgeht. Dann kehrt sie zu Ihnen zurück, bis zur Beendigung des Feldzuges.“

Volkmar stand auf und reichte ihm die Hand.

„Sie haben recht, es ist wohl das Beste unter diesen Umständen. – Nun, mein kleiner Singvogel, Du willst also wirklich so geschwind heirathen, wie Dein Bräutigam es wünscht?“

Die Frage war an Marietta gerichtet, die soeben in den Garten trat. Ihre blassen Wangen zeigten noch die Spuren von vergossenen Thränen, aber trotzdem war es ein glückseliger Ausdruck, mit dem sie in Willibalds Arme flog.

„Ich bin jede Stunde bereit, Großpapa,“ sagte sie innig. „Der Abschied wird uns leichter werden, wenn wir uns ganz angehören, und Du willigst ein, nicht wahr?“

Der alte Herr blickte halb schmerzlich, halb freudig bewegt auf das junge Paar, das sich so unmittelbar vor der Trennung noch vereinigen wollte, dann sagte er ergriffen:

„Nun, so heirathet denn in Gottesnamen! Ich gebe Euch aus dem Grunde des Herzens meinen Segen!“

Es wurde nun rasch das Nöthige besprochen. Die Trauung sollte sobald als möglich, selbstverständlich in aller Stille und Einfachheit stattfinden, und Willibald wollte noch heute nach Fürstenstein, um dem Oberforstmeister, der ihm ganz mit der alten Herzlichkeit die Wiederverlobung seiner Tochter gemeldet hatte, den eben gefaßten Entschluß mitzutheilen. Dann ging Doktor Volkmar, um einen Krankenbesuch zu machen, und Willy blieb mit seiner Braut allein. Sie hatten sich so lange nicht gesehen, und jetzt lag die Zukunft so schwer und drohend vor ihnen! Aber die nächsten Stunden und Tage gehörten ihnen noch, und in diesem Gedanken waren sie trotz alledem glücklich.

[377]

Die Gänsehüterin.

Abseits vom Dorf ein altes Haus. Kühl schatten Eich’ und Buche;
Am plätschernden Trog das Mädchen sitzt, das Haar in rothem
Tuche.
Sie sitzt in Blumen und Wiesengras, ein Lächeln auf den Lippen:
Wie lustig sieht sich’s den Gänsen zu! Die schnattern, zupfen
und nippen.
Fern brüllt ein Rind; in blauer Luft zieh’n Schwalben ihre
Kreise –
Das ist ein traumhaft Leben hier, genußlich, weich und leise.
Das ist ein Leben, wie ich’s einst geliebt in müßigen Stunden;
Es war so süß — die Jugend schwand, ich hab’s nicht mehr
gefunden —
Dies Lächeln find’ ich niemals mehr vor Denken und vor Sorgen,
So kinderhaft, so müßig froh, so wunschlos und geborgen.

Victor Blüthgen.

[378] In ein halblautes Geplauder vertieft, bemerkten sie es nicht, daß die Thür des Hauses geöffnet wurde und jemand mit langsamen, etwas zögernden Schritten den Hauptgang entlang kam. Erst das Rauschen eines Frauenkleides auf dem Kies des Bodens machte sie aufmerksam, und plötzlich sprangen beide auf.

„Meine Mutter!“ rief Willy im freudigen Schreck, legte aber gleichzeitig den Arm um Marietta, als wollte er sie schützen vor einer erneuten Kränkung, denn das Gesicht der Frau von Eschenhagen, die einige Schritte entfernt stehen geblieben war, erschien hart und finster und in ihrer Haltung lag nichts, was auf Versöhnlichkeit deutete. Ohne das junge Mädchen zu beachten, wandte sie sich ausschließlich an ihren Sohn.

„Ich hörte von Adelheid, daß Du hier seist,“ begann sie in einem ziemlich herben Tone, „und da wollte ich mich doch erkundigen, wie es jetzt in Burgsdorf steht. Hast Du für eine Vertretung gesorgt während Deiner Abwesenheit? Man weiß ja nicht, wie lange der Feldzug dauert.“

Der freudige Ausdruck in den Zügen des jungen Majoratsherrn verschwand – er hatte doch auf eine andere Begrüßung gehofft bei diesem unerwarteten Erscheinen der Mutter.

„Ich habe nach Möglichkeit Vorsorge getroffen,“ versetzte er. „Der größte Theil meiner Leute ist allerdings einberufen, auch der Inspektor muß in diesen Tagen fort, und ein Ersatz ist in jetziger Zeit nicht zu beschaffen. Die Arbeiten werden daher aufs Nothwendigste beschränkt und der alte Mertens wird die Oberaufsicht führen.“

„Der Mertens ist ein Schaf!“ sagte Regine mit der alten Derbheit. „Wenn der die Zügel führt, geht es drunter und drüber in Burgsdorf. Da wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als daß ich selbst hingehe und nach dem Rechten sehe.“

„Wie, Du wolltest –?“ rief Willibald; aber seine Mutter schnitt ihm ohne weiteres das Wort ab.

„Denkst Du, ich werde Dein Hab und Gut zugrunde gehen lassen, während Du im Felde stehst? In meinen Händen ist es sicher aufgehoben, das weißt Du; ich habe lange genug das Regiment geführt, und das werde ich auch jetzt thun, bis Du wieder zurückkommst.“

Sie sprach noch immer in dem harten, kalten Tone, als wollte sie jedes wärmere Gefühl ausschließen; aber jetzt trat Willy, seine Braut noch im Arme, dicht vor sie hin.

„Um mein Hab und Gut sorgst Du Dich, Mama!“ sagte er vorwurfsvoll. „Das willst Du in Deine Obhut nehmen, aber für das Beste und Liebste, was ich besitze, hast Du kein Wort und keinen Blick? Bist Du wirklich nur gekommen, um mir zu sagen, daß Du nach Burgsdorf gehen willst?“

Um die Lippen der Frau von Eschenhagen zuckte es, ihre herbe Zurückhaltung wollte nicht mehr standhalten bei dieser Frage.

„Ich kam, um meinen einzigen Sohn noch einmal zu sehen, ehe er in den Krieg, vielleicht in den Tod geht!“ sagte sie mit schmerzlicher Bitterkeit. „Ich mußte es von anderen hören, daß er gekommen sei, um von seiner Braut Abschied zu nehmen. Zu seiner Mutter kam er nicht. Und das – das konnte ich doch nicht ertragen!“

„Wir wären gekommen!“ rief der junge Majoratsherr, „wir hätten vor der Abreise noch einen letzten Versuch gemacht, Dein Herz zu gewinnen. Sieh Mutter, hier ist meine Braut, meine Marietta – sie wartet auf ein freundliches Wort von Dir.“

Regine warf einen langen Blick auf das junge Paar, und wieder zuckte es schmerzlich in ihrem Gesichte, als sie sah, wie Marietta sich scheu und doch zuversichtlich an die Brust des Mannes schmiegte, in dessen Schutz sie sich jetzt so sicher wußte. Die mütterliche Eifersucht bestand einen letzten, schweren Kampf, aber endlich gab sie sich überwunden. Frau von Eschenhagen streckte dem jungen Mädchen die Hand hin.

„Ich habe Dich einmal gekränkt, Marietta,“ sagte sie halblaut, „und habe Dir damals wohl auch unrecht gethan; aber dafür hast Du mir meinen Jungen genommen, der bis dahin nichts anderes kannte und liebte als seine Mutter, und der nun nichts anderes kennt und liebt als Dich – ich glaube, wir sind quitt.“

„O, Willy liebt seine Mutter nicht weniger als früher,“ versicherte Marietta eifrig. „Ich weiß es am besten, wie er unter der Trennung gelitten hat.“

„So? Nun, dann werden wir uns wohl vertragen müssen um seinetwillen!“ versetzte Regine mit einem Versuch, zu scherzen, der aber nicht recht gelang. „Wir werden uns in der nächsten Zeit rechtschaffen ängstigen um ihn, wenn wir ihn draußen im Felde wissen – da wird es Sorge und Kummer genug geben. Was meinst Du, Kind? Ich glaube, wir tragen es leichter, wenn wir uns zusammen ängstigen.“

Sie breitete die Arme aus, und in der nächsten Sekunde lag Marietta schluchzend an ihrer Brust. Auch in dem Auge der Mutter schimmerte eine Thräne, als sie sich niederbeugte, um die künftige Tochter zu küssen, dann aber sagte sie in dem alten befehlshaberischen Tone:

„Geweint wird nicht! Kopf in die Höh’, Marietta, eine Soldatenbraut muß tapfer sein, merke Dir das!“

„Eine Soldatenfrau,“ verbesserte Willibald, der mit leuchtenden Augen dabei stand. „Wir sind soeben übereingekommen, uns noch vor dem Ausmarsch trauen zu lassen.“

„Nun, dann gehört Marietta aber von Rechtswegen nach Burgsdorf,“ erklärte Regine, die sich kaum überrascht zeigte und den Entschluß ganz in der Ordnung zu finden schien. „Keine Einwendung, Kind! Die junge Frau von Eschenhagen hat in Waldhofen nichts mehr zu suchen, außer wenn sie bei ihrem Großvater zum Besuch ist. Oder fürchtest Du Dich vielleicht vor der grimmigen Schwiegermutter? Nun, ich meine, Du hast an dem da“ – sie wies auf ihren Sohn – „einen hinreichenden Schutz, selbst wenn er nicht zu Hause ist. Er wäre imstande, seiner eigenen leiblichen Mutter den Krieg zu erklären, wenn sie seine kleine Frau daheim nicht auf Händen getragen hat.“

„Das wird sie thun, ich weiß es!“ fiel Willy ein. „Wenn meine Mutter erst einmal ihr Herz öffnet, dann thut sie es auch recht!“

„Ja, jetzt kannst Du schmeicheln,“ sagte Frau Regine mit einem strafenden Blick. „Also Du kommst mit nach Deiner künftigen Heimath, Marietta. Um die Wirthschaft brauchst Du Dich nicht zu kümmern, das ist meine Sache, solch ein kleines Ding kann ja überhaupt nichts angreifen in der Landwirthschaft, und ich leide es auch nicht, daß mir jemand dreinredet, so lange ich in Burgsdorf bin. Wenn ich wieder fortgehe, ist das eine andere Sache; aber ich sehe es schon kommen, daß der Willy Dich Dein lebelang wie eine Prinzessin halten wird. – Meinetwegen, wenn er nur heil und gesund zurückkommt!“

Sie streckte jetzt auch ihrem Sohne die Hände entgegen, und die beiden hatten sich vielleicht noch nie so warm und herzlich umarmt wie heute.

Als sie eine Viertelstunde später alle drei in das Haus traten, trafen sie dort mit dem Oberforstmeister zusammen, der förmlich zurückprallte beim Anblick seiner Schwägerin. Regine weidete sich redlich an seiner Ueberraschung.

„Nun, Moritz, bin ich noch die Unvernunft und der Starrsinn in höchsteigener Person?“ fragte sie, ihm die Hand bietend; aber Schönau, der den vor acht Tagen erhaltenen Korb noch nicht verwunden hatte, hielt die seinige zurück und brummte nur etwas Unverständliches, aus dem man ungefähr entnehmen konnte, es habe ziemlich lange gedauert, bis die Vernunft zum Durchbruch gekommen sei. Dann wandte er sich an das junge Paar.

„Also nun soll schleunigst drauf los geheirathet werden? Doktor Volkmar, dem ich begegnete, sagte es mir soeben, und da kam ich her, um mich als Brautführer anzubieten. Das ist nun wohl nicht mehr nöthig, da die Frau Mutter zur Stelle ist.“

„O, Du bist uns deshalb ebenso herzlich willkommen, Onkel!“ rief Willibald.

„Nun ja, so als Nebenperson bei einer Hochzeit kann ich allenfalls noch verwendet werden,“ grollte der Oberforstmeister mit einem anzüglichen Blick auf seine Schwägerin. „Also eine Heirath vor der Trommel! Das muß man sagen, Willy, Du bist aus Deinem nüchternen Burgsdorf mit Siebenmeilenstiefeln hineingewandert in die Romantik, und Dir gerade hätte ich das am wenigsten zugetraut. Uebrigens ist meine Toni jetzt auch ganz versessen auf das Romantische; sie und Walldorf hätten nicht übel Lust gehabt, auch so mit Dampf zu heirathen vor dem Abmarsch; aber das habe ich mir verbeten, denn bei uns liegen die Verhältnisse ganz anders, und ich habe keine Lust, jetzt schon einsam dazusitzen wie ein Kauz.“

Er blickte wieder mit grimmigem Ausdrucke zu Frau von Eschenhagen hinüber; aber diese trat jetzt zu ihm und sagte herzlich:

„Grolle nicht, Moritz, wir haben uns ja noch immer wieder vertragen, wir wollen auch diesmal den Streit vergessen. Du [379] siehst wenigstens, daß ich auch einmal Ja sagen kann, wenn ich sehe, daß das ganze Glück meines Jungen daran hängt.“

Der Oberforstmeister besann sich nach einen Augenblick, dann aber ergriff er die aufs neue dargebotene Hand und drückte sie herzhaft.

„Das sehe ich,“ bestätigte er. „Und nun gewöhnst Du Dir vielleicht das verwünschte Neinsagen ganz ab, Regine – auch in einem anderen Punkte!“




In dem Adelsbergschen Palais, im Arbeitszimmer des Fürsten, stand der Schloßverwalter von Rodeck, der nach der Stadt berufen war, um vor der Abreise seines jungen Herrn noch verschiedene Befehle und Weisungen entgegenzunehmen. Egon, der bereits die Uniform seines Regimentes trug, hatte noch mündlich allerlei Anordnungen getroffen und entließ jetzt den Alten.

„Und nun halte mir das alte Waldnest brav in Ordnung wie bisher,“ schloß er. „Es ist möglich, daß ich noch einmal auf einige Stunden nach Rodeck komme, ich glaube es aber kaum, denn der Befehl zum Abmarsch kann jeden Tag erfolgen. Wie gefalle ich Dir denn eigentlich als Soldat?“

Er stand auf und richtete sich zu seiner ganzen Höhe empor, die schlanke, jugendliche Gestalt sah in der Lieutenantsuniform vortrefflich aus, und Stadinger musterte sie mit bewundernden Blicken.

„Ganz prächtig!“ versicherte er. „Es ist eigentlich schade, daß Durchlaucht nicht von Berufs wegen Soldat sind!“

„Meinst Du? Nun, trotzdem bin ich doch jetzt mit Leib und Seele dabei. Der Dienst im Felde wird freilich hart sein, und ich werde mich erst daran gewöhnen müssen; aber es schadet nichts, wenn man sich auch einmal im Bann einer strengen Pflicht weiß.“

„Nein. Durchlaucht, bei Ihnen schadet das nun schon gar nichts,“ meinte Stadinger mit seiner entsetzlichen Aufrichtigkeit. „Wenn Durchlaucht so jahrelang im Orient herumziehen mit einer großen Seeschlange und einer ganzen Herde von Elefanten, oder wenn Sie in Ostende dem allerhöchsten Hof durchgehen, weil Sie durchaus nicht heirathen wollen, dabei kommt doch nichts weiter heraus als –“

„Als Dummheiten!“ ergänzte der junge Fürst verständnißvoll. „Stadinger, eines werde ich im Felde schwer vermissen – Deine unendliche Grobheit! Du willst mir noch eine letzte Moralpredigt halten, ich sehe es an Deinem Gesicht, erspare mir das und grüße mir lieber die Zenz, wenn Du heimkommst. Sie ist doch jetzt in Rodeck?“

„Ja, Durchlaucht, jetzt ist sie da!“ erklärte der Alte mit scharfer Betonung.

„Natürlich, weil ich nach Frankreich marschire! Aber gieb Dich nur zufrieden, ich werde als ein wahres Muster von Vernunft und Tugend zurückkommen, und dann – dann heirathe ich auch.“

„Wirklich?“ rief Stadinger freudig überrascht. „Wie wird sich der allerhöchste Hof freuen!“

„Es kommt darauf an!“ spottete Egon. „Möglicherweise jage ich den allerhöchsten Hof in Entsetzen mit meiner Verlobung und ziehe meiner allergnädigsten Tante Sophie Krämpfe damit zu. Sieh nicht so dumm drein, Stadinger, Du begreifst das doch nicht; aber ich erlaube Dir ausdrücklich, Dir während des ganzen Feldzuges den Kopf darüber zu zerbrechen. Doch nun geh’, und wenn wir uns nicht wiedersehen sollten – bewahre Deinem Herrn ein gutes Andenken!“

Stadinger legte sein Gesicht in die allergrimmigsten Falten, um die aufsteigenden Thränen zu verbergen, aber das gelang ihm nicht.

„Wie können Durchlaucht nur so reden!“ brummte er. „Soll ich alter Mann etwa allein auf der Welt bleiben und Sie nicht mehr sehen, so jung, so schön und so lebenslustig? Das überlebte ich nicht!“

„Und ich habe Dich doch rechtschaffen geärgert, mein alter Waldgeist!“ sagte der junge Fürst, ihm die Hand reichend. „Aber Du hast recht, man muß an den Sieg und nicht an den Tod denken, und wenn beide zusammenkommen, dann ist das Sterben auch nicht schwer.“

Der Alte beugte sich auf die Hand seines Herrn nieder und eine Thräne fiel darauf.

„Ich wollte, ich könnte mit!“ sagte er halblaut.

„Das glaube ich,“ lachte Egon, „und Du würdest Dich gar nicht schlecht ausnehmen als Soldat trotz Deiner eisgrauen Haare. Aber jetzt haben wir Jungen anzutreten und Ihr Alten bleibt zu Haus. Leb’ wohl, Stadinger!“ – er schüttelte ihm herzlich die Hand – „ich glaube gar, Du weinst? Du solltest Dich schämen! Fort mit den Thränen und den trüben Ahnungen! Du wirst mir noch manchmal den Text lesen!“

„Das gebe Gott!“ seufzte Peter Stadinger aus Herzensgrunde. Er blickte noch einmal mit nassen Augen in das jugendliche, lebensprühende Antlitz, das ihm so heiter und siegesgewiß zulächelte; dann ging er traurig mit gesenktem Kopfe. Er fühlte es doch jetzt erst ganz, wie sehr ihm seine junge Durchlaucht ans Herz gewachsen war.

Der Fürst warf einen Blick auf die Uhr. Er mußte zu einem seiner Vorgesetzten, sah aber jetzt, daß fast noch eine Stunde an der bestimmten Zeit fehlte, und so griff er denn nach den Zeitungen und vertiefte sich in die neuesten Depeschen und Berichte.

Da ließ sich ein rascher, lauter Schritt im Nebenzimmer hören; Egon sah erstaunt auf: so pflegten die Diener nicht aufzutreten, und Besuche wurden ja stets gemeldet. Dieser Besuch bedurfte freilich keiner Anmeldung, das wußte die ganze Dienerschaft, ihm sprangen alle Thüren auf im Hause des Fürsten Adelsberg.

„Hartmut! Du bist es!“

Egon stürzte in freudiger Ueberraschung dem Eintretenden entgegen und warf sich an seine Brust.

„Du bist wieder in Deutschland und ich habe keine Ahnung davon? Du Böser, der mich zwei volle Monate lang ohne Nachricht ließ! Kommst Du, um mir Lebewohl zu sagen?“

Hartmut hatte weder die Begrüßung noch die stürmische Umarmung erwidert, stumm und finster ließ er beides über sich ergehen, und als er endlich sprach, verrieth auch sein Ton nichts von der Freude des Wiedersehens.

„Ich komme geradeswegs vom Bahnhof. Ich hoffte kaum, Dich noch zu finden, und doch hängt für mich alles daran.“

„Aber weshalb hast Du mir denn nicht Dein Kommen gemeldet? Ich schrieb Dir ja unmittelbar nach der Kriegserklärung! Du warst doch damals noch in Sicilien?“

„Nein, ich reiste ab, als der Krieg unvermeidlich zu werden schien, und habe Deinen Brief nicht mehr erhalten – ich bin seit acht Tagen in Deutschland.“

„Und erst jetzt kommst Du zu mir?“ fragte Egon vorwurfsvoll.

Rojanow beachtete den Vorwurf nicht, sein Auge haftete auf der Uniform des Freundes, und es lag etwas wie verzehrender Neid in diesem Blick.

„Du stehst bereits im Dienst, wie ich sehe,“ sagte er hastig. „Ich beabsichtige gleichfalls, in die deutsche Armee einzutreten.“

Egon mochte alles andere eher erwartet haben als eine solche Eröffnung. In grenzenloser Ueberraschung trat er einen Schritt zurück.

„In die deutsche Armee? Du, der Rumäne?“

„Ja, und deshalb komme ich zu Dir; Du wirst mir den Eintritt ermöglichen!“

„Ich?“ fragte der Fürst, dessen Verwunderung immer höher stieg. „Ich bin ja jetzt nichts weiter als ein junger Offizier! Wenn es Dir wirklich Ernst ist mit diesem seltsamen Vorhaben, mußt Du Dich an eine der zuständigen Kommandostellen wenden.“

„Das habe ich ja bereits gethan an verschiedenen Orten, sogar in Eurem Nachbarstaate habe ich es versucht, aber man will einen Fremden nicht aufnehmen. Man fordert alle möglichen Papiere und Ausweise, die ich nicht besitze, und quält mich mit endlosem Fragen und Forschen, überall tritt mir Argwohn und Mißtrauen entgegen, niemand will meinen Entschluß begreifen.“

„Offen gestanden, Hartmut, ich begreife ihn auch nicht,“ sagte Egon ernst. „Du hast stets eine tiefe Abneigung gegen Deutschland zur Schau getragen, Du bist der Sohn eines Landes, dessen höhere Kreise nur französische Bildung und Sitten kennen, das mit all seinen Neigungen ausschließlich auf seiten Frankreichs steht, da ist das Mißtrauen bei Fremden doch wohl erklärlich. Aber warum wendest Du Dich nicht an den Herzog persönlich, um Deinen Wunsch durchzusetzen? Du weißt, wie sehr er für [380] den Dichter der ‚Arivana‘ eingenommen ist, es kostet Dich nur eine Audienz, die er Dir jederzeit gewähren wird, und ein Befehl von ihm hebt jede Schwierigkeit und gestattet jede Ausnahme.“

Rojänows Blick sank zu Boden und seine schon so umdüsterte Stirn verfinsterte sich noch mehr, als er erwiderte:

„Ich weiß es, aber gerade dort kann ich nichts erbitten. Der Herzog würde mir dieselbe Frage stellen wie all die andern, ihm darf ich die Antwort nicht schuldig bleiben, und die Wahrheit – kann ich ihm nicht sagen.“

„Auch mir nicht?“ fragte der junge Fürst, indem er zu ihm trat und die Hand auf seine Schulter legte. „Warum bestehst Du so stürmisch auf dem Eintritt in unser Heer? Was suchst Du eigentlich unter den deutschen Fahnen?“

Hartmut strich mit der Hand über die Stirn, als wollte er dort etwas fortwischen, dann antwortete er schwer und dumpf:

„Die Erlösung – oder den Tod!“

„Du kehrst zurück wie Du gegangen bist, als ein Räthsel!“ sagte Egon kopfschüttelnd. „Damals hast Du mir jede Erklärung verweigert, soll ich auch jetzt Dein Geheimniß nicht erfahren?“

„Schaffe mir die Aufnahme in das Heer und ich sage Dir alles!“ rief Rojanow in fieberhafter Erregung. „Gleichviel unter welchen Bedingungen, nur schaffe sie mir! Aber sprich nicht mit dem Herzog, nicht mit einem der Generale, sondern wende Dich an eins der untergeordneten Kommandos. Dein Name, Deine Verwandtschaft mit dem regierenden Hause machen Dein Fürwort mächtig. Man wird dem Fürsten Adelsberg kein Nein zur Antwort geben, wenn er selbst einen Freiwilligen anmeldet.“

„Aber man wird ihm dieselbe Frage stellen wie Dir. Du bist Rumäne –“

„Nein, nein!“ rief Hartmut leidenschaftlich aus. „Wenn ich es Dir denn doch bekennen muß – ich bin ein Deutscher!“

Die Wirkung dieser Erklärung war nicht so groß, als Hartmut gefürchtet haben mochte. Der Fürst sah ihn wohl einen Augenblick lang betroffen an, dann aber entgegnete er:

„Das habe ich bisweilen geahnt. Wer eine ‚Arivana‘ in deutscher Sprache dichten konnte, der verdankt diese Sprache nicht bloß seiner Erziehung, der ist verwachsen mit ihr. Aber Du führst den Namen Rojanow –“

„Den Namen meiner Mutter, die einer rumänischen Bojaren-Familie angehörte. Ich selbst heiße – Hartmut von Falkenried.“

Der eigne Name klang so seltsam fremd in seinem Ohre, er hatte ihn ja seit langen Jahren nicht ausgesprochen, aber auch Egon stutzte dabei.

„Falkenried? So hieß ja der preußische Oberst, der damals in geheimer Sendung aus Berlin kam! Stehst Du in irgend einer Beziehung zu ihm?“

„Es ist mein Vater!“

Der junge Fürst blickte mitleidig auf seinen Freund, denn er sah, wie furchtbar schwer diesem das Geständniß wurde. Er fühlte wohl, daß hier ein Familiendrama verborgen lag, und zu zartfühlend, um weiter zu forschen, fragte er nur:

„Und Du willst Dich nicht als Sohn Deines Vaters, nicht als einen Falkenried bekennen? Damit stände Dir ja jedes preußische Regiment offen.“

„Nein, damit wäre es mir verschlossen für immer – ich bin vor zehn Jahren aus dem Kadettenhause entflohen.“

„Hartmut!“ Es lag ein Ausdruck des Entsetzens in dem Ruf.

„Nun, hältst Du das etwa auch für ein todeswürdiges Verbrechen wie mein Vater? Du freilich bist in der Freiheit aufgewachsen und hast keine Ahnung von dem eisernen Zwange, der in diesen Anstalten herrscht, von der Tyrannei, mit der man unter das Joch eines blinden Gehorsams gebeugt wird. Ich konnte das nicht ertragen, mich drängte es gewaltsam zur Freiheit und zum Licht. Ich bat, ich bestürmte meinen Vater, vergebens, er hielt mich fest an der Kette – da zerriß ich sie und entfloh mit meiner Mutter.“

Er stieß das alles mit einem wilden, verzweiflungsvollen Trotze hervor, aber sein Auge haftete beinahe angstvoll auf dem Gesicht seines Zuhörers. Der Vater mit seinen starren Ehrbegriffen verdammte ihn, aber der Freund, der ihn vergötterte, der mit seiner leidenschaftlichen Begeisterung für ihn und seinen Genius alles bewunderte, was er that, der mußte doch die Nothwendigkeit seines Schrittes begreifen. Doch dieser Freund schwieg, und in dem Schweigen lag sein Urtheil.

„Also auch Du, Egon?“ In dem Ton des Fragenden, der minutenlang vergebens auf Antwort geharrt hatte, lag eine tiefe Bitterkeit. „Auch Du, Egon, der mir so oft sagte, daß nichts den Flug eines Dichters hemmen darf, daß er die Bande sprengen muß, die ihn am Boden halten? Das that ich und das hättest Du auch gethan.“

Der junge Fürst richtete sich mit voller Entschiedenheit empor. „Nein, Hartmut, da irrst Du denn doch. Ich wäre vielleicht einer strengen Schule entlaufen – dem Waffendienste nie!“

Da war es wieder, das herbe Wort, das schon einmal der Knabe gehört hatte: „Dem Waffendienst entlaufen!“ Es trieb ihm auch jetzt das Blut in die Stirn.

„Warum wurdest Du nicht Offlzier?“ fuhr Egon fort. „Man wird das ja sehr früh in Deiner Heimath! Nach einigen Jahren konntest Du dann den Abschied nehmen, in einem Alter, wo das Leben erst beginnt, dann warst Du frei – mit Ehren!“

Hartmut verstummte: das hatte ihm auch der Vater einst gesagt, aber er wollte eben nicht warten und sich beugen. Die Schranke hinderte ihn und er warf sie einfach nieder, unbekümmert darum, daß er auch Pflicht und Ehre damit niederwarf.

„Du weißt nicht, was damals alles auf mich einstürmte,“ entgegnete er gepreßt. „Meine Mutter – ich will sie nicht anklagen, aber sie ist mein Verhängniß geworden. Der Vater hatte sich schon in meinen Kinderjahren von ihr getrennt, ich hielt sie für todt, da trat sie auf einmal wieder in mein Leben und riß mich an sich, mit ihrer heißen Mutterliebe, mit ihren Verheißungen von Freiheit und Glück. Sie allein hat jenen unseligen Wortbruch verschuldet –“

„Welchen Wortbruch?“ fiel Egon erregt ein. „Hattest Du etwa schon den Eid geleistet?“

„Nein, aber ich hatte meinem Vater das Wort gegeben, zurückzukehren, als er mir eine letzte Unterredung mit der Mutter gestattete –“

„Und statt dessen entflohst Du mit ihr?“

„Ja!“

Die Antwort klang kaum hörbar, und dann folgte eine lange Pause. Der junge Fürst sprach kein Wort, aber in seinem offenen, sonst so sonnigen Antlitz malte sich ein tiefer, bitterer Schmerz, der bitterste seines Lebens, denn in dieser Minute verlor er den so leidenschaftlich geliebten Freund.

Hartmut nahm endlich wieder das Wort, aber er blickte nicht auf dabei.

„Du begreifst es jetzt, warum ich den Eintritt in das Heer um jeden Preis erzwingen will. Jetzt, wo der Krieg ausbricht, kann der Mann sühnen, was der Knabe gefehlt hat. Deshalb verließ ich Sicilien schon auf die ersten bedrohlichen Nachrichten hin und flog wie im Sturme nach Deutschland. Ich hoffte, sofort zu den Waffen eilen zu können, ich ahnte ja nichts von all den Hindernissen und Schwierigkeiten, die man mir bereitet, aber Du kannst sie beseitigen, wenn Du für mich eintrittst.“

„Nein, das kann ich nicht!“ sagte Egon kalt. „Nach dem, was ich soeben erfahren habe, ist das unmöglich!“

Hartmut erbleichte und trat mit einer heftigen Bewegung dicht vor ihn hin.

„Du kannst nicht? Das heißt – Du willst nicht!“

Der Fürst schwieg.

„Egon!“ – es lag ein wildes, stürmisches Flehen in dem Ton – „Du weißt, ich habe nie eine Bitte an Dich gerichtet, es ist die erste und letzte, aber jetzt bitte, beschwöre ich Dich um diesen Freundschaftsdienst. Es ist die Erlösung von dem Verhängniß, das mich seit jener Stunde verfolgt, die Versöhnung mit meinem Vater, die Versöhnung mit mir selbst – Du mußt mir helfen!“

„Ich kann nicht,“ wiederholte der junge Fürst tiefernst. „Die Zurückweisung, die Du erfahren hast, mag Dich schwer treffen, ich glaube es, aber sie ist nur gerecht. Du hast mit Deinem Vaterlande, Deinen Pflichten gebrochen, und das läßt sich nicht so ohne weiteres wieder zusammenknüpfen, wenn man anderen Sinnes geworden ist. Du entflohst dem Waffendienste – Du, der Sohn eines Offiziers – jetzt verschließt der Waffendienst sich Dir und Du mußt es tragen!“

„Und das sagst Du mir so ruhig, so kalt?“ rief Hartmut außer sich. „Siehst Du denn nicht, daß es sich für mich um Leben und Tod handelt? Ich habe meinen Vater wiedergesehen, damals in Rodeck, als er an das Sterbebett Wallmodens eilte. [381] Er hat mich zerschmettert mit seiner Verachtung, mit den furchtbaren Worten, die er mir in das Antlitz schleuderte. Das war es, was mich forttrieb aus Deutschland, was mich ruhelos von Ort zu Ort jagte! Aber seine Worte gingen mit mir und schufen mir das Leben zur Hölle. Ich habe den Kriegsruf wie eine Erlösung begrüßt, ich wollte kämpfen für das Vaterland, das ich einst von mir stieß, und nun schließt sich mir die Thür, die sich allen, allen öffnet. Egon, Du wendest Dich ab? Nun, dann bleibt mir nur noch ein Weg!“

Er wandte sich mit einer jähen, verzweiflungsvollen Bewegung nach dem Tische, wo die Pistolen des Fürsten lagen, aber dieser stürzte auf ihn zu und riß ihn zurück.

„Hartmut! Bist Du wahnsinnig?“

„Vielleicht werde ich es noch! Ihr foltert mich ja alle bis zum Wahnsinn!“

Es lag eine grenzenlose Verzweiflung in den Worten. Auch Egon war bleich geworden und seine Stimme bebte, als er sagte:

„Ehe es dahin kommen soll – ich werde versuchen, Dir Aufnahme bei einem Regimente zu verschaffen!“

„Endlich! Ich danke Dir!“

„Versprechen kann ich Dir allerdings nichts, denn der Herzog muß jetzt gänzlich aus dem Spiel bleiben, da er nichts erfahren darf. Er geht auch morgen schon nach dem Kriegsschauplatz ab. Vernimmt er später, daß Du in seiner Armee dienst, so sind wir mitten im Sturm des Krieges, und einer vollendeten Thatsache gegenüber fragt man nicht so eingehend nach dem Wie und Warum. Aber es wird immerhin einige Tage dauern, ehe die Entscheidung erfolgt – willst Du so lange mein Gast sein?“

Der junge Fürst hätte das sonst als selbstverständlich angenommen und wäre außer sich gewesen bei einer Weigerung seines Freundes; jetzt fragte er, und Hartmut fühlte, was in dieser Frage lag.

„Nein, ich bleibe überhaupt nicht in der Stadt,“ versetzte er. „Ich gehe zu dem Rodecker Förster und bitte Dich, mir dorthin Nachricht zu senden, in wenigen Stunden kann ich ja wieder hier sein.“

„Wie Du willst. Du gehst also nicht nach dem Schlosse?“

Hartmut sah ihn mit einem langen, schmerzlichen Blicke an.

„Nein, in die Försterei. Leb’ wohl, Egon!“

„Leb’ wohl!“

Sie schieden, ohne Händedruck, ohne ein ferneres Abschiedswort, und als die Thür hinter ihm zufiel, da wußte es auch Hartmut, daß er den Freund verloren, der ihn bis dahin vergöttert hatte. Auch hier verurtheilt und ausgestoßen – er mußte sie furchtbar büßen, die alte Schuld!



Plauderstündchen.
Nach einem Gemälde von Fr. Prölß.
Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.

Ueber dem „Walde“ lag ein düsterer, wolkenumschleierter Himmel, der von Zeit zu Zeit einen Regenschauer herabsandte. An den Höhen hingen graue Nebel und in den Baumwipfeln brauste der Sturm. Es war ein herbstlich rauher Tag, mitten im Hochsommer.

In Ostwalden war die Schloßherrin jetzt allein; sie hatte von ihrem Bruder die Nachricht erhalten, daß er sich bereits auf dem Marsche befinde und daß das geplante Wiedersehen der Geschwister unterbleiben müsse. Adelheid hatte infolgedessen ihre Abreise nach Berlin verschoben, um noch der Trauung Willibalds und Mariettas beizuwohnen, die in aller Stille und nur in Gegenwart der nächsten Verwandten stattfand. Unmittelbar darauf war das neue Ehepaar nach Berlin gereist, wo Willy sofort in sein Regiment eintreten mußte; seine junge Frau wollte die wenigen Tage bis zum Ausmarsch noch in seiner Nähe bleiben und dann nach Burgsdorf gehen, wo sich ihre Schwiegermutter bereits befand.

Es war in den Vormittagsstunden, als Fürst Adelsberg am Schlosse von Ostwalden vorfuhr. Er war für heute beurlaubt worden, um noch einiges „Nothwendige“ zu ordnen, aber diese Nothwendigkeit führte ihn nicht nach Rodeck, sondern nach Ostwalden; er kam, um Abschied zu nehmen von Adelheid, die er seit jenem ersten Besuche nicht wiedergesehen hatte.

Als sein Wagen in den Schloßhof einbog, kam ihm der Priester des benachbarten kleinen Waldortes mit dem Sakrament und in Begleitung des Meßners entgegen. Er hatte offenbar einem Schwerkranken die letzte Oelung gespendet – eine ernste Mahnung in ernster Zeit, und der Fürst erkundigte sich beim Aussteigen sofort, wem der traurige Besuch gegolten habe. Er erfuhr, daß es einer der Beamten sei und daß die Schloßherrin augenblicklich bei dem Kranken weile, man wolle ihr aber sofort den Besuch melden.

In dem Empfangszimmer, wohin man ihn gewiesen hatte, schritt Egon unruhig auf und nieder. Er kam, um sich Gewißheit zu holen, ohne die er nicht hinausziehen zu können meinte in den Kampf auf Leben und Tod, und dieser Kampf mußte es rechtfertigen, wenn er einer Frau, die noch die Witwentrauer trug, jetzt schon mit solchen Wünschen nahte. Es sollte ja noch keine Werbung sein, nur eine Hoffnung wollte er mit sich nehmen, jene Hoffnung, die bei dem letzten Zusammensein so hell und beglückend in ihm aufgeflammt war, als Adelheid eine so warme Theilnahme bei seinem Schmerze um den fernen Freund zeigte. Er ahnte nicht, daß er sich in einem verhängnißvollen Irrthum befand.

Aber trotzdem lag ein Schatten auf den sonst so heiteren Zügen des jungen Fürsten. Es war nicht der Abschied, der ihn bekümmerte, er ging in den Kampf mit der glühenden Begeisterung, der frohen Zuversicht der Jugend, die nur von Siegen träumt und alle trüben Ahnungen weit von sich wirft. Er träumte ja überdies noch von einem künftigen Glück, das er jetzt sich sichern wollte. Da öffnete sich die Thür und Frau von Wallmoden trat ein.

„Ich bitte um Verzeihung, daß ich Sie so lange warten ließ, Durchlaucht,“ sagte sie nach der ersten Begrüßung. „Man hat es Ihnen wohl mitgetheilt, daß ich bei einem Sterbenden war.“

„Ich hörte es bei meiner Ankunft,“ versetzte Egon, der ihr entgegengeeilt war. „Ist der Fall wirklich so schwer?“

[382] „Leider! Der arme Tanner! Er war früher Hauslehrer bei einer Familie in der Umgegend, hat aber wegen einer schweren Erkrankung seine Stellung aufgeben müssen. Auf Verwendung meines Verwandten, des Oberforstmeisters, übertrug ich ihm das Ordnen und Aufstellen der Bibliothek meines verstorbenen Gatten, die nach Ostwalden geschafft wurde, denn man hoffte, daß er sich bei dem leichten Amte und in der kräftigen Waldluft vollends erholen würde. Er war so dankbar dafür und erzählte mir noch gestern, wie glücklich seine Mutter darüber sei, daß er, als noch nicht ganz wiederhergestellt, vom Dienste befreit bleibe und nicht in den Krieg zu ziehen brauche. Da überfällt ihn heut morgen ein Blutsturz, und jetzt sagt mir der Arzt, daß der Arme höchstens noch eine Stunde zu leben habe. Es ist furchtbar, wenn ein junges Leben sich so rettungslos verblutet!“

„Und das wird doch in den nächsten Wochen bei Tausenden geschehen!“ rief Egon. „Sie waren also selbst bei dem Sterbenden?“

„Auf seinen Wunsch. Er wußte, wie es mit ihm stand, und da wollte er mich noch einmal sprechen, um mir eine Bitte für seine alte Mutter ans Herz zu legen, die mit ihm ihre einzige Stütze verliert. Ich habe ihn darüber beruhigt, aber das war auch alles, was ich zu thun vermochte.“

Man sah es der jungen Frau an, wie sie der Vorgang an dem Sterbebett erschüttert hatte, und auch Egon empfand ein tiefes Mitgefühl bei der Erzählung.

„Ich komme, um Abschied zu nehmen,“ sagte er nach einer kurzen Stille. „Wir rücken übermorgen aus, und da konnte ich es mir nicht versagen, Sie noch einmal aufzusuchen. Glücklicherweise fand ich Sie noch, denn wie ich höre, wollen auch Sie fort.“

„Ja, nach Berlin, das einsame Ostwalden ist so abgelegen, und in dieser Zeit der fieberhaften Erwartung will man doch möglichst im Mittelpunkte der Nachrichten und Verbindungen sein. Ich habe mich ja auch um einen Bruder zu sorgen, der unter den Fahnen steht!“

Wieder trat eine kurze Pause ein, und der junge Fürst wollte eben an die letzte Bemerkung anknüpfen, um das zur Sprache zu bringen, was ihm am Herzen lag, als ihm Frau von Wallmoden mit einer Frage zuvorkam, die anscheinend gleichgültig und doch mit leise bebender Stimme gestellt wurde.

„Bei Ihrem letzten Besuche waren Sie ja so in Sorge, Durchlaucht, über das Ausbleiben der Nachrichten von Ihrem Freunde. Hat er Ihnen jetzt ein Lebenszeichen gegeben?“

Egon sah zu Boden und der Schatten, der während des Gespräches gewichen war, legte sich wieder schwer und düster über seine Züge.

„Ja!“ erwiderte er kalt. „Rojanow ist wieder in Deutschland.“

„Seit der Kriegserklärung?“

„Allerdings, er kam –“

„Um mit in den Kampf zu ziehen! O, ich wußte es!“

Der Fürst blickte sie in höchster Betroffenheit an.

„Sie wußten das, Excellenz? Ich glaubte, Sie hätten Hartmut nur als Rumänen und nur durch mich gekannt.“

Ueber die Wangen der jungen Frau floß eine dunkle Gluth, sie fühlte es, wie verrätherisch der Ausruf gewesen war, aber sie faßte sich rasch.

„Ich lernte Herrn Rojanow erst im letzten Herbste kennen, als er Ihr Gast in Rodeck war,“ antwortete sie fest; „aber seinen Vater kenne ich seit langen Jahren, und dieser – ich darf wohl annehmen, Durchlaucht, daß Sie alles wissen, was geschehen ist?“

„Ja, jetzt weiß ich es!“ sagte Egon mit schwerer Betonung.

„Nun wohl, Oberst Falkenried war ein naher Freund meines Vaters und verkehrte oft in unserem Hause. Ich hatte freilich nie von einem Sohne gehört und hielt den Oberst für kinderlos, bis zu jener furchtbaren Stunde in Rodeck, am Todestage meines Gatten. Da erfuhr ich die Wahrheit und wurde Zeuge der Begegnung zwischen Vater und Sohn.“

Der junge Fürst athmete auf bei dieser Erklärung, die eine eben erwachende unheilvolle Ahnung wieder verscheuchte.

„Dann begreife ich allerdings Ihre Theilnahme,“ entgegnete er. „Oberst Falkenried ist in der That zu beklagen.“

„Nur er?“ fragte Adelheid, befremdet durch den herben Ton der letzten Worte. „Und Ihr Freund selbst?“

„Ich habe keinen Freund mehr, ich habe ihn verloren!“ rief Egon in leidenschaftlichem Schmerze aus. „Schon was er mir vor zwei Tagen gestand, riß eine tiefe Kluft auf zwischen uns, und was ich jetzt weiß, das trennt uns für immer.“

„Sie urtheilen sehr hart über das Vergehen eines Siebzehnjährigen – er muß ja damals fast noch ein Knabe gewesen sein.“

Es lag ein tiefer Vorwurf in den Worten der jungen Frau, aber der Fürst schüttelte heftig den Kopf.

„Ich spreche nicht von seiner Flucht und seinem Wortbruch, obgleich sie schwer genug wiegen bei dem Sohne eines Offiziers, aber was ich gestern erfuhr – ich sehe, Sie wissen das Schlimmste noch nicht, gnädige Frau, und wie sollten Sie es auch wissen! Erlassen Sie mir diesen Bericht.“

Adelheid war bleich geworden und ihre Augen hafteten starr und angstvoll auf dem Sprechenden.

(Fortsetzung folgt.)




„Rembrandt als Erzieher.“
Ideen eines niederdeutschen Idealisten.
Von Johannes Proelß.


„Rembrandt als Erzieher“ lautet der Titel eines Buchs, das, vor kurzem erst erschienen, schon viel von sich reden gemacht und – obgleich nach Gedankengang und Vortrag keine leichte Lektüre – bereits die neunte Auflage erlebt hat.[2] Ein Buch über Rembrandt, gelehrte Untersuchungen uber einen allbekannten Maler – und eine solche Wirkung, da muß ein allgemeines zeitgenössisches Interesse im Spiele sein. Wohl ist der Titel geeignet, Neugierde bei litterarischen Feinschmeckern zu erwecken, er klingt räthselhaft, Ueberraschung verheißend; aber das genügt nicht zur Erklärung der überraschenden Theilnahme, die das Buch findet. „Rembrandt als Erzieher“ und – „von einem Deutschen“? Was soll diese Betonung einer Selbstverständlichkeit, und wieso ist Rembrandt ein Erzieher? Ein Maler ist kein Pädagog. Von Dichtern läßt sich das eher sagen. RousseauGoetheDefoe – sie haben pädagogische Romane geschrieben; Herder, Schiller, Lessing stellten Ziele auf für die Erziehung des Menschengeschlechts. Und in übertragenem Sinne wirkt jeder Dichter erzieherisch. Aber ein Maler? Haben wir nicht gelernt, ein guter Maler werde nicht Gedanken und Ideen darstellen, sondern Bilder schaffen, die unmittelbar ein Stück Leben wiedergeben, das er mit besonderer Empfindung seines malerischen Werthes erkannt und erschaut hat? Und ist nicht Rembrandt gerade solch ein Maler? Gewiß – sein Beispiel, die Art, wie er aufgefaßt und gemalt hat, sie können auf neue Künstlergenerationen belehrend und befeuernd wirken, wie dies allbereits in verschiedenster Weise, namentlich während des letzten Jahrhunderts, geschehen ist. Solch vorbildliches Wirken eines alten Meisters ist aber wohl kaum gemeint. Die Erziehung hat nicht die Kunst, sondern das Leben zum Zweck.

Ueberblicken wir Rembrandts Schaffen: die „Anatomie“, die „Nachtwache“, seine lebensvollen Bildnisse, seine realistischen Darstellungen aus der Erdenwallfahrt des Erlösers; erfassen wir diese genialen Gemälde und Radirungen in ihrem innersten Kern, der uns stets etwas eigenthümlich Schönes offenbart als Blüthe eines tiefernsten, ins Wesen der Dinge sich bohrenden Wahrheitsdranges, vielleicht daß hier uns die Lösung des räthselvollen Titelworts wird! Wie er selber uns aus seinem bekanntesten Selbstporträt [383] entgegenlacht, sein blühend Weib, die fröhliche Saskia, auf dem Knie, bei schäumendem Pokal unschuldiger Festlust hingegeben, das läßt sich in der That deuten als ein freudetrotzig „Gaudeamus“, welches herausfordernd in unsere nachdenkliche, schier überernste Zeit von seinen Lippen herüberklingt. Sein „guter Samariter“ kann den Zug unserer Zeit zur Bethätigung von Milde und Barmherzigkeit im Dienst des öffentlichen Wohles bestärken. So manchen seiner Darstellungen aus der Sphäre gedrückten Menschenthums und düsterer Lebensenge, die aus der inneren Helle seines theilnehmenden Gemüths ein verklärend Licht erhielten, das sich mit dem gegebenen Düster künstlerisch zu jenem Helldunkel verschmolz, das für seine Art zu schauen und zu schaffen so bezeichnend ist, auch ihnen ist ein lebendiger Bezug zur Gegenwart zu entnehmen: die Mahnung, daß es kein Dunkel des Lebens giebt, wo das Licht der Sonne nicht hindringt, und daß der Schatten es ist, der die Wohlthat des Lichts erst recht fühlbar macht. Aber alle diese Beziehungen ergeben doch kaum hinreichenden Stoff für 300 dichtbedruckte Seiten Text über Rembrandts Beruf zum Erzieher, nicht genügenden Anlaß, daß gerade in unseren Tagen „ein Deutscher“ offenbar für alle seine Mitdeutschen den ernst-heiteren Meister von Amsterdam aufruft als Erzieher, und keine Erklärung für die Wirkung solcher Beschwörung.

Und doch kündigt dieser vieldeutige Titel eine Schrift an, die nichts mehr und nichts weniger will, als die Grundsätze aufstellen für ein großes reformatorisches Selbsterziehungswerk der gesammten deutschen Nation. Die Zeit nach einem Thronwechsel gleicht nicht darum nur dem Frühlingstreiben in der Natur, daß in ihr die Hoffnung regiert auf Erfüllung so mancher Wünsche, die sich in der Zeit vorher nicht hervorwagten, auch ein Sprießen und Sprossen von frischer Triebkraft ist für sie charakteristisch. Unkraut und fruchtverheißender Keim schießt gleich fröhlich empor, und auch der zukunftslose Schößling träumt von einer Blüthenkrone, die einst goldene Früchte tragen soll: so bringt jeder Tag in solcher Zeit neue Reformvorschläge, neue „Blüthenträume“. Ach, das wenigste davon sieht seinen Herbst und besteht in den Tagen der Ernte!

Zu den Schriften, die das Bewußtsein erzeugt hat, daß wir in eine Aera von Reformen getreten sind, die den inneren Ausbau unseres Deutschen Reichs im Schutze gesicherten Friedens bezwecken, zählt auch unser Buch. Aber während die Reformschriften, die seit dem Ableben des ersten Hohenzollernkaisers Kunde gaben von Hoffnungen und Wünschen im Volke, fast alle politischer oder vokswirthschaftlicher Natur waren und irgendwie im Zusammenhang standen mit den Fragen der Sozialpolitik, stellt diese eine das dem sozialistischen entgegengesetzte Prinzip, das der individuellen Freiheit, in den Vordergrund der Betrachtung und erwartet von seiner Pflege das Heil der Zukunft des Vaterlandes.

Der Unterschied ist wohl jedermann klar. Während der Sozialismus nach dem Prinzip der Gleichheit durch gemeingültige Einrichtungen, Gesetze und Vorschriften, die den Einzelwillen auch in den persönlichen Angelegenheiten dem Willen der Gesammtheit unterwerfen, das Glück der Menschheit herbeiführen will, beruht der Individualismus auf der Ueberzeugung, daß alle höhere Offenbarung menschlichen Könnens und Wollens, alles echte Glück auf der Freiheit der Persönlichkeit beruht: im Denken, Fühlen und Handeln sich selbst zum Ausdruck zu bringen, gemäß dem Goetheschen Spruche:

„Volk und Knecht und Ueberwinder,
Sie gesteh’n zu jeder Zeit,
Höchstes Glück der Erdenkinder
Ist nur die Persönlichkeit!“

Diese Ueberzeugung zum Lebensgrundsatz erhoben, im Lehren und Lernen, in Kunst und Wissenschaft, in Staat und Gesellschaft, dies heißt Individualismus. Für eine Wiedergeburt von deutscher Art und Kunst im Geiste des Individualismus einzutreten zu Nutz und Vortheil des inneren Glücks und der geistigen Macht der Deutschen, dies ist der Zweck dieses Buchs. Die stärkste Hilfe dabei erwartet es von der Kunst. Und zu diesem Werke der Selbsterziehung und Selbstbefreiung ruft der ungenannte Verfasser den Meister Rembrandt Harmensz van Ryn aus der Schattenwelt des 17. Jahrhunderts in der Gegenwart Bann als segenspendenden Schutzpatron. Warum einen Holländer? Und einen Maler? Warum nicht Goethe? Oder Lessing? Oder Uhland? Jeder dieser drei großen deutschen Männer hat auf seine Art in Kunst und Leben sich als Vertreter und Verfechter jenes Individualismus bewährt, über dessen Verfall der Verfasser klagt und von dem die Geschichte uns lehrt, daß alle Blüthe unseres Kunst- und Geisteslebens in ihm seine Wurzel hatte. Alle drei stehen unseren Geisteskämpfen, unserem Denken und Empfinden doch wahrlich näher als der bereits bei Lebzeiten vereinsamte große Maler Alt-Hollands! Die Ueberzeugung des Verfassers, daß vornehmlich die niederdeutschen Volkselemente Beruf und Kraft haben, aus sich heraus in unseren Tagen die allgemeine Wiedergeburt des deutschen Volksthums zu einem zukunftskräftigen Individualismus zu bewirken, giebt die Antwort auf diese Frage. Das Niederdeutschthum sei die noch ungebrochene Reserve deutscher Ursprünglichkeit. Diese Ueberzeugung verleiht dem Buche seine höchst eigenthümliche, oft zum Widerspruch reizende, immer wieder aber auch fesselnde Physiognomie. In ihr wurzeln auch die mancherlei Irrthümer, Meinungen und Schrullen, welche die schöne Wahrheit umwuchern.

Während andere Verfechter des Individualismus in Deutschland die Ursachen seines Niedergangs einestheils vor allem in der ungeheuren Anspannung aller Kräfte beim großen Werke der Begründung des Reichs und seines Ausbaus zur wehrhaften Vormacht des Weltfriedens, anderentheils in der Inanspruchnahme der Volksseele durch die wirthschaftlichen Reformarbeiten und Kämpfe erblickt haben, findet unser „Rembrandtianer“ die Hauptursache in den Zuständen moderner Bildung und ihren „nivellirenden und atomisirenden“, das heißt gleichmacherischen und auflösenden Strebungen.

„Es ist nachgerade zum öffentlichen Geheimniß geworden,“ so beginnt seine Anklage, „daß das geistige Leben des deutschen Volkes sich gegenwärtig in einem Zustande des langsamen, einige meinen auch, des rapiden Verfalls befindet. Die Wissenschaft zerstiebt allseitig in Specialismus (Erforschung von Einzelheiten); auf dem Gebiete des Denkens wie der schönen Litteratur fehlt es an epochemachenden Individualitäten; die bildende Kunst, obwohl durch bedeutende Meister vertreten, entbehrt doch der Monumentalität und damit ihrer besten Wirkung; Musiker sind selten, Musikanten zahllos.“ Architektur und Kunstgewerbe befinden sich auf einer beständigen Hetzjagd, ohne dabei zu einem eigenen neuen deutschen Stil zu gelangen. Der gesammten Bildung der Gegenwart macht der „Deutsche“ den Vorwurf, daß sie eine „historische, alexandrinische, rückwärts gewandte“ sei. Nicht neue Werthe zu schaffen, sei ihre Sorge, sondern alte Werthe zu registriren. Diese einseitige wissenschaftliche Bildung, deren höchster Stolz die naturwissenschaftliche Objekivität, die mikroskopisch erforschte Einzelerscheinung sei, lasse bereits viele unbefriedigt. Sie blicken aus nach neuen Bildungsidealen. Es sei im deutschen Geistesleben ein Drängen unverkennbar, das an der Stelle der wissenschaftlichen, zergliedernden eine künstlerische zusammenfassende Weltanschauung zu gewinnen suche.

„Gegenüber dem Niedergang der herrschenden wissenschaftlichen Bildung einerseits und dem Aufgang einer kommenden künstlerischen Bildung andererseits liegt es nahe, nach den Mitteln zu fragen, um beide Vorgänge möglichst zu fördern, zu regeln, klar abzuwickeln. Das deutsche Volk ist in seiner jetzigen Bildung überreif; aber im Grunde ist diese Ueberreife nur Unreife . . . Ueberkultur ist thatsächlich noch roher als Unkultur. Hier haben also etwaige neue erzieherische Faktoren einzusetzen; und zwar werden sie gerade entgegengesetzt wirken müssen wie die bisherige oder gewöhnliche Erziehung: das Volk muß nicht von der Natur weg, sondern zu ihr zurückgezogen werden. Durch wen? Durch sich selbst. Und wie? Indem es auf seine eigenen Urkräfte zurückgreift.“

Als Grundlage dieser Urkräfte des Deutschthums wird nun, der geschichtlichen Wahrheit gemäß, der Individualismus gepriesen. Er sei die tiefste Seite des deutschen Wesens. Er verlange ein Wirken und Schaffen gemäß der eigenen Natur des Einzelnen, von innen heraus. Er sei der geschworene Feind der Schablone, der mechanischen Bildung, der Resignation. Er setze das Gemüth und die Seele in ihre Rechte wieder ein und lehre den nüchternen Verstand, sich bescheiden. „Der Instinkt treibt die gegenwärtigen Deutschen ganz richtig, wenn sie anfangen, mehr auf künstlerische als auf wissenschaflliche Ziele auszuschauen; aber eben dieser Instinkt sollte sich jetzt zum vollen Bewußtsein erhöhen und zur [384] lebendigen That verwirklichen. Deutschland, das auf dem Gebiete der militärischen und sozialen Reform allen anderen europäischen wie außereuropälschen Staaten voranging, sollte dies nun auf dem Gebiete der künstlerischen wie geistigen Reform thun; und es kann es nur thun, wenn es sich theoretisch und praktisch zu dem bekennt, was der Inhalt seines Seins, der Inhalt der Kunst, der Inhalt der Welt ist: Individualismus.“ Dieser halte die rechte Mitte zwischen dem überspannten, im Allgemeinen sich verlierenden Idealismus früherer Tage und dem am Stoff klebenden, geistlosen Spezialismus der Gegenwart. Die Erziehung zum Individualismus habe aber die Willensfreiheit des Einzelnen der persönlichen Willkür zu entziehen und der Volksindividualität, dem Nationalcharakter und dem Nationalbedürfniß anzupassen.

In solchem Sinne habe der Einzelne die Vergangenheit der Nation auf sich wirken zu lassen. Aus der Geschichte müßten ihm so die Ideale für die eigene Gegenwart erwachsen. „Deutschland soll seine Ideale den Zeiten und seine Zeiten den Idealen anpassen.“ „Die heutigen Deutschen, deren Großväter eine ideale und deren Väter eine historische Bildung besaßen, haben aus den Bildungsergebnissen der beiden vorhergehenden Generationen die Summe zu ziehen, indem sie sich ‚historische Ideale‘ wählen.“ Die Geistesheroen eines Volkes seien seine berufensten Erzieher. „In politischen Zeiten wird man auf politische Helden, in künstlerischen Zeiten auf künstlerische Helden hinsehen müssen; immer aber wird es darauf ankommen, in diesen Männern nicht das Vorübergehende, ihre spezielle Leistung, sondern das Bleibende, ihre innere Gesinnung nachzuahmen.“ Als solch ein historisches Ideal, als solch ein künstlerischer Held wird uns Rembrandt empfohlen. Daher das Wort: Rembrandt als Erzieher.

Dieser niederdeutsche Künstler in seiner überquellenden, in sich abgeschlossenen Persönlichkeit, in seiner großartigen Unabhängigkeit und unwillkürlichen Volksthümlichkeit, könne mit seinem Vorbild als Gegengift dienen gegen das deutsche „Schulmeisterthum“. Nicht nachgeahmt solle er werden in seiner Kunstübung, sondern seine Kunstgesinnung solle auf die deutschen Künstler, auf die Gebildeten, das Volk Deutschlands als Beispiel wirken. Seine Kunst wie sein Charakter wüchsen von innen heraus, entwickelten sich nach den Gesetzen seiner Natur, darin sollten wir’s ihm gleich thun. „Kein Künstler hat weniger Tradition in sich wie er, und kein Volk seufzt so sehr unter der Last der Tradition wie die Deutschen; dadurch ist er im vorhinein ihr Befreier.“ Das Publicum solle neue Eigenschaften eines unentwegten Individualismus und einer unentwegten Selbsttreue an den Künstlern nicht nur dulden, es solle sie fordern; vor allem aber sollte der so ungemein knorrige Künstlerkopf Rembrandts ihm als eine Mahnung vor Augen stehen, den hohen Werth der künstlerischen Einzelseele unter allen Umständen zu beachten, zu schätzen, auszunutzen. Nicht das, was der Markt und die herrschenden Zeitströmungen von ihm verlangen, solle der Künstler schaffen, sondern das, wozu ihn sein innerstes Herz treibt; darauf beruhe sein künstlerisches Seelenheil. Daß Rembrandt dafür aber ein so hervorragendes Muster sei, erkläre sich vor allem daraus, daß seine ungebundene Individualität der erhöhte Ausdruck war des Volkscharakters, der ihn gebildet. „Starke Persönlichkeit erwächst nur aus starkem Stammesgeist und dieser nur aus starkem Volksgeist; die Betriebsamkeit, Freiheitsliebe, Gemüthstiefe, Schlichtheit des holländischen Charakters spiegelt sich in Rembrandts Werken mehr als irgendwo.“ Den provinzialen Charakter seiner Malerei stellt der Verfasser den Deutschen von heute als Muster auf. „Das edle Gefühl der Stammeseigenthümlichkeit ist den Deutschen über ihrer politischen Zersetzung vielfach abhanden gekommen; . . . damit ist ein Stück Volksthum verloren gegangen, das wieder erobert werden muß.“ Vor allem durch die Kunst. Der rechte Künstler könne nicht lokal genug sein. Den Schattirungen der Natur habe die Kunst zu folgen. Auch die Städte, Landstriche haben ihre Individualität. Eine rechte Kunst könne nur aus dem mannigfach nüancirten und doch in sich einheitlich verbundenen Volkscharakter entstehen. Jeder landschaftlichen Eigenart entspreche eine besondere Kunstübung. In den heimathlosen Millionenstädten dagegen würden Kunst und Künstler schnell verzehrt, aber selten erzeugt. „Das athemlose Jagen nach Gewinnst, welches an solchen Orten herrscht, ist höheren Interessen nicht förderlich; und eine Kunstpflege, die nur Modesache, ist nicht einmal zu wünschen; auch würde es sicher besser vermieden, daß einzelne sittliche Schattenseiten des millionenstädtischen Lebens auf künstlerischem Wege noch mehr in Umlauf kommen, als es ohnedies schon der Fall ist.“ In einem späteren Kapitel werden diese Gedanken mit direkter Beziehung auf das Berlin der Gegenwart näher ausgeführt. Der Geist kühler Nüchternheit, der hier einst in Nicolai gegen Goethe sich aufgelehnt habe, habe auch in der Reichshauptstadt von heute die Oberherrschaft. Den übermächtigen Einfluß Berlins auf das geistige und künstlerische Leben von Alldeutschland, den es durch seine politische Stellung erlangt hat, bezeichnet unser Buch daher als unheilvoll.

Es ist hier nicht der Ort, auf die Ausführung dieser nur kurz skizzirten Grundgedanken des Werkes näher einzugehen. Unsere Aufgabe war, die Ziele desselben klar und kurz zu kennzeichnen auch für solche, denen das Buch selbst zu gelehrt geschrieben ist. Dies ist es in hohem Grade. So sehr es gegen das Professorenthum zu Felde zieht, so wenig verleugnet es seinen Ursprung aus der Gelehrtenstube. Es eifert gegen die moderne Sucht, zu citiren; wenn ich aber die in ihm enthaltenen Citate auf 1000 schätze, so ist diese Schätzung gering. Es hat kein Genüge daran, den Geist des Autors klar zu entwickeln, die Form des Ausdrucks will auch „geistreich“ sein. Seine Ausführungen, daß die geistig Vornehmen im Volksthum ihren besten Rückhalt hätten, sind allzu ausschließlich für die „Vornehmen“ gedacht und geschrieben, als daß sie echt volksthümlich wirken könnten. Vor allem aber ist es der vielfach bemerkbare Kampf gegen berühmte Gelehrte von Geltung, der – an die Art Schopenhauers und Dührings erinnernd – den Rückschluß gestattet, daß der Verfasser selbst ein Mitbürger der deutschen Gelehrtenrepublik ist. Obgleich gegen den Pessimismus ankämpfend – er führt dabei das schöne Goethesche Wort an: „Es ist unbedingt ein Zeichen von Wahrheitsliebe, überall in der Welt das Gute zu sehen“ – entwirft er zu Gunsten seiner Zukunftsideen von dem Kunst- und Geistesleben der Gegenwart ein zu düster gefärbtes Bild. Namentlich unterschätzt er die Popularisirung des Wissens und der Kunst; sie ist doch erst die Voraussetzung, an die sich seine Hoffnungen knüpfen, auch die Masse des Volkes für seine Ideale zu gewinnen.

Um der großen Gesichtspunkte willen, die er aufstellt und verfolgt, sind diese vielen Abschweifungen von der Hauptsache und der Wahrheit zu bedauern. Im besonderen schwächt seine einseitige Hervorhebung der Vorzüge und Verdienste des niederdeutschen Volkscharakters – so lesens- und beachtenswerth viele dieser Aeußerungen auch sind – das großnationale Grundstreben ab, das seinen Reformplänen doch innewohnt. Diese Emsigkeit verleitet ihn sogar dazu, die Herkunft von Lessing für das niederdeutsche Friesland in Anspruch zu nehmen, ohne weiteren Anhalt, als daß die Endung „ing“ bei friesischen Familiennamen häufig sei. Ueberhaupt gestattet er sich in Bezug auf die Herkunft bedeutender Menschen die seltsamsten Sprünge. Einmal zieht er aus dem Wohnort eines Zugewanderten Schlüsse auf seinen Stammescharakter und bei anderen verfolgt er die Abkunft bis in weit zurückliegende Jahrhunderte. Obgleich er sich immer wieder genöthigt sieht, die Oberdeutschen Schiller und Goethe heranzuziehen, wenn er geschichtliche Zeugen braucht für seine begeisterten Ansichten über den Werth des individualistischen Prinzips in Kunst und Leben, so verlegt er doch die eigentliche Heimath des Individualismus nach dem deutschen Norden, nach „Niederland“.

Dies Parteinehmen ist ein großer Fehlgriff. Freuen wir uns, daß der Boden für seine Anregungen zur Belebung des hohen Kulturprinzips überall in Deutschland gut gepflegt und fruchtbar ist. Der Hauptmangel des Buchs aber ist, daß seine Forderungen nicht in Einklang gebracht sind mit den Gesetzen des technischen und politischen Fortschritts, die unserer Zeit ihren Charakter geben. Wer gegen Freizügigkeit in Sachen der Bildung eifert, wer den unnennbaren Gewinn nicht einsieht, den all die Errungenschaften moderner Verkehrsentwickelung dem Leben, der Kunst wie der Wissenschaft bringen, der steht der Gegenwart – trotz allen wohlbegründeten Reformdranges – in vielem als Romantiker gegenüber. Auch die Freizügigkeit, die Verkehrsfreiheit werden dem von innen heraus schaffenden Künstler zugute kommen. Büßte die Individualität Dürers etwas ein, weil er nach Italien und nach Holland zog? Oder gewann sie dadurch nicht vielmehr erst recht an Kraft und Klarheit wie an Einsicht in die eigenen Ziele? Wir halten’s in dieser Beziehung mit Gottfried Keller, dem oberdeutschen Dichter, der aber von sich selbst gesagt hat, daß seine Entwickelung ohne seinen Aufenthalt und seine Reisen in

[385]

Erste Lorbeeren.
Nach einem Gemälde von Luigi Bechi.

[386] Norddeutschland nicht zu denken sei. Als bei Beginn des Eisenbahnwesens Justinus Kerner im „Stuttgarter Morgenblatt“ ein Klagelied hatte ertönen lassen über die Gefahren, welche der Poesie vom Zeitalter des Dampfes drohen, da fand der starke Geist des Zürichers die folgende zukunftsfrohe Entgegnung:

„Was deine alten Pergamente
Von tollem Zauber kund dir thun,
Das seh ich durch die Elemente
In Geistes Dienst verwirklicht nun.

Ich seh’ sie keuchend glüh’n und sprühen,
Stahlschimmernd bauen Land und Stadt,
Indeß das Menschenkind zu blühen
Und singen wieder Muße hat.

Und wenn vielleicht in hundert Jahren
Ein Luftschiff hoch mit Griechenwein
Durch’s Morgenroth käm’ hergefahren –
Wer mochte da nicht Fährmann sein?

Dann bög’ ich mich, ein sel’ger Zecher,
Wohl über Bord, von Kränzen schwer,
Und gösse langsam meinen Becher
Hinab in das verlass’ne Meer.“

Der echte Individualismus braucht keinen Kulturfortschritt zu fürchten; er wird vielmehr jeden stets seinen eignen Zwecken nutzbar zu machen wissen. Er bedarf nicht der Spaltung in Oberdeutsch und Niederdeutsch; „das ganze Deutschland soll es sein“, heißt es auch hier.




Blätter und Blüthen.


Noch einmal von den Schußwunden in künftigen Kriegen. Zur Vervollständigung unseres Artikels in Halbheft 5 möchten wir an dieser Stelle noch der Arbeiten derjenigen Aerzte gedenken, welche zuerst die Erklärung der durch Flintenkugeln verursachten Zerstörungen im menschlichen Körper gegeben haben und an deren Ergebnisse die Versuche von Prof. Bruns sich anschließen. Busch und Kocher waren es, welche zuerst die explosionsartige Wirkung der Nahschüsse durch den hydraulischen Druck zu erklären versuchten. Das größte Verdienst gebührt aber auf diesem Gebiete Dr. Reger, Stabsarzt am Kadettenhause zu Potsdam. Durch Versuche über die Temperatur der Geschosse stellte er zuerst unzweifelhaft fest, daß die Erwärmung derselben im Körper – entgegengesetzt den bisherigen Annahmen und Berechnungen – keineswegs den Schmelzpunkt erreicht, daß die Entformung derselben also auch nicht durch Schmelzung, sondern durch mechanische Stauchung entsteht. Indem er ferner Versuche mit dem Manometer anstellte, erbrachte er den vollgültigen Beweis, daß der hydraulische Druck die Ursache der explosionsartigen Zerstörung sei. Auf Grund des Nachweises, daß die Größe dieses hydraulischen Druckes, somit auch die Größe der zerstörenden Wirkung der Geschosse außer von dem Flüssigkeitsgehalte des getroffenen Körpers auch von der Geschwindigkeit und Belastung, besonders aber von der Größe der Angriffsfläche des auftreffenden Geschosses abhängt, und namentlich auf Grund der Beobachtung, daß gerade die sich im Körper vollziehende Stauchung und Abplattung des Bleigeschosses die Hauptursache der gewaltigen Zerstörung bei Nahschüssen bildet, während ein sich nicht entformendes Geschoß (Kupfer, Stahl) diese „unbeabsichtigte“ Nebenwirkung nur in bedeutend geringerem Grade zeigt, trat derselbe schließlich warm für Herabsetzung des Kalibers und Einführung eines sich nicht oder nur wenig entformenden Geschosses und im besonderen für die Lorenzschen Compoundgeschosse als eine Forderung der Humanität ein. Die großen Vorzüge dieser Geschosse hat unter anderen namentlich auch B. v. Beck, der frühere Generalarzt des XIV. Armeecorps, durch ausgedehnte Versuchsreihen überzeugend nachgewiesen. Von Oberstlieutenant Bode erfunden und von Lorenz, dem Besitzer der deutschen Metallpatronenfabrik in Karlsruhe, wesentlich vervollkommnet, stellen die jetzt eingeführten „Mantelgeschosse“, deren Mantel allerdings bei mehreren Nationen nicht mit dem Kern verlöthet ist, einen Fortschritt dar, der durchaus deutsches Verdienst ist. *     

Eine Gedenktafel für Friedrich Hofmann. Eine einfache, würdige Feier wurde am 17. April zu Ilmenau begangen. Es galt, den Vorabend des Geburtstages Friedrich Hofmanns, des vor fast zwei Jahren daselbst verstorbenen, vielbeliebten und weithin bekannten Dichters, des „Veteranen der Gartenlaube“, festlich zu begehen. Einer der Freunde des Heimgegangenen, Sanitätsrath Dr. Preller, hatte, um seiner warmen Verehrung für den Dichter Ausdruck zu geben, namentlich aber um das Gedächtniß für Hofmann lebendig zu erhalten, eine Tafel gestiftet, welche an dem Hause befestigt wurde, in welchem der Verewigte bei seinem oft wiederkehrenden Aufenthalt zu Ilmenau stets Abstieg genommen hat. Die Inschrift lautet, entsprechend der Bezeichnung, die in vertrautem Kreise Hofmann sich beizulegen pflegte:

Hier wohnte und starb
der Alte
der Dichter
Friedrich Hofmann.
Im Jahre 1888.

Nachdem die Musikkapelle einen Choral geblasen hatte, ergriff Herr Superintendent Lincke das Wort, um in kurzer, bewegter Ansprache den Verewigten zu feiern und seines menschenfreundlichen, gütevollen Herzens, seiner treuen vaterländischen Gesinnung zu gedenken. Er schloß mit Tassos Wort: „Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht!“

Der Vortrag der beiden Lieder „Das treue deutsche Herz“ von Otto und „Thüringen“ von Franz Abt durch einen Sängerchor schloß die schlichte Erinnerungsfeier. Den vielen Freunden und Besuchern der grünenden Bergstadt sei noch mitgetheilt, daß die Gedenkplatte sich am Hause des Chirurgen Luther, schräg gegenüber dem neuen Postgebäude in der Schloßstraße, befindet; allen Verehrern Hofmanns aber, daß in nicht allzu ferner Frist die Errichtung eines Hofmann-Denkmals auf dem Friedhof zu Ilmenau bevorsteht. –h.     

Ungelehriger Zögling. (Zu dem Bilde S. 373.) Es muß doch auch von Logik, Grammatik und Arithmetik etwas verstehen, das Herrensöhnchen, das gehört zum guten Ton und ist einmal so Sitte. Also muß der würdige Beichtvater des gräflichen Hauses das schwierige Amt übernehmen, dem Jungen neben den Lehren des Glaubens auch noch die Anfangsgründe der Wissenschaft beizubringen, denn weit umher ist der geistliche Herr der einzige Vertreter der höheren Gelehrsamkeit. Und es scheint auch, als ob er das bleiben sollte. Denn sein vornehmer Zögling zeigt nicht die mindeste Veranlagung für feinere Gedankenarbeit; der sieht ihm nur mit gutmüthigem Lächeln verständnißlos ins Gesicht, verständnißlos für seine Weisheit und verständnißlos für seine fürchterliche Erregung, als wollte er sagen: „Warum denn so heftig? Es thut doch gar nichts, wenn ich das nicht behalte!“

Und wenn wir genauer zusehen, so können wir uns über den Standpunkt des Jungen nicht einmal so sehr wundern. Die üppige Umgebung des Reichthums, die ihn umschmeichelt, läßt den Glauben an die Nothwendigkeit ernster Arbeit nicht in ihm aufkommen. Das weiche Kissen, auf das er seine Füße setzt, der bequeme Stuhl, in den er sich zurücklehnt, sie sind ein Sinnbild seines Daseins – also wozu sich noch anstrengen? Er kennt den Ernst des Lebens noch nicht und will ihn nicht kennen; es ist ja so lustig auf der Welt! Freilich, stellen wir uns vor, daß der Ernst doch einmal an ihn herantreten werde, da wird er ihm gerade so hilflos gegenüberstehen wie den logischen Entwickelungen seines Lehrmeisters, aber das vergnügliche Lächeln wird verschwunden sein von den weichlichen Lippen! =     

Häusliche Gesundheitsregeln. Die Gesundheitspflege im Hause umfaßt ein weites Gebiet, das leider noch zum großen Theil einen unbestellten wilden Acker bildet, auf dem recht viel Unkraut üppig gedeiht. In der öffentlichen Gesundheitspflege, für welche der Staat und die Gemeinde sorgen, vollzieht sich der Fortschritt ungemein rasch; hier feiert die medicinische Wissenschaft die schönsten Siege, und die geringer gewordenen Sterblichkeitsziffern so vieler Städte beweisen zur Genüge, daß die oft mit vielen Kosten verknüpften neuen Einrichtungen wirklich Nutzen gestiftet haben und gesundheitliche Ungeheuerlichkeiten immer seltener werden.

Der alte Zopf hängt aber noch der häuslichen Gesundheitspflege vielfach an; dorthin hat sich die alte Schäfer- und Ammenweisheit geflüchtet. Der Unterschied läßt sich leicht an Beispielen zeigen. Wer auf der Straße verunglückt, der erhält, wenn auch im ersten Augenblick kein Arzt zur Stelle ist, von dem durch einen Samariterverein ausgebildeten Schutzmann eine vernünftige Hilfe – in den meisten Häusern wird noch das verkehrteste Mittel angewandt und die Familie steht rathlos einem Blutenden gegenüber. Bei ansteckenden Krankheiten sieht es oft noch schlimmer aus. Durch Unwissenheit wird viel Schaden gestiftet, werden die Familienmitglieder und die nächste Umgebung Gefahren ausgesetzt. Der Staat erläßt weise Gesetze, beaufsichtigt die Schulen und Fabriken sowie den Verkehr, die Gemeinde ordnet das Abfuhrwesen, läßt kanalisiren etc.; alles dies bleibt aber nur eine halbe Arbeit, wenn der Bürger nicht auch das Seinige zur Eindämmung der Krankheiten beiträgt.

Die häusliche Gesundheitspflege läßt sich leider nicht so schnell und glatt ordnen wie die öffentliche. „Mein Haus ist meine Burg, und in ihm will ich leben, wie es mir gefällt.“ Die häusliche Gesundheitspflege kann nur durch die unermüdliche Verbreitung zweckmäßiger Kenntnisse gehoben werden. Wenn das, was die Wissenschaft errungen hat, auch zum Gemeingut des Volkes geworden ist, dann wird sich vieles bessern, woran wir jetzt von der Wiege bis zur Bahre schwer zu tragen haben. In diesem Sinne ist die Verbreitung von Gesundheitsregeln dringend wünschenswerth, und neben ausführlichen Büchern, die nicht jedermann liest, sind auch kurze Zusammenstellungen, die sich leicht dem Gedächtniß einprägen, am Platze. Diesen Weg hat der Verein für häusliche Gesundheitspflege in Berlin eingeschlagen, indem er zunächst unter dem Titel „Häusliche Gesundheitsregeln“ drei Tafeln herausgab (Verlag von Julius Springer in Berlin), welche die „Pflege des Kindes im ersten Lebensalter“, die „erste Hilfe bei Unglücksfällen“ und „Verhaltungsregeln bei ansteckenden Krankheiten“ behandeln. Mögen dieselben in reichlichem Maße den erhofften Nutzen stiften. *     

Erste Lorbeeren. (Zu dem Bilde S. 385.) Der Künstler führt uns in die „Ciociaria“ – so heißt im Volksmund das Grenzgebiet zwischen dem Römischen und Neapolitanischen – und läßt uns in das Innere einer Ciociarenwohnung blicken, wo Menschen und Federvieh vertraulich wie in Noahs Arche beisammen hausen. Ein Korb mit Stroh dient den piepsenden Hausgenossen zum nächtlichen Unterschlupf, und es gehört gewiß zu den Obliegenheiten unseres kleinen Hausmütterchens, die Küchlein jeden Abend sorglich in ihre Streu zu betten. Auch der geweihte Oelzweig, der, am Palmsonntag gebrochen und vom Pfarrer eingesegnet, das ganze Jahr über vor Krankheit, Wetter und Hagelschlag Schutz verleiht, darf an der Wand nicht fehlen.

Das fleißige Kind lehnt an der geschnitzten Lade und lauscht wohlgefällig dem Spiel des kleinen Freundes, während die geschickten Finger [387] doch nicht aufhören, den Faden zu drehen und die Spindel zu werfen. Der Junge dagegen hat das bessere Theil erwählt; ungestört kann er sich der Welt von Musik und Poesie hingeben, die in seinen Augen träumt. Das Vieh, das er zur Weide treiben soll, mag sich ruhig draußen verlaufen, indeß er der dankbaren Zuhörerin auf der „Ciaramella“ die selbsterfundenen Weisen bläst.

Und der kleine ländliche Improvisator denkt vielleicht an die schöne große Stadt Neapel, von der sie ihm erzählt haben, daß er dort mit seinen Talenten eines Tages sein Glück machen könnte, er denkt vielleicht an das Fest von Piedigrotta, wo alljährlich die Volkssänger aus Stadt und Land zusammenströmen, um unter Zechen und Schmausen die ganze Nacht hindurch im Wettstreit ihre neuen Lieder vorzutragen, bis das schönste mit dem Preise gekrönt wird und von da in den Mund des Volkes übergeht. Das steht fest, daß auch unser kleiner Künstler sich eines Tages dort auszeichnen wird; alsdann wird er sich in seinem Triumphe auch der kleinen Freundin erinnern, die ihn zuerst durch ihren Beifall ermuntert hat, und er verwendet gewiß seinen Preis dazu, ihr ein schönes Paar Ohrgehänge von Korallen zu schenken, wie es alle ihre Freundinnen tragen und woran es ihr offenbar noch zu fehlen scheint.

Wenn es aber wahr ist, daß ein Lächeln aus lieblichem Munde für den Sänger der schönste Preis ist, so hat unser kleiner Freund seinen Lohn schon jetzt dahin. J. K.     

Das Reisen in der guten alten Zeit. Nirgends hat sich der Umschwung der Zeiten so geltend gemacht wie mit Bezug auf das Reisen und die Einrichtungen und Vorkehrungen, die dazu gehören. Die gelbe Postkalesche aus unserer Väter Zeit und der jetzige Eisenbahnwagen scheinen ganz verschiedenen Jahrhunderten anzugehören. In welcher Weise aber unsere Urväter ihre Reiselust befriedigten, darüber geben uns z. B. aus dem siebzehnten Jahrhundert die zahlreichen Reisebücher Aufschluß, die uns noch erhalten sind. Die damaligen Bädeker heißen Zeiller, Hentzner, Eghenberg, Zingerling, und ihre Werke waren meist in lateinischer Sprache abgefaßt, da die Touristen in der Regel akademische Bildung besaßen. Doch gab es auch Gesprächbücher in verschiedenen Sprachen zum praktischen Gebrauch für die Reisenden, die sich in fremden Landen mit den Einwohnern verständigen wollten. Ein gutes Reisebuch sorgte damals auch für die religiösen Bedürfnisse. Dasjenige von David Fröhlich enthielt sogar nicht weniger als 28 Gebete und 36 Reisehymnen mit Melodien, sowie eine Anzahl von Versen, um zu gewissen Tageszeiten, z. B. beim Aufstehen, beim Waschen, bei Sonnenauf- und Untergang, vor und nach der Mahlzeit das Gemüth in eine andächtige Stimmung zu versetzen.

Aus diesen Reisebüchern erfährt man auch, welches die damals übliche Reiseausrüstung war. Selten nahm man mehr mit, als was sich in einem schmalen Felleisen oder Mantelsack unterbringen ließ. Größere Gepäckstücke erschwerten das Reisen sehr, da nicht überall sogleich Wagen oder Pferde zu haben waren und der Reisende einen Träger nehmen oder streckenweise selbst sein Gepäck tragen mußte. An Wäsche hielt man drei oder vier Oberhemden, ebensoviele Kragen, etliche Taschentücher, Schlafhosen und Nachtmützen nebst einigen Paar Strümpfen, an Schuhwerk ein Paar Schuhe von Corduan oder anderem weichen Leder und ein Paar Stiefel mit so genannten Pfundsohlen bei Schmutz und Regenwetter für ausreichend. Der Reiseanzug bestand aus Wams, Filzhut mit breiter Krämpe, einem Regenmantel mit Kapuze und langen bis an die Kniee reichenden Gamaschen. Außerdem wird von den Handbüchern zur Reiseausrüstung gerechnet ein sogenanntes „Nasenfutter“, d, h, eine Gesichtsmaske aus doppeltem Tuch zum Schutze gegen die Kälte, Hand- und Feuerwaffen, Staubbrille, Handspiegel, Wachsstock, Eßbesteck, Kreide, Nadel, Zwirn, Kompaß, Taschen- oder Sanduhr, Instrumente zum Schröpfen und Aderlässen, Kalender, Tagebuch, Reisehandbuch, Gesang- und Gebetbuch, eine kleine Reiseapotheke mit den gebräuchlichen Mitteln bei Unpäßlichkeiten, schmerzenden Füßen, erfrorenen Gliedern, Seekrankheit, Biß von Schlangen, Skorpionen und tollen Hunden. In Fröhlichs Reisehandbuch findet sich eine ganze Blumenlese von oft sonderbaren Heilmitteln, die damals beim Volk im Schwange waren.

Leute aus den bessern Ständen reisten damals zu Pferd oder zu Wagen; zu Fuß zu reisen galt weder für anständig noch für rathsam. Der englische Reisende Moryson, der im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts die meisten Länder Europas und Kleinasiens bereist hat, warnt sehr nachdrücklich vor Fußreisen:

„Wer nicht die Mittel besitzt, um mit Anstand zu reisen, bleibe lieber zu Haus und bereise die Welt auf der Landkarte; denn Leute, die aus Sparsamkeitsrücksichten zu Fuß reisen, schaden damit nur ihrem Ansehen, da sie sich ihre Reisegesellschaft nicht wählen können, sondern auf die armen Wanderburschen angewiesen sind, in deren Gesellschaft sie weder ihr Wissen bereichern, noch ihren Verstand bilden können. Genöthigt, die Last ihres eigenen Körpers zu schleppen, sind sie auch viel leichter Erkrankungen ausgesetzt und laufen daneben Gefahr, von wilden Thieren, Räubern oder ihren eigenen Gefährten angegriffen zu werden. Ich kann dreist behaupten, daß alle Mordthaten, welche sich in Deutschland auf der Landstraße ereignen, gegen Fußreisende verübt werden. Wenn Leute von guter Herkunft und Erziehung zu Fuß reisen, bedürfen sie eines um so viel längeren Aufenthaltes in den Gasthäusern zur Erholung von Strapazen und brauchen auf diese Weise nicht allein beinahe ebensoviel, als wenn sie Pferde oder Wagen benutzt hätten, sondern sind auch kaum in der Lage, ihren Geldvorrath vor ihren Reisegefährten zu verheimlichen, und wenn diese bedürftig sind, kommt es selbst bei den sonst so ehrlichen Deutschen häufig genug vor, daß sie einen Anschlag gegen den Fußreisenden planen, zu dessen Ausführung die Einsamkeit der ausgedehnten Waldungen bequeme Gelegenheit bietet. Zudem ist es für einen Mann von Bildung eine bittere Medizin, sich nach den Strapazen der Fußreise in den Wirthshäusern schlecht behandelt zu sehen, zumal in Deutschland, wo die Fremden nach ihrer äußern Erscheinung und ihrem selbstbewußten oder bescheidenen Auftreten taxirt und Fußreisende insgesammt geringschätzig behandelt werden. Schließlich macht auch die Einsamkeit des Weges, der Mangel an Ortschaften das Fußreisen in Deutschland sehr langweilig. Ich für mein Theil halte für die beste Art des Fußreisens die, wenn ein Mann sein Pferd an der Hand führt und es nach Gefallen besteigen kann.“ – Heutzutage denkt man über das Fußreisen anders: man sieht darin eine die Gesundheit fördernde Uebung des Körpers, die ja im Alpensport zu den kühnsten Leistungen sich erhebt; man hat andererseits ein damals unbekanntes Naturgefühl und giebt sich gern bei einsamer Wanderung dem Genuß der landschaftlichen Reize hin. Freilich, wo man auch wandern mag, in der Nähe erblickt man immer eine Reisestation und hat die frohe Aussicht, sich bequem im Eisenbahnwagen von seinen Strapazen zu erholen und durch öde Gegenden im Fluge dahinzueilen. †     

Kinkels Gedichte an Gerda. In Halbheft 7 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“ veröffentlichten wir „Nachgelassene Gedichte Gottfried Kinkels“; auf Grund der aus bester Ueberzeugung gegebenen Versicherung der Witwe des verstorbenen Dichters machten wir dabei die Angabe, daß außer einem einzigen, dort in der Einleitung näher bezeichneten noch keines der Gedichte irgendwo gedruckt sei. Nun stellt es sich aber heraus, daß doch noch ein weiteres, nämlich das letzte unserer Reihe, welches anfängt „Ich stand an Deinem Grab in bangem Weinen“, schon veröffentlicht ist, und zwar im Jahrgang III (1883) des von Paul Heinze herausgegebenen „Deutschen Dichterheims“. Wir stehen nicht an, dies nachträglich zur Kenntniß unserer Leser zu bringen.


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne volle Namensangabe werden nicht berücksichtigt.)

V. T. in P. Sie wünschen, daß wir an die Leser der „Gartenlaube“ die Frage richten, „in welcher Gegend man mit beschränkten Mitteln (etwa 3500 M eine Heimath sich gründen könnte, und zwar in einem Lande, wo deutsche Sprache und lutherische Religion nicht ausgerottet werden sollen.“ Wir erfüllen hiermit Ihre Bitte und werden Ihnen eingehende Antworten seinerzeit zustellen.

G. A. M. in C. Das uns angekündigte Exemplar der „C. Z.“ ist uns bis jetzt nicht zugegangen.

O. R. in Leipzig. Zu Ihrer Beruhigung „in den Papierkorb gewandert“.

R. L. G. in Stockholm. Zur Beseitigung des Bandwurms giebt es viele Mittel, die jeder Arzt kennt und über deren Anwendung Sie sich mit einem Arzte in Verbindung setzen müssen. Vor den in Zeitungsanzeigen angepriesenen Geheimmitteln ist entschieden zu warnen. Was sich allgemein verständlich über die Naturgeschichte des Bandwurms sagen läßt, das finden Sie in Bocks „Buch vom gesunden und kranken Menschen.“

F. P. in Gotha. Dr. Eitner, dessen Verdienste um die Görlitzer Jugendspiele Sie aus unserem Artikel in Halbheft 7 kennengelernt haben, hat auch selbst einen mustergültigen Leitfaden über „Jugendspiele“ verfaßt, der bereits in zweiter Auflage (Kreuznach und Leipzig, R. Voigtländer) erschienen ist.

P. K. in Frankfurt. Das jüngst mit dem Grillparzerpreis gekrönte Drama ist „Der Meister von Palmyra“ von Adolf Wilbrandt. Das Stück ist im Verlage der J. G. Cottaschen Buchhandlung Nachfolger gedruckt erschienen; eine nähere Angabe über Inhalt und Gedankengang finden Sie in Halbheft 20 des Jahrgangs 1889 der „Gartenlaube“.

Dr. F. H. in Wien. Wir werden Ihren Wunsch gern erfüllen, wenn Sie unter Wiederholung Ihrer Anfrage uns Ihre Adresse zu brieflicher Beantwortung mittheilen wollen.

H. St. in Kronstadt. Richtig ist: „Das Fräulein Hermine“.

Abonnentin in K. Sie sind eine „langjährige Abonnentin“ unseres Blattes. Sie werden es uns also nicht verübeln, wenn wir uns die ungalante Annahme erlauben, daß Sie nicht mehr gar zu jung sind. Sollten Sie nun die Erfahrung noch nicht gemacht haben, daß eine solche Probe, wie Sie sie anstellen möchten, nur das Leben selbst anstellen kann? Wir könnten Ihnen ja Vorschläge machen: ersuchen Sie Ihre „Freundin“ um einen Gefallen, klagen Sie ihr ein Leid, theilen Sie eine Freude mit ihr, und schließen Sie aus der Antwort auf ihre Treue und Anhänglichkeit. Aber all das giebt keine Gewähr und keine Sicherheit. Denn wenn es so leicht wäre, wahre Freundschaft zu erkennen, dann gäbe es wohl viel weniger falsche und viel weniger – enttäuschte Freunde auf der Welt!

R. R. in Mailand. Wir können Ihnen nur rathen, sich auf keine Geheimmittel einzulassen, sondern sich an einen tüchtigen praktischen Arzt zu wenden.

K. S. H. in H. Ist die betreffende Strafe vor Erwerb des Berechtigungsscheines verwirkt worden, so tritt § 89,4 der „Deutschen Wehrordnung“ in kraft, wonach das für die Bewerbung um die Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Dienst vorgeschriebene Unbescholtenheitszeugniß von der Ersatzbehörde III. Instanz (in Bayern eines der beiden Generalkommando im Verein mit je einem Civilkommissar) nachgelassen werden kann, wenn „aus der Art des Vergehens und der dabei in Betracht kommenden Nebenumstände unter gleichzeitiger Berücksichtigung des jugendlichen Alters des Betreffenden Anlaß zu einer milderen Beurtheilung gegeben, auch die sonstige Führung des Bestraften eine gute gewesen ist“. Ist die Strafe aber nach Erwerb der Berechtigung und zwischen ihr und dem Eintritt in den Dienst zuerkannt worden, so würde die Berechtigung nach § 93, 9 der D.W.O. nur dann verloren gehen, wenn die begangene strafbare Handlung, während der Dienstzeit begangen, Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes zur Folge gehabt hätte. Das ist aber bei einer Körperverletzung, für welche das bürgerliche Gericht nur Geld oder Haftstrafe zuerkennt, nicht der Fall.



[ Verlagsreklame für die Zeitschrift „Deutsche Jugend“ - hier nicht abgebildet.]




[388]

Allerlei Kurzweil.


Bilderräthsel.

Skataufgabe Nr. 4.
Von K. Buhle.
Der Spieler in Mittelhand verliert Grand mit Schwarz auf folgende Karte:

Jeder der beiden Gegner hat Null ouvert unverlierbar.[3] Im Skat liegt gO, g9 (pD. p9).
Wie sitzen die Karten und wie ist der Gang des Spiels?


  1. Die Einzelheiten, Namen der Märtyrer, des Berges, die Dauer der Zeit schwanken bei späteren Schriftstellern.
  2. „Rembrandt als Erzieher.“ Von einem Deutschen. Leipzig, Verlag von C. L. Hirschfeld. 1890.
  3. Nach der Allg. Deutsch. Skatordnung geht Grand immer über Null ouvert.

Auflösung des Anagramms mit Akrostichon auf S. 356:

Lima, Eisen, Orontes, Nektar, Altona, Regen, Dekhan, Orange,
Dattel, Adria, Vischer, Isolde, Nomaden, China, Israel. – Leonardo da Vinci.

Aufgabe.

Die Buchstaben dieser Figur sind so zu
ordnen, daß – ohne das Fragezeichen – die
senkrechte Reihe eine Landzunge an der deutschen
Ostseeküste und die wagerechte Reihe eine Stadt
in Afrika nennt. Darauf ist das Fragezeichen so
durch einen bestimmten Buchstaben zu ersetzen,
daß die Senkrechte einen Vulkan und die
Wagerechte einen Wind bezeichnet.
A. St.     
Auflösung der Schachaufgabe Nr. 3 auf S. 356:
1. D g 2 – e 2 0 K f 6 – g 5 0A)
2. D e 2 – h 2 ! 0 K g 5 – f 6 0a) b)
3. D h 2 – h 8 † 0 K beliebig
4. S c 8 oder S h 3 matt.
A) 1. ...... 0 K f 6 – g 7
     2. D c 2 – c 8 0 K g 7 – h 7 a) b)
 od. g 6 – g 5
     3. D c 8 X f 7 † 0 beliebig.
     4. S oder D matt.
0 a) 2. ...... 0 f 7 – f 5
      3. S a 6 – c 8 0 d 7 – d 6 (d 5)
      4. S f 4 – e 6 matt.
 a) 2. ...... 0 K g 7 – f 6, h 6
  0 3. D c 8 – h 8 † 0 K beliebig
  0 4. S c 8 oder S h 3 matt.
0 b) 2. ...... 0 f 7 – f 6
      3. S f 4 – d 5 0 f 6 – f 5
  (auch S g 2 und D g 3 †)
      4. S d 6 – f 7 matt.
 b) 2. ...... 0 f 7 – f 6, f 5
  0 3. D c 8 – f 7 (g 6) † beliebig
  0 4. S oder D matt.
Auf 1. ...... g 6 – g 5 folgt 2. S d 6 – e 8 † nebst 3. D e 2 – e 4 matt.
Homonym.

Mit schnellem Fittich durchziehn wir die Welt,
Kein Dampfroß vermag uns zu jagen,
In Alpenregionen, am nordischen Belt
Der Lüfte Botschaft wir tragen.

Und doch eine Blume auch, zart und klein,
Im Felde, im Garten, am Zaune,
Der eigene Stengel, schwach und fein,
Schmiegt sich nach anderer Laune.

Und wiederum, was so schwankend, schlicht,
Die schwersten Lasten wir tragen,
Wo Menschenschwachheit tritt ans Licht,
Da müssen wirs fröhlich wagen.
  E. Kornrumpf.

Scherzrebus.

Auflösung des Logogriphs auf S. 356:
Ungemüthlich – Urgemüthlich.

Auflösung der Charade auf S. 356:
Briefmarke.
Füllräthsel.
Auflösung des Rösselsprungs auf S. 356:
Auflösung des Alfenfuß auf S. 356:
(Die durch Striche angedeuteten, fehlenden
Worte ergeben ein Sprichwort.)

A. „Warum in – Welt, Freund Klaus,
.. Siehst du denn so verdrießlich aus?“

B. „Ich wollte schreiben ein Gedicht,
.. Doch finde ich den – nicht!“

A. „Es –, sei nur nicht gleich ergrimmt,
.. Wohl gar für deinen Schatz bestimmt?“

B. „Gewiß, doch hätt’ ich nicht gedacht,
.. Daß ein Gedicht so – sich macht!“
  Oskar Leede.

Geh’ nicht von mir, laß Deine Hand in meiner –
Das Herz des Menschen ist ein seltsam Ding.
Wer weiß, ob man so leicht sich wiederfindet,
Sobald man einmal voneinander ging!
Geh’ nicht von mir – am wenigsten im Grolle,
Von einer Wolke trüb’ die Stirn umgraut:
Im Unmuth just muß man beisammen bleiben,
Bis rein der Himmel wieder blaut.
  R. Hamerling.

1. Arolsen,

2. Niigata,

3. Amerika,

4. Meerane,

5. Elieser,

6. Rhodium.




Professor Bock’s kleine Gesundheitslehre.0 Ein Volksbuch in neuer Bearbeitung.

In dem unterzeichneten Verlage ist erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

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Zum Kennenlernen, Gesunderhalten und Gesundmachen des Menschen.
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Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.