Nachgelassene Gedichte von Gottfried Kinkel

Textdaten
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Titel: Nachgelassene Gedichte von Gottfried Kinkel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 222–223
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Nachgelassene Gedichte von Gottfried Kinkel.

An seinem Schreibtische sitzt ein Mann, groß und kräftig; sein Haupt umrahmen weiße Locken und ein weißer Bart, klare Gedanken wohnen auf seiner Stirn, ein starker Charakter prägt sich aus in den festen Linien seiner Züge und sinnende Weltbetrachtung leuchtet aus den hellen Augen – Weisheit, Kraft und Phantasie in einem Bilde.

Aber noch einen Zug trägt das Bild – Glück, vollkommenes, gesättigtes Glück leuchtet auf dem ernsten Antlitz.

Der Mann schreibt eifrig mit der rechten Hand. Den linken Arm aber hat er um ein liebliches Mädchen geschlungen, das still auf seinem Schoße sitzt, das Köpfchen an seine Wange gelehnt – still, um die Arbeit des Geistes nicht zu stören, mit sinnendem Blick, als wüßte es, daß es so dem Gedankenfluge des Schreibenden Schwingen verleiht.

Es ist Gottfried Kinkel, und das Kind auf seinem Schoße ist sein jüngstes Töchterchen Gerda.

So war es einst, vor mehr als zehn Jahren. Tochter und Vater sind seitdem lange in das Grab gesunken.

Nach dem Tode seiner ersten Frau Johanna, die bekanntlich zu London durch einen Sturz aus dem Fenster ein vielbetrauertes Ende fand, hatte sich Gottfried Kinkel 1862 wieder verheirathet. Seit Jahresfrist etwa lebte er als Professor der Kunstgeschichte am Züricher Polytechnikum an der Seite seiner zweiten Gattin in freundlichen und glücklichen Verhältnissen, als ihm, das letzte von mehreren Kindern, 1867 sein Töchterchen Gerda geboren wurde.

Es war ein zartes Kind. Ganz klein noch, rang es um sein junges Leben, und einmal hatte schon der Arzt die Eltern auf den Tod des Lieblings vorbereitet. Es wurde gesund. „Als Gerda,” so erzählt uns die heute noch in Zürich lebende Witwe Gottfried Kinkels der mir diese Mittheilungen und die Ueberlassung der unten folgenden Gedichte verdanken, „als Gerda zum ersten [223] Male in ihrem rothen Röckchen durch die blühende Wiese lief, da stürzte der Vater sich in das Gras, umschlang das Kind mit seinen Armen und heiße Freudenthränen rannen ihm über die Wangen.”

In Märchen liest man es wohl, daß ein Kind durch den Wald geht und die Thiere fürchten sich nicht vor ihm. Gerda war ein solches Märchenkind. „Die Vögelchen ließen sie ganz nahe kommen und blieben sitzen, wenn sie mit ihrem leichten Schritt vorüberging.” Alles liebte sie. „Bohnenblüthe” nannte sie eine Freundin des Hauses und andere Freunde hatten andere liebliche Namen für sie.

Den beglückendsten Zauber aber übte sie auf ihre beiden Eltern aus. Auf Spaziergängen ließ sie des Vaters Hand nicht los; und oft hat er sie auf seinen Schultern halbe Stunden weit getragen, wenn die Gänge sich weiter ausdehnten. Im Studierzimmer war sie wie zu Hause; der Vater hatte ihr eine eigene Spielschublade dort eingerichtet und das eine und das andere Mal sah man dort jenes glückselige Bild, wie wir es eingangs gezeichnet haben.

Sie hatte die volle Anmuth des Gemüths. Schnell fand sie heraus, was den andern Freude machen konnte, und sie scheute kein Opfer, es zu vollführen. Ihrer Mutter gehörte sie jede Minute, die diese den anderen Pflichten abgewinnen konnte.

Und dieses Kind sollte den Eltern entrissen werden! Gerda war noch nicht zwölf Jahre alt, als sie, im Herbst des Jahres 1879, erkrankte. Drei Monate lag sie danieder an einer Brustfellentzündung und später an einem Herzleiden. Rührend entfaltete sich ihre Selbstlosigkeit und ihre Sorge um die Mutter, die ihre einzige Pflegerin war. An den Vater, der auf einer Vortragsreise sich befand, schrieb sie, fast schon sterbend: „Komm nach Haus, die Mama ist so traurig, wir müssen Dich haben!“

Er kam, um sie sterben zu sehen. Am 13. November, genau drei Jahre vor ihrem Vater, verschied sie.

Und nun lassen wir den Dichter, den Vater reden! Er hat die nachfolgenden Gedichte geschaffen im Ringen mit seinem ungeheuren Schmerze und sie der tiefgebeugten Mutter zugeeignet. Gedruckt sind sie noch nicht, bis auf das zweite, welches seinerzeit in einen Nachruf auf Gottfried Kinkel in der „Schweizerischen Lehrerzeitung” (1882) verwoben wurde. Oft wird man sich der Wahrnehmung nicht entziehen können, daß die Verse noch nicht die letzte feilende Hand erfahren haben, die der Dichter jedenfalls an sie gelegt hätte, wenn es ihm selbst noch vergönnt gewesen wäre, seine Lieder der Oeffentlichkeit zu übergeben. Wir haben uns bei der überlieferten Gestalt beschieden und wollten uns nicht vermessen, den Dichter zu verbessern.