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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[261]

No. 16.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Nicht im Geleise.

Roman von Ida Boy-Ed.
(Fortsetzung.)


Alfred las den Brief Josephes noch einmal.

„Papa, warum liest Du immer denselben Brief?“ fragte der kleine Alexander.

„Weil sehr viel unangenehme Sachen darin stehen,“ sagte er.

„Dann wirf ihn doch fort! Mama sagte gestern mittag zu Tantchen. ‚Er ist ein Mensch, der immer Sonnenschein haben muß.‘ Damit meinte sie Dich. Und heute scheint die Sonne so heiß. Fahre doch nachher mit uns in die Sonne,“ plauderte das Kind.

Alfred nahm es auf den Schoß.

„Ja, es soll immer Sonnenschein sein bei uns. Wir beide, Du und ich, wollen Deine Mama so lieb haben.“

„So lieb,“ wiederholte der Knabe und drückte fest, fest seine Arme um Alfreds Hals, um den Grad der Liebe zu bezeichnen.

„Und den ganzen Tag wollen wir bei ihr sein, und sie und ich werden Dich zusammen alles lehren, was kleine Menschen lernen müssen, damit sie groß und verständig werden,“ fuhr Alfred fort.

„Hast Du denn dazu immer Zeit?“ fragte Sascha und sah ihn groß an.

„Glücklicherweise ja! Aber warum meinst Du?“ fragte Alfred dagegen und forschte mit argwöhnischen Blicken in den offenen Kinderzügen. Sein Herz schlug. Jetzt würde von diesen unschuldigen Lippen irgend ein bedeutungsvolles Wort kommen, ein Wort, das Gerda vielleicht nicht ohne Absicht vor den immer wachsam lauschenden kleinen Ohren gesagt …

Aber das Kind sprach nur nachdenklich. „Ich meine nur so. Die Papas von Willy und Wolff und Karl haben immer keine Zeit, mit kleinen Jungen zu spielen.“

Die Väter seiner Spielgenossen – Alfred kannte sie alle wohl, der eine war Bankier, der andere ein hervorragender Parlamentarier, der dritte ein Staatsbeamter.

„Die haben auch alle einen Beruf,“ erläuterte Alfred.

„Den müssen alle Männer haben, sagt Mama,“ rief das altkluge Kind.

Da war es nun doch, das böse Wort, das Wort, welches gleich auf eine ganze Reihe vergangener und zukünftiger Kämpfe hinwies.

„Wann sagte Mama das?“ rief Alfred heftig.

„Ich weiß nicht mehr. Bitte, mach doch dem Husaren das Bein gerade,“ und dabei hielt die kleine Faust einen verbogenen Zinnsoldaten fast unter Alfreds Nase.

„War es, als sie mit Tantchen gerade von mir sprach?“ forschte Alfred weiter. Aber er bog doch gehorsam das krumme Bein wieder zurecht.

Der Knabe war mit seinen Gedanken schon ganz von dem Gespräch entfernt. Auch hatte er schon jeden Soldaten vom Pferd genommen und wieder draufgesetzt. Nun mußte etwas anderes kommen.

„Hast Du schwarze Farbe, Papa?“

„Nein! Was soll’s?“

„Ich wollte aus den Schimmeln Rappen machen.“

„Das geht nun nicht.“

„Was soll ich denn nun anfangen?“

Alfred wußte für das geliebte Kind immer Rath.

„Komm,“ sagte er, „Du kannst zeichnen.“

Er setzte den Kleinen an den Schreibtisch, stellte einen Karton Briefpapier und einige Bleistifte vor ihn hin und bat ihn, ein


Die Schwalben sind wieder da.      Nach einem Gemälde von W. Roegge.
Photographie im Verlage von Fr. Hanfstängl in München.

[262] bißchen stille zu sein, da er, Alfred, noch die Briefe lesen und sich nachher umkleiden müsse.

Alfred las zum dritten Male den Brief von Josephe Thomas. Alle Menschen, die stark mit sich beschäftigt sind, haben die Neigung, in jedem Ereigniß seine Beziehungen aufzuspüren, die zu ihnen selbst hinüberleiten. So hafteten alle seine Gedanken zuletzt an der Stelle, wo diese Frau ihm sagte, daß sie für ihre Tochter viel wolle, aber dies in Uebereinstimmung mit seinem verstorbenen Vater.

Das konnte natürlich nur den einzigen Sinn haben, daß diese beiden, die sich einst hoffnungslos geliebt hatten, ihren trauernden Herzen zur Entschädigung eine Verbindung ihrer Kinder erhofften. Sein Vater hatte ihm freilich nie dergleichen angedeutet, aber er begriff solche Zurückhaltung gar wohl und verstand, wie peinlich es für einen Vater sein müsse, dem erwachsenen Sohn von einer Liebe zu reden, die einer andern Frau als dieses Sohnes Mutter gegolten.

Wie doppelt unangenehm wurde nun diese Annäherung! In zwiefacher Weise ward die arme Frau nun schon enttäuscht: er war nicht in Baden und nicht mehr Herr seiner Hand. Was würde Gerda zu dieser Geschichte sagen? Aber sie, taktvoll und von schnellen Entschlüssen, würde sicher am besten wissen, in welcher Art er sich aus der Sache ziehen könne.

In seinen Gedanken, die sich lange im Kreise um denselben Punkt gedreht hatten, störte ihn ein unterdrücktes Kichern. Er sah auf und sah seinen Liebling mit dem seligsten Gesicht vor dem Schreibtisch, wo ein Haufen Briefpapier, mit Blei verschmiert, in einem Meer von Tinte schwamm, und wo die mit Schimmeln berittene Husarenschwadron sich jetzt auf grell lila Pferden präsentirte. Der Junge hatte ebensolche Hände und sein weißer Anzug war lila getigert.

„Sie sind lila, Papa,“ jubelte der Kleine, „ich dachte, Deine Tinte sei schwarz, und ich wollte Rappen damit machen.“

Alfred war entzückt. Er lachte Thränen und besah sich die Hände des Kleinen.

Dann rief er: „Fritz, Fritz!“

Fritz kam nur, wenn man klingelte, das war er so gewohnt, und er ließ sich nie in seinen Gewohnheiten stören. Als Alfred sechsmal gerufen, drückte er einmal auf die elektrische Glocke, und allsogleich erschien Fritz.

„Warum kamen Sie nicht? Ich habe sechsmal gerufen,“ schalt der Herr.

„Weil ich das Geschrei nicht leiden kann,“ dachte Fritz, sagte aber ruhig:

„Ich höre draußen nur die Glocke.“

Das konnte sein Herr nun nehmen, wie er wollte, denn zu Fritzens Eigenthümlichkeiten gehörte auch, daß er nie log.

Auf die Tintenbescherung warf er nur einen Blick der Verachtung und sagte:

„Die grüne Tuchplatte muß erneuert werden. Der Anzug des jungen Herrchens ist verdorben. Soll aus seinem Hause ein anderer geholt werden?“

„Nein, wir bleiben so, Schlingel, was?“ meinte Alfred. „Nur die kleinen Fäuste wollen wir waschen.“

Damit hatten sie genug zu thun, die lila Tinte war echt, und als man einen Wagen vor dem Hause halten hörte, befanden sich noch vier Hände zusammen im lila Seifenschaum.

„Geh hinunter! Ich lasse die Frau Baronin bitten, einen Augenblick zu verziehen.“

Fritz sagte unten am Wagenschlag. „Frau Baronin mögen einen Augenblick verziehen. Es ist ein kleines Unglück vorgefallen – der Herr eilen sich soviel wie möglich.“

Gerda, die strahlend vor Schönheit und Glück im offenen Landauer saß, schaute auf.

„Ein Unglück – mein Sohn? Herr von Haumond?“

„Der junge Herr. Ein kleines Malheur wirklich nur …“

Gerda war schon aus dem Wagen und auf dem Flur.

„Aber Frau Baronin!“ rief Fritz mit vergnügtem Gesicht hinter ihr her.

Doch sie hastete schon treppauf.

Gerade kam aus dem zweiten Stockwerk, wo sie bei einer Freundin zum Frühbesuch gewesen, Frau Mietze Ravenswann herab. Mit hohem Interesse sah sie die Dame kommen, das weiße Kleid, der weiße Federhut und der weiße Tüllschirm derselben erschienen ihr sehr auffallend. Richtig, das war ja die Offingen, und so hastig. Frau Ravenswann stand still, aber ohne sie scheinbar zu sehen und ohne sie zu grüßen, ging die Baronin in die Thür der ersten Etage, welche, auch sehr seltsam, nicht verschlossen war, sondern ein wenig offen stand, als habe man jemand erwartet, der nicht erst klingeln sollte. Natürlich, in der Zeit, daß man steht und wartet, bis geöffnet wird, können zuviel Menschen einen sehen.

„Ich muß doch mit Ludolf darüber s-prechen,“ dachte sie entrüstet, „ob wir überhaupt Haumond noch bei uns empfangen können. Sie that, als wenn sie mich nicht sähe, dabei s-tand die Thür auf, sie wurde offenbar erwartet und s-türzte nur so hinein. Nein, alles was recht ist, aber das finde ich zu s-tark, selbst wenn sie sich s-päter heirathen sollten.“

Und während ihr das Herz vor sittlicher Entrüstung pochte, ging Frau Mietze Ravenswann geradeswegs zu ihrer Freundin, der Frau Doktor Schneider, um dieser ihre Wahrnehmung mitzutheilen. Denn zu einer solchen sittlichen Entrüstung gehören immer zwei gute Hausfrauen, das fühlte auch Frau Mietze deutlich.




3.

Gerda, die anstatt Blut – wie sie gefürchtet – Tinte sah, lachte wider Willen über das Unheil.

Aber nachher, als man in ihrem Hause gewesen war, um den Knaben sauber umzukleiden, sagte sie doch:

„Bist Du Dir aber über den Schaden klar, den Du angestiftet hast, Sascha? Nicht nur, daß Dein Anzug verdorben ist, auch der Tisch, der doch nicht Dein Eigenthum war und den Du schon deshalb hättest in acht nehmen müssen, ist ruinirt.“

„Das nenne ich Erziehungspedanterie,“ fiel Alfred ein, „willst Du ihm nicht lieber noch vorrechnen, daß von dem Gelde, was all dies kostet, eine arme Familie so und so viel Tage hätte leben können?“

„Das wäre nicht so unklug, wie Du es zu finden scheinst, denn man muß Kindern früh den Werth der Dinge klar machen, will man sie nicht zum Verschwenden erziehen,“ antwortete Gerda ruhig.

Alfred schwieg. Sie hatten sich beide vorgenommen, sich heute durch keinerlei Meinungsverschiedenheit reizen zu lassen.

Der Wagen rollte durch die Leipzigerstraße den Linden zu, denn Sascha hatte gebeten, daß man dem Aufzuge der Wache zusehen wolle.

Gerda und Alfred hatten sich, ehe sie dem zustimmten, eine Minute darüber gestritten, ob der Kaiser anwesend sei oder nicht, aber Gerda wußte es ganz gewiß und hatte es erst heute morgen in der Zeitung gelesen, daß der Kaiser von Babelsberg aus einige Tage nach Berlin gekommen sei.

Das Tantchen saß beleidigt und schweigend neben Gerda im Wagen. Erstens hatte Alfred sie gar nicht nach ihrem Befinden gefragt, und zweitens dachte niemand daran, ob ihr auch der Lärm und die Menschenmenge nicht zuviel für die Nerven werden möchten.

So unterblieb jedes Gespräch, das bei dem Rollen des Wagens und dem Getöse der Straße ohnehin beschwerlich gewesen wäre. Sascha ließ seine aufmerksamen Augen unaufhörlich in der Runde wandern. Eine Zeit lang verfolgte er einen Sprengwagen, an dem sie vorbeikamen. Er dachte angestrengt darüber nach, wie aus der dicken, rothen, liegenden Tonne der breite feine Regen kommen könne, der quer über die Straße weiterrückte, dem Gange der bequem schreitenden Zugpferde folgend. Sein Wunsch, auch einmal auf so einer rothen Tonne fahren zu dürfen, wurde durch das brennende Interesse abgelöst, welches ein in seiner Nationaltracht vorbeigehender Chinese ihm erweckte.

Er fragte Alfred, was das für ein Mann sei, weshalb er einen blauseidenen Kittel ohne Gürtel und so komische Schuhe und einen langen Zopf habe und solchen Sonnenschirm, wie die Gräfin Mollin ihn zwischen weißen Palmen in der Salonecke habe. Alfred erzählte ihm von China, von der Größe und Fremdartigkeit des Landes. Und als der unersättliche Knabe immer weiter fragte, warum denn die Chinesen hierher kämen, sprach Alfred von der Gesandtschaft, und wie die verschiedenen Kulturen einander vertrauter würden und ihre Schätze austauschten durch diese diplomatischen Beziehungen. Obgleich er das alles so einfach wie möglich und auch dem Verstand eines Kindes angepaßt vortrug, fand Gerda das zu viel für den ohnehin immer überangestrengten Kopf des Kindes.

[263] „Fülle sein armes kleines Gehirn nicht mit Stoff, den es noch nicht verarbeiten kann,“ bat sie herzlich.

„Jeder muß die Nahrung haben, die er verdauen kann. Sascha ist eben seinen Jahren voraus,“ antwortete er.

„Um so mehr ist es meine Pflicht, ihn zurückzuhalten,“ sagte sie entschieden.

„Ich denke darin anders und werde, ohne ihn zu überanstrengen, immer Belehrendes mit ihm sprechen,“ sprach Alfred mit einem Ton, der sich Widerspruch verbat.

„Mir scheint, zunächst habe ich doch zu bestimmen, wie mein Sohn erzogen werden soll,“ rief sie erregt.

Alfred zog den groß aufschauenden Knaben an sich.

„O, daß Du nicht mein Sohn bist!“ sagte er schmerzlich, „niemand sollte mir drein reden, auch die Mutter nicht.“

Sie sahen sich an, voll Schmerz und Zorn. Aber der flammende Blick ihrer Augen wandelte sich in heiße Liebe. Gerdas Lippen öffneten sich ein wenig, ihr Haupt neigte sich leise vorwärts ihm zu. Er drückte ihr stumm und heftig die Hand.

„Da ist die Tante Mollin und Herr von Prasch,“ rief Sascha und nickte immerzu.

Gerda ließ auf einen Wink der Gräfin halten.

Die Gräfin trug einen weißen Strohhut mit einfachem schwarzen Band, wie ihn Knaben und ganz junge Mädchen zu tragen pflegten. Der saß keck genug auf ihrem kurzen Haar. Sie hatte ihre Körperfülle in ein enganliegendes Kleid von blau und weiß gestreifter Leinwand gehüllt und dachte nicht daran, ihre üppige Taille mit einer Mantille zu verhüllen. Sie hielt ihre langgestielte Lorgnette vor die Augen und stand so auf dem Granitrand des asphaltirten Bürgersteigs. Neben ihr erschien Herr von Prasch, der übrigens ganz denselben Hut aufhatte, in seinem hellgrauen Jackettanzug wie ein Nippfigürchen.

„Du wünschest, Hilda?“ fragte Gerda aus dem Wagen.

„Nur zu wissen, wohin Ihr wollt,“ erklärte die Gräfin mit der ihr eigenen Unbefangenheit.

„Den Kaiser sehen und die Musik hören,“ rief Sascha.

„Das ist noch viel zu früh. Kommt einstweilen mit ins Café Bauer, wo Prasch und ich gerade die Morgenzeitungen lesen wollten; Kutscher, Café Bauer!“ rief die Gräfin und setzte ihren Weg fort in der seelenruhigen Gewißheit, daß der Kutscher sammt seinen Fahrgästen einfach ihren Anordnungen folgen würde.

Haumond und Gerda lachten. Das Tantchen machte sich in ihrer Wagenecke noch kümmerlicher. Sie war neuerdings beleidigt, daß auch die Mollin nicht nach ihrem Befinden gefragt hatte.

Sie stiegen vor dem Café aus, als auch schon die Gräfin mit ihrem Begleiter um die Ecke der Friedrichstraße kam, und gingen die Treppe hinauf. Sascha wollte oben auf dem Balkon stehen, die Gräfin oben die Zeitung lesen. Ob das Tantchen die Treppen steigen könne, fragte niemand, deshalb stützte sie sich viel scherer, als es ihr nöthig gewesen wäre, auf Alfreds Arm, damit man es doch bemerke. Leider bemerkte es aber niemand.

Oben fand Alfred zu seinem Erstaunen Marbod Steinweber an einem Marmortischchen hinter der „Neuen Freien Presse“ sitzend, den Rücken dem Saal, das Gesicht, oder besser gesagt, das Zeitungsblatt der geöffneten Balkonthür zugekehrt.

„Mein alter Junge, Du? Ich denke, Du büffelst heute schon auf Deinem Bureau?“ rief Alfred erfreut.

„Für heute waren meine Pflichten mit der Vorstellung bei Ueber- und Untergeordneten beendigt,“ sagte Steinweber, nachdem er Gerda die Hand geküßt.

„Und wie geht es Ihnen heute?“ fragte er das Tantchen.

Sie athmete auf, unendlich beglückt.

„Danke,“ sagte sie mit schmerzlicher Stimme, „ich hatte gestern abend zu viel Erregungen, so daß ich, trotzdem ich wieder ein und ein halbes Schlafpulver nahm, nur von zwei bis halb fünf Uhr geschlafen habe.“

„Das thut mir recht leid,“ sagte Marbod gutmüthig.

„Nur nicht muthlos, Tantchen,“ tröstete Gerda, „heute morgen geht es desto besser.“

„Im Gegentheil,“ widersprach das alte Fräulein gereizt, „ich habe heute morgen, wie mir mein Doktor befahl, versucht, anstatt Kakao Gerstenschleim zu trinken, aber das ist mir schlecht bekommen.“

„Alfred, ein Glas Portwein für Tantchen, Sascha und ich nehmen etwas Süßes,“ befahl Gerda.

„Bitte, Herr Doktor,“ sagte Prasch, Steinweber am Arm nehmend, „auf ein Wort! Sie schreiben doch zuweilen für die ‚Morgenpost‘. Wenn Sie da ein Wort über mein Wagnerbuch einfließen lassen wollten, wäre ich Ihnen dankbar. Aber bitte, vermeiden Sie es, mich, wie es vorgestern in der ‚Abendzeitung‘ geschah, in einer Weise zu charakterisiren, als ob das Wagnerkommentiren meine Specialität sei. Doktor Bendel sagte gestern sehr richtig, daß schon zu viel über Wagner geschrieben sei, und daß man mit weiterem warten müsse, bis seine Biographie erschienen, die er selbst seiner Frau diktirt haben soll. Und da die Gräfin Mollin durch einen glücklichen Zufall im Besitz eines Briefes ist, den Hölderlin an eine Freundin der verstorbenen Schwiegermutter der Gräfin schrieb, so will ich jetzt ein Buch über Hölderlin verfassen. Finden Sie nicht auch, daß über diesen edlen Dichter, der doch die deutsche Sprache um mehr Worte bereichert hat als selbst ein Schiller, noch zu wenig geschrieben ist, und daß man deshalb unsere Idee eine glückliche nennen muß?“

Und dann trug er Steinweber alles vor, was er in der Nacht und heute morgen von Hölderlin gelesen.

Die Gräfin saß unfern, mit drei um den Halter aufgerollten Zeitungen in ihrem breiten Schoß und einer vierten in ihren weißen, fleischigen Händen. Zum Lesen trug sie einen Kneifer. Alle paar Minuten rief sie mit ihrer tiefen Altstimme über den Zeitungsrand weg.

„Das wird Sie interessiren, Prasch,“ und las ihm einige Zeilen vor.

Das Tantchen las in dem „Journal amusant“ und entrüstete sich dabei, daß man sie in ein Lokal führe, wo ein derartiges Blatt aufliege.

Draußen auf dem Balkon aber saßen Gerda und Alfred. Zwischen ihnen war das winzige Marmortischchen; unfern stand Sascha am Eisengeländer und starrte auf das bunte Straßengetriebe hinab.

Alfred hatte der Geliebten den Brief der Frau Josephe Thomas gegeben und die Zeilen seines Vaters.

„Ohne Dich gehört zu haben, wollte ich nicht antworten,“ sagte er, „aber Du begreifst, daß mir diese ganze Geschichte mehr als lästig ist. Ja, wenn man einfach mit einer Geldsendung antworten könnte! Aber das verbietet sich durch die Zeilen meines Vaters, darin ist nicht von Hilfe, sondern von Rath und Stütze die Rede.“

Gerda dachte nicht lange nach.

„Du wirst der armen Frau eine Depesche senden, worin Du ihr sagst, daß Du ihren Brief hier und heute empfingst. Ferner, daß Du morgen abend in Baden eintriffst,“ entschied Gerda.

Er sah sie erblassend an.

„Du schickst mich fort? Jetzt? Du glaubst, ich könnte mich von Dir trennen, nachdem ich Dich eben gefunden? Und das um einer Frau willen, die mein Vater geliebt, die mich nichts angeht,“ rief er zitternd.

„Wer spricht von Trennung?“ fragte sie, ihn mit glücklichem Lächeln ansehend. „Ich gehe auch nach Baden. Müssen wir, Sascha und ich, nicht auch den Ort kennen, wo wir vielleicht künftig wohnen sollen?“

„Geliebte! Engel!“ sagte er mit heißer Dankbarkeit. „Du weißt immer das Richtige. Ja, wir wollen fort von hier, wo wir – laß es uns doch frei gestehen! – nur ausharrten, weil wir uns nicht losreißen konnten, ehe die Entscheidung gefallen. Sascha, mein Junge, wir wollen reisen, Du, Mama und ich! In die Berge und den Wald!“

Der Knabe hörte nicht. Er sah und war mit allen seinen Sinnen auf der Straße.

Die beiden Glücklichen sprachen leise von künftigen Tagen; unter dem Tischchen hielten sie ihre Finger ineinander verschlungen, und ihre Augen erzählten sich von brennenden Wünschen.

Drunten fluthete in der steigenden Hitze des Sommertages das Gelärm vorbei. In den verstaubten Lindenkronen rauschte ein schwüler Wind. Aus dem Saal drang zuweilen die laute Stimme der Gräfin oder das Knistern eines Zeitungsblattes oder das Klappern von Geschirr auf Marmorplatten heraus.

Und doch war ihnen beiden so friedvoll glücklich im Herzen, als seien sie weltentrückt und allein.

„Mama, ich glaube, es gehen schon eine ganze Menge Leute zum Kaiser,“ sagte Sascha und bemühte sich, das Köpfchen stark seitwärts legend, bis zum Denkmal Friedrichs des Großen die [264] Straße hinauf zu sehen, was ihm die Reihe der Lindenkronen natürlich unmöglich machte.

„Ja, wir müssen gehen,“ rief Alfred aufspringend. Als sie sich von den Bekannten verabschieden wollten, sagte Marbod, daß er sich anzuschließen gedenke; die Gräfin Mollin, welche gerade einen Artikel las von einem Kritiker, den sie verachtete, über einen Autor, den sie haßte, hatte in ihrer zornigen Aufmerksamkeit für diese „Lächerlichkeit“ keine Zeit zu mehr als einem Kopfnicken, das sie mit einem unklaren Laut begleitete, den man bei einigem guten Willen für ein „Adieu“ nehmen konnte. Herr von Prasch hielt Alfred am Rockärmel zurück.

„Auf ein Wort!“ sagte er, „ich konnte bisher keine Gelegenheit finden, mit Ihnen über die Sache zu sprechen, lieber Haumond. Sie werden doch mein Wagnerbuch recensiren? Und nicht wahr, Sie weisen bei dieser Gelegenheit darauf hin, daß man von demselben Autor demnächst werthvolle Inedita über Hölderlin veröffentlicht sehen wird? Durch einen wunderbaren Zufall hat sich nämlich ein Brief vorgefunden, den Hölderlin einer Freundin der verstorbenen Schwiegermutter der Gräfin …“

„Ich recensire keine Bücher,“ fiel Alfred ihm schroff in die Rede, „und am wenigsten solche, die aus den Papierkorbschnitzeln großer Männer gemacht werden.“

Prasch blieb ganz verblüfft stehen; seiner naiven Zudringlichkeit, die einer kindlichen Liebenswürdigkeit nicht entbehrte, war solche Abfertigung noch nicht zu theil geworden, denn niemand nahm ihn ernst oder vermochte ihm Ernstes zu sagen.

Während Marbod, halb aus Gutmüthigkeit für das kränkliche alte Fräulein halb aus Rücksicht auf die Liebenden, die er nicht stören wollte, das Tantchen am Arm voraus führte, meinte Gerda draußen:

„Ein wenig sanfter hättest Du ihn abfertigen können.“

„Seit dieser kleine Mensch, um aus seinem Nichts heraus sich zu etwas zu machen, angefangen hat, den großen Mann zu suchen, an dem er emporklettern kann, ist er mir einfach unerträglich,“ schalt Alfred.

„Mein Gott,“ sprach sie beschönigend, „er will sich eben der Protektion und des Wohlwollens von Hilda Mollin werth zeigen. Beides empfing er pränumerando, und da sie nun einmal eine bedeutende Frau ist …“

„Dafür gilt und es zu sein glaubt, in der That aber nur bizarr ist,“ fiel Alfred spöttisch ein.

„So giebt der Kleine sich bei der Jagd nach einem litterarischen Nimbus die größte Mühe,“ vollendete Gerda.

„Nun, meinetwegen können sich beide so albern benehmen, wie sie wollen. Nur uns sollen sie ungeschoren lassen. Soviel weiß ich: in meinem Hause wird weder Prasch noch die Mollin empfangen, wenn ich erst verheirathet bin,“ sagte Alfred. Er hatte in der That bis zu dieser Sekunde an die beiden harmlosen Menschen, die zur besten Gesellschaft gehörten und außer ihren Steckenpferden, die sie allerdings mit etwas drolligen Allüren ritten, durchaus tadellos waren, nur mit vollkommenster Gleichgültigkeit gedacht. Aber daß Gerda sie gegen ihn in Schutz nahm, reizte ihn, so daß er etwas Aeußerstes sagen mußte.

„Wie,“ sagte Gerda empört, „Hilda Mollin in unserem Hause nicht empfangen? Sie, die schon bei meinen Eltern verkehrte, als ich ein Kind war? An deren Persönlichkeit sich mir theuerste Jugenderinnerungen knüpfen? Gehört es denn überhaupt zu Deinen Principien, nur Leute zu empfangen, die gerade nur Deiner Individualität zusagen?“

„Hilda Mollin mitsammt Deinen theuren Jugenderinnerungen will ich Dir nicht entziehen. Aber was das Princip anbelangt, bin ich allerdings der Meinung, daß in streitigen Fällen die liebende Frau es vorzieht, auf den Umgang jemandes zu verzichten, der dem Gatten nicht gefällt,“ erklärte Alfred.

Marbod sah sich schon nach den beiden um, denn er hörte unschwer, daß ihre Stimmen in Unmuth verschärft waren.

„So?“ fragte Gerda scharf, „und wenn das nun gerade jemand ist, von dem sich die Frau aus tausend Gründen nicht lossagen kann und mag? Und wenn umgekehrt der Mann einen theuren Freund hat, welcher der Frau nicht gefällt? Soll er ihn auch aufgeben? Opferfreudige Selbstüberwindung steht nicht in dem Programm Deines Lebens zu zweit?“

Sie stritten weiter, mit steigender Erbitterung. Der Knabe, welcher neben Marbod und dem alten Fräulein einhergegangen war, hörte den Ton, den er schon kennen mußte. Als sie nun in einer Gruppe dicht nebeneinander standen, sagte er:

„Ach, streitet Euch doch nicht!“

Gerda erschrak. Sie sah in das leuchtende, feuchtschimmernde Auge ihres schönen Kindes.

Von gleichem Impuls ergriffen, bückten sie und Alfred sich gleichzeitig, den Knaben zu küssen.

Dann nahmen sie ihn vor sich, während sie selbst Arm in Arm, eng aneinander geschmiegt, inmitten der Menschen stehen blieben.

Der Platz um das Denkmal Friedrichs des Großen war dicht gedrängt voll von Leuten aus allen Bevölkerungsklassen. Bis an die Mauern der Akademie und das Gitter vor der Universität standen sie in der Mittagshitze unter dem vielfach gefleckten und unregelmäßig unterbrochenen Dach von Sonnenschirmen. Vor dem Palais des Kaisers war der Fahrdamm frei gehalten. Oben auf dem Dachfirst hing die Purpurstandarte schlaff an ihrer Stange herab. Die meisten Fenster des Palais waren weiß verhangen. Nur im unteren Geschoß sah man die schwarzen blanken Glasscheiben das Straßenbild spiegelgleich wiedergeben. Uebrigens regte sich hinter denselben nichts. Die Schildwache ging langsam vor dem Thore auf und ab.

Mittagsschwüle und Erwartung brütete über dem Ganzen.

Da klang ein fernes Dröhnen, das sich bald mit Schmettern vermengte und endlich als Militärmusik und Marschtritt aufziehender Soldaten zu erkennen war.

Sascha klagte, daß er nichts sehen könne. Ohne weiteres nahm Alfred ihn auf den Arm. Und der Knabe klatschte glücklich in die Hände, als er den Vortrab von Kindern, Bummlern und Fremden sah, welcher der Musik voranzog.

Sein Jauchzen ward verschlungen von dem brausenden, frischen Klang eines Militärmarsches, der jetzt die ganze Luft erfüllte und sich hüben und drüben in durchdringenden Schallwellen an den Mauern brach.

„Sieh dort, auf das Fenster!“ schrie Alfred dem Kinde zu.

Ein tosendes Rufen ging jäh in die Lüfte empor, wie ein Schrei des Glücks und der Begeisterung, der sich immer wiederholte. Hüte, Schirme, Tücher schwenkten, von winkenden Händen gehalten, über den Köpfen der Menge. In jedem Herzen war eine heiße Erregung, und jedes Auge sah durch einen Thränenschleier auf das Eckfenster des Palais, wo die hohe Gestalt des greisen Kaisers das Haupt gütig neigte.

Und dann stieg der Jubel ins Maßlose. Neben dem hehren Greis, von dessen Hand leicht umschlungen, erschien ein kleiner blonder Knabe und legte das Händchen grüßend an die junge Stirn.

Des Kaisers Urenkel.

Da stieg plötzlich, von tausend Lippen wie auf ein unsichtbares Kommando hin zugleich angestimmt, das vaterländische Lied gen Himmel.

Und ganz falsch und ganz andächtig, die Händchen wie zum Gebet gefaltet, sang Sascha mit. „Heil Dir im Siegerkranz“.

Alfred hatte den freien Arm um Gerda gelegt, sie sahen sich an, Liebe und Begeisterung in den heißen Augen, und ihre Ohren hörten aus dem vieltausendstimmigen Gesang die eine, rührende, kindlich falsche Singstimme heraus.

Sie fühlten sich heilig eins: eins in der riesengroß aufwallenden Begeisterung für den erhabenen Greis und das Vaterland, eins in dem Entzücken über das warmempfindende, alles erfassende Kind.

Sie waren noch wie von einem schönen Traum umfangen, als das köstliche Bild sich schon verschoben hatte und die Straße begann, ihr gewöhnliches Gesicht zu zeigen.

„Was nun?“ fragte das alte Fräulein, dessen Entrüstung über alle diese unerhörten Strapazen immerfort lebendig gewesen war, selbst während alle Welt dem Kaiser zujauchzte; „ich meinerseits kann keinen Schritt mehr gehen, und so gern ich auch Seiner Majestät meine Huldigung darbringe, muß ich doch gestehen, daß es in dieser Form nur für Leute mit eisernen Nerven möglich ist.“

„Kommen die Herren zu Tisch?“ fragte Gerda, während Alfred für die Damen eine vorüberfahrende Droschke anhielt.

Alfred sah ihr in die Augen, traurig und innig. In der lebhaften Erinnerung an den Streit, den sie vorhin gehabt, und an die Wonne, die sie eben zusammen gefühlt, sagte er:

„Wir wollen uns heute nicht sehen. Du wirst auch Deine

[265]

’s Leibliedl. Nach einem Gemälde von Hugo Kauffmann.
Photographie im Verlage von Fr. Hanfstaengl in München.

[266] Sachen zu packen haben, Gerda. Wenn es Dir so recht ist, treffen wir uns heute nacht um elf Uhr auf dem Friedrichstraßenbahnhof. Ich werde alles besorgen, Billette und Plätze im Schlafwagen. Tantchen fährt doch mit?“

Gerda nickte. Ja, so war es besser. In der Unruhe der Abreisestimmung fänden sie doch gewiß hundert Anlässe zu Meinungsverschiedenheiten. Hier war alles Hast, Unnatur, Zwang. In dem Frieden der Wälder würde auch in ihre Liebe der Frieden kommen.

Das Tantchen und Marbod standen vorerst stumm vor Staunen.

Nun wollten diese beiden unruhigen Menschen wieder reisen, und kein Mensch wußte davon.

„Aber das ist stark,“ brachte das Tantchen endlich mit bebenden Lippen heraus.

„Es geht nach Baden-Baden,“ sagte Gerda und geleitete die alte Dame vorsichtig an die Droschke. „Alfred hat dort zu thun. Auch Dir wird es gut sein, Tantchen, Tannenluft zu athmen. Und was Herrn Doktor Steinweber betrifft, so wird er uns in den vier Wochen, die wir wegzubleiben denken, nicht vergessen.“

Marbod nahm ihre dargebotene Hand. Er sah sie an, fast ängstlich. Man merkte wohl, es war ihm leid, daß sie ging, ohne daß er lange und ausführlich mit ihr hatte sprechen können. Und in der That, er hätte sie bitten mögen, innig und eindringlich – er wußte selbst nicht, um was. Für seinen Freund? Aber sie liebte diesen doch, groß und voll Leidenschaft. Was brauchte er da zu bitten. „Verlaß ihn nicht!“ Und doch war’s, als müsse er dieses sinnlose Wort herausstoßen gerade dieses.

„Du verläßt mich heute keinen Augenblick “ sagte Alfred ganz bestimmt, als die Damen fortfuhren. „Du mußt freilich zusehen, wie ich einpacke, aber das ist eine halbe Stunde. Der ganze sonstige Tag ist frei für unsern Willen.“

„Leider nicht der meinige. Ich bin für den Abend von Ravenswann eingeladen,“ sprach Marbod, Arm in Arm mit dem Freunde die Richtung nach der Wohnung desselben einschlagend.

„Sage ab!“

„Ludolf giebt seiner Einladung erhöhte Wichtigkeit, indem er dabei schreibt, daß sie in einigen Tagen verreisen, sein Sommerurlaub beginnt, und daß der heutige Abend der letzte ist, an welchem sie mich vorher noch bei sich sehen können,“ erzählte Marbod, worauf Alfred lachend meinte, daß es dann freilich kein Entrinnen gäbe. Er sei überzeugt, daß das Ehepaar, wenn es in acht Tagen reisen wolle, bis dahin jede Stunde mit Vorbereitungen zu thun habe.

In seiner Wohnung berief Alfred seinen Diener, theilte diesem mit, daß man heute abend reise, und daß Fritz unter seiner Aufsicht schleunigst zu packen habe.

„Hatten der Herr gedacht, mich mitzunehmen?“ fragte Fritz, seinen Herrn ansehend.

„Natürlich!“

„Ich muß den Herrn darauf aufmerksam machen, daß Sie beim Engagement eine Verpflichtung meinerseits, mit auf Reisen zu gehen, nicht erwähnt haben,“ sagte Fritz kühl. Er hatte keine Neigung, bei der Hitze in der Eisenbahn zu sitzen und sich von der guten Verpflegung zu trennen, die ihm Frau Meyns angedeihen ließ. Als eingefleischter Berliner fühlte er sich überdies nur hier am rechten Schauplatz für sein Thun und Nichtthun.

Alfred war sekundenlang stumm vor Erstaunen.

„Aber das ist doch selbstverständlich,“ antwortete er endlich.

„Keineswegs,“ erwiderte Fritz, „ich könnte dem Herrn ja sagen, daß ich alte Eltern oder dergleichen hätte, denen meine stete Gegenwart hier unentbehrlich wäre; es ist nicht der Fall, aber es könnte so sein und würde dann doch klar beweisen, daß die Verpflichtung, mit auf Reisen zu gehen, nicht selbstverständlich ist.“

Marbod bewunderte die Geduld des Freundes, der, anstatt heftig zu werden, ganz wohlwollend fragte:

„Also, Sie wollen nicht mit nach Baden-Baden?“

Fritz besann sich einige Augenblicke. Baden-Baden? Seine vorige Herrschaft war ebenfalls dort, wie ihm die Jungfer derselben, eine seiner „Bräute“, geschrieben. Einer angenehmen Unterhaltung in den Freistunden war er dort also sicher.

„Dorthin – o ja,“ sagte er langsam und ging, um nach den Koffern zu sehen.

„Wie kannst Du das ertragen?“ rief Marbod, „der Mensch ist ja frech und blasirt.“

„Weder das eine, noch das andere,“ antwortete Alfred heiter, „er ist immer logisch und lügt nie. Daß er mich nicht als seinen Herrn und sich nicht als meinen Sklaven, sondern unser Verhältniß als einen Vertrag mit genau abgegrenzten Rechten und Pflichten ansieht, ist vielleicht etwas – modern. Er sieht mich keineswegs für etwas Höheres an als sich selbst. Aber er murrt auch nicht darüber, daß ich es besser habe.“

Marbod stand am Schreibtisch und besah Gerdas Bilder, während Alfred aus Schränken und Schubladen Sachen zusammentrug und auf den Tisch häufte.

„Ich sehe Dich mit einem unspmpathischen untergeordneten Menschen Geduld haben,“ begann Marbod, „ich sehe Dich fast gütig seine Art und Weise psychologisch erklären. Und mit einem andern menschlichen Wesen, dem höchsten, das für Dich die Erde trägt, sehe ich Dich in fortwährenden ungeduldigen Streitereien.“

Alfred warf die Bücher, welche er gerade in der Hand hielt, polternd zu Boden.

„Warum rührst Du daran?“ rief er heftig, sank in den nächsten Stuhl und preßte die geballte Faust gegen die Stirn.

„Das ist mein Freundesrecht. Früher, wenn Dich Unklarheiten quälten, brachte ich Dich auch zum Sprechen, und redend ward Dir’s frei in der Seele und licht,“ sprach der andere, sein ernstes Auge liebevoll auf den Freund richtend.

„Und jetzt ist das Allerschlimmste, daß ich nicht einmal davon reden kann, daß ich mir in meinen eigenen Gedanken in schweigenden, schlaflosen Nächten nicht einmal die Räthsel zu lösen vermag, welche wie dunkle Schatten zwischen mir und der Geliebten schweben,“ sagte Alfred fast tonlos vor sich hin. „Oft ist mir, als müßte ich daran zu Grunde gehen. Jedes ihrer Worte reizt mich, und schweigt sie, so reizt mich ihre Geduld. Wir greifen uns fortwährend an, oder wir bestreben uns, uns gegenseitig zu schonen. Das eine ist so quälend wie das andere. Das eine beleidigt, das andere demüthigt. Tausendmal hatten wir uns vorgenommen – sie und ich, denn sie fühlt alles ebenso und ringt es in erschreckender Gleichheit genau so durch – tausendmal haben wir uns vorgenommen, uns nie wieder zu sehen. Aber mein Herz erschrak dann, und Todesgrauen lähmte alle meine Sinne. Ein Leben ohne sie!? Das ist kein Leben mehr. Und dann kommen wieder göttliche Augenblicke, wo unsere Seelen zusammen emporfliegen als eine Seele zu den höchstem beseligendsten Empfindungen. Ueber alle großen Fragen dieses Daseins denken wir gleich. Oft erscheint es uns, als habe die Natur in ihr und in mir zweimal das gleiche Wesen geprägt. Wir haben täglich das Seltsame, daß wir zugleich das Gleiche denken und einer in des andern stumme Gedanken hinein laut die Bejahung oder Verneinung spricht, denn das eine hat gefühlt, was das andere gerade denkt. Und doch, und doch dies stete Aufbäumen gegeneinander!“

„Mein Gott,“ rief Marbod leise und erschüttert, „wie soll das enden? Hast Du nie an diese Lösung des Räthsels gedacht, daß die Gefühle, welche Gerda und Dich immer wieder zu einander – zwängen möcht ich sagen, aus Eurem heftigen Temperament entspringen, daß eine rein sinnliche Leidenschaft Euch für einander erfaßt hat?“

Alfred schüttelte verneinend sein blondes Haupt. „Nein, wenn es das allein wäre, was uns zu einander zöge, liebte ich dann so ihr Kind? Sieh,“ fuhr er, weich werdend, fort, „wie ich diesen Knaben liebe, kann ich Dir mit keinem Worte sagen. Er ist von ihrem Fleisch und Blut, er hat ihre Augen; wenn ich ihn küsse, liebkose ich zugleich sie, und er, das ist immer der Friede in ihr, die Liebe zu ihr, das Glück mit ihr. O, wäre er mein Knabe! Mein Kind! Mir ist, als wären sie und ich dann waffenlos gegen einander.“

Die Augen des Mannes waren feucht und sein Angesicht blaß.

Marbod war sehr ergriffen. Er preßte die Hand des Freundes innig.

„Mein lieber, alter Junge,“ sagte er zärtlich, „da sehe ich einen Sonnenstrahl der Hoffnung das Gewölk durchbrechen. Heirathet, heirathet so schnell wie möglich, und im Besitz werdet Ihr Ruhe finden. Ihr werdet eigene Kinder haben, und wie einst aus dem Chaos die beste aller möglichen Welten entstand, so wird sich auch aus den gährenden Elementargewalten Eurer Liebe eine ganz philisterhaft glückliche Ehe gestalten.“

Alfred versuchte dem Freunde zu Gefallen ein Lächeln. Dieser sah ein, daß man ihn ganz von seinen Grübeleien entfernen müsse.

[267] „Wenn ich einmal heirathe, wird es doch viel langweiliger hergehen,“ sagte er scherzend.

„Hast Du daran gedacht?“ fragte Alfred gleichgültig.

„Doch, so halb und halb einmal. Und nun ich ein seßhafter Mann geworden bin, kehre ich vielleicht zu dem flüchtig erwogenen Plan ernsthafter zurück und suche das Mädchen wieder, dessen Anblick mir im Gedächtniß haften geblieben,“ erzählte Marbod.

„Ein Mädchen?“ fragte Alfred weiter. Er fragte ganz mechanisch, denn in seinem Kopf hatte nichts Raum als noch die Nachgedanken über das vorher Gesprochene.

„Ein schönes Mädchen. Blond wie eine Ceres, kraftvoll und rosig, wie gesunde Jugend ist. Und dabei ernst und zurückhaltend, von seltenem Gleichmaß in Wesen und Bewegungen. Die Pflegerin einer kranken Mutter und gewohnt, schweigend zu dulden. Das ganze Weib wie eine Wohltat für die Seele,“ sagte Marbod.

Dabei sah sein Auge in die Ferne.

„Wie heißt sie?“

Marbod sah sich erstaunt nach dem Freund um.

„Pardon“, sagte dieser und wischte sich die Augen, als erwache er aus dem Schlafe, „man fragt nicht nach Namen. Wenn die Sache spruchreif ist, wirst Du mir ihn sagen.“

„Und Du,“ sprach Marbod heiter, „wirst mir aber jetzt endlich sagen, weshalb Du so plötzlich abreisest.“

„Eine alte Verpflichtung auf das Andenken meines Vaters hin. Eine kranke Frau, die er einst geliebt, ruft mich. Und wie es scheint, haben die beiden, mein Vater und die Unerreichbare, den Plan gefaßt, mich mit der Tochter dieser Frau zu vermählen. Gerda will mit und die mir bestimmt Gewesene kennen lernen, sie, die immer Hilfsbereite, hofft, den Frauen nützen zu können. Schade; wenn Dein Herz noch frei wäre, hätten wir Dich mit dieser jungen Dame vermählen können.“

Nun lachte er wieder sein altes vergnügtes Lachen. Auch fiel ihm bei der Erwähnung Badens ein, daß er seine Sachen weiter ordnen müsse, und mit einem halbkomischen Seufzen hob er die Bücher auf, welche er zuvor zu Boden geworfen.

Jetzt kehrte auch Fritz zurück. Er brachte ein Billet mit, welches draußen abgegeben worden war.

„Eine Einladung von Ravenswann für heute abend,“ sagte Alfred. „Nun, auf ein Stündchen soll Frau Mietze das Vergnügen haben.“

Er ahnte nicht, daß die Einladung erst erfolgt war, nachdem Frau Marie hier im Hause gesehen, wie Gerda in Haumonds Thür schlüpfte, und infolge dessen eine Neugier empfand, diesen zu sehen, die man fast hätte dämonisch nennen können.

Nach einem Tage voll erquickender und beruhigender Gespräche machten die Freunde sich auf den weiten Weg zu dem Ehepaar. Dieses bewohnte ein großes altes Haus in der Parochialstraße, welches Ravenswanns Urgroßvater schon besessen und dessen zahlreiche Unbequemlichkeiten der Assessor und seine Frau willig, wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen ertrugen. Die Frau war von Hause aus an ein Leben im eigenen, großen Besitz gewöhnt, und das Bewußtsein, nicht unter fremdem Dach, nicht in gemietheten vier Wänden zu wohnen, ersetzte ihr allen Luxus der Neuzeit. Der Mann war zu ängstlich, das Haus einer fremden Verwaltung anzuvertrauen, er machte lieber jeden Tag die weite Reise nach seinem Bureau und entzog sich und der Frau dadurch seine Mußezeit, als daß er einem Vicewirth die Beaufsichtigung der Miether und die Einkassirung der Miethe anvertraut hätte. Der Grund aber, warum sie in dem eigenen Hause den dritten Stock bewohnten, war bei beiden gleich: die Sparsamkeit.

Alfred ging gern in das Haus, lieber als zu seinen Eigenthümern. Es war ein Bau aus der Schlüterschen Zeit, in reichen und großen Formen. Das weite Treppenhaus hatte weiße, gekalkte Wände, aber an diesen Wänden sah man die schönsten Stuccaturen. Die alte Eichenholztreppe knarrte, wenn man auf ihr emporstieg, aber ihr Geländer war von kunstreich gemustertem Schmiedeeisen. Petroleumlampen vor Spiegelblendern erhellten das ganze Treppenhaus, das zu beleuchten dem Hauswirth oblag. Gas wurde nur in den vermietheten Wohnungen gebrannt; Ravenswann fand es zu theuer. Daher schwebte im Hause und oben in der Wohnung immer ein leiser Petroleumduft; Alfred hatte so oft darüber geklagt, daß Frau Marie nun jedesmal, wenn er erwartet wurde, ihre Stuben vorher mit Kölnischem Wasser sprengte.

Die ganze Wohnung blinkte von Sauberkeit und Ordnung. In den großen Zimmern standen reiche Möbel nach dem veredelten Geschmack der Zeit, die zur Renaissance zurückgekehrt war, und so paßte die Einrichtung unerwartet trefflich zu dem reichen Stuck der Decken und den ebenso geschmückten Wänden. Frau Marie hatte bei dieser harmonischen Wirkung kein Verdienst. Wenn bei ihrer Vermählung noch die spinatgrünen, rothbraunen oder knalllila Plüschmöbel Mode gewesen wären, die vor zwanzig Jahren ihre grauenvolle Herrschaft übten, hätte sie ohne Bedenken solche an die von Schlüters Meisterhand verzierten Wände gestellt. Es fehlte aber in den Zimmern an allen jenen kleinen Gegenständen, welche Erinnerung sammelt oder Freundschaft schenkt. Den wenigen vorhandenen Nippsachen sah man an, daß sie gekauft waren; zu solchen zählte Frau Marie auch offenbar ein elegantes Rauchzeug, ein schönes Weinservice und andere Gegenstände, die ihr ersichtlich zu kostbar zum Gebrauch erschienen, für den sie doch bestimmt waren.

In diesen Zimmern lebte man nicht, sie wurden ab und zu mit Schonung benützt.

Außer Alfred und Marbod waren noch Frau Doktor Schneider und ihr Gatte zugegen. Diese Freundin Mariens hatte sehr jung geheirathet, man sagte, mit sechzehn Jahren. Das war nun mindestens zwölf oder dreizehn Lenze her, aber die blondlockige, nicht ungraziöse Frau, die ohne ein zu vorspringendes Adlernäschen und die zu großen vorstehenden Raffzähne ganz hübsch zu nennen gewesen wäre, hatte ihre einst so viel besprochene Jugendlichkeit als Gattin immer noch nicht abgelegt. Mit einer gewissen Hilflosigkeit wandte sie sich bei allen Gelegenheiten fragend an ihren Mann, ihrer Frage noch dadurch einen zärtlicheren Charakter gebend, daß sie ihn mit ihren Fingern an den Arm, die Schulter oder den Handrücken tippte. Herr Doktor Schneider war übrigens auch der Mann, der sich berufen fühlte, einer Frauenseele Halt zu sein; das sah man ihm an. Austausch von Meinungen, Abwägen von Gründen und Gegengründen schien es für ihn nicht zu geben, er kannte nur bestimmte Behauptungen und keinen Widerspruch. Seinen grauscheckigen Backenbart pflegte er mit den Fingerspitzen der Linken zu zerpflücken. Sein glatt ausrasirtes Kinn drückte Würde und sein sich selten öffnender Mund Festigkeit aus. Ueber die goldene Brille, die schlecht auf der fleischigen, doch wohl geformten Nase saß, sahen seine grauen Augen mit einem gewissen verwundert beobachtenden Blick hinweg. Es lag eine schweigende und von vornherein mißbilligende Kritik in diesem Blick.

(Fortsetzung folgt.)




Klaus Groth.

Am 24. April 1889 feiert Klaus Groth seinen siebzigsten Geburtstag, und das deutsche Volk hat guten Grund, an diesem Feste theilzunehmen. Gehört der Dichter auch nicht zu denen, die sich auf den lauten Markt des Tages drängen, – sein Name wird mit Ehren genannt, seine Werke haben sich einen dauernden Platz in der deutschen Litteratur errungen. Ein Stück Geschichte, weilt er seit lange unter uns; seine dichterischen Thaten sind mit unvergänglichen Zügen eingezeichnet in das Buch des deutschen Geisteslebens; er bedarf keines Fürsprechers und Lobredners, und auch heute kann es sich für uns nur darum handeln, ins Gedächtniß zurückzurufen, was er uns allen ist und bleiben wird, worin seine dauernde Bedeutung für die deutsche Litteratur besteht, welche Schöpfungen ihm einen festen Ehrenplatz in der Geschichte unserer Dichtung sichern.

An der Thür seines Gartens stand, als ich den Dichter zum ersten Mal aufsuchte, im Frühherbstwind sinnend eine baumlange, rüstige Gestalt mir gegenüber.

„Herr Professor Klaus Groth?“ fragte ich zweifelnd, – wir bilden uns gemeinhin von einem Dichter eine ganz andere Vorstellung als von gewöhnlichen Menschen, mehr phantastisch, überirdisch. Aber der Mann vor mir schien fest in seinem Boden zu wurzeln, man hätte ihn am ehesten für einen Landmann gehalten. [268] Ohne sich in seiner Betrachtung stören zu lassen, reichte er mir die Hand und sagte: „Da lebt man Tag für Tag mit seinen Bäumen und geht doch oft unachtsam an ihnen vorbei. Erst heute entdecke ich hier ein Vogelnest; nun wird es bald verlassen sein.“ Dann schritt er langsam dem inmitten des Gartens liegenden Häuschen zu: „Als ich mich hier anbaute,“ erklärte er, „war ich ganz allein und frei wie auf dem Lande. Jetzt bin ich von allen Seiten eingeschlossen und habe überall um mich die Stadt.“

Dann schritten wir mit einander durch den Garten und traten ins Haus. Viele Besucher haben Klaus Groth an gleicher Stelle in gleicher Weise gefunden.

Auch das Leben des Mannes ist schlicht und einfach und stimmt zu seinem Dichten. Heide, der Hauptort von Norderdithmarschen, ist seine Heimath. Dort wirkte er bis 1847 als Lehrer an der Mädchenschule, nebenher emsig mit eigenen Studien beschäftigt. Dann verbarg er sich sechs Jahre auf der Insel Femern, „um zu gesunden“. Und er hat uns allen Gesundung gebracht: in dieser Abgeschiedenheit schuf er seinen „Quickborn“. Nachdem er vier Jahre lang öfters den Aufenthalt gewechselt, nahm er 1857 in Kiel festen Wohnsitz und begann im folgenden Jahre eine akademische Lehrthätigkeit für deutsche Sprache und Litteratur. Wenn er auch bis in die letzten Jahre hinein dichterisch thätig war, so erschienen seine Werke doch nur in großen Zwischenräumen; er verschmähte es, dem Beispiel so mancher Tagesgrößen zu folgen, die ihren einmal erworbenen Ruhm in einer nicht eben idealen Weise auszunützen besorgt sind. In der That bezeichnet der „Quickborn“ zur Genüge den ganzen Umkreis von Klaus Groths poetischem Können. Von dem, was sich der Dichter zum Ziel seines Lebens gesetzt, fehlt hier kein Ton. Daher ist das Werk so einheitlich geschlossen und in sich vollendet wie kaum eine zweite deutsche Gedichtsammlung seit Goethes „Westöstlichem Divan“.

Klaus Groth.
Nach einer Photographie von Schmidt u. Wegener in Kiel.

Aber welches ist jenes Ziel seines Lebens? Mit geradezu herausfordernder Entschiedenheit sprechen es die „Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch“ (1858) aus: „daß das Plattdeutsche die vollkommenere der beiden Schwestern sei.“ Das will er in seinem Theile durch Schöpfungen beweisen, welche seinen heimischen Dialekt aller dichterischen Töne in unvergleichlich inniger Weise fähig zeigen.

Ich lasse den Streit über die größere Vollkommenheit, in welchem ich auf dem Boden der Geschichte stehe, bei Seite. Rückhaltlos wird man aber das eine zugestehen müssen, daß die schöpferische Aufgabe, die sich der Dichter gestellt, in vollem Umfange von ihm gelöst worden ist. „Quickborn“ hat bewiesen, daß der plattdeutschen Sprache kein Laut, keine Stimmung des Schmerzes und der Lust versagt ist. Absichtlich stelle ich den Schmerz voran. Wenn man sich erinnert, daß im Erscheinungsjahr des „Quickborn“ (1853) auch Fritz Reuter mit den „Läuschen un Riemels“ seinen Dichterruf begründete, so wird eine gewisse Nebenbuhlerschaft von vornherein begreiflich erscheinen. Der Gegensatz trat um so schärfer zu Tage, als die mit Recht gefeierten Dichtungen des mecklenburgischen Poeten wohl die mächtigste Stütze für jene von dem Holsteiner energisch bekämpfte, weitverbreitete Ansicht bilden, daß der niederdeutsche Dialekt nur für niedrig-komisches Genre geeignet sei. Die Geschichte stellt oft neben einander, was sich im Leben gegenüberstand. So darf das deutsche Volk sich daran erfreuen, daß seiner Dichtung zwei sich so glücklich ergänzende Naturen zu gleicher Zeit frisches Lebensblut zuführten. Bewundern wir die Meisterschaft epischer Charakteristik des einen, ohne uns deshalb weniger an der lyrischen Gemüthstiefe des andern zu erquicken! Auch fehlt Klaus Groth durchaus nicht jene echt germanische Lebensfreude, sie ist es, welche selbst in der schwermüthigsten Stunde dem Dichter bei Betrachtung der Menschen und ihres Thuns und Treibens den Blick lenkt. Wenn wir indeß erwägen, daß überall die Volksdichtung vorwiegend tragischen Charakter bekundet oder doch zum mindesten stark mit tragischen Tönen durchsetzt ist, so werden wir diese Nebeneinanderstellung am besten folgendermaßen schließen dürfen: in Reuters Werken bewundern wir mehr den schaffenden Dichter, im „Quickborn“ mehr die schöpferische Volksdichtung selbst.

„Quickborn“ zeigt ausgeprägte Ortsfärbung; die Dichtungen gruppiren sich um das Dorf dieses Namens, welches einige Wegstunden nördlich von Altona liegt.

Da die Sammlung alle Lebensverhältnisse des dithmarscher Stammes in den Kreis ihrer poetischen Behandlung zieht, trägt sie mit gutem Recht den Nebentitel „Volksleben in plattdeutschen Gedichten dithmarscher Mundart“. Die reiche Fülle der Stoffe, bunt durch einander, wie sie das Leben darbietet: innige Liebe zur Muttersprache, Sehnsucht nach der Jugendzeit, das ursprüngliche Liebesjauchzen des Naturmenschen, schwermüthige Betrachtung des braunen Moorbodens, der arme lustige Orgeldreher, Abschiedsweh, Kinderlieder, Märchen, der Packjude, der Fischer, der Müller, die Melkerin, die Krabbenfrau, die alte Harfenistin, die sterbende Großmutter, daneben eine Liebesgeschichte in Hexametern, dann wieder kurze Volkssprüche, Fabeln, die Schrecken der hereinbrechenden Fluth, Volkssagen in glücklich getroffenem Balladenton, historische Volkslieder, Liebesscenen meist mit tragischem Grundzug, die junge Witfrau, das Dorf im Schnee, Abendfrieden, die von der See geweckte Sehnsucht, die Lotsentochter in Verzweiflung um den ertrunkenen Geliebten – ist es zu viel gesagt, wenn man die Muse des „Quickborn“ reich wie das Leben nennt? Reich wie das Leben und gesund wie die Natur:


„Ik weet ni, wat ik seggn schall to de Welt,
Gelehrter ward se, awer ok so stumm,
So old un so vernünfti un so lerri . . .“

„De Bur hett ok sin egen lüttje Welt,
Un wer se sehn will, de mutt Ogen hebbn,
Un is se nich so lud as fröherhin,
So kik he um so deper, niper to,
Un hett he denn en Hart vaer se in Liv,
So ward he sinn’, de Welt is noch so vull,
So selig un so heimisch un so bunt
As uns de besten Schriften man vertellt.“


Eugen Wolff.




[269]

Friedrich von Bodenstedt.

Wer in deutschen Landen kennt nicht Mirza-Schaffy und seine Lieder? Volksthümlicher ist kein Lehrer östlicher Lebensweisheit geworden, keine Nachdichtung orientalischer Vorbilder, keine Neudichtung in ihrem Geiste. Und jetzt erst ist unser deutscher Mirza-Schaffy in jenes Alter eingetreten, dessen Weisheitslehren man mit Ehrfurcht und Andacht lauscht; denn er feiert am 22. April seinen siebzigsten Geburtstag. Doch er hat schon als junger Mann die Maske des Alters vorgenommen, und was er gepredigt im Namen, seines tatarischen Lehrers in Tiflis, das hat in allen deutschen Landen ein Echo gefunden.

Bodenstedt hat seinen Wanderstab selbst in den Orient gesetzt und dort an der Quelle gesessen. Weder Rückert, noch Hammer, noch die anderen westöstlichen Poeten und Gelehrten kannten den Orient aus eigener Anschauung. Unser Dichter war ein Wandervogel von Haus aus. Geboren am 22. April 1819 zu Peine im Königreich Hannover, war er von den Eltern für den Kaufmannsstand bestimmt. Doch, auf den Schulbänken der Handelslehranstalt gefiel es ihm ebenso wenig wie im Comptoir des Handelsherrn; er studierte und dichtete bei Tag und Nacht. Endlich gelang es ihm, sich von diesen unwillkommenen Fesseln freizumachen; er besuchte die Universitäten von Göttingen, München und Berlin, wo er Kollegien über alte und neue Sprachen, Geschichte und Philosophie hörte. Im Jahre 1840 wurde er Erzieher bei dem Fürsten Galitzin in Moskau, eine Stelle, die er drei Jahre lang einnahm; er hielt sich in dieser Zeit theils in der alten Russenstadt selbst, theils aus den Gütern des Fürsten auf. Dieser Aufenthalt war von großem Einfluß auf seine Bildung und Richtung; er erschloß ihm die Eigenart des europäischen Ostens, seiner Volkssitten, seines geistigen Lebens. Bodenstedt beschäftigte sich viel mit russischen Dichtern, und seine Muse schulte sich in freien Uebertragungen der Dichter Puschkin und Lermontow. Im Jahre 1844 wurde er als Leiter eines pädagogischen Instituts nach Tiflis berufen, wo er auch am Gymnasium lateinische und französische Unterrichtsstunden gab. Doch war die Stellung zu angreifend für seine Gesundheit; er gab sie bald wieder auf und kehrte nach Europa zurück, nachdem er vorher Armenien und die kaukasischen Länder bereist hatte.

Friedrich v. Bodenstedt.
Nach einer Photographie von Kauer u. Schröder in Wiesbaden.

Und von Tiflis brachte er das poetische Schatzkästlein mit, das für sein ganzes späteres Leben den erfreulichsten Glanz ausstrahlte. Er hatte dort den Dichter Mirza-Schaffy kennen gelernt, der ihn in den orientalischen Sprachen unterrichtete; der Umgang mit diesem schriftgelehrten Manne gab ihm Anregung und Veranlassung zu den „Liedern Mirza-Schaffys“, die zuerst in dem Buche „Tausend und Ein Tag im Orient“ (1850) erschienen, dann aber aus dieser Reisebeschreibung losgelöst wurden, etwa wie Heinrich Heines „Buch der Lieder“ aus seinen „Reisebildern“. Und diese „Lieder Mirza-Schaffys“ schlugen zündend ein; es war dem Dichter damit ein großer Wurf gelungen. Er wurde mit einem Schlage volksthümlich in Deutschland; bis zum heutigen Tag haben diese Lieder mehr als hundert Auflagen erlebt und sind in viele andere Sprachen übersetzt worden. Weder Rückerts „Weisheit des Brahmanen“, noch der „Hafis“ von Daumer konnten sich eines solchen Erfolges rühmen, und doch war die erstere Spruchsammlung ein unerschöpflicher Gedankenbronnen tiefsinniger Weisheit und der „Hafis“ der unmittelbare Vorgänger, des Mirza-Schaffy mit seinen Lehren heitern Lebensgenusses und seiner Polemik gegen die Satzungen engherziger Finsterlinge. Mirza-Schaffy ist der glänzende Mittelpunkt von Bodenstedts Werken geworden, um den sich in näheren oder entfernteren Kreisen sein übriges Schaffen bewegt.

Und was hat diesem Mirza-Schaffy zu einem solchen durchgreifenden Erfolge, verholfen? Vor allem die lebendige Anschaulichkeit der Schilderungen; man fühlte heraus, das alles war selbst gesehen, selbst erlebt, und dabei nichts Weitschweifiges, nichts Ueberschwängliches. Die Form hat eine melodiöse Anmuth, und selbst die sonst schleppenden Ghaselen laufen in so schalkhafte Pointen aus, daß man ihnen ihren Reimüberfluß verzeiht. Den Tiefsinn des Rückertschen Brahmanen darf man in diesen Liedern nicht suchen; das hätte auch ihrer Volksthümlichkeit nur geschadet. Sie predigen eine sehr verständliche Lebensweisheit, mahnen zu maßvollem Genuß der irdischen Güter, wenden sich gegen den religiösen Fanatismus, preisen mit Begeisterung die Liebe und die Schönheit und lassen auch der satirischen Ader freien Lauf, indem sie gelegentlich dem Westen, seinen Dichtern und Gelehrten, seinen Sitten und Anschauungen den Spiegel des Ostens vorhalten. Das alles aber geschieht so leicht und gefällig, daß niemand daran Anstoß nimmt, und viele Verse sind so glücklich gefaßt, daß sie sich unwillkürlich dem Gedächtniß einprägen.

Einige zwanzig Jahre später gab Bodenstedt das Liederbuch: „Aus dem Nachlaß Mirza-Schaffys“ (1874) heraus. Wenn die frühere Weisheit des Lehrers von Tiflis noch etwas Jugendliches hatte, so predigt er jetzt nicht bloß Lebensgenuß, sondern spendet auch einen Reichthum wohlerwogener Gedanken und Sprüche, die sich allerdings nicht so leicht dem Gedächtniß einschmeicheln. Einige Jahre darauf, 1877, gab der Dichter hafisische Lieder unter dem Titel: „Der Sänger von Schiras“ heraus, die sich weit treuer an das Original hielten als Daumers Nachdichtungen, aber an Grazie und leichtem Fluß trotzdem nichts zu wünschen übrig ließen. Einzelne Gedichte wie das Trauerlied des Hafis beim Begräbniß seines Sohnes und der Gesang zum Preise des Weines haben so frische Ursprünglichkeit, daß man sie für vollständig selbständige Gedichte halten konnte. Ein anderer Perser, von größerem Tiefsinn, aber so witzig und schlagfertig wie der „Sänger von Schiras“, reizte später noch den unermüdlichen Vermittler zwischen Orient und Occident zu einer Uebertragung ins Deutsche. So erschienen 1881 „Die Lieder und Sprüche des Omar Chajjam“.

Wir haben hier vorgreifend alles zusammengefaßt, was Bodenstedt an Blüthen und Früchten aus der „östlichen Gartenheimath“ [270] für unseren deutschen Litteraturmarkt zusammentrug. Hier ist seine eigentliche Bedeutung zu suchen, und wie der alternde Goethe auf dem westöstlichen Divan ruhend, so hat er sich schon in jungen Jahren unserem Volke gezeigt und ist so einer seiner Lieblinge geworden. Doch ist damit seine dichterische Thätigkeit bei weitem nicht erschöpft, und namentlich auf dem Gebiete der Weltliteratur hat er, in den Fußstapfen Goethes, der Schlegel und Rückerts wandelnd, sich große Verdienste erworben als kunstsinniger Forscher und formgewandter Uebersetzer.

Nach seiner Rückkehr aus Asien führte der Dichter eine Zeit lang ein Wanderleben in Deutschland, Oesterreich, Italien; wir finden ihn auch einmal in Paris als Vertreter der preußischen Freihandelspartei. Er redigirte Zeitschriften verschiedenster Art: im Jahre 1848 den „Oesterreichischen Lloyd“ in Triest, 1850 die „Weserzeitung“ in Bremen. Eine Zeit lang hatte er ist München gelebt; dann hielt er sich auf den Gütern des mit Geibel so befreundeten Herrn von der Malsburg auf; später, 1853, lud ihn der kunstsinnige Herzog von Coburg-Gotha nach Gotha ein. Festen Anhalt und feste Stellung für längere Zeit fand er im Jahre 1854 in München, wo ihn König Max an die Universität zog und in den Kreis seiner künstlerisch-wissenschaftlichen Tafelrunde aufnahm. Seine Vorlesungen umfaßten die slavischen Litteraturen und später die ältere englische. Seine Shakespearestudien führten ihn dem Theater näher, und so folgte er einer Berufung als Intendant nach Meiningen 1866, wo der Herzog bereits auf Hebung der Bühne bedacht war. Im Jahre 1867 geadelt, trat Bodenstedt 1869 von seiner Stellung zurück, lebte in Meiningen als Pensionär des Herzogs, dann bei seinem Schwiegersohn auf Schloß Dornau bei Altona, später in Hannover, Berlin und zuletzt in Wiesbaden.

Ungemein rege und vielseitig war sein dichterisches Schaffen, nachdem ihm der große Wurf mit Mirza-Schaffy gelungen. Unabhängig von den erwähnten orientalischen Nachdichtungen trat seine Muse vielfach selbständig auf, zunächst mit einem Epos „Ada, die Lesghierin“ (1853), reich an malerischen Schilderungen von Land und Leuten, Volkssitten und Kämpfen aus der Zeit Schamyls, dann in verschiedenen Sammlungen eigener Gedichte. Was Bodenstedt außerdem als Uebersetzer und Erklärer Shakespeares, als Dramatiker, als Erzähler und Schilderer fremder Länder und Menschen geleistet, wir können es hier nicht alles einzeln aufführen. Und noch ist ja auch der Kreis dessen, was er zu schaffen berufen ist, offenbar nicht abgeschlossen; das beweist uns die noch vor kurzem (1887) erschienene Dichtung „Sakuntala“, in welcher er die anmuthige Lotosblumensage in eine neue poetische Gewandung kleidete.

Die Summe von Bodenstedts schriftstellerischem Wirken bildet einen bedeutsamen Faktor für das Geistesleben unserer Nation; die mannigfachsten Anregungen sind aus ihm hervorgegangen. Bodenstedts weltweiter Blick hat neue geistige Horizonte erschlossen, seine meisterhafte Formgebung die poetischen Schätze anderer Völker für das unserige gemünzt. Hafis und Kalidasa, Puschkin und Lermontow, Shakespeare und seine Zeitgenossen, sie alle blicken uns aus den Arabesken entgegen, welche das Bild unseres Dichters umrahmen. Dies Bild aber zeigt den heiter lächelnden Mirza-Schaffy, den anmuthigen Hohenpriester der Lebensweisheit, der ihre Lehren wie Blumen aus reichem Füllhorn streut, und dem die Nation an seinem Ehrentage dankt für die unvergänglichen Lieder seiner Jugend wie für das unermüdliche Schaffen seiner reiferen Jahre. Rudolf v. Gottschall. 




Lore von Tollen.

Roman von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Was war aus Westenberg geworden! Die alten Gassen hatten ein ganz anderes Aussehen; das machte nicht allein der neue Anstrich, den die Häuser trugen, das machten die vielen fröhlichen Mädchengesichter, die aus den Fenstern lugten, das machte die Straßenjugend, die mit wahrhafter Begeisterung in ihren Holzpantoffeln über das Pflaster klapperte, daß es das Geräusch der Pferdehufe noch überschallte – das machte die frische, fröhliche Musik, die schon von weither durch die Gassen erklang und Männer und Weiber vor die Thüren lockte.

Hurra! Die Ulanen kommen von der Heide zurück!

Die goldene Morgensonne funkelt in den Lanzenspitzen, die schwarzweißen Fähnchen wehen im warmen Sommerwinde; voran der Stabstrompeter mit seinem Musikcorps, alle auf Isabellen; dann der Kommandeur mit dem Adjutanten, und hinter diesen die lange Linie der Reiter, verstaubt vom heißen Uebungsritt. Aber, wie die Thiere so herrlich im Takt des Walzers schreiten, wie die jungen Kerle so keck im Sattel sitzen, wie die Augen über die Fenster blitzen, und wie sie roth werden, die Mädchenn wenn einer allzu dreist heraufsieht! Jetzt bog der Zug am alten Gymnasium um die Ecke, und auch im Hause der Frau Majorin von Tollen öffnete sich ungestüm ein Fenster, und ein bräunliches Gesichtchen schaute mit zwei strahlenden braunen Augen auf die glitzernde Schlange, die da unten vorbeizog. Käthes Füße traten den Walzertakt, ihre Löckchen wehten im Winde um die schmale Stirn, und die Flügel, des kurzen Näschens bebten vor Lust.

Die Offiziere, sahen alle herauf und grüßten, den Säbel senkend, und sie dankte lächelnd und verschämt, daß ihre weißen Zähne hinter den rothen Lippen blitzten. Ja, das ganze Regiment blickte herauf und freute sich über das reizende Bild. An der Straßenecke da unten ritt das Musikcorps zur Seite, die Schwadronen schwenkten ab zu ihren verschiedenen Ställen, und zwei Offiziere kamen im Trab zurückgesprengt und hielten vor Käthes Fenster.

„Fräulein von Tollen,“ rief der Aeltere, der Kommandeur, „wir fahren heute nachmittag nach Buchenhagen; Sie kommen doch mit? Gusti würde sehr betrübt sein, hielten Sie Ihre Absage von gestern aufrecht.“

„Ach, ich möchte so gern,“ rief das junge Mädchen, „aber es geht nicht, wirklich nicht, Mama erlaubt es nicht.“

„Ich werde einmal mit Tantchen Tollen sprechen,“ erklärte der junge Offizier, der abgesprungen war und dem aus dem Tollenschen Hause herbeieilenden Soldaten das Pferd übergeben hatte; „lassen Sie mich nur machen, Fräulein Katharina!“ Er lachte dabei aus seinen gutmüthigen blauen Augen das Mädchen an.

„Ach ja,“ rief Käthe, „thun Sie es, Herr von Wegstedt, Mama ist im Garten.“

„Sofort!“ klang es zurück. Der Lieutenant verabschiedete sich von seinem Vorgesetzten und rasselte in das Haus hinein.

Der ältere Offizier grüßte, rief ein „auf Wiedersehen“ und wandte das Pferd.

Käthe klirrte das Fenster zu, ohne zu bemerken, daß Doktor Schönberg die Straße daher schritt und schon lange heraufgeblickt hatte, während er ihrer Wohnung zustrebte.

Käthe, die eilig in den Garten wollte, traf mit ihm im Hausflur zusammen, dicht an der neuen Treppenthür, die Frau von Tollen hatte machen lassen, um der obern und untern Wohnung ein mehr getrenntes Ansehen zu geben.

„Guten Morgen,“ sagte sie, seinen Gruß erwidernd, „geh immer hinauf, Ernst, ich will nur Mama etwas fragen.“

„Kann ich nicht mitkommen?“

„Nein, Herr von Wegstedt ist bei ihr.“

„Darin sehe ich kein Hinderniß,“ erklärte er. Aber sie duldete es nicht; sie nahm seinen Arm und führte ihn, ihr Vorhaben aufgebend, nach oben. Dort saß die älteste Schwester Helene und nähte an ihrer kleinen Ausstattung. Die Nähmaschine rasselte betäubend und dazu schrie der Kanarienvogel.

„Ruhe!“ rief Käthe laut mit ihrer klingenden Stimme und bewirkte damit, eine augenblickliche Pause.

Der Doktor nahm die Hand seiner Braut und zog sie an sich. „Kommst Du heute nachmittag zur Mutter?“ fragte er.

„Heute?“ Sie ward roth. „Ich kann es im Augenblick wirklich nicht bestimmen, Ernst. Weißt Du, wenn ich bis zwei Uhr nicht da bin, dann wartet nicht mehr – ja, so wollen wir es verabreden.“

[271] „Gut,“ erwiderte er gelassen, „ich dachte nur, weil Mittwoch ist.“

„Ja, ich weiß.“

„Und weil uns dieser Tag gehört, meiner Mutter und mir, wie der Sonntag Dir.“

„Ach, es ist recht thöricht, sich an bestimmte Zeiten zu binden,“ antwortete Käthe.

„Wie Du darüber denkst, Käthe. – So lassen wir die Verabredung fallen.“

Sie sah ihn einen Augenblick an mit großen, erschreckten Augen. Aber er blickte an ihr vorüber nach der Thür, der sich eben Schritte näherten.

Frau von Tollen kam herein. Sie sah ärgerlich aus, schloß aber den schon zum Sprechen geöffneten Mund wieder, als sie den heimlich Verlobten ihrer jüngsten Tochter erblickte, dem sie jetzt schweigend die Hand reichte.

Er begann über einige gleichgültige Sachen zu sprechen, ließ sich mit den herzlichsten Grüßen für die Frau Mutter beladen und verabschiedete sich dann.

Käthe gab ihm das Geleite bis auf den Flur. Hier bot sie ihm lächelnd den Mund zu einem flüchtigen Kuß, dann legte sie den Finger auf die Lippen und deutete nach unten. Von dort scholl eine Stimme herauf.

„Du Kamel, Du, wenn Du mir noch ein einziges Mal die Kisten so ungeschickt aufmachst, so giebt’s Arrest, verstanden? Zu nachmittag die zweite Ulanka, und die Favorite um zweieinhalb Uhr vor der ‚Krone‘!“

Der Doktor stieg langsam die Treppe hinunter. Just als er in den Flur trat, flog die Thür des Tollenschen Salons, der jetzt an den Herrn Lieutenant von Wegstedt vermiethet war, mit einem riesigen Krach zu, und ein hübscher Ulan in blauer Stallschürze suchte mit verlegenem Gesicht die Fragmente einer kleinen Gipsstatuette auf dem Boden zusammen und warf sie in die Kiste zurück, der er sie eben entnommen.

Ernst Schönberg hätte, wenn ihm überhaupt nach Lachen zu Muthe gewesen wäre, lächeln mögen über das Aussehen des Gescholtenen, so dumm betrachtete dieser eben den zierlich geformten Arm einer Ariadne nach Dannecker.

Er fühlte sich müde, müde von dem ewigen Kampf, den er mit sich selbst führte. Die Füße, die ihn zum Hause seiner Braut getragen an dem Tage nach dem Verlobungsabend, waren schwer wie Blei gewesen, und als er bei der Mutter sein Anliegen vorgebracht mit leiser Stimme, hatte er förmlich aufgeathmet, als ihm ein bedingungsloses Ja! nicht zu theil wurde. Käthe sei noch so jung, und es wäre besser, sie prüfe erst ihr Herz; er möge kommen, so oft er wolle, einem Besseren könne sie ja das Schicksal ihres Kindes nicht anvertrauen, wirklich nicht, und mit Freuden werde sie ja sagen, wenn zu Ende des Jahres noch beide Theile so dächten wie heute. Also bis dahin Geduld! So hatte sie gesprochen, und nachdem er ihr wunderlich gerührt die Hand dafür geküßt, war er gegangen, ohne Käthe gesehen zu haben.

Am Abend desselben Tages aber war Käthe zu seiner Mutter gekommen. Sie hatte ihn immer angesehen mit tränenschwerer Miene, bange Fragen in den großen Augen, und als er ihr beim Abschied draußen in dem Hausflur so ruhig und stillfreundlich, wie es die Natur seines Verhältnisses mit sich brachte, über das Haar strich und die kleine Hand schier väterlich drückte, da warf sie ungestüm die Arme um seinen Hals und rief außer sich, sie betrachte sich seit gestern als seine Braut und werde dies immer thun, und wenn Mama es tausendmal nicht wolle, und Mama habe kein Recht, ihr zu verbieten, ihn zu küssen, und nichts lasse sie sich befehlen, nun gerade nicht!

Er blieb stehen auf der Straße und nahm den Hut von der brennenden Stirn, es war ihm schwül zu Muthe.

„Eine unerträgliche Hitze,“ murmelte er und bog in eine schattige Nebengasse ein. Und während er hier, den Hut in der Hand, langsam weiter ging auf dem schmalen Bürgersteige, drängten sich die letzten Wochen vor seinem Geist vorüber.

Es hatte sich da im Hause der künftigen Schwiegermutter viel verändert. Unten wohnte der kleine blonde Lieutenant von Wegstedt; der Doktor war sich selbst nicht klar, ob ihn das ärgerte oder ihn gleichgültig ließ. Es war ein durchaus bescheidenes Wesen, der junge Offizier, gar nicht dazu angethan, nach irgend einer Richtung hin hervorzustechen. Er hatte nur einen Vorzug, allerdings einen gewaltigen heutzutage, er war der einzige Sohn reicher vornehmer Eltern und besaß als solcher die Anwartschaft auf eines der feudalsten und gesegnetsten Rittergüter in der Mark Brandenburg. Er war der Sohn von Frau von Tollens intimster Jugendfreundin, und diese hatte, als sie die Versetzung des Regiments nach Westenberg erfuhr, ihrer theuren Marie den „Einzigen“, ihren guten wilden Hans, gleichsam ans Herz gelegt.

So kam es, daß er da unten wohnte, und daß mit ihm in das kleine Haus ein Hauch von dem alten frischen, fröhlichen Soldatenleben gezogen war, „das ja“, wie Frau von Tollen lächelnd sagte, „eigentlich unser aller Lebensluft ist“.

„Tantchen Tollen“ nannte der junge Offizier die Majorin. – Tantchen Tollen! Es klang so treuherzig, liebenswürdig, sie mußten alle lachen, die alte Dame, die stille Helene, die heimgekommen war, um ihre kleine Ausstattung zu fertigen, weil sie endlich, endlich zur Königszulage herangekommen waren und heirathen konnten zum Herbst – und Käthe –.

In das magere Speisekämmerchen des Haushaltes flogen jetzt seltene Gäste, Spargel und Geflügel aller Art vom freiherrlichen Gutshof, und zuweilen saß der „gute wilde Hans“ mit den Damen am gedeckten Tisch unter der Linde, die Dogge und den gelben Teckel je auf einer Seite, und aß heimathlichen Schinken und Radieschen, die er eigenhändig aus den Gemüsebeeten der Majorin gezogen, und erzählte Schnurren, daß das glockenhelle Lachen Käthes dem eintretenden Doktor bis in den Hausflur entgegen scholl.

Sie lachte nie in seiner Gegenwart, wie sollte sie auch? Er war der ernsthafteste, der stillste, der nüchternste Bräutigam von der Welt, als sei ihm ein Schloß vor die Lippen gelegt in ihrer Gegenwart. Arme kleine Käthe! Sie hatte ihn so lieb, so leidenschaftlich lieb; – und er wollte sie glücklich machen, sicher, so glücklich, wie ein ehrlicher Wille und ein braves Herz es imstande sind. Und was in diesem Herzen noch immer nicht der Kleinen gehörte, das wollte er bekämpfen, immer wieder zurückreißen von dem verbotenen Wege, denn sie allein hatte Anspruch auf seine Dankbarkeit, auf seine Nachsicht, auf alles.

Er nickte flüchtig zu dem Fenster der Mutter hinüber. In seinem verdüsterten Gesicht blitzte bei dem Anblick des alten Frauenkopfes nicht ein freundlicher Zug auf. Sie erwartete es wohl auch nicht mehr; sie ließ einen Moment das Strickzeug ruhen und horchte nach den Schritten, die jetzt auf dem Flur erklangen. Als sie an ihrer Thür vorüber gingen nickte sie seufzend vor sich hin, als wollte sie sagen: ich weiß schon, und laut fügte sie hinzu: „Aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich!“

„Kommt Käthe?“ fragte sie eine Stunde später ihren Sohn, als sie bei Tisache saßen.

„Vielleicht,“ war die Antwort.

„Warum vielleicht?“

„Ich habe keine Ahnung, Mutter.“

„Ich kann es mir denken,“ sagte die Pastorin, „sie fährt wahrscheinlich spazieren mit dem Wildfang von Kommandeurs. Gott im Himmel, das ist die Richtige! Ueber acht Tage raucht Käthe womöglich auch Cigaretten, über vierzehn Tage kutschirt sie schon hoch vom Bock, und über drei Wochen ist sie verrückt geworden.“ –

„Laß sie doch, wenn’s ihr Spaß macht, Mutter!“

„Ei, sie könnte ja meinetwegen Kunstreiterin werden, wenn Du sie nicht zufällig heirathen wolltest“ – die alte Frau war in hellem Zorn.

„Wenn ich sie geheirathet habe, so –“ Er brach ab. Das Dienstmädchen trat ein mit einem Briefe; ein kleiner Junge habe ihn abgegeben und warte auf Antwort.

Er nahm das zierliche Billet und las. Dann legte er die Serviette auf den Tisch, stieg nach oben und schrieb Antwort.

Die Mutter ergriff das Blatt und las ebenfalls.

„Mein Schatz! Ich soll mit Lechbergs nach Buchenhagen fahren. Es ist so herrliches Wetter. Darf ich? Wenn Du es aber nicht willst, so sag’s. Dann komme ich. Tausend Küsse.
  Deine Käthe.“

Er trat wieder ein und sagte zu seiner Mutter. „Ich habe Käthe gebeten, daß sie komme. Willst Du nicht ein wenig Sandkuchen holen lassen? Sie ißt ihn so gern zum Kaffee.“

„Kann ich ja,“ erwiderte sie laut, „wird schwerlich ein Ersatz sein für die Spazierfahrt,“ setzte sie für sich hinzu. –

[272] Im Garten unter der Rüster, wo sie sich verlobt hatten, war der Kaffeetisch gedeckt. Hinter der Bank blühte ein Fliederstrauch, und blaue duftende Dolden berührten fast den braunen Kopf des Doktors, der hier saß und auf seine Braut wartete. Er las, und zuweilen sah er nach der Uhr. Es war nicht gerade die Ungeduld eines zärtlichen Bräutigams, die sich in seinem Gesicht abspiegelte, vielmehr hatte er sich so versenkt in seine Lektüre, daß er ganz überrascht war, wenn wieder eine Viertelstunde von der verabredeten Zeit verstrichen war.

Endlich kamen im Gange hinter ihm leichte Tritte daher, und aufspringend stand er vor Käthe, die eben um das Gesträuch bog.

„Willkommen,“ sagte er und reichte ihr die Hand, „setze Dich, Käthe! Ich denke, Mutter wird Dich bemerkt haben und bald hier sein.“

Das junge Gesicht unter dem breitrandigen Strohhut von leichtem schwarzen Geflecht ward roth. Es war allerdings ein Empfang, wie sie ihn nicht erwartet hatte. Sie hatte gemeint, er müsse ihr in überwallender Zärtlichkeit danken, weil sie, gehorsam seinem Wunsch, ihre Landpartie, dies doch gewiß ganz unschuldige Vergnügen, aufgegeben habe, man hat doch wahrhaftig wenig genug im Leben!

Nichts von alledem; es war ja selbstverständlich nach seiner Idee, daß sie kam. Es spiegelte sich aus jedem Zug seines regelmäßigen, schönen Gesichtes ab: ich kann das verlangen!

Sie setzte sich stumm in einen Gartenstuhl an die entgegengesetzte Ecke des Tisches, holte ihre Handarbeit aus dem seidenen Beutelchen und begann hastig, aber mit einer gewissen Ungeschicklichkeit zu häkeln. Es war sehr drollig. Er betrachtete sie ein Weilchen mit etwas milder Miene, wie wenn man ein Kind betrachtet. Dann nahm er das Buch und sagte. „Soll ich beginnen, Käthe? Ich kann vielleicht, bis Mutter kommt, noch das Kapitel aus der Geschichte der Mark fertig lesen, Käthe, das wir Sonntag begonnen haben. Wo blieben wir doch?“

„O lieber Himmel, ich habe keinen Schimmer mehr,“ antwortete sie, „mich interessirt überhaupt die ganze Geschichte nicht. Was geht es mich an, ob Dietrich von Quitzow vor fünfhundert Jahren einmal Westenberg belagerte und Mord und Brand hinter der alten Stadtmauer gehaust haben? Wir Tollens stammen aus Schlesien und außerdem, ich bin ein Kind meiner Zeit und will von der Gegenwart etwas wissen, und der Himmel ist so blau und die Sonne scheint so hell, ich mag das vermoderte Zeug nicht hören.“

„Aber Du interessirtest Dich doch lebhaft für diese Lektüre?“ fragte er und sah unsicher zu ihr hinüber, „ich dächte, wir hätten oft davon gesprochen, einmal die ‚Quitzows‘ zusammen zu lesen.“

„Wir? Ganz gewiß nicht!“ erklärte Käthe, „Du sprachst nie mit mir über diese Lektüre, das hast Du geträumt, oder Du bist – Du – es wird wohl Lore gewesen sein,“ setzte sie hinzu.

Er legte plötzlich das Buch hin und starrte zu der alten Mauer hinüber, aber er antwortete nicht. Er konnte dem jungen Mund da drüben nicht widersprechen, der unbarmherzig die Wahrheit sagte und ihn erschreckte bis ins tiefste Herz.

„Verzeih,“ brachte er endlich hervor, „ich will Dich nicht quälen. Wollen wir plaudern?“

„Ja,“ erwiderte sie kurz. Aber es ist leicht gesagt, „plaudern wir“, wenn das Herz voll Bitterkeit ist. Plaudern ist der Ausdruck für einen Austausch harmonisch gestimmter Gemüther; es gehört geistiges und körperliches Wohlbefinden, das Gefühl der Behaglichkeit dazu.

Von der Straße her scholl jetzt das Trappeln von Pferdehufen und das Rollen leichter Wagenräder. – Kommandeurs fuhren eben nach Buchenhagen. In Gedanken sah Käthe die blonde Gusti auf dem Kutscherbock in der knapp sitzenden Jacke von dunkelblauem Stoff, aus dessen Täschchen das winzige seidene Tuch schaute; sah die zierliche Krawattennadel in Form eines Hufeisens, den kecken Filzhut auf dem blonden, ganz jungensmäßig geschnittenen Haare, und die mit gelblichen Lederhandschuhen bekleideten Hände, die Leine und Peitsche regierten. Wundervoll, so zu sitzen und hinauszufliegen in den kühlen Waldesschatten, der dort unten weit in der Ferne sich ausbreitete!

„Es ist heiß hier,“ sagte sie.

„Ich finde es nicht,“ erwiderte er, „das Wasser giebt Kühlung. Aber weißt Du, was ich mir ausgedacht habe? Ich lasse dort weiter unten, dort an der freien Stelle, noch einen Platz herrichten, der soll der unsere werden, Käthe, dieser mag für Mutter bleiben; es ist gut, wenn jeder auf eigner Hoheit sitzt; es schließt darum nicht aus, daß wir zusammenkommen. Und im Herbst, Käthe, wollen wir da zusammen eine Linde hinpflanzen!“

„Ich finde eine Edeltanne schöner,“ widersprach sie.

„Aber man kann nicht darunter sitzen, und ich denke, Du magst Linden gern.“

„Nein!“ sagte sie laut und hart, „das ist ja Lores Lieblingsbaum.“

Er stand auf und ging seiner Mutter entgegen. „Du bleibst so lange.“

„Ich wollte nicht stören,“ erwiderte die alte Dame, welche behutsam die mit einem wollenen Kaffeewärmer bedeckte Kanne trug. „Solche, wie Ihr seid, haben sich immer viel zu erzählen – und sieh ’mal, Käthchen was ich gefunden habe.“ Sie hielt einen Brief in die Höhe. „Den solltest Du gewiß in den Kasten stecken, was?“

„Ja, an Lore,“ sprach das Mädchen erschreckt.

„Was heißt denn das? Lore ist doch nicht krank?“ fragte die Pastorin.

„Nein!“ antwortete Käthe.

„Ich bekam einen Schrecken, weil darauf steht: ‚Augustahospital‘.“

„Sie will ja Krankenpflegerin werden,“ erklärte die Schwester leicht.

"So? Ein schwerer Beruf! Gott segne die, die diese Mühsal auf sich nehmen und Energie genug fühlen, es durchzuführen,“ sprach die alte Frau. Es lag etwas wie Rührung in ihrer Stimme. Sie hatte eine Schwester gehabt, die Diakonissin gewesen und bei einer Thyhusepidemie ihrem schweren Beruf erlegen war.

Käthe goß den Kaffee ein. „Ach, ich könnte es nicht,“ sagte sie dabei aus vollstem Herzen.

Die alte Frau ging im Laufe des Nachmittags ab und zu, sie wunderte sich nicht über die Stille zwischen den jungen Leuten. Als die Dämmerung hereinbrach, bot der Doktor dem Mädchen den Arm und sie wanderten schweigend durch die Gartenwege. Das Haus vor ihnen schaute friedlich unter den hohen Rüstern hervor, Käthe kannte jedes Fenster darin, sie kannte den Wetterhahn auf dem Dach und den Hofhund vor der Thür seiner Hütte, und sie kannte die gelbe Henne, die just ihre Kücken zur Nachtruhe lockte. Dort das Waschhaus, in dem sie künftig die große Herbstwäsche dirigiren würde, den Schlüsselbund im Gürtel und die große Schürze vor. Sie blieb stehen wie erschreckt und zog den Arm aus dem des Mannes neben ihr.

Als sei ihr ein rosenfarbenes Glas vor den Augen fortgenommen, so öde und grau erschien ihr die heißbegehrte Seligkeit.

„Woran denkst Du?“ fragte er.

„An nichts,“ erwiderte sie klanglos. –

Gleich nach dem Abendessen wollte sie fort. „Ich muß mich noch entschuldigen bei Gusti, daß ich sie bei der Spazierfahrt im Stich ließ.“

„Das hat nicht Zeit bis morgen?“ fragte die Mutter, die ein altes Kästchen herzugeholt hatte, „Du wolltest ja immer die Brosche sehen, die die Königin Luise meiner Mutter geschenkt hat.“

„Verzeihen Sie, ich versprach es Gusti, als ich absagen ließ.“

„Schön, schön; gute Nacht also!“

Im Hausflur, wo Käthe Ernst sonst immer die Arme um den Hals geschlungen, legte sie heute nur flüchtig die Hand in seine Rechte, und als er sie festhielt, um ihr noch etwas Freundliches zu sagen, in dem Gefühl, daß er es etwas gar zu sehr an der nöthigen Liebenswürdigkeit der Braut, und einer so jungen und leidenschaftlichen gegenüber fehlen ließ, fand er dennoch kein Wort, und nur die alte Schwarzwälderuhr tickte an der Wand neben dem eingelegten Kleiderschrank, denn auch Käthe blieb stumm. Sie stand da mit gesenkten Augen und einem Zug von Trotz und Stolz um den Mund. Er zog ihre Hand an die Lippen, als wolle er sie um Verzeihung bitten. Sie lachte kurz auf. Sie dachte an den Kuß dort draußen unter den Rüstern im Herbstessturm, als er gemeint, sie sei Lore.

Sie wehrte auch heute seiner Begleitung bis zur Gartenthür und lief in der Dämmerung wie ein Wiesel über den Fahrdamm und in die weit geöffnete Pforte des ehemaligen Beckerschen Gartens.

(Fortsetzung folgt.)




[273]

Die Samoainseln.

Die Gruppe der Samoainseln, die schon wiederholt in der Geschichte Deutschlands eine wichtige Rolle gespielt und noch jüngst aus Anlaß des Zusammenstoßes der Deutschen mit den Eingeborenen bei Apia die Gemüther unseres Volkes lebhaft beschäftigt hat, ist in der Nacht vom 16. zum 17. März der Schauplatz einer Katastrophe geworden, wie sie gleich verheerend zum Glück noch selten über unsere junge deutsche Marine hereingebrochen ist. Der Archipel der Samoa- oder Schifferinseln, im Stillen Ocean zwischen dem 13. und 15. Grad südlicher Breite und zwischen dem 169. und 173. Grad westlicher Länge von Greenwich gelegen, ist nicht groß. Sein Gesammtareal mißt nur etwa 2800 Quadratkilometer, ist also ein wenig kleiner als das Großherzogthum Mecklenburg-Strelitz. Im ganzen giebt es in ihm 10 bewohnte Inseln, von denen folgende als die größten in Betracht kommen: Sawaii (rund 1700 qkm), Upolu (880 qkm) und Tutuila (140 qkm). Im Vergleich zu den großen Länderstrecken, welche die europäischen Staaten in Afrika und Neuguinea neuerdings unter sich getheilt haben, ist dieses Gebiet verschwindend klein, aber es ist besonders werthvoll, weil Plantageversuche, die man hier angestellt hat, gelungen sind. Das Klima ist verhältnißmäßig mild und der Boden zum Theil sehr fruchtbar. So sind die Samoainseln wohl geeignet, eine wichtige Station in der Südsee zu bilden.

Kreuzerkorvette „Olga.“


Unsere Leser haben nun wohl alle in den Zeitungen die erschütternden Nachrichten gelesen, die in den letzten Tagen des Monats März von dem fernen Inselreiche zu uns herüberdrangen, wie dort in dem Hafen von Apia zwei schöne stolze deutsche Kriegsschiffe, der Kreuzer „Adler“ und das Kanonenboot „Eber“, das Opfer eines fürchterlichen Orkans geworden sind und 92 wackere deutsche Seeleute, darunter 5 Offiziere, ihren Tod in den Fluthen gefunden haben. Schon vor der Katastrophe war in der Tagespresse auf den geringen Schutz hingewiesen worden, den der Hafen von Apia besonders gegen die aus Norden wehenden Winde gewähre, auf die Gefahren, welche die den Hafen umgebenden und zum Theil in ihn selbst hineinragenden Korallenriffe den Schiffen bereiten, und schrecklicher als man es geahnt, sollten sich diese Schilderungen bestätigen. Noch zittert das Bangen in uns nach, das unsere Herzen erfüllte, als wir lasen, wie der „Eber“, von seinen Ankern losgerissen, von den empörten Wogen auf ein Riff geschleudert wird, wie er wankt gleich einem zum Tode getroffenen Krieger, um dann jäh in der Tiefe zu versinken, alles Lebende mit sich begrabend; wie das andere Schiff, der Kreuzer „Adler“, von einer mächtigen Fluthwelle emporgehoben und umgekehrt, das Unterste zu oberst, aus das Riff geworfen wird, seine Bemannung ausschüttend in das tobende Element, dem so viele nicht mehr entrannen. Und noch wissen wir nicht, ob das dritte der deutschen Schiffe, die Korvette „Olga“, die ein glücklicher Zufall in verhältnißmäßig günstiger Lage auf den Strand trieb, erhalten bleiben wird oder nicht, ob nicht auch ihre Beschädigungen derart sind, daß sie aus der Reihe der kriegswichtigen Fahrzeuge gestrichen werden muß.

Kanonenboot „Eber.“   Kreuzer „Adler.“

Die beigegebenen Abbildungen zeigen die drei Schiffe, wie sie aussahen, ehe die Katastrophe über sie hereinbrach. Das Kanonenboot „Eber“ war ein noch ganz neues Schiff. Erst am 15. Februar 1887 hatte es den Stapel der kaiserlichen Werft zu Kiel verlassen; seine Baukosten beliefen sich auf 652 000 Mark. Es hatte etatsmäßig eine Besatzung von 87 Mann, 3 Geschütze, einen Raumgehalt von 570 Tonnen [274] und 700 Pferdekräfte. Es war schon seit vorigem Sommer in Apia und stand in den Verwicklungen mit den Eingeborenen zunächst allein. Erst im Dezember stießen „Adler“ und „Olga“ zu ihm. Auch der Kreuzer „Adler“ war ein verhältnißmäßig noch neues Schiff. Er war im November 1883 um den Preis von rund 880 000 Mark fertiggestellt worden. Seine Besatzung war etatsmäßig 128 Mann stark, er führte 4 Geschütze, hatte einen Raumgehalt von 884 Tonnen und 650 Pferdekräfte. Die Korvette „Olga“, deren Pathin die Königin von Württemberg ist, lief im Dezember 1880 vom Stapel. Sie hat 267 Mann Besatzung, 12 Geschütze, 2169 Tonnen Raumgehalt und 2100 Pferdekräfte, und die Kosten ihrer Herstellung beliefen sich auf 2 277 000 Mark. –

Warum nun, so wird wohl mancher sich angesichts der herben Verluste an Mannschaft und Schiffen fragen, warum das alles? Um was sind jene 92 Braven gestorben und jene Millionen im Meere versunken? War es ein Preis, des Opfers werth? Was hatten Deutschland und seine Schiffe mit jenen fernen Insulanern der Südsee zu schaffen?

Gewiß, die Gruppe der Samoainseln hat für Deutschland eine ganz besondere Bedeutung. Deutsche Arbeit war es, welche den Anbau und die Kultivirung des wilden Landes unternahm.

DIE BESITZVERHÄLTNISSE
auf
UPOLU

Diese Arbeit hat sich bis jetzt auf die fruchtbarste der Inseln, Upolu, gerichtet, dieselbe, auf der sich auch der samoanische Haupthafen Apia befindet, welcher die Unglücksstätte des 16. März bildete. Das beistehende Kärtchen giebt die Besitzverhältnisse der drei rivalisirenden Mächte Deutschland, England und Amerika auf Upolu wieder, und schon ein Blick auf dasselbe belehrt uns, wie verschwindend klein dem deutschen Besitz gegenüber der von England und den Vereinigten Staaten erscheint. Den 30 000 Hektaren deutschen Landes stehen etwa je 3000 englischen und amerikanischen Bodens gegenüber.

Die Godeffroys aus Hamburg, die ehemaligen „Könige der Südsee“, waren die Bahnbrecher der Kultur auf den Samoainseln, und schon im Jahre 1872 beschäftigte dieses Haus in Apia einen Direktor, einen Kassirer, elf Handlungsgehilfen, einen Hafenmeister, zwei Ingenieure, zehn Zimmerleute, zwei Böttcher, vier Plantagenverwalter, einen Arzt und einen Feldmesser. Später trat an die Stelle der Godeffroys „Die deutsche Handels- und Plantagegesellschaft der Südsee“, die heute über treffliche Pflanzungen verfügt, in denen namentlich Kokospalmen und Baumwolle gedeihen.

Von jeher hat man den Pflanzungen auf Samoa eine gewisse Zukunft prophezeit, denn nicht nur das Klima und der Boden, sondern auch die Eingeborenen waren für das Unternehmen geeignet. Der Samoaner ist von Natur durchaus friedlich, und die Unruhen, die auf dem Archipel seit Jahren herrschen und die Entwickelung der friedlichen Arbeit stören, sind auf Umtriebe der Weißen, namentlich der Amerikaner, zurückzuführen.

Schon um dieses deutschen Besitzes willen und um ihn gegen offene und geheime Feinde zu schützen, war die Anwesenheit einer achtunggebietenden deutschen Kriegsmacht erforderlich; wie sehr dies der Fall ist, mag man schon daraus entnehmen, daß die deutsche Regierung nach den Erklärungen des Staatssekretärs des Marineamtes vor dem deutschen Reichstage einen sofortigen Ersatz des samoanischen Geschwaders für dringend erachtet hat.

Man darf diesen Schutz des deutschen Besitzes eben nicht einseitig von dem Gesichtspunkt aus betrachten, als läge der Hauptwerth darin, daß gerade den paar zufälligen Plantagenbesitzern von Upolu ihr Eigenthum gewahrt bleibe. Gewiß ist auch das ein erstrebenswerthes Ziel, daß jene fruchtbaren, mit deutschem Kapital und deutscher Arbeitskraft urbar gemachten Ländereien dem deutschen Nationalvermögen nicht verloren gehen. Aber wenn unsere deutsche Flotte für dieses Ziel eintritt, so ist es für sie nicht bloß Selbstzweck, sondern noch viel mehr Mittel zu einem höheren Zweck.

Es gilt die Vertheidigung des Grundsatzes, daß deutsches Hab und Gut nirgends auf dem Erdball leichthin angetastet, daß der deutsche Name nirgends ungestraft beleidigt werden darf. Nur dann, wenn dieses höhere Ziel erreicht ist, wird es möglich sein, daß alle die tausend und aber tausend Kanäle, welche Deutschlands Handel über die Welt leiten, nicht verstopft, daß alle die tausend und aber tausend Fäden, welche deutscher Unternehmungsgeist allenthalben an den Gestaden der Meere angeknüpft hat, nicht zerrissen werden. Nur dann ist es möglich, daß das deutsche Absatzgebiet in unverringerter Ausdehnung erhalten, oder vielmehr, daß es entsprechend der unaufhaltsam anschwellenden Einwohnerzahl Deutschlands vorgeschoben und erweitert werde.

Die Millionen, welche unsere Kriegsschiffe gekostet haben, sie müssen aufs Spiel gesetzt werden, damit die Milliarden des deutschen Nationalvermögens Umsatz finden und Zinsen tragen können; die Tausende von wackeren Männern, welche auf unserer Flotte dienen, sie müssen in hohem Gemeinsinn ihr Leben in die Schanze schlagen, damit die Millionen in der Heimath arbeiten, erwerben, leben können.

Das ist der große volkswirtschaftliche Gedanke, in dessen Dienst die Zweiundneunzig vom 16. März ihr Leben gelassen, und diesen großen Gedanken müssen auch wir uns vor Augen halten, um nicht angesichts des bitter schmerzenden Verlustes in kleinmüthiges Zagen und Zweifeln zu verfallen. Sie starben einer großen Sache – Ehre ihrem Angedenken!




Die Wahl des Berufes.

Mit Sehnsucht harren alljährlich Tausende lebhafter Kinder dem bedeutungsvollen Tage entgegen, der das Kindesalter äußerlich abschließt und den Jüngling, die Jungfrau in neue Pflichten und neue Rechte eintreten läßt. Die Kindheit ist unwiederbringlich dahin, und oft erst nach Jahren, wenn der rauhe Ernst des Lebens die Seelen erschüttert hat, fällt der Blick zurück in das Paradies der Jugend und der Wunsch steigt aus dem Herzen: „wenn ich ein Kind noch wär’“ –. Dann ist vielfach eine Lebensbahn durchmessen, die auf Irrwege und an den Abgrund geführt hat und die haltlos war vom ersten Augenblicke an – haltlos darum, weil der rechte Führer fehlte, der den Unerfahrenen hinausgeleitete auf den nicht immer leichten Weg der Pflicht und ihm das Ende desselben zeigte: ein erstrebenswerthes, festes Ziel. Im Deutschen Reiche verlassen jährlich etwa 950 000 Kinder die Schule, und von diesen, die alle hoffnungsfreudig in das Leben treten, ziehen Tausende nichts als das Los verfehlter Existenzen – Tausende, die, in den rechten Beruf eingeführt, Tüchtiges zu leisten vermocht hätten. Es ist gewiß, daß nur ernstes Streben vom Erfolg gekrönt wird, ebenso gewiß ist aber auch, daß nur ein klar vorgestecktes Ziel aller Hindernisse ungeachtet zu erreichen ist. Von diesem Ziele, welches den herangewachsenen Knaben und Mädchen vorgesteckt wird, von der Wahl des Berufes, in dem sie Befriedigung und Auskommen finden sollen, hängt Wohl und Wehe ihres ganzen Lebens ab, und kein Fehlgriff rächt sich gleich bitter wie ein solcher am Scheidewege zwischen Schule und Beruf.

Aus diesem Grunde ist es erklärlich, wenn der Wahl des Berufes eine immer höhere Wichtigkeit beigemessen wird und einsichtige Männer und Frauen in Rede und Schrift darauf hinzuwirken suchen, daß die Entscheidung darüber nur nach den sorgfältigsten Erwägungen getroffen werde. Aber viele dieser Reden verhallen ungehört, und die meisten der auf die Berufswahl bezüglichen Schriften finden nicht die nöthige Zahl von Lesern. Was soll aus dem Knaben, dem Mädchen werden? ist die Frage, die um Ostern nach wie vor wiederkehrt, und diejenigen, welche über das Schicksal der ihnen Anvertrauten berathen, sind selbst der Berathung am meisten bedürftig. Das Nächstliegende wird von ihnen nicht selten übersehen, und dafür werden allerlei Pläne entworfen, die bei jeder ernsten Prüfung sofort gleich Kartenhäusern in sich zusammenfallen müssen. Was soll der Junge werden? Handwerker? Bewahre, dafür ist er „zu gut“, „zu begabt“! Kaufmann? Das geht nicht, der Kaufmannsberuf ist überfüllt. Gelehrter? Nein, auch das nicht, die Studien erfordern zu beträchtliche Mittel, und die Laufbahn des Juristen, des Mediziners etc. ist eine zu langsame. Seemann? Die Mutter würde sich zu Tode ängstigen. Schließlich langt man wieder beim Handwerker an und sträubt sich gegen den Gedanken aufs neue.

Hier nun ist ein ernstes Wort am Platze an alle, die vernünftigen Erwägungen zugänglich sind. Wir reden deshalb nicht zu denjenigen Männern und Frauen, welche von den Vorurtheilen ihres eigenen Standes so völlig in Bann geschlagen sind, daß sie auf den „Handwerker“ mit Nichtachtung herabsehen und die Erlernung eines gewerblichen Berufes [275] mit der Phrase „Unser Junge kann doch kein Handwerker werden!“ oder mit der anderen: „Unser Junge soll es besser haben als wir“ glauben weit von sich weisen zu müssen; unsere Darlegungen gelten denjenigen Einsichtigen, welchen die Zukunft nicht nur durch die Brille des Vorurtheils schätzenswerth erscheint.

Wir sehen von der Militär-, Seemanns- und Gelehrtenlaufbahn, vom Beamten- und Kaufmannsstande ab und wenden uns einzig denjenigen zahlreichen Berufsarten zu, welche man zusammenfassend als die gewerblichen bezeichnen kann und die seit langen Jahren in demselben Maße unterschätzt worden sind, wie die vorerwähnten Berufsarten entschieden überschätzt. Die Zeiten, in denen das Sprichwort: „Handwerk hat goldenen Boden“ in hohen Ehren stand, scheinen ja leider vorüber zu sein; aber der goldene Boden selbst ist unzweifelhaft geblieben, und tüchtige Handwerker können auch heute noch, ja gerade heute sich zu wirthschaftlichen und socialen Stellungen emporarbeiten, welche denen vieler Kaufleute und Beamten sowohl bezüglich des Ansehens wie namentlich hinsichtlich der Selbständigkeit entschieden vorzuziehen sind. Handwerk und Gewerbe ehren und nähren auch heute den Mann, und gerade die gewerblichen Berufe, die noch nicht an Ueberfüllung leiden, bieten ergiebige Arbeitsfelder für zielbewußtes Vorwärtsstreben und tüchtige Leistungen.

Vor allein ist kein Knabe „zu begabt“, um ein Handwerk zu erlernen. Je begabter er ist, um so Tüchtigeres wird er in seinem Fache leisten, um so eher das Ziel, welches ihm vorgesteckt ist, erreichen. Nicht darum also sollte es sich handeln, ob ein Knabe, dem durch Neigung oder Mittel ein anderer Beruf nicht vorgezeichnet erscheint, ein Gewerbe erlernen, sondern darum, welches er erwählen soll, und hier ist allen Berufenen und Wohlmeinenden Gelegenheit geboten, mit Rath und That zur Ermittelung des Richtigen Beistand zu leisten! – Wir konnten uns nicht die Aufgabe stellen, hier eine größere Auswahl der zahlreichen gewerblichen Berufsarten näher zu besprechen; aber einige der wichtigsten Gesichtspunkte, welche bei der Wahl von entscheidendem Einflüsse sein sollten, möchten wir kurz andeuten und dann auf einige wenige Schriften verweisen, welche für die weitere Orientirung mit Nutzen herangezogen werden können.

In erster Linie wichtig für die Wahl des Berufes ist die Neigung des Knaben selbst, die sich vielfach schon früh deutlich oder in kleinen charakteristischen Zügen verräth. „Was ein Häkchen werden will, krümmt sich bei Zeiten,“ sagt schon das Sprichwort, und die Jugendgeschichten vieler bedeutender Männer bestätigen die Wahrheit vollauf. Ist aber eine besondere Neigung nicht vorhanden, oder doch nicht erkennbar, so bietet wieder der jeweilige Grad von Intelligenz Fingerzeige und die Frage ist dann: was kann der Knabe werden? Der eine Beruf erfordert wesentlich höhere Intelligenz als der andere.

Von großer Wichtigkeit ist auch die Berücksichtigung der physischen Beanlagung des Lehrlings, da davon, ob diese genügend, die Erreichung des vorgesteckten Endzieles, wenn nicht der Meisterschaft und Selbständigkeit, so doch der ihm eine gesicherte Lebensstellung verschaffenden Leistungsfähigkeit in seinem Fache abhängt. Thöricht wäre es, einen schwächlichen Knaben dem Schmiede- oder Bauhandwerk zuzuführen oder einen Farbenblinden Maler und einen notorisch Kurzsichtigen Uhrmacher, Nadler oder Kupferstecher werden zu lassen. Auch die Vermögensverhältnisse sollten nicht übersehen werden, keineswegs dann, wenn Selbständigkeit in einem Berufe von vornherein angestrebt wird, da diese in vielen Fällen erhebliche Mittel zur Voraussetzung hat, wie z. B. bei Brauern, Kürschnern, Metallgießern, Wagenbauern, Gold- und Silberarbeitern etc., während bei anderen Berufen, wie dem der Bäcker, Drechsler, Färber, Sattler etc. auch ein kleineres Kapital für den Anfang genügt.

Nicht weniger als 107 verschiedene gewerbliche Berufsarten bespricht Bezirksschuldirektor Emst Rudolph in Chemnitz in seinem übersichtlich zusammengestellten Buche „Die Berufswahl unserer Söhne“ (Wittenberg, R. Herrosés Verlag), das schon darum der Beachtung dringend zu empfehlen ist und jedenfalls in vielen Fällen ein ausschlaggebender Berather werden kann.

Bei weitem schwieriger als bei den Söhnen gestaltet sich die Berufswahl bei den Töchtern, zumal auch hier ein Vorurtheil zu bekämpfen ist, das immer bedauerlicher um sich greift. Wer wagt heute noch das Wort dienen auszusprechen und von einer „gebildeten Tochter“ zu verlangen, sie solle in eine dienende Stellung eintreten! Daß das dienende Mädchen durch die häuslichen Arbeiten auf seine künftige Stellung als Hausfrau vorbereitet wird, findet meist nicht mehr die geringste Beachtung, und daß die Arbeiten im häuslichen Kreise dem Weibe am angemessensten sein sollten, ist lange ein überwundener Standpunkt!

Auch bei der Berufswahl der Mädchen sind natürlich Neigung, Bildung, körperliche Fähigkeit und etwaige pekuniäre Mittel Faktoren, mit denen gerechnet werden muß. Vor allem sollte aber der Grundsatz, daß das Mädchen naturgemäß in die Häuslichkeit gehört, wieder in erhöhtem Maße zur Geltung gelangen. Läßt sich indeß die Wahl eines Berufes, dessen Schwerpunkt außerhalb des Hauses liegt, aus maßgebenden Gründen nicht vermeiden, so wäge man auch hier die Vor- und Nachtheile der verschiedenen Berufsarten speciell für das in Frage stehende Mädchen genau ab, damit dieses in dem erkorenen Berufe dann wenigstens Erfolg habe und festen Fuß fasse. Auch hier wieder kann ein mit Sachkenntniß verfaßtes Werk: „Die Berufswahl unserer Töchter“ von A. v. Fragstein (Wittenberg, R. Herrosé) und der zweite Abschnitt: ,Was kann ein Mädchen werden?‘ in dem ebenso lehrreichen als anziehend geschriebenen Buche: „Aus der Töchterschule ins Leben“ von Amalie Baisch (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt) gute Dienste leisten.

Und noch ein viertes Büchlein, ein dünnes Heft, das für den geringen Preis von 20 Pfennigen aus dem Verlage der Gewerbeschau (Minden und Wolters) in Dresden zu beziehen ist: „Die Berathung bei der Wahl eines gewerblichen Berufes“ von Oberregierungsrath Dr. Roscher, möchten wir zum Schluß der Beachtung empfehlen. Es stellt die Bedingungen, welche bei der Wahl eines gewerblichen Berufes zu berücksichtigen sind, kurz, aber übersichtlich zusammen und bietet daneben eine sehr dankenswerthe Aufzählung alles dessen, woran bei Abfassung des Kontraktes über Eingehung und Fortführung des Lehrlingsverhältnisses zu denken ist, um jeden unliebsamen Streitfall für die Zukunft thunlichst auszuschließen. So ist in dem Vertrage festzusetzen: die Dauer der Probezeit, Dauer der Lehrzeit, Höhe und Zahlungszeit des Lehrgeldes, Beköstigung des Lehrlings, Verpflegung desselben in Erkrankungsfällen, tägliche Arbeitszeit, Beschaffung der Werkzeuge, Besuch von Fortbildungs- oder Fachschulen u. s. w., alles wichtig genug, um ebenso ernstlich erwogen zu werden wie die Wahl des Berufes selbst. –

„Vermauert ist den Sterblichen die Zukunft“, heißt es zwar in der „Braut von Messina“, aber sie kann erschlossen werden, wenn wir ein festes Ziel hineinverlegen und dieses mit Energie und Umsicht zu erreichen suchen. Dietrich Theden.




Blätter und Blüthen.

Denkwürdigkeiten des Herzogs Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha. Von diesem hervorragenden Werke, über dessen ersten Band wir in Nr. 17 des Jahrgangs 1888 unseres Blattes ausführlich berichtet haben, ist jetzt der zweite Band erschienen. Kein anderes ähnliches Werk kann sich mit diesem messen, was seine Bedeutung für die Zeitgeschichte betrifft; man wird die Akten derselben nach dem Erscheinen dieser Denkwürdigkeiten unzweifelhaft einer Durchsicht unterziehen müssen. Der Herzog von Gotha, der Schwager der Königin von England, der Neffe des Königs Leopold I. von Belgien, eng befreundet mit dem preußischen Hofe, namentlich dem Prinzen von Preußen, gern gesehen in Wien und auch in Paris, wo er oft mit dem Kaiser Napoleon vertrauliche Unterredungen hatte, stand wie kein anderer im Mittelpunkte der sich vorbereitenden und vollziehenden Zeitereignisse und sah sie unter einem ganz anderen Gesichtswinkel als die Publizisten und Geschichtschreiber, selbst solche, welche den Kabinetten nahe standen. Aus dem Gewirre der sich kreuzenden Interessen der Diplomatie, der herüber und hinüber gesponnenen Fäden erhebt sich indeß das Bild des Herzogs selbst als eines echten und unerschütterlichen Patrioten in trüber Zeit, der für die gute Sache des deutschen Vaterlandes unermüdlich thätig ist.

Der Zeitraum, den uns diese Denkwürdigkeiten schildern, ist für Deutschland selbst in der That einer der trostlosesten; es sind die fünfziger Jahre von den Dresdener Konferenzen 1850 bis zur Gründung des Nationalvereins 1859. In dies Jahrzehnt fallen die beiden großen Kriege, der Krieg gegen Rußland und der italienische Krieg. Beide warfen auf die inneren deutschen Zustände das gleiche unerfreuliche Licht. Längere Zeit hindurch schien Oesterreich geneigt, den Krieg gegen Rußland mitzuführen; am meisten schwankte Preußen. Das übrige Deutschland spielte kaum eine Rolle. Ueber die Verhandlungen, die damals schwebten, die Stimmungen der Fürsten und der Kabinette erhalten wir aus den Denkwürdigkeiten des Herzogs genaue und zum Theil bisher unbekannte Aufschlüsse; zahlreiche Briefe der maßgebenden Fürstlichkeiten ergänzen diese Berichte und die Charakterbilder, welche der Herzog selbst von ihnen entwirft.

In diesen Porträts besteht überhaupt ein nicht geringer Vorzug des Werkes. Wenn der Herzog in unbefangener Weise seine Erlebnisse und Eindrücke schildert, so treten die Gestalten der Machthaber mit jener Klarheit vor uns hin, wie sie der durchsichtige und überaus bezeichnende Stil der Darstellung, welcher dem Werk als schriftstellerischem Erzeugniß einen so hohen Rang anweist, mit sich bringt. Vor allem wird das Bild des Königs Friedrich Wilhelm IV. die lebhafteste Theilnahme erwecken. In allen seinen Briefen erkennt man das oft überströmende Gefühl des Monarchen; aber ihr Inhalt ist ein geistig springender und widerspruchsvoller. Das Ende will in der Regel nicht recht zum Anfang passen. Das herannahende Unheil geistiger Zerrüttung kündigt sich lebhaft an. Herzog Ernst erzählt uns, wie er schon bei dem Manöver bei Halle im September 1857 peinliche Scenen erlebt, die sich seinem Gedächtniß tief einprägten. Er ritt dem Könige zur Seite, als dieser das Gefechtsfeld verließ, um zu seiner Equipage zurückzukehren. Plötzlich winkte er den Herzog näher zu sich heran. „In demselben Moment,“ erzählt uns dieser, „gab er dem Pferde eine Wendung, als wolle er querfeldein reiten, während er dem Gefolge deutete, zurückzubleiben. Ich faßte die Zügel seines Pferdes, welche ihm entfallen waren, da wir an einem scharfen Abgrunde standen. Ich meinte, er wolle mir eine Mittheilung machen, und war gespannt, seine Befehle zu vernehmen; aber in demselben Augenblicke stürzten ihm die hellen Thränen aus den Augen; er schien sprechen zu wollen, rang nach Athem und ergriff mich am Arme. Endlich brachte er einige mir unvergeßliche Worte hervor: ‚Ich bin sehr krank, lieber Herzog, viel kränker als man glaubt. Sie werden mich wohl nie wiedersehen – vergessen Sie mich nicht!‘“

Nicht lange darauf mußte der Prinz von Preußen die Regentschaft übernehmen, welcher dem Herzog von Gotha persönlich nahe stand. Im Gegensatze zu den Briefen des Königs zeichneten sich diejenigen des Prinzen, des späteren Kaisers Wilhelm I., durch ihren festen und klaren Ton, durch ihre ruhige Sachlichkeit aus. Der Prinz war mit der innern und äußern Politik, welche das damals herrschende Regierungssystem befolgte, keineswegs einverstanden. Er trifft stets den Nagel auf den Kopf; in jeder Zeile spricht sich sein gediegener Charakter, seine staatsmännische Tüchtigkeit aus. Die zahlreichen Briefe des Prinzen Albert bilden eine willkommene Ergänzung der Martinschen Biographie; sie sind überaus scharf, oft sarkastisch geschrieben; der Prinz zeigt sich als ein [276] ausgezeichneter Kopf, und dies mußte ihm bei seiner Stellung den wichtigsten Einfluß auf die Geschicke Englands sichern. Mit seltenem Freimuth bespricht er die Weltlage, die europäischen Kabinette und ihre Leiter. Die mitgetheilten Briefe des Kaisers Napoleon sind zwar von Interesse, rücken aber den Charakter desselben nicht gerade in neue Beleuchtung. Wohl aber lassen die Aufzeichnungen des Herzogs über seine Begegnungen mit dem Kaiser manches interessante Licht auf diesen fallen. Ueber keinen öffentlichen Charakter gehen die Ansichten so auseinander wie über Napoleon III.; man besinnt sich, daß Fürst Bismarck im Reichstage gelegentlich keine allzuhohe Meinung von der geistigen Bedeutung des Kaisers aussprach. Der Herzog ist gänzlich anderer Ansicht: er erklärt sich gegen das so sehr verbreitete ungünstige Urtheil über dessen Begabung. „Nicht daß er suchte, über einen Gegenstand sofort prägnante Worte auszusprechen, aber jede interessante Seite desselben, die berührt wird, ruft auf seinem sonst unbeweglichen Gesicht eine Veränderung hervor, die das lebhafte Interesse zeigt, das in ihm rege wird. Er äußert sich dann natürlich und verständig, mitunter geistreich, immer ohne Phrase und Deklamation. Richtig dagegen ist es, daß er eine sehr langsame Art zu denken hat und daß man leicht den Eindruck empfing, als wüßte er nur schwer zu begreifen.“ Die Aufzeichnungen aus dem Jahre 1854 schließen mit den prophetischen Worten: „Diese Züge, die nur wesentlich günstige Seiten hervorheben, mögen dazu dienen, dem Ungünstigen, was die Geschichte liefert, eine Beschränkung zu geben. Jedenfalls ist der Kaiser ein außerordentlich organisirter Mensch. Das verkannt zu haben ist der Fehler und zugleich das Unglück seiner Gegner in Frankreich und auf den Thronen gewesen. Er hegt unzweifelhaft große Entwürfe; wenn er zunächst als ein Vertheidiger der europäischen Freiheit auftritt, so wird sie vielleicht noch einmal gegen ihn vertheidigt werden müssen. Für Deutschland kann er viel gefährlicher werden, als es sein Onkel war.“

In Deutschland selbst war der Herzog unermüdlich thätig, ein Gegengewicht gegen das damalige Regierungssystem herzustellen und für nationale Zwecke zu wirken. Der von ihm gestiftete litterarisch-politische Verein, für welchen besonders Gustav Freytag thätig war, der Vorgänger des Nationalvereins, legte in jener Epoche Zeugniß ab für solche hochherzige Bestrebungen. Niemand wird jetzt die Rolle, welche der Herzog in der europäischen Politik spielte, unterschätzen, aber unser deutsches Volk wird ihm von Herzen Dank dafür wissen, daß er in einer Zeit unseligster Zersplitterung den Glauben an die Zukunft des Vaterlandes nicht verloren und eine Fahne hochgehalten hat, um welche jetzt sich das geeinigte Deutschland sammelt.

Neues vom Kommabacillus. Professor Löwenthal, früher in Lausanne, jetzt in Paris thätig, stellte neuerdings bemerkenswerthe Versuche an, deren Ergebniß auch dem Laien einen Einblick in die Geheimnisse der Heilkunde gestattet und ihm namentlich zeigt, wie man nach Heilmitteln in wissenschaftlicher Weise sucht. Cholerabacillen, die längere Zeit in den üblichen Nährmitteln wie Fleischbrühe, Gelatine etc. gezüchtet werden, verlieren ihre Giftigkeit und werden den Versuchsthieren – weißen Mäusen – völlig unschädlich. Professor Löwenthal wollte nun diese unschädlichen Bacillen wieder schädlich machen, sie veranlassen, ihr specifisches Gift wieder zu erzeugen. Es gelang ihm dies auch, nachdem er sie in den „Löwenthalschen Brei“, ein Gemenge von Schweinefleisch, Schweinepankreas, Bohnenmehl, Pepton, Traubenzucker und Kochsalz, gebracht. Welcher Stoff in diesem Ragout hatte nun die Eigenschaft, die Bacillen so unvortheilhaft umzustimmen? Nach vielem Hin- und Herprobiren fand der Gelehrte es endlich heraus: der Pankreassaft, das heißt der Saft der Bauchspeicheldrüse, war der Stoff, ohne dessen Gegenwart der Cholerabacillus sein besonderes Gift nicht hervorbringen konnte. Nun forschte Professor Löwenthal nach einem Stoff, der diese Beihilfe des Pankreassaftes aufheben würde, und er fand ihn in dem 1886 vom Professor von Nencki hergestellten Salol, einer Verbindung von Salicyl- und Karbolsäure. Schon 1 Prozent Salol in dem Brei macht die Entwicklung der Cholerabacillen in dem oben angedeuteten schädlichen Sinne unmöglich. Da man nun Salol als Medizin innerlich einnehmen kann, so liegt die Vermuthung nahe, daß Salol ein Vorbeugemittel gegen die Cholera sein könnte. Professor Löwenthal selbst fügt aber mit Vorsicht hinzu, daß dieser im Laboratorium gemachte Versuch erst in wirklichen Cholerafällen auf seine Richtigkeit geprüft werden muß. Es sollen auch demnächst in Indien oder Tonkin damit Versuche gemacht werden.

Wie auch das Endergebniß ausfallen mag, aus diesen Mittheilungen ersehen wir, daß die moderne Wissenschaft rastlos im Dienste der Menschheit arbeitet, und dies bestärkt uns in der Hoffnung, daß mit der Zeit auf die Entdeckung der Verursacher der Seuchen deren gründliche Vernichtung folgend werde. *

Für Gärtner und kleine Landwirthe, namentlich in der Nähe größerer Städte, ist es bekanntlich von Wichtigkeit, ihre Bodenerzeugnisse möglichst früh im Jahre zur Reife und auf den Markt zu bringen, da die Erstlinge stets höher im Preise stehen als die späteren Früchte. Wem die Verhältnisse es gestatten, der kann durch Frühbeete zeitige Produkte erzielen, aber auch auf viel einfachere Weise ist für manche Gartengewächse dasselbe Ziel zu erreichen. Die vielbegehrten frühen Gurken z. B. erhält man, wenn man im April die Kerne in feuchte, wollene Lappen wickelt und an einem mäßig warmen Ort aufbewahrt. Die Keime entwickeln sich schon nach wenigen Tagen und werden dann in das freie Land auf Pferdedung gebracht, oder man pflanzt sie in Töpfe, welche ebenfalls in einem nicht zu warm gehaltenen Zimmer aufgestellt werden, damit die jungen Pflanzen beim Versetzen in die Beete nicht zu empfindlich sind. Letzteres geschieht, wenn sich das dritte Blatt zeigt, und zwar stülpt man die Töpfe mit der Erde um und bringt die Triebe mit dieser in den Boden. Bei eintretender Dunkelheit bedeckt man die jungen Pflanzen mit Blumentöpfen, die man des Morgens wieder entfernt, was so lange fortgesetzt werden muß, bis keine Nachtfröste mehr zu erwarten sind. Auf diese Weise erhält man sehr früh marktfähige Gurken.

Ganz in derselben Weise verfährt man mit den Bohnen, welche wie Gurken gegen Frost sehr empfindlich sind. Bei beiden Früchten wird die kleine Mühe durch reichlichen Ertrag belohnt.




Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

N. F. in W. Wir sind mit Gedichten so sehr überhäuft, daß wir Ihr gefälliges Anerbieten mit Dank ablehnen müssen.

J. D. in Böhmisch-Leipa. Sie fragen, bezugnehmend auf den Artikel von Maximilian Harden in Nr. 2 des laufenden Jahrgangs der „Gartenlaube“, ob sich das Fremdwort „Reklame“ nicht vollständig durch ein einheimisches Wort ersetzen lasse, und schlagen als solches „Anpreisung“ vor. Gewiß, in vielen Fällen wird Ihre Verdeutschung vollkommen zutreffend und ausreichend sein. Sie findet sich auch unter den Übersetzungen, die Otto Sarrazin in seinem Verdeutschungswörterbuch (2. Aufl. Berlin 1889) aufführt. Sarrazin nennt außerdem noch Marktschreierei, marktschreierische Anzeige, Anzeigeschwindel, lärmende Ankündigung, Lärm, Geschrei, Geräusch, Klapperei, das Klappern. Aber eine Seite des Begriffs der Reklame geben alle diese Verdeutschungen nicht wieder, diejenige, durch welche sie in der That zur „schwarzen Kunst des 19. Jahrhunderts“ wird. Die Reklame tritt nicht bloß auf in der pomphaften Toga oder in der grellen bunten Hanswurstjacke. Zuweilen schleicht sie auch geräuschlos auf den Socken, stiehlt sich auf allerlei Hinterthürchen und -treppchen bis zu Ohr und Auge. Statt aller theoretischen Auseinandersetzungen kann Ihnen vielleicht eine Anekdote dienen. Man erzählt, dem amerikanischen Dichter Longfellow habe einmal irgend ein amerikanischer Pillenfabrikant die hübsche Summe von 3000 Dollars angeboten, wenn er, Longfellow, in seinem nächsten Romane die Pillen des Auftraggebers nur mit einem Wort, ohne jeden lobenden Beisatz, sondern nur überhaupt erwähne. Angenommen, Longfellow wäre darauf eingegangen – gewiß that er das nicht – hätte er die Pillen seines Landsmanns „angepriesen“? Doch wohl nicht – und trotzdem hätte er „Reklame“ für sie gemacht.

T. E. in Quedlinburg. Nein, so kann man unmöglich sagen. Die einzig richtige Form ist: „Das geht Dich nichts an.“

H. in B. Krokodile werden in Afrika nicht nur gegessen, sondern mitunter auch gezüchtet. Stanley berichtet darüber vom Oberen Kongo Folgendes: „In Lukolela betrachtet man die Züchtung von Krokodilen als eine sehr gewinnbringende Beschäftigung. Entdecken die Eingeborenen ein Nest, so nehmen sie die Eier heraus und vergraben sie an einer ungestörten Stelle in den Sand; sobald die Jungen die Schale zerbrechen und auskriechen, werden sie in einen mit einem Netz überspannten Teich gesetzt, in welchem sie gefüttert werden, bis sie ein gewisses Gewicht und eine bestimmte Größe haben, um dann an Markttagen verkauft zu werden.“

M. St. in Darmstadt. Der Name „Alma“ ist allerdings wie noch mancher andere erst in neuerer Zeit eingebürgerte in den Kalender nicht aufgenommen. „Alma“ stammt aus dem Lateinischen, wo es die „Nährende“ bedeutet, und war ursprünglich ein Beiname der Ceres und anderer fruchtbarkeitspendender Erdgöttinnen.

H. W. in Kaichen. Sie wünschen zu wissen, wie es sich erklärt, „daß bei Sonnenaufgang die Kälte am intensivsten während des Tages auftritt“? Die Auskunft ist kurz die folgende: Wenn die Erde von der Sonne nicht beschienen wird, so strahlt sie Wärme aus. Der Höhepunkt der Ausstrahlung wird selbstverständlich beim Sonnenaufgang erreicht, denn von diesem Augenblicke an empfängt die Erde wieder Wärme. Dies trifft jedoch nur dann zu, wenn die atmosphärischen Ursachen, welche die Witterung bedingen, sich während der zu beobachtenden Zeit gleich bleiben. Aendert sich z. B. die Windrichtung und bringt die neue Luftströmung wärmere Massen mit sich, so kann es am Morgen wärmer sein als am Mittag oder Abend.


Inhalt: Nicht im Geleise. Roman von Ida Boy-Ed (Fortsetzung). S. 261. – Die Schwalben sind wieder da! Illustration. S. 261. – ’s Leibliedl. Illustration. S. 265. – Klaus Groth. Von Eugen Wolff. S. 267. Mit Porträt S. 268. – Friedrich von Bodenstedt. Von Rudolf v. Gottschall. Mit Porträt. S. 269. – Lore von Tollen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 270. – Die Samoainseln. S. 273. Mit Abbildungen S. 273 und S. 274. – Die Wahl des Berufes. Von Dietrich Theden. S. 274. – Blätter und Blüthen: Denkwürdigkeiten des Herzogs Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha. S. 275. – Neues vom Kommabacillus. S. 276. – Für Gärtner und kleine Landwirthe. S. 276. – Kleiner Briefkasten. S. 276.


Neue Humboldt-Ausgabe.

Allen Freunden einer klassischen naturwissenschaftlichen Lektüre empfehlen wir die soeben erscheinende neue billige und schön ausgestattete Lieferungsausgabe von

Alexander von Humboldt’s Gesammelten Werken.

Die neue Ausgabe erscheint vollständig in 30 wöchentlichen Lieferungen zum Preise von 50 Pfennig, welche zusammen 6 stattliche Bände bilden. Jede Ueberschreitung der Lieferungszahl ist unbedingt ausgeschlossen.

Inhalt: Kosmos. – Reise nach den Aequinoctialgegenden. – Neu-Spanien. – Ansichten der Natur. – Cnba. – Lebensbeschreibung.

„Alexander von Humboldts Werke bilden ein litterarisches Besitzthum von unvergänglichem Werth. – Trotz ihrer hohen wissenschaftlichen Bedeutung können sie mit Nutzen und Genuß auch von gebildeten Laien gelesen werden. – Sie sollten in keiner deutschen Hausbibliothek fehlen.“

— Die meisten Buchhandlungen nehmen Subskriptionen entgegen. —

Stuttgart, im April 1889. J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.