Die Gartenlaube (1888)/Heft 47
Eine Hofgeschichte aus dem 17. Jahrhundert von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)
Niedergedrückt, zerschlagen und zerstoßen kehrten die Bewohnerinnen der Dornburg heim. Die Damen des Gefolges sahen gänzlich deformirt aus, da sie aus den Kutschen und von den Pferden kletterten. Die Herzoginnen verschwanden lautlos in ihren Gemächern, ohne nur einen Augenblick die tief hereingezogenen Reisemützen zu lüften.
Käthchen verschmähte das Warmbier, das ihre Mutter heute wie bei allen Heimsuchungen kochte. Sie schloß sich ein und weinte die ganze Nacht in ihr großes, blaugewürfeltes Kopfkissen. Müde und verdrießlich begab sich am andern Morgen die Familie an ihr gewohntes Tagewerk. Der Schloßhauptmann wollte auf die Felder reiten, seine Ehegesponsin den Wirthschaftshof besichtigen, Käthe, wieder im kartekenen Röcklein, ihre Tauben füttern.
Da standen auf einmal alle drei wie vom Donner gerührt.
Wer kam dort durch das Thor herein geschritten, feierlich geschmückt mit scharlachenem Wams und einem Hut, von dem die Feder holzgerade emporstieg wie der Pappelbaum drüben neben seinem schönen Herrenhaus? Junker Utz! Zwei Diener folgten ihm, in die Farben seines Wappens gekleidet.
„Gott steh’ uns bei!“ brummte der Schloßhauptmann für sich. „Der sieht aus wie ein Freier. Zu ungelegenerer Zeit konnte er sich auch nicht aufmachen.“
Frau von Tautenburg faßte sich rasch, ging dem Gast freundlich entgegen und nöthigte ihn zum Eintritt, während ein verstohlener Wink Käthchen gebot, ihr zu folgen.
Dieser fiel das Herz bis in die Fußspitze. Sie hörte noch, wie Utz sagte: „Ich habe, seit Ihr verreist seid, nicht geschlafen, und mir schmeckt kein Bissen und kein Trunk. Solcherlei Sorgen, wie mich quälen, will ich mir lieber vom Halse schaffen.“
Und er verschwand mit ihren Eltern geruhig und selbstbewußt in der Hauspforte.
Käthchen sah sich um gleich einem gescheuchten Wild. Flugs wischte sie dem Taubenschlag zu, das dünne Leiterlein hinauf, schlüpfte durch die Thür und saß zwischen ihren Täubchen. Neugierig guckten die brütenden Täubinnen aus ihren Nestern auf sie herab, und die Tauber kamen heran, ob Krumen oder Körner für sie gestreut würden.
Wie gut hatten es die Thierlein! Die Schopftaube, die sich so zärtlich mit dem schlanken Feldflüchter schnäbelte, durfte sich paaren, wie es ihr Herzchen befahl. Niemand zwang sie, mit dem dicken Kropftauber dort ein Nest zu bauen. Er war zwar ein gutes Thier, der Kropftauber. Er fraß ihr aus der Hand und hatte auch ein schneeweißes Weibchen gefunden mit Lätschchen an den Füßen. –
„Käthe, wo bist Du?“ tönte die Stimme ihrer
[790] Mutter aus dem Haus, dann im Flur, dann immer näher und näher – jetzt auf dem Hof.
Es half nichts; sie mußte antworten.
„Komme sogleich herunter!“ rief die Mutter mit gedämpfter Stimme hinauf. „Junker Utz freit um Dich.“
Da hub ein großes Jammern im Taubenschlag an. „Ach, Frau Mutter, laßt mich in Ruhe; ich mag ihn nicht.“
Die Mütter versuchte nachzuklettern; aber die dünnen Sprossen knickten ein; sie mußte davon abstehen. „Wirst Du herunter steigen?“ stieß sie leise hervor.
„Nein!“ kam es dennoch kläglich herab.
Ein paar Mägde liefen herzu. Da ging die Mutter mit feuerrothem Gesicht wieder in das Haus. Bald darauf sah Käthe von ihrem Versteck aus den Junker Utz aus der Thür treten.
Ihr Vater begleitete ihn und sprach eifrig auf ihn ein. „Lieber Nachbar und Freund! Bei der Bitte um Bedenkzeit muß es sein Verbleiben haben. Dieselbe ist einer fürsichtigen Jungfrau wohlanständig und noch von keinem Freier bemäkelt worden.“
Der Utz ging mit einem betroffenen Gesicht davon.
Unter Käthchens Versteck fanden sich die Eltern zusammen.
Die Mutter hob die Hände auf. „O weh über diesen Taubenschlag! Das ist nun die fürtreffliche Einrichtung, auf die mein Eheherr so große Stücke hält.“
Der Schloßhauptmann aber sagte gemächlich: „Nu, nu!“ hielt seinem Töchterlein die Leiter und führte dann beide in die Wohnstube. Dort begann alsbald Frau von Tautenburg den dräuenden Spruch aufzusagen: „Wer verachtet der Mutter zu gehorchen, dem werden die Raben die Augen am Bache aushacken und es werden ihn die jungen Adler fressen.“
Glücklicherweise raschelten horchende Mägde vor dem Schlüsselloch herum. Die Hausfrau mußte ihre Strafreden nach dem Vorplatz verlegen. Der Schloßhauptmann aber nahm seine Tochter zu sich auf die Fensterbank, wo all das Unheil angerichtet worden war, das die Familie jetzt aufessen mußte.
„Nun sag’ einmal, Kleine,“ fragte er vertraulich, „was ist Dir denn eigentlich nicht recht an dem Utz?“
Käthchen nestelte sich in ihres Vaters Arm wie ein halbflügger Vogel unter den Flügel des Alten und vertraute ihm klagend und schluchzend an: „Ach, Herr Vater, ich liebe ihn nicht.“
„Was verstehst Du kleiner Nestling davon?“ flüsterte er.
„O, das verstehe ich wohl,“ versicherte Käthchen; „wenn Junker Utz mich ansieht, geht es mir nicht durch und durch, und wenn er seufzt, denke ich: gewiß ist ihm der Leibgurt zu eng. Ach, und ich weist doch, wie hübsch es aussehen kann, wenn ein edler Herr schmachtende Augen macht, und wie wohl und weh uns ums Herz wird, wenn er zitternde Seufzer ausstößt.“ Sie schluchzte laut auf.
Aber der Herr Vater sah nicht eine von schwerem Herzeleid heimgesuchte Jungfrau in ihr; er streichelte sie wie ein auf die Nase gefallenes Kind.
„Solche überirdische Fürstellungen hat nur der Umgang mit Deinem leichtfertigen Vetter in Dir erweckt, welcher ein ausgefeimter Frauenknecht ist. Siehst Du denn nicht ein, daß ein treues Herz mehr Werth ist als heuchlerische Augenverdrehungen, daß ein wahres Wort eine honigsüße galante Redensart aufwiegt?“
Sie schwieg ein Weilchen. Dann brach sie in Thränen aus. „O je! Daß aber auch gar nichts im Leben sich recht zusammenfindet! Warum hat der Vetter Achatius nicht das treue Herz vom Junker Utz? Warum sieht der Junker Utz nicht aus wie der Vetter Achatius? Ach, der alte Schloßvogt da drüben unter der Burglinde hat recht: Es ist eine unvollkommene Welt hienieden.“
Und sie vergoß heiße Thränen über die mißrathene Schöpfung.
Ihr Väter zog sich seufzend auf die Ofenbank zurück und zerbrach sich den Kopf darüber, wie das Werk zu verbessern: der Utz dem Achatius ähnlich zu machen sei.
Auch im Residenzhaus hob das Leben wieder seinen, gewohnten Gang an, als sei niemals die Herrschaft fröhlich zu einer Lustreise, ja zu einer Brautfahrt ausgezogen und in großer Verdrießlichkeit heimgekehrt.
Dorothea rang mit der ganzen Kraft ihrer stolzen Seele gegen den Eindruck, den die erlebte Enttäuschung auf sie und andere hervorgebracht hatte. Wie sonst saß sie an ihrem Putztisch, das Spieglein in der Hand. Aber das Leibgeräth des Frauenzimmers warf ein Bild zurück, das ihr nicht gefiel. Sie suchte dem Mangel abzuhelfen, indem sie immer neuen Schmuck anlegte. Doch kein Juwel gab ihr das frühere heiter strahlende Aussehen zurück, keine Spitze vermochte die heiße Scharlachgluth zu dämpfen, in welche das feine Korallenroth ihrer Wangen hinüberspielte, kein noch so sorgfältig gebranntes Lockengekräusel die kleine trotzige Falte zu verhüllt, die zwischen ihren Augenbrauen lag.
Die Kammermägdlein thaten stumm und betreten ihren Dienst. Als dem unerfahrenen Aennchen einmal das Wort „Weimar“ entfuhr, sah Bärbchen die Gefährten an, als habe sie den Gottseibeiuns genannt.
Auch die holde Musika pflegte Dorothea wie früher. Sie ließ sich vom kurfürstlichen Kapellmeister in Torgau das Präambulum kommen über Melodien des neuen Singspiels „Daphne“. Doch einmal sprang unter ihren unstäten Fingern eine Saite, ein andermal zerknickten die Rabenkiele, mit denen diese gerissen wurden.
Dann wieder befahl sie ihre Damen unter das Dächlein, um aus der „Astrea“ vorlesen zu lassen. Und der Schäferroman hatte ebenfalls seine Zauberkraft verloren. Er entrückte sie nicht mehr nach den blumigen Auen am Ufer der Loire; ihre Augen gingen nicht mehr in die Weite hinaus. Sie blieben drunten an den Weinbergen haften, wo emsig geschneitelt wurde, auf daß alle Sonnenstrahlen den Trauben zu gute kamen. In den grüngoldigen Duft, der auf den Rebstöcken lag, versank ihr Blick, und ohne daß sie es wußte, flüsterten ihre Lippen den Wahlspruch des Unansehnlichen: „Es soll noch werden!“
Die Hofjungfrau hielt im Lesen inne und sah die junge Herzogin fragend an, ob sie etwas zu befehlen habe.
Dorothea erhob sich. „Es ist schwül heute,“ sprach sie. „Wir wollen ein andermal fortfahren.“
An ihrer Mutter fand sie keinen tröstlichen Beistand. Die Frau Witwe verbarg ihre Bekümmerniß nicht, daß sie zu vielen unerfüllten Wünschen abermals einen solchen gelegt hatte.
Dorothea versuchte anfänglich, Gespräche in alter Weise anzuknüpfen. Aber Anna Maria blieb ernst und einsilbig, wenn ihre Tochter von den Fackeltänzen bei fürstlichen Hochzeiten erzählte, die sie früher mitgemacht hatte.
Dagegen hielt sie mit dem Hofprediger, der zur Tafel geladen worden war, eine lange Zwiesprache über „die Hochzeit des Lammes“, in welche recht bald einzugehen sie ersehnte.
Dorothea meinte, solche Reden nicht anhören zu können. Sollte denn wirklich das ganze Leben abgeschlossen sein? Kam denn nicht wenigstens ein Trompeter, der Nachrichten von der früher so schreibseligen Freundin Eleonore brachte? Jetzt hat dieselbe nur einmal ein Brieflein gesendet; in demselben aber Albrechts Namen sorgfältig vermieden.
Sie trat an das Fenster, von dem aus man den Weg nach Weimar überschauen konnte. Aber kein schwarz-gelber Dienstrock leuchtete in der sinkenden Sonne; nur Landleute zogen mit Karren und Herden heimwärts. Dorotheas Augen folgten der Landstraße durch die Kornfelder, die schon silbern schimmerten, wenn der Wind über sie hinstrich. Wo der Weg am Horizont den Augen entschwand, glühte das Abendroth, als sei da der Eingang zu Licht und Leben.
Ein leiser Seufzer weckte sie aus ihrer Versunkenheit. Als sie sich zurück wandte, begegnete sie den müden Augen ihrer Mutter, in deren Blick geschrieben stand: Du hoffst umsonst.
Und ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen. Es wurde allgemach so still in den fürstlichen Gemächern, daß an einem heißen Tag die rundliche Hofmeisterin einnickte und im Traume von Achatius von Krombsdorff sprach, ein glückliches Ereigniß für die regungslos auf ihren Schemeln sitzenden Hofjungfrauen, die einmal kichern konnten. –
Das waren trübselige Tage alleweile auf dem grauen Bergschloß. Einförmig ging die Zeit hin und geräuschlos wie der Schatten auf der Sonnenuhr am Thurm.
Was war aus den Hoffnungen und Wünschen geworden, welche in den beiden jungen Mädchenherzen gekeimt hatten, als die grünen Halme auf der Saalwiese sproßten? Sie waren geknickt, wie drunten im Wiesengrund das hohe saftige Gras, die von Schmetterlingen umflatterten rothen Kleehäupterchen, die Sankt Johannissterne vor der Sense zu Boden sanken.
Die Heuernte war da. Würziger Geruch erfüllte das Thal. Bis zur Dornburg und dem neuen Herrenhaus des Stadtgutes herauf tönte der fröhliche Sang der Mähder, welche die langen Schwaden wendeten und endlich zu hohen Schobern thürmten.
[791] Dann zogen eines Tages die Rindergespanne, welche das Heu einfahren sollten, aus dem Gut hinab. Junker Utz ritt auf seinem Rothschimmel nach, um darüber zu wachen, daß die Fuder richtig geladen würden, damit sie weder in der holperigen Schlucht das Gleichgewicht verloren, noch unter dem Hofthor hängen blieben.
Vor den kleinen Fenstern des Hauses, welches der Schloßhauptmann bewohnte, tummelte er sein Rothroß weidlich. Aber kein blondes Mägdlein ließ sich hinter den runden Scheiben blicken; nur die würdige Hausfrau nickte mit ihrer emporgesträubten Haubenkrausel heraus. Es stand klärlich auf seinem Gesicht zu lesen, daß es einen jungen Mann wenig beglückt, wenn er fürnehmlich alten würdigen Matronen wohlgefällt.
Nachdenklich ritt er weiter. Es war doch wunderbar, wie lange Bedenkzeit die Jungfrau Käthe brauchte, ehe sie ihre Einwilligung dazu gab, sich von ihm heirathen zu lassen. Nirgend vermochte er ein Hinderniß für die Verlobung zu erspähen. Selbst der Alamodegeck aus Weimar, der ihr für einen Abend den Sinn verstört hatte, war nicht mehr im Wege. Er heirathete nun die rundliche Hofmeisterin. Sie selbst hatte es ihm vertraut, als sie gestern bei ihm anfragte, ob er fürkommenden Falles ihr seinen Vorrath an feinen Flaumfedern verkaufen könne. Er hatte es abgelehnt; denn er brauchte sie selbst fürkommenden Falles. Aber aus Freude über die gute Nachricht verehrte er ihr einen großen Büschel Pfauenfedern zu einem prängischen Wedel.
Unter solchen Gedanken erreichte er seine Wiese. Mitten in dem balsamischen Futter standen die mächtigen Stiere. Er ließ die Stränge von ihren Jochen lösen, eingedenk des Bibelwortes: Du sollst dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verbinden; und er lachte nachsichtig, als die übermüthigen Mägde einen mürrischen Knecht in einen Heuhaufen warfen. Fröhliche Leute arbeiten besser denn verdrießliche. Mit Zufriedenheit sah er dann zu, wie die starken Thiere an den rothgestickten Stirnbändern sonder Beschwerde die hoch aufgebauschten Fuder den steilen Weg hinauf zogen.
Als tüchtiger Landwirth hielt er seine Gedanken auf die Arbeit gerichtet, solange er zu schaffen hatte. Nun, da er sich zum Heimweg wandte, kehrten sie zu seinem beabsichtigten Ehewerk zurück. Er wollte doch einmal den Schloßhauptmann in die Seite stoßen, auf daß die Sache fürbaß ging.
Drüben auf der herrschaftlichen Wiese trabte sein zukünftiger Schwiegervater auf seinem Ramskopf zwischen den Arbeitern herum. Da konnte er ihn gleich abfangen und ihm seine Meinung sagen über diese unnöthige Zimperlichkeit.
An dem Eingang zur Schlucht wartete er auf den Schloßhauptmann. Dann begannen Ramskopf und Rothschimmel neben einander empor zu klimmen.
„Sagt einmal, wie steht es mit meiner zukünftigen Braut?“ fragte Utz ohne Umschweife.
Der Schloßhauptmann drehte verlegen an einem Knopf seines Wamses. „Ich vertraue, daß noch alles gut wird,“, antwortete er. „Habt nur Geduld! Sie ist noch gar jung.“
„Ach jung,“ Murrte Utz. „Meine Mutter war sechzehn Jahre alt, da sie sich verehelichte. Das ist kein Grund, mich hinzuhalten. Ihr und Eure Frau Eheliebste kennt mich genugsam; und das ist die Hauptsache.“
Der Schloßhauptmann drehte unruhig weiter. „Das ist nicht die Hauptsache,“ antwortete er. „Ich habe in Weimar vernommen, daß das Frauenzimmer insgesammt itzunder verlangt, daß das Mannsvolk ihm zu Gefallen lebt und ihm aufwartet. Die jungen Herren von Adel bringen dort jeden Tag einen neuen Brauch auf. Heute beugen sie ein Knie mit Knixen, morgen küssen sie zur Huldigung die eigenen Fingerspitzen.“
Utz blickte dem Schloßhauptmann mit ehrlichem Zorn in das Gesicht „Dazu bringt mich kein Mensch, daß ich einen Knix mache wie das Frauenzimmer. Und kein vernünftiger Mann verlobt sich, um die eignen Fingerspitzen zu küssen.“
Der Schloßhauptmann drehte verzweifelt. „Wer weiß auch, wie es ausfiele! Aber gut wäre es, wenn Ihr noch ein wenig abgehobelt würdet. Mich dünkt das Beste, Ihr thut eine zeitlang Dienst bei der Frau Herzogin. Sie bedaf mitunter noch eines Hofjunkers und wird gern auf den Vorschlag eingehen, da Ihr so nahe zur Hand wohnt.“
„Bleibt mir mit dem Hofdienst vom Halse!“ knarbelte Utz trotzig in seinen weißblonden Schnurrbart. „Wozu bin ich ein Freiherr?“
Jetzt riß dem Schloßhauptmann der Knopf und der Geduldsfaden zugleich. „Adelig sind Eure Ahnen geworden und Freiherren, dieweil sie durch ihre edle Art über den ungehobelten Pöbel empor ragten und sich frei machten von dörflicher Tölpelei. Wollt Ihr unverehelicht bleiben, so möget Ihr auf Eurer Scholle sitzen, wie der Puhahn in seinem Felsenloch. Gedenkt Ihr aber ein Weib heimzuführen, müßt Ihr lernen, das Amt eines Familienhauptes würdig fürzustellen. Sonst wird eine adelige Jungfrau Euch nicht das Kränzlein reichen, sondern einen Korb aufhucken.“
Utz sah erschrocken den Schloßhauptmann an.
Gott sei Dank! Obgleich er mit seiner Rede daher polterte, zeigten sich doch die Schelmenfältchen an dem einen Auge.
Da seufzte Utz tief auf und sagte gutmüthig: „Nun, wenn Ihr meint, daß es mir in den heiligen Ehestand hilft, so ich eine Hofschranze werde, will ich’s versuchen.“
Der Schloßhauptmann nickte versöhnt. „So ist’s recht. Ein kluger Mann findet sich in alles. Gleich Morgen werdet Ihr zum erstem Male Dienst thun können. Die Gräfinnen von Rudolstadt und Mansfeld wollen unsrer Frau Herzogin die Visite gehen, und Hochdieselbe wird eine Mahlzeit anpräsentiren.“
Dann schüttelten sie sich die Hände, und jeder ritt in sein Hofthor ein.
Nun war noch ein zweiter Sorgenstein auf das Herz des Junkers gewälzt. Die Ellbogen, müde von der Arbeit, auf den Tisch gestemmt, das Haupt in die Hände gestützt, saß er vor seinem Mittagstisch, und es schmeckte ihm abermals kein Bissen. Bald darauf wurde er zur Aufwartung befohlen. Da schlief er wiederum die ganze Nacht nicht. „Warum bleiben nur die Frau Gräfin von Rudolstadt und die Mansfeldin nicht daheim sitzen? Warum wählen sie auf ihrem Zuge gerade die Dornburg zu einem Ruhestündlein?“ brummte er, während er das Staatskleid anlegte.
Trotz alles freiherrlichen Bewußtseins war seine Beklommenheit so groß, daß er bei dem Gang über den Schloßhof das Rosmärinstäudlein für Käthchen hielt und demselben eine umständliche Reverenz machte. Seine ersten kräftigen Schritte in dem Flur des Residenzhauses hallten laut in dem weiten Raume wieder. Unwillkürlich hob er sich auf die Zehen. Der Gruß, den er mit voller Stimme dem Schloßhauptmann beim Eintritt in das Vorzimmer bot, erstarb ihm auf der Zunge. Es herrschte eine so feierliche Stille daselbst. Was war das nur?
Er kannte alle, die an den Wänden aufgereiht standen, sogar recht genau. Hatte die Hofmeisterin ihm nicht ihr Herzensgeheimniß anvertraut? War die Hofjungfrau nicht mit ihm nach Haus geritten? Und wie oft hatte er ein Auge zugedrückt, wenn die Pagen in seinen Kirschen hausten gleich den Spatzen!
Aber – vollbrachten es die stillen abgeschlossenen Räume, der feine Duft des Räucherwerkes, die feierliche Tracht? Sie stellten sich ihm ganz anders dar als sonst: stolz, unnahbar. Selbst der gemächliche Schloßhauptmann erschien ihm in dem goldgestickten Galakleid fremd.
Dieser merkte seinem Schützling die Beklommenheit an und suchte ihm Muth einzureden. „Ihr habt ein neues schönes Wams und einen alten guten Namen; damit kommt Ihr bei jedem vernünftigen Hof fort. Und wenn Ihr nicht wißt, was Ihr sagen sollt, macht nur eine tiefe Reverenz; die gilt allda oft mehr, als die klügste Antwort.“
„Ist das der Hofdienst,“ flüsterte Utz nach einem Weilchen hinter der vorgehaltenen Hand dem Schloßhauptmann zu, „daß man dasteht wie die Störche, wenn sie Rath halten?“
„Einen Storch,“ war die ebenso leise gegebene Antwort, „braucht Ihr Euch nicht gerade zum Muster bei Eurer Aufwartung zu nehmen.“
Aber im nächsten Augenblick wurde dem Junker klar, was Hofdienst war. Trompeten schmetterten auf dem Burgweg, die Pagen flogen, der Schloßhauptmann zog ihn an den Aermelpuffen sich nach.
Und nun mußte sein sonst so gerader Rücken sich unaufhörlich bücken. Bald schritt er mit dem Schloßhauptmann, vorwärts bald rückwärts. An seinen Augen ging die fremde Herrschaft vorüber! Er wußte nicht, wie ihm geschehen war. Desto besser wußte es die rundliche Hofmeisterin. Sie steckte sich verstohlen die Falten des Rockes fest, welche der Junker ihr abgetreten hatte. Der Gedanke an den Pfauenfederbüschel war ihm ein Trost. Und wie gut war es, daß er die Pagen hatte in den Kirschen sitzen lassen, denn als er mit ausgespreizten Ellbogen
[792][793] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [794] ein venetianisches Glas umstieß, brachten diese die Scherben unbemerkt bei Seite.
Es wurde ihm siedend heiß als Vorleger heim Mahl. Was thut ein Mann mit geronnener Milch über Reiskörnlein? Wie traktirt man die riesige Papierkrause am gebratenen Hahn?
Als er nach gethanem Dienst mit dem väterlichen Freund an der Tafel der Hofleute Platz nahm, war ihm der Hunger gänzlich vergangen.
„So ist’s recht,“ raunte der Schloßhauptmann ihm zu, „ein Hofmann wird von der Gnade satt.“
Und welche wunderliche Gespräche wurden geführt! Zuerst begriff er alles ganz gut. Die Damen unterhielten sich von der Sorge, daß der Kaiser alle eingezogenen geistlichen Güter wieder zurück verlangen wolle. Es war glaublich, daß die Frau Gräfin von Rudolstadt nicht schlafen konnte wegen des gefährdeten Klostergutes Paulinzelle, und die Herzöge von Altenburg sich wehrten, Heusdorf und Bürgel wieder herzugeben. Ein wie kitzliger Punkt der Geldkasten überall und allezeit gewesen ist, wußte Utz. Auch was sie von der wieder näher drohenden Kriegsgefahr flüsterten, verstand er. Er hatte schon längst der Sache nicht mehr getraut. Der Platz in seinem Keller war ausersehen, wohin er seine besten Schätze vergraben wollte, und ein Augsburger Feuerrohr von ihm gekauft worden, um Haus und Herd vertheidigen zu können gegen eindringendes Kriegsvolk.
Aber was die Schäferei damit zu schaffen haben sollte, blieb ihm unbegreiflich. Die gräflichen Gnaden erklärten ganz ernsthaft, daß man nicht darauf rechnen dürfe, Schäfer zu finden in diesen schlimmen Zeiten. Nun ja! Es war ja ein verantwortlicher Dienst; die Thiere durften nicht an Stellen geführt werden, wo giftiges Gekräut wuchs. Jedoch für so hochwichtige Leute erachtete er die Schäfer nicht und hatte nie Mangel an solchen verspürt.
Und nun vollends die Schäferinnen!
Welch eine verwahrloste Wirtschaft war das, wo die Weiber hüteten! Denen gehorchte ja nimmer ein richtiger Schäferhund. Er vertraute nur seine Gänse einer Hirtin an. Und welches Wesen machten sie davon! Die Gräfin von Mansfeld meinte seufzend, daß der Schäferbund auf der langen Bank einschlafen müsse, darauf der Rath vom Schöppenstuhl in Jena ihn geschoben habe.
Dummes Zeug! Der Schöppenstuhl verurtheilte Hexen und Mörder; aber er schor sich nicht um widerspenstige Schäfer. Denen ließ ein adeliger Herr selbst die gebührenden Hiebe aufzählen.
Aber war der Herzogin Dorothea ein Knöchlein von den gebratenen Finken in den Hals gekommen, daß sie so purpurroth wurde? Und niemand klopfte ihr hilfreich in den Rücken. Die Damen schienen es in der Ordnung zu finden, daß das fürstliche Fräulein erstickte.
Dann brach der Besuch wieder auf. Abermals bückte sich Junker Utz; wieder zog er vorwärts und rückwärts, und wieder vollbrachte er eine That: er stieß mit seiner Hutfeder die langnasige Hofjungfrau in das Auge, daß sie an dem Tag nichts mehr zu erschauen vermochte.
Gottlob! Da ritten die gräflichen Gnaden ab. Das letzte wappengestickte Fähnlein, das die Pferde der Damen auf den Schweifen trugen, verschwand in der Thorwölbung.
Nachträglich schob Utz vorsichtig mit den Fußspitzen die langen Röcke aus dem Wege, drückte die Ellbogen an und hielt den Hut gesenkt. Der Schloßhauptmann nickte wohlgefällig. Das Unheil, das Utz über andere gebracht, hatte ihm genützt.
„Wollt Ihr bei meiner Hausehre einen Trunk auf den Schrecken thun?“ fragte er gemächlich, da sie entlassen waren.
„Ich danke Euch,“ erwiderte Utz. „Aber mein erstes Werk ist, daß ich den engen Halskragen ablege. Er hätte mich traun erwürgen können.“ Er drückte dem Schloßhauptmann kräftig die Hand und begab sich spornstreichs heim.
Pfiffig vor sich hinblinzelnd, ging auch Herr von Tautenburg nach Haus.
Die Abendtafel war gedeckt. In der Küche sotten Karauschen aus der Saale. Frau und Tochter trugen Essigflasche und Pfefferbüchse herbei und zeigten Gesichter, die mit dem Inhalt der Gefäße wetteiferten. Aber er war zu vergnügt, um sich von der schlechten Laune anstecken zu lassen. Er schob Käthchen den Canarizucker in den Mund, den er wie üblich von der fürstlichen Tafel mitgebracht hatte, hüllte sich in sein Hauskleid und nahm Platz vor seinen tellerrunden Karauschen.
„Nun,“ plauderte er, das Fleisch von den Gräten lösend, „der Utz macht sich ganz gut als Hofjunker. Er hat auch der Hofjungfrau, die so hübsch mit ihm auf seinem Rothschimmel saß, gehörig in die Augen gestochen.“ Er lachte wie ein Kobold.
Seiner Ehehälfte fiel die Gabel aus der Hand. Er wollte sie über seinen Witz aufklären – da zog Käthe seinen Blick auf sich.
Mit offenstehendem Mündchen und großen Augen starrte sie ihn schier entsetzt an. Botz Wetter!
Mit verzweifelt pfiffigem Augenblinzeln fuhr er fort: „Schade, Käthe, daß Du ihn mit einem Korbe heimschicken willst. Das schöne Sprüchlein über seiner Hauspforte, das den Ein- und Ausgehenden Glück und auch den Vorüberwandelnden Gottes Geleit wünscht, wird sich anders an Dir erfüllen, als wir verhofften. Die Hofjungfrau wird die Einziehende, Du wirst die Vorüberwandelnde sein und zusehen, wie sie den Kühen die Glocken anhängt, die Utz Deinetwegen angeschafft hat. Sie wird ihr scharfkantiges Näschen, an welchem bishero jeglicher Ehering vorüber gezogen ist, hoch in die Luft recken, wenn sie aus dem Thurm des stattlichen Schlößchens auf Dich herabsieht.“
Er hatte den Fisch aufgespeist, unbekümmert darum, daß Frau und Kind keinen Bissen hinab gebracht hatten. Nun sprach er geruhig sein Tischgebet und schickte sein Töchterlein mit einer Gutenacht zu Bett. Der Herr Vater hatte gut reden, Käthe konnte nicht schlafen. Unaufhörlich warf sie den blonden Kopf auf dem Kissen hin und her. Zu schwere Gedanken mußte er verarbeiten. O, wie wahr sprach der alte Schloßvogt: es gab keine Gerechtigkeit in der Welt. Sie sollte den Vetter Achatius nicht heirathen, und die Hofjungfrau sollte den Junker Utz bekommen, das schöne Gut, den Hühnerhof und die weißen Kühe mit den Glocken. Die Hoffärtige sollte ernten, was für sie gesät war. Ach, wer doch sterben könnte und in einem weißen Kleide daliegen! Dann käme der Junker Utz herüber mit seiner verwelkten Braut und bereute, daß er die Hochmüthige genommen, welche die kleine Käthe immer über die Achsel ansah. Aber nun half es nichts, Käthe war mausetodt. Und bei dieser friedlichen Vorstellung sanken ihr die Augen zu, und sie schlief wie ein Rätzchen in die schwüle Nacht hinein.
Tiefes Dünkel umhüllte die Dornburg. Nur die Fenster der Herzogin Dorothea schauten hell gleich schlaflosen Augen in die Nacht hinaus. Nicht schnell genug hatten die Kammermägde den duftigen Talatharock, die Schmuckzierden abstreifen können. Dann winkte Dorothea ihnen ungeduldig Entlassung. Mit vor Eile zitternden Fingern rafften sie die schweren Bettvorhänge, zündeten die Kerzen auf dem Betpult an und verschwanden.
Dorothea beachtete die Vorbereitungen zu ihrer Abendandacht gar nicht. Ihre Gedanken jagten durch ihr glühendes Haupt, während sie sonder Ruhe und Rast im Gemach auf und ab wandelte.
Welch ein qualvoller Tag lag hinter ihr!
Nicht die Gleichgültigkeit, mit welcher die Gäste das Schäferspiel hatten fallen lassen wie einen Mummenschanz, war es gewesen, die ihr Herz zuschnürte. Das bedauernde Achselzucken der Gräfinnen über den zu so ungelegener Zeit gestifteten Bund, die bedeutungsvollen Blicke ihrer Mutter sah sie kaum. Was wog das alles gegen die furchtbare Erkenntniß, die sich ihr aufdrängte, nicht mehr zurückweisen ließ: für werthlosen Flitter, für Lustgebilde, inhaltlos wie bunte Seifenblasen, hatte sie ihr Lebensglück aufs Spiel gesetzt und – verloren!
Ach, schon lange dämmerte diese Einsicht in ihr. Schon damals, als des Kaisers Eingriff in die Rechte der evangelischen Fürsten wie ein drohender Windstoß vor dem Gewitter in die trügerische Ruhe hinein fuhr, dann bei der Nachricht, daß Gott im hohen Norden der lutherischen Sache einen Kämpen erweckt habe und leises Waffenklirren an den verwandten Höfen der Botschaft antwortete.
Die sächsischen Fürsten standen auf der Wacht gegen den Papst und den hispanisch gesinnten Kaiser. Sie waren bereit, zu sterben für Glauben und Vaterland.
So hatte er gesprochen im welschen Garten; sie meinte die ernste Stimme noch zu hören. Jetzt verstand sie seine Strenge. Aber eine heiße Gluth stieg in ihre Wangen bei dem Gedanken, daß die kurz geschürzte, bebänderte Schäferin, die damals den Antheil an der Sorge der harten Zeit so leichtfertig abwies – sie gewesen war, die deutsche Fürstin.
Und was half es ihr, daß sie sich sagte, auch sie habe für eine gute Sache gekämpft, für einen würdigeren Platz der Frau?
[795] Wer hätte Zeit gehabt, über einen solchen zu disputiren, während gestritten werden mußte um Glaubensfreiheit und das tägliche Brot?
Hatte eine der Gräfinnen danach Verlangen getragen? Sie bangten nur um das Leben, ihrer Herren, wenn die Kriegsfurie wieder entfesselt würde; sie flehten einzig zu Gott um Erhaltung der Stätte, an der sie walteten: des häuslichen Herdes.
Auf welchen Irrweg war sie von dem französischen Roman geführt worden! Verwöhnt und verzärtelt hatte sie die Sprache desselben, daß ein aufrichtiges Wort sie herrisch dünkte; eines Serviteurs hatte sie begehrt, und ihr schwankender Sinn bedurfte doch eines Führers; Mißverständnisse hatte sie ersehnt, von süßen Schmerzen geträumt – o, nun war der wirkliche Schmerz über sie gekommen; und sie erkannte, daß er kein süßer Gespiel, sondern ein harter Zuchtmeister ist.
Ihre Thränen begannen zu fließen. Könnte sie doch ihr Leben für immer schließen wie dort das unselige Buch. Waren doch beide gleich verfehlt. Aber ihre Tage spannen sich weiter – trostlos, öde. Wie leere Blätter lagen sie vor ihr, seitdem der Name, den das Schicksal gnädig für sie hineingezeichnet hatte, von ihrer frevelnden Hand ausgelöscht worden war.
Was vermochte die Stelle auszufüllen?
Die Pflicht!
Wer rief das Wort? Sie kannte den Klang der Stimme. So feierlich hatte sie es schon einmal sprechen hören. Ach, es war ihr treues Gedächtniß gewesen.
Aus weiter Ferne, für immer von ihr getrennt, lenkte der hochgesinnte Mann ihren strauchelnden Fuß auf den rechten Weg, wie er sie damals aus dem Irrgarten geführt hatte.
Die Pflicht!
An diesem Wort, das sie einst hart und ungalant genannt hatte, richtete sie sich allmählich auf. Ja, es war in ihre Hand gegeben, ihr altes Leben zu beschließen und ein neues zu beginnen. Sie wollte ihre Pflicht thun als deutsche Fürstin, wie er sie that als deutscher Fürst.
Die Kerzen auf dem Betpult waren tief herabgebrannt. Bevor Dorothea sie löschte, zog sie aus den Andachtsbüchern das kleine Gebetbuch ihrer Großmutter hervor. Ihr Blick fiel auf eine Stelle, welche die nun längst in Staub zerfallene Hand vorgestrichen hatte:
„Herr, ich bin der Thon, Du bist der Töpfer und Werkmeister.“
Draußen graute der Tag. Der frische Thüringer Wind, der so kühl und spröde an den Felsen und Wäldern wird, daran er sich unablässig stößt, rauschte wie munterer Morgengruß um den alten Opferbaum des Donnergottes; zwischen den Erlen am Saalufer verschwanden die Nebelgestalten mit ihren weißen dünnen Armen und winkenden Schleiern; in Dorndorf bespannten die Bauern den schweren deutschen Pflug, und drüben am Wiesenrain kroch der alte Hirt aus seiner Bucht und zog den Schafpelz über die Ohren.
Als der erste Sonnenstrahl die Zinnen der Dornburg traf, da wirbelte ein zartes Rauchwölkchen aus dem Schornstein über der Wohnung des fürstlichen Fräuleins. Rosig angehaucht, kräuselte es sich und verwehte in der klaren Lust wie ein flüchtiger Traum.
An einem der nächsten Tage ließ Frau von Tautenburg Seife kochen. Unter ihrer Aufsicht mußte Grethe im Wirthschafshof Asche in den Laugenkorb schaufeln.
Da schimmerte es bunt aus dem grauen Häuflein. Sie zog ein Endchen verkohlte gewirkte Borte heraus, daran noch Goldleder hing und das winzige Zipfelchen eines rosenfarbigen Herzens, das nun in Wahrheit verbrannt war.
Frau von Tautenburg kannte die Haderlümpchen. Gewichtig nickte ihr würdiges Haupt. Schade, daß die Läuterungen, welche die Menschen erfahren, so selten zu einer Zeit kommen, da sie dieselben zu nützen vermögen auf ihrer Erdenwallfahrt.
Dann schritt sie in die Stube, hielt ihrem Töchterlein den Fund vor die Augen und sprach: „Solches ist das Ende der Alamodenarrethei. Das kommt davon, wenn den Kindern nicht zu rechter Zeit durch den Sinn gefahren wird.“
Käthe hörte es kaum. Sie stand am Fenster und lugte verstohlen nach dem Weg hinab, der ins Saalthal führte.
Dort ritt Junker Utz auf seinem Rothschimmel heran. Wie das Wunderthier Chamäleon schaute sie zugleich nach zwei verschiedenen Seiten: nach dem Reiter und dem Fenster der Hofjungfrau. Da steckte die Zudringliche wahrhaftig die lange Nase heraus.
Na warte! Käthchen zeigte sich auch.
Der Utz traute erst seinen Augen nicht. Dann zog er den Hut tief vor ihr. Sie mußte gestehen: er hatte es ganz hübsch gelernt bei seiner Aufwartung als Hofjunker.
Und sie machte ein steifes Knixchen.
Da schaute er sich noch einmal um nach ihr.
Wie er roth geworden war! Es fiel ihm nicht ein, nach der dürren Hopfenstange hinzublicken. Die mochte nur das Fenster zuschieben. Sie aber wollte wacker aufpassen, daß der Hofjungfrau der Spaß verdorben würde.
Da hatte sie viel zu thun; denn nach dem Heu wurde der weißgelbe Roggen, dann der rostfarbige Weizen eingeheimst. Und der Utz ließ es sich nicht nehmen, jeglichen Wagen auf dem jährlichen Weg unter der Dornburg hinweg zu geleiten.
Und über der neuen Sorge um den Junker Utz entschwand der alte Gram um den Vetter Achatius. Wer hätte das gedächt?
Ja, wer hätte das gedacht?
Diese Frage legte sich jeglicher Bewohner der Dornburg jetzt vor: die Frau Witwe, so oft ihr schönes Kind an dem Klavicymbel sich niederließ und die zarten Finger so ernste Accorde suchten; das Frauenzimmer, wenn es mit dem fürstlichen Fräulein unter dem Dächlein saß, statt des Schäferromans die Noth-, Bitt- und Betthränen Flehender las und an Stelle seidener Hirtentäschlein warme Schauben und Röcke für arme Unterthanen nähte; und die Kammermägdlein, als der welsche Händler, der heuer wie in jedem Herbst die Dornburg heimsuchte, seinen goldgewässerten Moor und die Silberspitzen wieder einpacken mußte, weil das fürstliche Fräulein kein Begehren danach trug.
Wer hätte das gedacht? fragte auch er verdrießlich. Die Kammermägdlein suchten ihn damit zu trösten, daß er zum Schloßhauptmann berufen sei.
Er aber klagte: „O, Frau von Tautenburg! Nix Brokat, immer Kartek.“
Mißmuthig wanderte er hinüber nach der Wohnung des Schloßhauptmanns und begann seinen ehrenwerthen Kartek auszubreiten. Aber diesmal rief Herr von Tautenburg: „Nix Kartek! Legt uns Damast und Goldposament vor!“
Der geschmeidige Welsche fand sich sofort darein. Vor den Augen der beiden Tautenburgerinnen entfalteten sich Prachtstoffe, in allen Farben des Regenbogens.
Der Schloßhauptmann lugte aus seinen zugekniffenen Augen Käthen an. Die schaute unverwandt auf einen karmoisinfarbigen Damast. Schüchtern hielt sie eine breite Silberborte darauf. Es war ein herrlicher Anblick.
Ihr Vater raunte ihr zu: „Dieses Zeug würde ich Dir zum Brautkleid erwählt haben, wenn Du den Junker Utz genommen hättest. Nunmehro wird sich die Hofjungfrau dasselbe kaufen.“
Käthe sah ihn hinterhältig an und ging zur Thür hinaus.
Er blinzelte pfiffig hinter ihr her, legte nun Beschlag auf den Stoff, kaufte auch noch seinem Ehegemahl einen sammetnen Rock und einen Schürzeneinsatz von Atlas, der mit goldenen Wespen gestickt war.
Der Händler zog vergnügt ab. „Nur Sammet und Seide! Nix Kartek!“ –
Käthchen war indessen nachdenklich zum Burgthor hinaus in den schattigen Hain gewandelt. Ruhe und Kühle umfing sie. Das Schreien und Peitschenknallen der Erntearbeiter tönte nur gedämpft herein in die Laubhallen, einzelne Sonnenlichter zitterten auf den schon falb sich färbenden Waldgräsern.
In ihre Gedanken verstrickt, schritt sie weiter und stand plötzlich unter der alten Ulme, die nun schon seit Jahrhunderten auf die Freude und das Leid der Menschenkinder herabschaute. Sie setzte sich zwischen die starken bemoosten Wurzeln und stützte ihr gedankenschweres Köpfchen sorgenvoll in die Hand!
Unter allen Leiden der Jugend ist eines der schwersten, daß sie so oft nicht weiß, was sie will. Also erging es auch Käthchen. Sie wollte ja das schöne Gut, den Hühnerhof und das karmoisine Kleid.
Und auch den Utz?
Das war es ja eben, was sie nicht wußte. Nur eines stand fest: Wenn die Hofjungfrau ihn heirathete, so war dieses das größte Unglück, welches auf Erden geschehen konnte.
Aus dem Leben einer schwergeprüften Frau. Nach ihren Briefen und Aufzeichnungen.[1]
Von Schmidt-Weißenfels.
Im Frühjahr 1791 schickte der König Georg III. von England seinen dritten Sohn, William Heinrich, Herzog von Clarence, nach seinem hannöverschen Kurfürstenthum, damit er dort, fern
den Verführungen des Londoner Hoflebens, eine Zeit lang seinen Aufenthalt nehme. Die besorgte königliche Mutter, eine geborene Prinzessin von Mecklenburg, hatte ihrem jungen, heißblütigen
Liebling dafür einen besonderen Hofstaat theils hannöverscher, theils englischer Edelleute ausgewählt, deren Ergebenheit wie Trefflichkeit des Charakters sie geeignet erscheinen ließen, die Umgebung und Gesellschaft des Königssohnes zu bilden. Unter diesen Ehrenkavalieren genoß namentlich der Generallieutenant von Linsingen, Chef eines hannöverschen Infanterieregiments, ein oft und gern gesehener Gast des englischen Hofes, das Vertrauen der Königin, während der junge Lord Dutton durch innige Freundschaft mit Prinz William verbunden war. Der eine sollte bei diesem die Stellung eines Mentors, der andere die eines treuen Kameraden einnehmen.
In der Stadt Hannover wurde der Sohn des Landesherrn mit allen ihm gebührenden Ehren von seiten des dort lebenden Adels aufgenommen. Feste über Feste fanden ihm zu Ehren statt und auf denselben wurde ihm alles vorgestellt, was zur vornehmen Welt des Landes gehörte. Vom Anfang seines Aufenthaltes in Hannover gewann sich auch der Herzog durch die Schönheit seiner Jünglingserscheinung, durch seine feurige Lebenslust und die edle Art seines Benehmens die lebhafte Verehrung dieser Gesellschaft und zumal der jungen Damen, die in der gefühlvollen Ueberschwänglichkeit ihrer Zeit für ihn schwärmten.
General von Linsingen hatte seine sehr zahlreiche Familie, die sonst in Lüneburg wohnte, während seines außerordentlichen Dienstes beim Prinzen William nach Hannover kommen lassen. Gleich nach seiner Ankunft ließ sich der letztere bei derselben einführen, zumal er von seiten seiner Mutter einen Brief und eine brilliantengeschmückte Tuchnadel an die zweite Tochter des Hauses zu übergeben hatte.
Die Ursache dieser Auszeichnung für Fräulein Karoline von Linsingen war zunächst in der Freundschaft der Königin für den Vater zu suchen und dann auch in der Theilnahme, die sie seit Jahren gerade für diese seine Tochter hegte, ohne sie jemals gesehen zu haben. Aber er hatte ihr früher von ihren kindlichen Reizen und auffälligen Eigenthümlichkeiten ihres Wesens, poetischen Zügen und seltsam frühreifen Kundgebungen ihres Geistes so viel erzählt, daß die Königin begierig wurde, dies Mädchen zu sehen und sie ihm das Versprechen abnahm, es einmal mit nach London zu bringen. Sie drang auch beharrlich auf Erfüllung desselben, seitdem Karoline älter geworden war; doch der General wurde davon immer wieder durch seine Frau und deren Mutter abgehalten, welche nicht nur die Erziehung Karolinens im adeligen Fräuleinstift erst vollendet wissen wollten, sondern deren Natur auch für zu zart hielten, um den Aufregungen eines großen Hoflebens ohne Besorgniß ausgesetzt werden zu können. Die Königin mußte sich daher mit den dankerfüllten Briefen begnügen, welche das Stiftsfräulein an sie richtete, und sie sandte ihm darauf ihre geistreichen und gütigen Antworten, in denen sie dasselbe immer wieder in ihre unmittelbare Nähe zu locken versuchte.
Karoline war inzwischen zweiundzwanzig Jahre alt geworden und hatte das Stift verlassen. Sie war hochgewachsen und von eigenartiger Schönheit, elfenartig zart im Gliederbau und doch eine imponirende Erscheinung von weichen Linien und schwellenden Formen. Aschblondes Haar umrahmte ihr feines, weißes und matt leuchtendes Gesicht, dessen rosig angehauchte Wangen noch die sammetweiche Rundung der Kindheit bewahrt hatten, Stirn, Nase und der Mund mit begehrenden, frischrothen Lippen waren von vollendeter Regelmäßigkeit; aus ihren blauen, mit langen Wimpern besetzten Augen blitzte es wie elektrisches Funkenspiel.
Prinz William stand ihr bei der ersten Begegnung im Hause und in Gegenwart ihres Vaters und ihrer Geschwister mit einer Befangenheit gegenüber, die sonst ganz und gar nicht in seinem Wesen lag. Er war blöde wie ein ungeschickter junger Mann, der zum ersten Mal einer eleganten Dame in einem Salon allein gegenüber steht, er, der doch gewohnt war, sich in großen Hofgesellschaften zu bewegen. Wenn er seine hellen seelenvollen Augen auf sie richtete, fühlte er sich wie unter einem magischen Bann, und während sie, ihre erste Schüchternheit vor dem hohen Herrn bemeisternd, in anmuthvoller Bescheidenheit zu ihm sprach, brachte er kaum einen zusammenhängenden Satz hervor. Er war froh, als er wieder von ihr sich entfernen konnte und mit seinem Freunde Dutton das Haus des Generals verließ.
Draußen faßte ihn freilich ein heftiger Aerger, eine so klägliche Rolle vor einem Mädchen gespielt zu haben, dem er doch, als es vor ihm erschien, die lebhafteste Huldigung hätte erweisen mögen. Und schließlich beschäftigte ihn kein Gedanke mehr, als sobald wie möglich eine Gelegenheit zu suchen, mit Karoline wieder zusammenzutreffen und nachzuholen, was er bei ihr versäumt.
Es wurde ihm leicht, solche Gelegenheit zu finden. Auf den Festen, die ihm gegeben wurden, sah er auch Karoline wieder. Er sprach mit ihr, befangen aber doch in der selbstbewußter Art, die ihm seine Stellung gestattete. Er tanzte mit ihr, wie entrückt dem Boden, berauscht von dem Duft, den er um sie spürte. Er hätte, als der Tanz zu Ende, ihre kleine, seine Hand nicht loslassen mögen und er hielt sie in der That, als sei er daran mit der seinigen gefesselt. Erschöpft wie nach einer schweren Anstrengung fühlte er sich, als er sich endlich aus Schicklichkeit von ihr getrennt. Aber eine unwiderstehliche Macht trieb ihn bald wieder in ihre Nähe und sie zu neuem Tanze aufzufordern, um noch einmal die ungekannte Seligkeit zu durchleben, die er genossen, während sie im Tanz von seinen Armen umfangen war und ihr schönes Haupt sich dicht an seine Schalter geneigt hatte. Einen Zauber übte sie auf ihn aus, den er sich nur mit einer leidenschaftlichen Liebe zu ihr erklären konnte.
„Richard! Richard!“ sagte er in stürmischem Ungestüm zu dem jungen Lord Dutton, indem er ihm vertraulich gestand, wovon nach dem ersten Ball sein Herz und sein Kopf voll waren. „Das muß wohl eine wahre Liebe sein wie sie die Dichter verherrlichen, wie sie ein Petrarca für seine Laura fühlte, und von der ich noch keine Ahnung gehabt, trotzdem ich schon manches schöne Mädchen zu lieben geglaubt. Aber das war ja nichts Aehnliches; es waren leichte Brisen gegen diesen Sturm. Es ist eine Raserei, Freund, und ich weiß nicht, wie dies enden soll. Fliehen wäre das Beste. Doch warum fliehen vor dem Glück? Denn es ist trotz allem ungeheuren Aufruhr in mir ein unaussprechliches Glück.“
„Beruhige Dich, William!“ antwortete ihm Dutton. „Es sind erste Eindrücke einer allerdings merkwürdig lieblichen und berückenden Erscheinung. Wenn Du sie öfter siehst, wird der Zauber seine Macht verlieren. Eine Hexe ist sie ja doch nicht.“
„Aber ich bin von ihr wie behext.“
Er brauchte sie nicht zu sehen, um dies insofern an sich zu spüren, als es ihm unmöglich war, ohne den Gedanken an sie und die heftigste Sehnsucht nach ihrem Anblick einen Tag zu verleben, floh er auch selbst mit der heitersten Gesellschaft in die Wälder zu wilden Jagden. Immer sie, deren Bild ihn umschwebte, deren Athem er, wo er auch war, zu fühlen vermeinte! Und wenn er es vermochte, suchte er die Begegnung von neuem mit ihr. Es war auch, als komme sie ihm entgegen, ohne doch im geringsten die sittige Zurückhaltung eines wohlerzogenen Mädchens zu verleugnen. Aber ein Blick, den sie beide tauschten, und es entstand eine Anziehungskraft des einen auf den andern, der sie nicht zu widerstehet vermochten. Sie flogen gleichsam zu einander, und es konnte in der Gesellschaft bald nicht mehr übersehen werden, daß der Prinz in den Banden der Leidenschaft für Fräulein von Linsingen sei und diese Leidenschaft ihm erwidert werde. Trotzdem war zwischen beiden noch kein Wort von Liebe gesprochen worden. Mit einer Willenskraft, zu der er die höchsten Anstrengungen aufbot, hielt der Prinz mit der Aeußerung dessen gegen Karoline zurück, was er für sie empfand. Aber was bedurfte es auch der Worte? Wenn sie sich sahen, so lasen sie gegenseitig in ihrer
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Seele und deren Geheimniß, daß eine die andere zu ihrer völligen Ergänzung ersehne, wurde ihnen bald offenbar.
Der General hatte in seiner Ehrfurcht vor dem Königssohn nicht gewagt, gegen ihn Vorstellungen wegen der zu erkennbaren Leidenschaft für seine Tochter zu erheben und ebenso wenig besaß er die Energie, sie aus dem gefährlichen Bannkreis dieser Leidenschaft zu entrücken. In der hohen nervösen Erregung, die er an Karoline wahrnahm, befürchtete er das Schlimmste, wenn er durch ihre Entfernung einen Gewaltstreich gegen sie ausführte, der ihr Herz treffen mußte. In seiner Besorgniß wandte er sich aber freimüthig an seine königliche Freundin in London und rieth ihr, durch Zurückberufung des Prinzen das in ihm entfachte Feuer noch rechtzeitig verglimmen zu lassen. Die Antwort der Königin wollte die Angelegenheit nicht als so ernsthaft aufgefaßt haben; vielmehr drückte sie eine gewisse Freude darüber aus, daß ihr Sohn durch eine Liebe zu solchem Mädchen von leichtsinnigen Verbindungen abgehalten würde.
Linsingen fühlte dadurch sein Gewissen auch beruhigt; es blieb wolkenloser Himmel über den Liebenden und sie fanden unbehindertes Wiedersehen, das ihren Herzensbund festigte. Respekt und Etikette ließen überall, wohin auf einem Gartenfest oder in Ballsälen der Prinz seine Schritte lenkte, freien Raum um ihn [798] und, wenn er es haben wollte, um ihn und Karoline, mit der er Zwiesprach suchte. Seine in die Seele bohrende, lange schweigende Leidenschaft konnte endlich nicht mehr in Zaum und Zügel bleiben. Sie brach wie eine gewaltsam zurückgehaltene Fluth desto ungestümer hervor, als die Schranke gefallen. Seine Geständnisse und seine Schwüre überraschten das Mädchen nicht, noch setzten sie sie in Verwirrung, sondern sie riefen volle Erwiderung von ihren bebenden Lippen. Kein Bedenken auch, kein Ernüchtern danach, nur bei jeder Gelegenheit neu wiederholte Schwüre, daß sie beide für das Leben sich angehören wollten. Der Prinz war auch sogleich entschlossen, seinen Schwur zu erfüllen. Vor seiner Begeisterung dafür verstummten Lord Duttons freundschaftliche Versuche besonnener Vorstellungen. Er selbst wurde von dieser Begeisterung angesteckt und empfand in der Nähe Karolinens etwas von dem, was William den "unentrinnbaren Zauber“ nannte. Einen neuen, ihm nicht minder zugethanen Freund hatte der Prinz in dem jüngeren Bruder Karolinens, Ernst, gefunden, der seine Schwester wie ein höheres Wesen verehrte und in seinem feurigen Ungestüm entzückt über Williams Absicht war, sich mit Karoline zu vermählen. Diese selbst gab dazu ihre Einwilligung in der traumhaften Seligkeit, in der sie unter der Liebe Williams lebte, und ein junger schottischer Priester Namens Parsons erklärte sich aus Ergebenheit für den Prinzen, in dessen Gefolge er war, zur Vollziehung der Ehe bereit. Alles wurde im tiefsten Geheimniß dazu vorbereitet und der Aufenthalt in Pyrmont, wo der Geburtstag Williams festlich begangen werden sollte, zur Ausführung des Planes bestimmt.
Mehr als ein Jahr war bereits versflossen, seit der Herzog von Clarence sich im hannöverschen Lande befand, und in den heißen Augusttagen war es, daß er nach dem reizvollen Bade von Pyrmont sich begab. Sein älterer Bruder, der Herzog von York, wollte ihn dort besuchen; große Gesellschaften sollten gegeben werden. William aber lebte nur der Erwartung, dort seine heimliche Ehe mit Karoline einzugehen. Dutton und Ernst trafen mit Parsons alle Vorbereitungen dazu, und der Prinz selber fand auf seinen Ausritten in die Umgebung zufällig eine einsam gelegene Waldkapelle, die ihm für die Trauungsfeier geeignet erschien. In der Frühe seines Geburtstages, am 21. August, ehe noch die Gesellschaft von Pyrmont aus dem Schlafe war, sollte die Vermählung vollzogen werden.
Am Abend zuvor besuchte die ganze feine Welt des Badeorts die Theatervorstellung. „Don Carlos“ wurde gegeben. Der Prinz William wohnte mit Karoline und all seinem Gefolge der Aufführung bei. Er konnte sich in der Aufregung, in die ihn die nahe Erfüllung seines so stürmisch ersehnten Glücks versetzte, kaum beherrschen. Seine trunkenen Blicke hingen an den Augen der Geliebten, die nicht minder bewegt war. Jedes von der Bühne herabfallende Wort, das sie auf sich und ihr Verhältniß zu William beziehen konnte, erhöhte den Schlag ihres Herzens.
Zum Glück waren Lord Dutton und Ernst neben ihnen, um sie zu rechter Zeit in dem Selbstvergessen das über sie kam, dadurch zu beschützen, daß sie durch eine Bewegung die Blicke der Gesellschaft auf sich und von den unvorsichtigen Liebenden ablenkten.
Für den Abend war Tanz angeordnet, Karoline kehrte in ihre Wohnung zurück, um dafür Toilette zu machen. Sie kleidete sich ganz in Weiß; ihr einziger Schmuck war ein grüner Kranz mit Perlen durchflochten und das Ordenskreuz ihres Fräuleinstiftes, das sie nur bei feierlichen Gelegenheiten zu tragen pflegte. Auf dem Balle stellte sich ihr der inzwischen angekommene Herzog von York vor, der, locker in seinen Sitten und an Eroberungen galanter Art gewöhnt, ihr den Hof zu machen Lust hatte. Aber Prinz William drängte ihn hastig ab und stellte ihm Karolinens ältere Schwester Julchen vor, die er zum Tanz sich auch erkor und nach englischer Sitte für den ganzen Abend als Tänzerin behielt.
Der Etikette gemäß führte der General seine Tochter Karoline dem Prinzen William zu. Der ehrwürdige, gütige Greis legte lächelnd, als wolle er ihnen ausdrücken, wie glücklich er sie damit mache, ihre Hände in einander. Sie zitterte unter dem Geheimniß, das sie vor ihm verbarg, und verwirrt beugte sie sich nieder, um ihres Vaters Hand zu küssen.
„Du giebst mich ihm für das Leben!“ hauchte sie hin und ihr leuchtendes blaues Auge hob sich so sprechend auf ihn, daß er, wie ihre Gedanken errathend, in Rührung zu ihr sagte: „Wären doch Eure Wünsche zu erfüllen! Aber es geht ja nicht.“
Er wandte sich ab.
„Es geht ja nicht!“ klang es in ihren Ohren nach, und in ihrem Herzen antwortete es jubelnd darauf: „In wenig Stunden wird es sich dennoch erfüllen!“
Und gleichwohl wirkte es traurig nach, was ihr Vater zu ihr gesprochen.
Der Prinz bemerkte den leisen Schatten, der auf ihr Antlitz gefallen. „Karoline!“ rief er aus und preßte mit Ungestüm ihre Hand heimlich an sich. „Was ist Dir? In Deiner Seele liegt etwas, was ich noch nicht kenne. Fühlst Du Reue? Hast Du Bangen, Mißtrauen, trübes Ahnen?“
„Nein, nein, William,“ erwiderte sie ihm. „Es muß ja alles gut werden!“
„Ja, bei Gott! Kann mein Schwur und Wille es bewirken, so wirst Du glücklich werden, wie Du es erträumst, indem Du mir vertrautest. Du wirst glücklich werden, Karoline, weil ich es durch Dich werde, einzig durch Dich nur werden kann.“
In diesem Augenblick trat der Herzog von York mit sonderbarem Lächeln zu dem Paare heran und sagte zu seinem Bruder:
„Aergert Dich etwas, William? Du bist ja so aufgeregt. Ei, ei, ich glaube, Fräulein von Linsingen ist schuld daran! Ah, mein Fräulein, wie reizend sind Sie! Könnte man sich das Bild der Unschuld vollkommener denken?“
Da blitzte es wild auf in Williams Auge, und eben sollte ein zorniges Wort den Spötter treffen, als Karolinens Bruder zum Glück dazwischen kam und den Prinzen fragte, ob der Tanz beginnen solle.
Dieser nickte und sofort spielte die Musik. York schwang übermüthig seine Dame im Reigen, und auch William schwebte mit Karoline dahin. Aber er grollte noch in hervorgestoßenen Worten seinem Bruder und sie hatte Mühe, ihn so weit zu beruhigen, daß sein Benehmen nicht größeres Aufsehen erregte, als bei einigen Personen schon geschehen war.
York indessen schien es boshafterweise darauf abgesehen zu haben, sich eifersüchtig auf seinen Bruder wegen dessen Tänzerin zu zeigen. Nach dem Tanz äußerte er so laut, daß William und Karoline es hören mußten, zu Julchen:
„Könnte man nicht wähnen, daß mein Bruder sich stolz wie ein Bräutigam am Arme Ihrer Schwester fühle? Sehen Sie doch! Und wie verschämt sie erglüht! Ah, das ist ja reizend!“
Der Prinz zog, um nicht seinem Jähzorn zu verfallen, schnell die in der That tief erröthete Geliebte mit sich zu der offen stehenden Thür des Saales, welche in die Allee des Parkes hinausführte. Jeder Herr geleitete wohl während der langen Pausen, die zwischen den Tänzen stattfanden, seine Dame in die würzige und erquickende Luft des Parkes, so daß auch die Entfernung des Prinzen nicht auffallen konnte. Er freilich entzog sich dem Gewühl und lustwandelte abseits mit seiner Braut; der Zorn in seiner Brust verhallte bald und das seligste Entzücken hielt beide umfangen.
Ernst und Dutton hielten sich als getreue Eckarts in ihrer Nähe. Der Prinz rief sie unter einer alten Linde heran und in der Ueberschwänglichkeit seiner Gefühle drückte er sie an sein Herz und ließ sie schwören, treu in aller Weise zu ihm zu halten, zu ihm und seinem Weibe.
„O,“ rief er, „denkt immer an diese Stunde, wenn Ihr straucheln solltet! Ich kann es nie im Arme dieses Engels; aber Ihr beiden - wenn das furchtbare Schicksal mir einst dieses Weib entreißen sollte, dann seid mir Posas, und ich will Euch der dankbarste Carlos sein!“
Er kniete im Dunkel der breiten, tief hängenden Blätterkrone nieder und hob die schönen, großen Augen zum Sternenheer, als rufe er die göttliche Macht zur Zeugin seines Eides an. Dann sprang er auf, drückte die Geliebte an sich und schritt mit ihr in einen Seitenweg.
„Wenn es möglich wäre, Theure,“ zitterte es noch aus seiner heißen Brust heraus, „daß Trennung jemals uns beschieden sein sollte, dann ist Kummer, Elend und Jammer unser Los, so lange wir leben. Glaube mir, Karoline, wir werden uns ewig lieben, auch dann; weil es zwischen Dir und mir nur eine Liebe giebt, die sich in einem ewig dem anderen entgegensehnt.“
Innig umschlungen blieben sie schweigend eine Weile stehen.
Bald nachdem sie den Ballsaal wieder betreten, trennte sich die Gesellschaft. Als Karoline dann zu Hause ihren Eltern „gute Nacht“ gesagt, sah sie den Vater in sein Zimmer gehen, um dort irgend etwas vor Schlafengehen noch zu besorgen. Sie eilte ihm nach.
[799] „Vater!“ flüsterte sie bewegt ihm zu. „Noch einmal: gute Nacht!“
Der General schüttelte wie vorwurfsvoll sein graues Haupt gegen sie.
„Wie aufgeregt Du bist, Karoline! Es ist nicht gut für Dich, so viel Feste und Bälle mitzumachen. Besser auch,“ setzte er seufzend hinzu, „der Prinz wäre fort von hier. Ich hoffe wenigstens, daß Du die von ihm vorgeschlagene Morgenpartie Deinerseits unterlassen wirst.“
Karoline erschrak leicht.
„Das geht nicht, Vater; es ist fest abgesprochen. Wie würde der Prinz sich gekränkt fühlen, käme ich nicht mit Ernst zum Rendezvous!“
Wieder seufzte der Greis, und seine Tochter besorgt betrachtend, entgegnete er sanft:
„Es wäre Dir gewiß dienlicher, wenn Du lange schliefest, als so früh wieder auf den Füßen zu sein, um die Sonne aufgehen zu sehen. Bedenke, daß morgen das Geburtsfest des Prinzen gefeiert wird und der Tag also auch Dir wieder viel Anstrengung kostet.“
Sie erwiderte nichts darauf, sondern ging mit gesenktem Haupte in ihr Schlafzimmer, sich dem kurzen Schlummer bis zu der Zeit zu überlassen da Ernst nach der Verabredung sie wecken lassen sollte. Unter dem Vorwand, den Sonnenaufgang sehen zu wollen, gedachten die Geschwister, um vier Uhr fortzureiten. Zur Hochzeit!
Karoline schlief wenig und hatte in unruhigen Träumen dabei einen Kampf mit ihrem Gewissen zu bestehen. Es war bald nach drei Uhr, als sie emporfuhr aus diesen Aengsten und sitzend aus ihrem Bett sich sammelte und nochmals mit sich zu Rathe ging. Doch es gab kein Schwanken mehr in ihr. Noch war draußen kaum ein bleicher Streifen am Himmel, der den neuen Tag ankündigte; aber sie sah eine glänzende Sonne strahlen hinter den aufgethanen Pforten ihrer Zukunft, welche sie an der Hand Williams durchschreien sollte. Es war ein entzückend schöner Traum, der sie wachend umfing. Sie zündete die Kerze an und kämmte vor dem kleinen Spiegel ihres Waschtisches das Haar, das in langem Gewirr über ihre Schultern fiel. Sie ordnete es sorgsam, sie träumte weiter und sah im Spiegel holdseliges Lächeln ihre Züge verklären.
Unten im Hof, wohin ihr Fenster ging, hörte sie die Stimme des Bruders, der pünktlich auf Posten war. Er befahl, die Pferde zu satteln. Sie legte die letzte Hand an ihre Kleidung, und als Ernst bald darauf in ihr Zimmer kam, fand er sie zu seiner Verwunderung reisefertig. Sie empfing ihn in fieberhafter Unruhe, so daß er zärtlich seinen Arm um ihre Schultern legte und sie um Fassung und Muth bat.
„Ja, ja,“ rang es sich aus ihrer Brust. „Ich komme, ich komme, Ernst. Die Sonne geht auf!“
Sie stand wie angewurzelt trotz alledem.
Er senkte seine leuchtenden Blicke in ihre geweiteten, starrenden Augen und beugte sich nieder, einen Kuß auf ihre Lippen zu drücken. Da wandte sie sich zurück und wehrte ihm mit ihrer Hand. Er verstand sie und lächelte. An diesem Tage war sie heilig; auch der Bruderkuß wäre ein Raub an dem Geliebten gewesen, in dessen wartende Arme sie eilen wollte. Sie stürzte über die Schleppe ihres Reitrocks weg förmlich die Treppe hinunter. Unten scharrten die Pferde und wieherten in die frische, sich goldende Morgenluft. Georg, der treue Diener des Generals, hielt sie an den Zügeln. Kaum im Sattel, sprengte sie auch im Galopp davon, Ernst bald neben ihr mit seinem feurigen Renner, Georg dahinter.
Nach einer halben Stunde scharfen Rittes waren sie im Walde zur Stelle und Karoline glitt vom Pferde in die Arme des ihrer schon harrenden Prinzen. Er führte sie in ein Bauernhaus, in dessen Nähe auch die Kapelle sich befand. Die Leute dort waren von Ernst am Tage zuvor auf den Besuch vorbereitet worden. Parsons und Lord Dutton kamen von dorther dem Brautpaar entgegen. Der Prinz geleitete Karoline zu dem Zimmer, in dem sie ihre Toilette machen sollte. Er kniete da vor ihr nieder, schaute sie minutenlang sprachlos an und verließ sie darauf.
Bald konnte sie in dem Gemach den Geliebten im bräutlichen Schmuck empfangen, den er für sie hierher hatte bringen lassen. Es war ein feines, blendend weißes Kleid und ein goldener, sehr breiter Gürtel mit Diamantenschloß. Er umarmte sie mit Ungestüm, und immer noch kam kein Wort von seinen Lippens wortlos war auch sie; weihevoll bewegt und beglückt waren sie beide.
Ernst trat herein und hielt einen Kranz von frischer, blühender Myrthe in seiner Hand, den William sogleich ergreifen wollte, um ihn der Braut ins Haar zu drücken. Doch der Bruder wollte ihn nicht hergeben.
„Nein,“ rief er in freundschaftlichem Streit und barg den Kranz hinter sich vor dem andringenden Räuber. „Ihr hattet beide dies schöne Sinnbild vergessen, ohne das keine Tochter unseres Hauses getraut werden darf. Theurer Prinz, gehört es denn mit ihr nicht auch Ihnen? William, Bruder,“ setzte er ganz erschüttert hinzu, „Du giebst ihr heute alles, führst sie in einen Himmel voll Seligkeit. O, laß mich doch etwas für das holde Wesen thun, das ich Dir heute ganz übergebe, das ich mir raube, Dir auvertraue.“
Er sprach wie der Vertreter seines und ihres Vaters, und der Prinz ließ dies Recht gelten, führte ihn zu der Braut, aus deren Augen Thränen der Rührung perlten, und ließ ihn den Kranz in ihre Locken setzen. Sie hatte knieend diesen Schmuck hingenommen. Der Prinz und Ernst hoben sie auf, dann gingen sie mit ihr aus dem Hause hinüber nach der Kapelle, wo an dem würdig hergerichteten Altar der schottische Priester, Lord Dutton, Georg und des Prinzen Leibdiener Jackson ihrer warteten. Dort kniete das Brautpaar nieder und erhielt den priesterlichen Segen. Laut und feierlich beantwortete William die letzte Frage vor der Schließung des ehelichen Bundes, aber so heftig zitternd wie sie. Als sein Weib nach allen Vorschriften der schottischen Hochkirche trat sie an seinem Arm aus der Kapelle in die von der Frühsonne durchfunkelte, einsame Waldnatur, und vor allen Zeugen, nachdem er ihnen gedankt, sagte er da zu ihr:
„Unser Bund ist ewig. Wenn auch das Schicksal uns kalt umschatten sollte, Du bist mein, ich bin Dein treuer Gatte. Erhalte Dich mir; mein Leben lebt in Deinem heißgeliebten Leben.“
Sie mußten eilen, um noch rechtzeitig und in passender Kleidung in Pyrmont zu erscheinen, wo bei der Tante des Prinzen, der Herzogin von Braunschweig, vormittags Kour stattfinden und er die Glückwünsche der Gesellschaft entgegennehmen sollte. Auf verschiedenen Wegen begaben sich die Neuvermählten nach der Badestadt zurück. Karoline erschien dann in dem kleinen Zuge der erlesenen Gäste, die sich der Herzogin vorstellten. Als sie William neben seinem Bruder in allem Glanze seines Standes stehen sah, zog ein Krampf ihr Herz zusammen. Sie, die sich so ehrerbietig vor ihm verneigte, war sein Weib, stand ihm auf der Welt am nächsten und ihr Platz hätte neben ihm sein müssen. Aber mit Wonne erfüllte sie wieder, wenn sie selbst regierende Fürsten und Fürstinnen ihm huldigen sah, der Gedanke, daß sie die Seine war und dermaleinst vor aller Welt es sein würde.
Dermaleinst! Davon hatte sie mit ihm, er mit ihr bisher nicht viel gesprochen, wie das Geheimniß ihrer Ehe und wann es den beiderseitigen Eltern enthüllt werden sollte; nicht mehr, als daß sie zuerst dem General, ihrem Vater, sich entdecken wollten, um dann unter seiner schützenden Fürsprache die Verzeihung des Königs und der Königin zu erringen. In Wahrheit flogen ihre Gedanken noch nicht über das beseligende Glück hinaus, sich anzugehören, ihre Seelen durch einen Priesterspruch nun vereinigt zu wissen, und es regte sich kein Wünschen in ihnen, aus dem zauberischen Bannkreise ihres Geheimnisses herauszutreten.
Der Winter verging und es wurde wieder Sommer, ohne daß in ihrem Verhältniß sich etwas geändert hätte. Sie verriethen in der Familie Linsingen nicht mehr, als daß sie verliebt ineinander waren, und da man hier so viel schon seit anderthalb Jahren hatte sehen oder errathen können, so erregte es weiter kein Aufsehen. Selbst der General machte sich keine Sorgen mehr darum und gönnte den jungen Letten ein Herzensspiel, dessen Gefährlichkeit, wie er hoffte, sich vermindern würde, je länger es in der Aussichtslosigkeit, in der es ihm erscheinen mußte, währte. Um seinerseits indessen noch dazu beizutragen, suchte er bekannten jungen Männern mehr als früher sein Haus zu öffnen in der festen Hoffnung, daß der eine oder der andere der hübschen ritterlichen Herren durch eine energische Werbung allen Träumereien Karolinens ein Ende bereitet würde. Infolge dessen waren in der That mehrere Herren in der Linsingenschen Familie Hausfreunde geworden, von denen Franz von Alten und Werner v. d. Busche unverkennbare Absichten auf Karolinens Hand hatten.
Sie ahnten nicht, welch Hinderniß ihren Bemühungen entgegenstand, und sahen das vertrauliche Benehmen des Prinzen William gegen Karoline nicht als eine Beeinträchtigung ihrer Hoffnungen [800] an. Karoline hütete sich auch wohl, sie ihnen durch eine Erklärung zu nehmen, welche ihr Geheimniß bloßgestellt haben würde, bewahrte aber im übrigen ihre stille, mädchenhafte Zurückhaltung. Für sie hatte dies Umwerben etwas Komisches, während der Prinz es allmählich doch lästig fand und eine Eifersucht darüber in ihm aufstieg, die zu unterdrücken ihm häufig sehr schwer wurde.
Auch in diesem Sommer nahm der Prinz seine Sommerfrische in dem Modebade Pyrmont und mit ihm natürlich die Familie des Generals. Bald jährte es sich, daß er mit Karoline vermählt war, und er dachte nun daran, bei günstiger Gelegenheit sich dem Vater seiner Gemahlin endlich zu entdecken, um der ewigen Verstellung und der eifersüchtigen Regungen gegen die jungen Freunde der Familie überhoben zu sein.
Eines Nachmittags machte eine Gesellschaft von Herren und Damen dem Prinzen William zu Gefallen einen größeren Spazierritt in den schönen Sennerwald. Auch Karoline und Lord Dutton, Alten und Busche waren dabei. Ihr wurde gar seltsam zu Muth, als die Kavalkade den Weg anschlug, den sie fast ein Jahr zuvor zur heimlichen Trauung in der alten Kapelle zurückgelegt. Es war das erste Mal, daß sie wieder in die Nähe dieser ihr heiligen Stätte kam. Der Prinz hatte es seit seinem Aufenthalt in Pyrmont vermieden, mit ihr sich dahin zu begeben; es sollte nach seinem Wunsche erst an seinem Geburtstage, dem Tage ihrer Trauung, geschehen. Warum jagte er jetzt, allen voran, dahin?
Kurz vor der Kapelle hielt er und sprang vom Pferde, was eine Aufforderung für seine Begleitung war, dasselbe zu thun. Er leistete Karoline den Ritterdienst, sie herabzuheben, und führte sie dann bis zur Thür. Da der Schlüssel fehlte, lief er selbst, ihn aus dem nahen Bauernhause zu holen. Er schloß hastig auf, stürzte in der Kapelle gegen den Altar und küßte in Ekstase die Stufe desselben. Die ihm nachfolgende Gesellschaft gerieth darüber in hohes Erstaunen. Karoline ihrerseits erblaßte und fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Lord Dutton sah es, eilte zu ihr und sagte laut, um die Umstehenden über die Ursache ihrer Bewegung zu täuschen:
„Nein, die müssen wir wieder suchen!“
Er zog sie dabei mit sich zur Thür.
„Was denn? Was denn?“ fragten ihn Alten und Busche zusammen, sichtlich erschrocken über den Anblick, den ihnen Karoline bot.
„Fräulein von Linsingen,“ log Dutton weiter, „hat unterwegs ihre Brillantnadel verloren.“
„O, die müssen wir wiederfinden!“ riefen die beiden jungen Herren und eilten auch sogleich hinaus, um sich auf ihre Pferde zu werfen und den Waldweg mit spähenden Augen abzureiten.
Inzwischen war der Prinz wieder ruhiger geworden, hatte sich vom Altar fortbegeben und war zu Karoline getreten.
„Reiten Sie nicht neben einander!“ warnte der besorgte Freund, der beobachtet hatte, welches Aufsehen der ganze Vorgang bei den Zuschauern machte. „Schon zu viel haben Sie verrathen, mein Prinz.“
William ließ sich bereden und trennte sich von Karoline, die an Lord Duttons Seite inmitten der Kavalkade heimritt. Bald trafen sie auf die beiden Herren, die in vollem Eifer nach der Nadel suchten.
„Verzeihen Sie,“ sagte Karoline, ihr Pferd anhaltend, „es war ein Irrthum. Ich habe die Nadel gar nicht angesteckt gehabt.“
Nun wandten sich die zwei zu der von ihnen Geliebten, ritten gleich Dutton neben ihr, scherzten und geriethen in einen Uebermuth, der Karoline höchlich verstimmte. Vor ihrer Wohnung sprangen die lustigen Herren flugs vom Pferde, um ihr beim Absteigen zu helfen. Aber ihnen zuvor kam der Prinz, mit geröthetem Antlitz, funkelnden Augen, bebend vor Zorn, er riß Karoline beinahe vom Pferde, indem er mit heißem Athem ihr zuflüsterte:
„O, laß heute von keiner anderen Hand Dich berühren, als von der meinigen!“
Er konnte seine Leidenschaftlichkeit nicht so beherrschen, daß Alten und Busche, die unweit von ihm standen, sein Gebahren nicht hätten auffällig finden müssen. Sie sahen sich fragend an, dann den Prinzen, dann Karoline, die vor Verlegenheit bis in die Schläfen errötet war. Sie sah, wie der Puder in den Haaren Williams, weil er sie beim Absteigen ungestüm an sich gedrückt, ihr dunkelgrünes Reitkleid mit weißen Flecken bedeckt hatte, und eilte in ihr Haus, um dies den Augen der übrigen zu Pferde haltenden Gesellschaft so viel als noch möglich zu verbergen.
Wunder konnte es nach diesen Scenen nicht nehmen, daß die Zeugen derselben ihre Gedanken darüber gegenseitig äußerten. Es ging den Abend ein Gewisper und Gezischele durch die Gesellschaft; die Herren von Alten und v. d. Busche bezähmten sogar ihren Aerger so wenig, daß sie als Gäste des Generals selbst vor dem Prinzen und Karoline ihre Glossen machten. Der Prinz vernahm einige Worte des Herrn von Alten zu seinem mitleidenden Freunde, die ihm anzüglich erschienen und ihn derartig in Aufregung versetzten, daß er zu Lord Dutton lief und mit diesem wegen einer Forderung an Alten sprach. Karoline hatte es bemerkt und ahnte, was da im Werke. Sobald es ohne Aufsehen geschehen konnte, eilte sie zu dem Prinzen und Dutton, um den ersteren zu bitten, nichts zu übereilen, wenn ihm ihr Leben lieb sei. Auch Dutton beschwor seinen Freund, sich zu beruhigen und von seinem Vorhaben abzustehen, um Karolinens Ruf nicht durch einen solchen Skandal zu kompromittiren. Dies entschied. Er warf nur einen stolzen, strafenden Blick auf Herrn von Alten, als dieser ihm wieder in den Weg kam, und der junge Mann mochte ihn zu deuten wissen.
Unmöglich konnte jetzt mit der Enthüllung des Geheimnisses vor dem General noch gezögert werden, da die Gerüchte, die von Mund zu Mund gingen, auch zu ihm und seiner Familie gedrungen sein mußten. Nach einer leidenschaftlichen Erneuerung ihrer Schwüre, wozu sie bei einem Alleinsein im Zimmer des Generals, der ausgegangen war, eine glückliche Gelegenheit fanden, entschloß sich der Prinz, den verhängnißvollen Schritt zu thun und sich dem General zu vertrauen.
In demselben Moment kam dieser zufällig auch nach Hause. Er hatte eine fast verstörte Miene und beim Anblick der bestürzt vor ihm Stehenden schwoll die Ader auf seiner Stirn.
„Ich treffe Eure königliche Hoheit gerade recht,“ redete er ihn bei aller schuldigen Ehrerbietung mit Strenge an, "um endlich aus väterlichem Pflichtgefühl die Bitte an Sie zu richten, den Umgang mit meiner Tochter gänzlich zu vermeiden“
„Zu spät,“ fiel ihm der Prinz hier ins Wort und seine Blicke baten um Verzeihung. „Wir sind vermählt, unauflöslich.“
„Ist es möglich!“ stammelte der Greis entsetzt.
Seine Tochter fiel ihm zu Füßen und hob ihre Hände flehend zu ihm empor. Thränen rollten über ihre bleichen Wangen.
„Seit einem Jahr bereits,“ setzte William hinzu.
„Prinz! Prinz! Was haben Sie getan!“
„Was mir mein Herz gebot. Es wird ewig für Karoline schlagen. Vernichtung droht nur allem Endlichen, meiner Liebe nicht. Kein König wird mich von diesem meinem Weibe reißen können.“
„O mein Vater!“ schluchzte sie. „Ich bin eins mit ihm. Ohne ihn müßte ich vergehen.“
„Nein, nein!“ fuhr der General auf. „Diese Ehe ist ungültig, sie muß getrennt werden, Du mußt ihr entsagen.“
„Dann verantworten Sie die Folgen!“
Mit diesen wild ausgestoßenen Worten stürmte der Prinz aus dem Zimmer.
„O mein Gott! Was wird geschehen?“ schrie sie und wollte hinter ihm hereilen.
„Halt!“ gebot der Vater, der todtenblaß geworden war. Er griff nach seinem Hut und verließ das Zimmer, dessen Thür er abschloß, um Karoline gefangen zu halten.
Von furchtbarer Ahnung erfaßt, eilte er nach den Zimmern, die William in demselben Hause bewohnte. Die Thüren standen offen; der Prinz hatte nur einen Vorsprung von einigen Minuten. Und hierher war er in der That geflohen. Die Ahnung des Generals betrog ihn auch nicht. Er fand den Prinzen, wie er eben eine Pistole emporrichtete, um sie auf sich abzufeuern. Mit einem Satz fiel der Greis in den Arm des Verzweifelten; der im selben Augenblick krachende Schuß traf nicht mehr den Prinzen, sondern abgelenkt streifte er die rechte Hand des Retters. Der junge Mann stand beschämt vor seinem Mentor, aus dessen Wunde das Blut auf den Boden tropfte. Dienerschaft brach schreckensbleich herein; die Frau des Generals stürzte aus ihrer Wohnung herzu und vor ihrem Gemahl auf die Kniee, jammernd unter Händeringen:
„Ein Zweikampf! Du und Prinz William! Und Du getroffen!“
„Ruhig!“ sagte der Greis, der sich gefaßt hatte und die Pistole in seiner Hand hielt. „Eine Unvorsichtigkeit meinerseits, nichts weiter! Redet keinen Unsinn, das bitte ich mir aus! Am besten, es wird überhaupt nicht weiter von dieser Sache gesprochen. Die Pistole ist zufällig losgegangen und die Schramme an meiner Hand ist nicht der Rede wert.“
Alle Rechte vorbehalten.
Gronau war sehr betroffen über den Einblick in die Behandlung der Ehemänner, welchen ihm Frau Doktor Gersdorf soeben eröffnet hatte. „Fügen die Ehemänner denn immer sich so ganz geduldig?“ fragte er etwas zaghaft.
„Immer! Und es ist auch stets zu ihrem Besten. Uebrigens finde ich es sehr dankenswerth daß Sie sich so angelegentlich mit dem Glücke und der Heirath meines Vetters beschäftigen. Warum sind Sie denn eigentlich noch Junggesell, Herr Gronau?“
„Ich?“ Veit machte ein höchst verblüfftes Gesicht bei dieser Frage, deren Zweck er vorläufig noch nicht errieth, aber er sollte nicht lange im Unklaren darüber bleiben, denn Wally fuhr mit Nachdruck fort:
„Ein Junggesell ist etwas Trauriges, etwas Frevelhaftes sogar! Diese Menschensorte müßte eigentlich von Staatswegen verboten werden. Das habe ich Benno auseinandergesetzt, gleich das erste Mal, als ich ihn sah. Hier an dieser Stelle habe ich ihm erklärt, daß ich mich seiner annehmen und ihn möglichst bald verheirathen werde, und ich halte Wort.“
Jetzt machte Gronau einen Versuch, entsetzt aufzuspringen; er schien zu fürchten daß „diese Stelle“ auch ihm verhängnißvoll werden könnte, aber Frau Doktor Gersdorf hielt ihn fest.
„Bitte, bleiben Sie sitzen, wir sind noch nicht fertig. Sie sind mir noch Antwort auf meine Frage schuldig.“
Die kleine Hand zog den riesigen Mann sehr energisch auf das Sofa nieder und ebenso energisch klang die Wiederholung der Frage:
„Warum sind Sie Junggesell?“
„Ich habe ja weder Haus noch Herd,“ stotterte er. „Ich bin seit Jahren von Land zu Land gezogen.“
„Das hat Herr Waltenberg auch gethan, und Fräulein von Thurgau reicht ihm doch die Hand,“ entgegnete Wally schlagfertig. „Wohin gehen Sie zunächst?“
„Nach – nach Hinterindien!“ erklärte Veit, der auf diese Weise loszukommen hoffte.
Die kleine Frau machte ein etwas bedenkliches Gesicht.
„Das ist sehr weit und da wird es schwer halten, Ihnen eine ordentliche Frau zu verschaffen, aber ich werde sehen, was sich thun läßt.“
„Ach nein, gnädige Frau, thun Sie das lieber nicht!“ bat Veit in wahrer Herzensangst.
„Was meinen Sie damit, Herr Gronau? Ich will doch nicht hoffen, daß Sie eine Abneigung gegen die Frauen oder gegen die Ehe haben?“
Die Frage klang sehr scharf und das vom Eifer des Gespräches geröthete Gesichtchen nahm einen so strafenden Ausdruck an, daß der Sünder keine Erwiderung wagte, sondern nur zerknirscht das Haupt senkte. Das stimmte Frau Doktor Gersdorf etwas gnädiger.
„Wie gesagt, ich werde mich auch Ihrer annehmen,“ versicherte sie, „aber erst muß mein Vetter verheirathet werden.“
„Ja, das ist die Hauptsache, das muß zuerst geschehen!“ rief Gronau mit einem Enthusiasmus, der die junge Frau entzückte. Sie ahnte ja nicht, daß es nur der Aufschub war, der ihn so sehr begeisterte.
„Und bis dahin sind wir Bundesgenossen und Mitverschworene, “ sagte sie feierlich. „Schlagen Sie ein!“
Dem braven Veit wurde es ganz eigen zu Muthe. Er konnte dies zierliche, rosige Händchen, das sich ihm entgegenstreckte, doch unmöglich drücken und schütteln und mußte gleichwohl ein Zeichen des Einverständnisses geben. Einige Sekunden zögerte er noch, dann aber geschah das Unerhörte, Veit Gronau beugte sich nieder und drückte seine Lippen auf jene rosigen Finger, etwas ungeschickt zwar, aber es war doch zweifellos ein Handkuß, der mit Genugthuung aufgenommen wurde. Wally fand, daß dieser Bär anfing menschlich zu werden; aber während sie sich noch darüber freute, sprang er plötzlich wie von der Tarantel gestochen auf.
„O diese Schlingel! Diese gottlosen Schlingel!“
„Was ist denn? Was giebt es?“ fragte die junge Frau erschrocken; aber jetzt gewahrte sie auch die Veranlassung dieses Ausbruches, ein schwarzes und ein braunes Gesicht, die sich draußen an die Fensterscheiben drückten so eng, daß ihre Nasen ganz platt erschienen, und vier schwarze Augen, die mit brennender Neugierde in das Zimmer starrten.
„Wartet, ich werde Euch spioniren lehren!“ ries Gronau, indem er wüthend nach dem Fenster eilte, worauf die beiden Gesichter blitzschnell verschwanden.
„So lassen Sie die Leute doch hereinschauen,“ sagte Wally ruhig. „Aber jetzt müssen wir abbrechen, ich muß nachsehen, ob das Liebespaar da drinnen noch immer bei der ewigen Trennung ist. Auf Wiedersehen, Herr Gronau!“
Sie neigte graziös den Kopf und ging in das Nebenzimmer, während Veit durch die Hinterthür das Haus verließ und Anstalt machte, den beiden Neugierigen eine derbe Strafpredigt zu halten. Aber es kam nicht dazu, denn Said grinste ihm voller Freude entgegen:
„O, Master Hronau hat jetzt auch eine Dame!“
„Und eine serr schöne!“ fügte Djelma ebenso vergnügt hinzu.
„Was? Bildet Ihr Euch etwa ein, daß die Geschichte da drinnen mich anging?“ fuhr Gronau entrüstet auf. „Ich habe mit der Dame ja nur Heirathspläne gemacht!“
Das unvorsichtige Wort war kaum heraus, als er es auch schon bereute, denn die Wirkung war eine sensationelle. Said fuhr drei Schritt zurück und sein Genosse stand wie versteinert da, während sie beide das Wort: Heirath wie aus einem Munde wiederholten.
„Gleich heut?“ fragte Djelma, während der Neger bedenklich einwarf:
„Aber Missis Gersdorf ja schon ist verheirathet!“
„Gerechter Himmel, jetzt glauben diese beiden Schafe, daß ich selbst heirathen will!“ rief Veit verzweiflungsvoll und bemühte sich, ihnen klar zu machen, daß die besagten Pläne ja einem ganz anderen, einem Wildfremden gegolten hätten, aber vergebens. Die beiden hatten es mit eigenen Augen gesehen, wie ihr Mentor eine Viertelstunde lang im vertraulichen Gespräche mit einer Dame verweilte und ihr schließlich die Hand küßte. Sie beharrten steif und fest auf ihrem Glauben, daß er diese Dame heirathen wolle, und begannen die Frage zu erörtern, ob man sie gleichfalls mit auf die Reise nehmen werde und ob Master Gersdorf damit einverstanden sein werde.
Veit sah endlich die Unmöglichkeit ein, diese afrikanische und indische Begriffsverwirrung zu heben. Allerdings ging er dabei auch nicht mit der gewohnten Energie zu Werke, denn er fühlte sich in gewisser Hinsicht schuldig. Er, der abgesagte Ehefeind, hatte sich mit schmählicher Verleugnung all seiner Grundsätze in ein Komplott eingelassen, dessen Zweck war, den Doktor Reinsfeld in das Ehejoch zu zwingen! Und wenn der besorgt und aufgehoben war, dann kam er selbst dran, das hatte ihm Frau Doktor Gersdorf ja bereits angekündigt!
„Gott bewahre mich vor diesem Kobold!“ murmelte er wüthend. „Ich glaube, wenn die Sache noch eine halbe Stunde länger gedauert hätte, ich wäre in der That auf irgend eine Weise verheirathet worden, ohne zu wissen wie!“
Im Wolkensteiner Gebiet herrschte seit drei Tagen ein Unwetter, wie es selbst hier in den Bergen für unerhört galt. Die Stürme, die sonst erst im November einzutreten pflegten, waren diesmal einige Wochen früher losgebrochen und tobten nun mit entfesselter Gewalt. Dazu strömte der Regen Tag und Nacht, in einzelnen Thälern waren Wolkenbrüche niedergegangen, die Ströme und Bäche stiegen mit reißender Macht, zerrissen ihre Ufer, überflutheten die ganze Umgebung, die Verbindung mit Heilborn war unterbrochen, der Verkehr selbst mit den nächsten kleinen Ortschaften nur mit Mühe aufrecht zu erhalten und die Gefahr stieg von Stunde zu Stunde.
In der Nordheimschen Villa hatte man bereits die Vorbereitungen zur Abreise getroffen, sie aber wieder aufgeben müssen, denn bei diesem Wetter war an Reisen nicht zu denken, und doch sehnten sich alle fortzukommen, denn es lag wie ein drückender Bann auf dem ganzen Hause.
[803] Alice hatte sich für unwohl erklärt und verließ seit mehreren Tagen ihre Zimmer nicht. Es war ein Vorwand, um dem Zusammensein mit dem Vater zu entgehen, den sie nach jener Entdeckung scheute und fürchtete; aber der Präsident hatte jetzt andere Sorgen im Kopfe. Er hätte vielleicht die Scheu seines Kindes gar nicht bemerkt, so wenig wie er das seltsam gespannte Verhältniß zwischen Erna und Waltenberg bemerkte.
Sein altes Glück, das ihm sein Lebelang treu geblieben war, schien ihm jetzt auf einmal den Rücken zu kehren, es war, als ob eine feindselige Macht all seine Entwürfe durchkreuze, seine Pläne vernichte und alles, was er unternahm, in das Gegentheil verkehre.
Der mit so kühner, sorgfältiger Berechnung entworfene Plan, dessen Gelingen ihm einen Gewinn von Millionen verhieß, war gescheitert, und gerade an der Stelle gescheitert, wo er es am wenigsten erwartete. Der Mann, den er unlösbar an sich und seine Interessen gekettet zu haben glaubte, sagte sich im entscheidenden Augenblicke los von ihm und machte damit die Ausführung unmöglich. Nordheim wußte sehr gut, daß, wenn der Chefingenieur, sein künftiger Schwiegersohn, jener Abschätzung die Bestätigung versagte, sie überhaupt gar nicht vorgelegt werden durfte. Die Sache fiel unbedingt mit der Weigerung Elmhorsts, der dem nochmaligen Versuche, ihn umzustimmen, ein eisiges Nein entgegengesetzt hatte. Es war eine kurze, herbe Unterredung gewesen, sie drückte das Siegel auf die schon beschlossene Trennung.
Darauf war Wolfgang zu seiner Braut gegangen und über eine Stunde bei ihr geblieben. Den Inhalt des Gespräches erfuhr niemand, auch der Vater nicht; das junge Mädchen verweigerte mit ungewohnter Entschiedenheit jede Auskunft darüber, aber die Trennung war hier wenigstens keine feindselige gewesen. Denn als Elmhorst das Haus verließ, um es nicht wieder zu betreten, winkte ihm Alice vom Fenster aus einen Gruß nach, so warm und innig, wie sie es nie während der ganzen Verlobung gethan hatte, und er grüßte ebenso zurück.
Nordheim war nicht der Mann, der das Scheitern eines jahrelang gehegten und vorbereiteten Planes gleichgültig ertrug, und zu dem Groll darüber gesellte sich noch die Sorge über die Drohung Gronaus, die er im Anfange unterschätzt hatte. Jetzt bereute er es, den Jugendgenossen, dessen rücksichtslose Energie er kannte, nicht wenigstens beschwichtigt und hingehalten zu haben. Wenn auch die direkten Beweise fehlten, es ließ sich aus so manchem eine Waffe schmieden, die gefährlich, so verderblich werden konnte, und Veit hatte das sicher aufgespürt. Es war ein Fehler gewesen, ihn als Feind gehen zu lassen, ein Fehler, der sich vielleicht noch schwer rächte.
Für den Augenblick freilich trat selbst das in den Hintergrund vor einem nahen, drohenden Verlust, der bei dem Präsidenten alle anderen Sorgen zurückdrängte. Die Gebirgsbahn, die in wenig Tagen vollendet sein sollte, war durch den Ausbruch des Hochwassers aufs äußerste gefährdet. Von allen Punkten kamen bedrohliche Meldungen, eine schlimme Nachricht jagte die andere. Der Schaden war schon jetzt ein bedeutender; wenn der Sturm anhielt und das Wasser noch weiter stieg, konnte er unabsehbar werden und Nordheim war mit Summen betheiligt, deren Verlust selbst einem Manne von seinem Reichthum verhängnißvoll werden konnte.
Im Salon befanden sich Erna und Wally, deren Abreise sich gleichfalls verzögerte. Der Prozeß, der Gersdorf nach Heilborn führte, war mit einem Vergleich beendigt worden, dessen notarielle Feststellung den Rechtsanwalt noch einige Tage länger aufhielt. Seine Frau war entzückt darüber, denn sie hielt in ihrer Eigenschaft als Schutzgeist ihre Anwesenheit im Nordheimschen Hause für unbedingt nothwendig, mußte sich aber zu ihrer großen Enttäuschung bald genug überzeugen, daß es hier durchaus nichts zu schützen gab.
Der Chefingenieur war zurückgetreten, seine Verlobung mit Alice aufgehoben, das war jetzt auch der Familie kein Geheimniß mehr, aber die beiden hatten das ganz unter sich allein abgemacht, und Alice verweigerte mit hartnäckiger Verschlossenheit selbst der Jugendfreundin jede nähere Erklärung. Benno zeigte sich ebenso unzugänglich und schien an dem unsinnigen Gedanken einer Trennung festzuhalten und was das Schlimmste war, kein Mensch verlangte den Rath und die Hilfe von Frau Doktor Gersdorf, die begreiflicherweise entrüstet war über diese Undankbarkeit.
„Das habe ich nun von meiner Menschenliebe!“ sagte sie in der übelsten Laune. „Jetzt sitze ich hier wie aus einer wüsten Insel mitten im Ocean, abgeschnitten von aller Welt, getrennt von meinem Manne, jeden Augenblick in Gefahr, fortgeschwemmt zu werden. Albert wird aus einem der wüthenden Gewässer meine Leiche auffischen und als trostloser Witwer nach der Stadt zurückkehren. Ob er wohl jemals wieder heirathen wird? Es wäre entsetzlich, ich würde es ihm im Grabe nicht verzeihen; aber die Männer sind zu allem fähig!“
Erna, die am Fenster stand und in den Sturm und Regen hinausblickte, hörte kaum auf das Geplaudere; sie war mit ihren Gedanken ganz wo anders.
„Wir sind ja hier nicht gefährdet, Wally,“ entgegnete sie gepreßt. „Das Haus in seiner hohen Lage ist sicher, aber ich fürchte, in Oberstein sieht es bedrohlich aus, dort – und auf der Bahn!“
„O, die wird der Chefingenieur retten“ erklärte die junge Frau zuversichtlich. „Man hört es ja von allen Seiten, daß er sich wie ein Held benimmt und das beinahe Unmögliche leistet. Wir haben diesem Elmhorst doch unrecht gethan! Er hat Alice freigegeben, trotzdem er mit ihrer Hand Millionen verliert, und jetzt setzt er alles dran, Deinem Onkel die Bahn zu erhalten, obgleich sie sich feindselig getrennt haben. Gestehe es nur, Erna, Du hattest auch ein Vorurtheil gegen ihn.“
„Ja – ich hatte es!“ sagte Erna leise.
„Da kommt Dein Bräutigam!“ ries Wally, die zu ihr getreten war. „Aber wie sieht er aus! Das Wasser fließt ja förmlich von seinem Regenmantel, er hat wahrhaftig in diesem Wetter den Weg von Oberstein gemacht. Ich glaube, er geht durch Feuer und Wasser, um eine Stunde bei Dir zu sein. Aber das hört auf in der Ehe, mein Kinde glaube einer erfahrenen Frau, die schon vier Monate verheirathet ist. Mein Herr und Gemahl sitzt ganz ruhig in Heilborn bei seinen Akten und wartet, bis der Weg zu mir frei ist. Dein romantischer Ernst scheint freilich aus anderem Stoffe gemacht zu sein; aber was hat er denn eigentlich? Seit drei Tagen geht er herum wie eine leibhaftige Wetterwolke und läßt Dich dabei nicht einen Moment aus den Augen, wenn er bei Dir ist. Es ist förmlich beängstigend, Euch beide anzusehen, und es ist auch irgend etwas vorgefallen zwischen Euch, das redest Du mir nicht aus. So sei doch endlich einmal offen gegen mich, Erna, schütte Dein Herz aus, mir kannst Du unbedingt vertrauen, ich bin verschwiegen wie das Grab.“
Sie legte betheuernd die Hand auf die Brust, aber Erna, anstatt sich in ihre Arme zu werfen und zu beichten, erwiderte nur den Gruß ihres Bräutigams, der soeben vom Pferde stieg, und sagte dann abweisend:
„Du täuschest Dich, Wally, es ist nichts vorgefallen durchaus nichts.“
Frau Doktor Gersdorf wandte sich ärgerlich ab, auch hier brauchte man keinen Schutzgeist; diese Menschen hatten eine merkwürdige Art, alles mit sich allein abzumachen. Die kleine Frau begriff das nicht, ihr war die Mittheilung ein Lebensbedürfniß, und beleidigt über diesen Mangel an Vertrauen rauschte sie zur Thür hinaus.
Kaum war sie fort, so trat Waltenberg ein. Er hatte Hut und Mantel bereits abgelegt, aber sein Anzug trug trotzdem die Spuren des Wetters, gegen das keine Hülle schützte. Er näherte sich seiner Braut und begrüßte sie mit der gewohnten ritterlichen Artigkeit; aber es lag etwas Eisiges in dieser Begrüßung und in seinem ganzen Wesen, dem das Glühen der dunklen Augen seltsam widersprach. Wally hatte nicht so unrecht, er glich in der That einer finsteren Wetterwolke, die drohendes Unheil in ihrem Schoße birgt.
Erna trat ihm mit sichtbarer Befangenheit entgegen, sie hatte diese Ruhe und Kälte fürchten gelernt.
„Nun, wie steht es draußen?“ fragte sie hastig. „Du kommst von Oberstein?“
„Ja, aber ich habe einen Umweg machen müssen; denn auch die Bergstraße ist schon überfluthet. Oberstein selbst scheint ziemlich sicher zu sein; aber die Bewohner haben vollständig den Kopf verloren, alles jammert und rennt in sinnloser Angst durch einander. Doktor Reinsfeld thut das Möglichste, sie zur Vernunft zu bringen, und Gronau unterstützt ihn dabei nach Kräften; aber die Menschen gebärden sich wie die Unsinnigen, weil sie ihr bißchen Hab und Gut bedroht glauben.“
„Dies bißchen Hab und Gut ist aber alles, was sie besitzen,“ warf das junge Mädchen ein. „Ihre und ihrer Familien ganze Existenz ruht darauf.“
[804] Ernst zuckte gleichgültig die Achseln.
„Nun ja, aber was ist das gegen die ungeheuren Verluste, welche die Bahn erleidet! Eben als ich in das Haus trat, kamen wieder neue Meldungen an den Präsidenten, nichts als Hiobsposten. Es scheint so ziemlich alles auf dem Spiele zu stehen.“
„Aber es wird ja mit Anspannung aller Kräfte gearbeitet! Sollte denn das alles vergebens sein?“
„Ja, der Chefingenieur kämpft wie ein Verzweifelter mit den Elementen,“ sagte Ernst mit einer Art wilder Genugthuung. „Er vertheidigt sein geliebtes Werk auf Leben und Tod, aber solchen Katastrophen ist keine Menschenkraft gewachsen. Das Wasser steigt fortwährend, die Dämme halten nicht mehr Stand, auf der unteren Strecke sind die Brücken bereits fortgerissen. Die ganze Natur scheint ja in Aufruhr zu sein.“
Erna schwieg, sie trat wieder an das Fenster und ihr Blick irrte hinaus in den wogenden Nebel, der jeden Ausblick hinderte. Auch die Bahnstrecke, die sich unterhalb der Villa hinzog, war heute nicht sichtbar, nur das Brausen der entfesselten Fluth drang herauf. Dort unten kämpfte Wolfgang an der Spitze seiner Leute und kämpfte vielleicht vergebens.
„Nun, die Wolkensteiner Felsenbrücke bleibt jedenfalls stehen,“ fuhr Waltenberg fort. „Herr Elmhorst sollte damit zufrieden sein und sich nicht so unsinnig preisgeben, wie er es bei jeder Gelegenheit thut. Feig ist er nicht, das muß man ihm lassen, er geht immer mitten hinein in die Gefahr; aber es ist eine Thorheit, sein Leben einzusetzen, um irgend einen bedrohten Damm zu retten. Er leistet Tollkühnes an der Spitze seiner Ingenieure und Arbeiter, die ihm blindlings folgen. Sie sollen sich nur in Acht nehmen, daß er sie nicht mit in das Verderben reißt.“
Es lag eine kalte, berechnende Grausamkeit in der Art, wie er seiner Braut die Gefahr des Mannes, den sie liebte, immer und immer wieder vor Augen führte; sie wandte sich um und streifte ihn mit einem schweren, vorwurfsvollen Blick.
„Ernst!“ „Du befiehlst?“ fragte er, ohne den Blick zu beachten.
„Warum verweigerst Du eine offene Aussprache, die ich so oft schon herbeizuführen suchte. Du willst ja keine Erklärung.“
„Nein, ich will sie nicht – laß uns darüber schweigen!“
„Weil Du weißt, daß Dein Schweigen mich mehr quält als alle Vorwürfe, und weil es Dir Freude macht, mich zu quälen.“
Die Augen des Mädchens flammten; aber der leidenschaftliche Ausbruch begegnete einer Eiseskälte.
„Wie Du mich verkennst! Ich will Dir eine peinliche Auseinandersetzung ersparen.“
„Wozu das? Ich fühle mich nicht schuldig; ich werde Dir nichts verhehlen und ableugnen –“
„So wenig wie bei unserer Verlobung!“ unterbrach er sie schneidend. „Du warst ja auch damals sehr aufrichtig – bis auf den Namen! Du ließest mich geflissentlich in dem Irrthum, den ich allerdings selbst verschuldete.“
„Ich fürchtete –“
„Für ihn – natürlich! Ich begreife das vollkommen; aber beruhige Dich; es kommt mir wirklich nicht so genau auf die Zeit an, ich kann warten.“
Erna zuckte zusammen bei dem seltsamen, vieldeutigen Worte.
„Warten – worauf? Um Gotteswillen, was meinst Du damit?“
Er lächelte mit derselben kalten Grausamkeit wie vorhin.
„Wie schreckhaft Du geworden bist! Sonst pflegtest Du muthiger zu sein; aber freilich, eins giebt es, das Dich in besinnungslose Angst treiben kann, das habe ich gesehen.“
„Und dies Eine läßt Du mich täglich und stündlich büßen! Das ist eine unedle Rache, Ernst, ich werde Dir keine Antwort, kein Bekenntniß verweigern, wenn Du fragst; aber stehe mir endlich Rede. Du hast Wolfgang Elmhorst gesprochen seit jenem Vorfall?“
Es verging eine volle Minute, ehe Ernst antwortete; er schien jeden Zug in ihrem Gesichte zu studiren.
„Ja!“ sagte er endlich langsam.
„Und was ist geschehen zwischen Euch?“ Ihre Stimme bebte in verhaltener Angst, so sehr sie sich auch Mühe gab, sie zu beherrschen.
„Verzeih’, das geht wohl nur aus beide allein an; aber Du darfst Dich durchaus nicht beunruhigen. Ich habe bei Herrn Elmhorst jedes nur wünschenswerte Entgegenkommen gefunden, wir sind im besten Einvernehmen geschieden.“
Er betonte jedes Wort scharf und hohnvoll, und dieser Hohn brachte Erna aufs äußerste. Sie hatte bisher stumm und wehrlos alles ertragen, am ihn nicht noch mehr gegen Wolfgang zu reizen, sie wußte es ja, daß diesem allein seine Rache galt; jetzt aber richtete sie sich auf in voller Empörung.
„Ernst, geh’ nicht zu weit, Du könntest es bereuen. Noch bin ich nicht Dein Weib, noch kann ich mich losreißen –“
Sie vollendete nicht, denn Waltenbergs Hand legte sich plötzlich auf die ihrige mit so eisernem Drucke, als wollte er sie zerbrechen.
„Versuche es!“ zischte er; „der Tag, an dem Du Dich von mir trennst, ist der letzte seines Lebens.“
Erna erbleichte, der Ausdruck seines Gesichtes erschreckte sie noch mehr als seine Drohung. Jetzt, wo er die Maske der Kälte und des Hohnes fallen ließ, lag etwas Tigerartiges darin, und in seinen Augen sprühte es so wild und furchtbar, daß sie um willkürlich zusammenschauerte. Sie fühlte es, er würde dem Worte die That folgen lassen.
„Du bist entsetzlich!“ sagte sie leise. „Ich – füge mich!“
„Das wußte ich!“ rief er mit einem herben Auflachen. „Der Grund ist zwingend für Dich.“
Er gab langsam ihre Hand frei, denn in diesem Augenblick trat Wally ein, die nun ausgeschmollt hatte und wissen wollte, wie es in Oberstein stehe, was ihr Vetter Benno mache und wie es drunten auf der Bahn aussehe; sie hatte wie gewöhnlich tausend Fragen und Erkundigungen.
Waltenberg antwortete mit voller Artigkeit; er war wieder ganz Herr seiner selbst und man sah es ihm nicht an, daß er eben noch eine Tigernatur verrathen hatte.
„Wenn es den Damen Vergnügen macht und sie den Regen nicht scheuen; können wir ja hinunter reiten,“ sagte er am Schlusse seines ausführlichen Berichtes.
„Vergnügen?“ rief Wally, die trotz all ihres Uebermuthes doch ein warmes Mitgefühl für fremdes Leid besaß. „Wie können Sie im Angesichte eines solchen Unglücks nur davon sprechen!“
„Ja, gnädige Frau, der einzelne kann da wirklich nicht helfen,“ versetzte Ernst achselzuckend. „Aber ich versichere Ihnen, der Anblick ist hochinteressant.“
Erna äußerte kein Wort des Vorwurfes, aber es wandelte sie ein Grauen an vor diesem krassen Egoismus. Dort unten setzten Hunderte Kraft und Leben ein, um ein großes, kühnes Werk zu retten, an dem sie jahrelang gearbeitet hatten, die ungeheuersten Summen standen auf dem Spiele und daneben bangten auch die armen Aelpler noch um ihren dürftigen Besitz. Ernst hatte auch nicht ein Wort des Bedauerns dafür, ihm war das nur „hochinteressant“ und neben diesem Interesse empfand er höchstens nach Genugthuung darüber, daß die Schöpfung seines Feindes vernichtet wurde.
Und dieser Mann wollte sie an seine Seite zwingen für ein ganzes langes Leben, sie sollte ihm angehören mit Leib und Seele; und wenn sie sich aufbäumte und versuchte, die Kette zu zerreißen, die sie in einem Moment der Ueberraschung, halb willenlos auf sich genommen hatte, dann drohte er ihr mit dem Tode dessen, den sie liebte, und machte sie wehrlos damit. Das Mittel war gut gewählt, all ihr Trotz, all ihre Widerstandskraft sank zusammen vor dieser Angst.
Da hörte man im Nebenzimmer die Stimme des Präsidenten, der hastig und laut dem Diener einen Befehl gab und gleich darauf selbst eintrat, bleich und aufgeregt, nur mit Mühe seine Fassung bewahrend. Die letzten Meldungen ließen das Schlimmste befürchten, er wollte selbst hinunter und sehen, wie es stand. Waltenberg erklärte sofort, sich ihm anschließen zu wollen, und wandte sich dann an seine Braut so ruhig, als sei nicht das Geringste zwischen ihnen vorgefallen.
„Willst Du uns nicht begleiten, Erna? Wir reiten nach den am meisten bedrohten Stellen, und Du bist ja furchtlos genug.“
Erna zögerte einige Sekunden, dann willigte sie hastig ein. Sie mußte sehen und wissen, was da unten geschah, und wenn es das Schlimmste war. Nur nicht länger hier oben ausharren, in den wogenden Nebel blicken, der alles verschleierte, und die Meldungen hören, die von Stunde zu Stunde beängstigender klangen! Es ging nach den am meisten bedrohten Stellen; dort war Wolfgang, sie sah ihn wenigstens!
Wally, die nicht begreifen konnte, wie man sich in solchem Wetter in das Freie wagen könne, blickte ihnen kopfschüttelnd nach, [805] als sie davonritten; auch der Präsident war zu Pferde, denn auf dem gänzlich aufgeweichten Wege kam der Bergwagen nicht vorwärts; selbst die Thiere arbeiteten sich nur mühsam durch den tiefen Schlamm. Die kleine Gesellschaft ritt in drückendem Schweigen dahin, nur Waltenberg machte hin und wieder eine kurze Bemerkung, die kaum beantwortet wurde. Sie nahmen ihren Weg zunächst nach der Wolkensteiner Brücke.
Der Wolkenstein hatte sein Haupt noch dichter als sonst verhüllt; schwere Wetterwolken umlagerten seinen Gipfel und zogen an seinen Wänden hin, wilde Gletscherbäche stürzten von seinen Eisfeldern nieder und die Stürme umtobten ihn Tag und Nacht. Die Alpenfee schwang das Scepter über ihrem Reiche, die wilde Herrscherin des Gebirges zeigte sich in ihrer ganzen furchtbaren Macht.
Die Herbststürme waren ja so oft verhängnißvoll geworden, mehr als einmal hatten sie Hochwasser und Lawinengefahr gebracht; manches Dorf, mancher einsame Berghof hatte das schwer empfinden müssen, aber eine solche Katastrophe war seit einem Menschenalter nicht eingetreten. Seltsamerweise verschonte sie diesmal größtentheils die Ortschaften; die Fluthen und Stürme bedrohten nur die Bahn, die sich, dem Laufe des Stromes folgend, durch das ganze Wolkensteiner Gebiet zog und mit ihren zahlreichen Brücken und Bauten nur zu viele Angriffspunkte bot.
Der Chefingenieur hatte gleich beim ersten Ausbruch der Gefahr mit gewohnter Umsicht und Energie seine Maßregeln getroffen. Die ganzen Arbeitermassen wurden aufgeboten, um die Bahn zu schützen; die Ingenieure waren Tag und Nacht auf ihrem Posten, Elmhorst selbst schien sich zu verzehnfachen und überall zugleich zu sein. Er flog von einer bedrohten Stelle zur anderen; ermuthigte, befahl, feuerte an und gab dabei rücksichtslos seine eigene Sicherheit preis. Sein Beispiel riß alle fort; was Menschenkräfte nur leisten konnten, das wurde geleistet, aber all die Menschenkraft erwies sich als ohnmächtig den entfesselten Elementen gegenüber.
Seit drei Tagen und Nächten strömte der Regen wolkenbruchartig; all die tausend Wasseradern, die sonst so harmlos und silberhell von den Höhen niederrannen, tobten und stürzten wie Wildbäche in das Thal nieder, die Bäche wurden zu reißenden Strömen, die durch die Wälder brachen und Tannen und Felstrümmer mit sich fortrissen, und alles strebte dem Bergstrome zu, dessen Fluth stieg und stieg und ihren wilden Wogenschwall immer wieder von neuem gegen die Bahndämme warf. Sie konnten diesem unaufhörlichen Ansturm endlich nicht mehr widerstehen, hier wurden sie überfluthet, dort zerrissen; das nasse, zerwühlte Erdreich hielt nirgends mehr zusammen und riß weichend das Mauerwerk mit sich.
Auch die Brücken hielten nicht mehr Stand, eine nach der anderen erlag dem Ansturm der Wogen, die man vergebens zu theilen und zu brechen versuchte. Infolge der unaufhörlichen Regengüsse gingen überall Erd- und Felsstürze nieder; eins der Stationsgebäude wurde dadurch völlig vernichtet, die anderen schwer beschädigt. Dazu tobte der Sturm in den Lüften und erschwerte das Arbeiten im Freien übermäßig. Wenn der Chefingenieur nicht an ihrer Spitze gewesen wäre, die Leute hätten längst die Arbeit aufgegeben und thatenlos dem Verderben zugeschaut, dem sie doch nicht wehren konnten.
Aber Wolfgang Elmhorst führte den Kampf durch bis aufs äußerste. Schritt für Schritt, wie er sich einst diesen Boden erobert hatte, vertheidigte er ihn jetzt. Er wollte nicht unterliegen, wollte sein Werk nicht preisgeben; aber während er mit verzweifelter Energie kämpfte und alles dransetzte, es der Vernichtung zu entreißen, klangen ihm immer Wieder die letzten Worte des alten Freiherrn von Thurgau in den Ohren:
„Nehmt Euch in Acht vor unseren Bergen, die Ihr so hochmüthig zwingen wollt, daß sie nicht herabstürzen und all Eure Bauten und Brücken wie Splitter entzweibrechen. Ich wollte, ich könnte dabei stehen und es mit ansehen, wie das ganze verfluchte Werk in Trümmer geht!“
Die düstere Prophezeiung schien sich jetzt zu erfüllen – nach Jahren. Man hatte Wälder und Felsen durchbrochen, Ströme bezwungen und das ganze weite Bergesreich unter die eiserne Fessel gebeugt, die es den Menschen dienstbar machen sollte, man hatte sich so stolz gerühmt, die Alpenfee besiegt und unterworfen zu haben, und jetzt, unmittelbar vor der Vollendung des Werkes, erhob sie sich von ihrem Wolkenthrone und schüttelte zürnend das Haupt. Jetzt kam sie hernieder in Sturm und Verderben und vor diesem Sturmesathem sank all das stolze Meuschenwerk in Trümmern zusammen. Da half kein Muth und keine Energie, kein Ringen der Verzweiflung; die wilde Elementargewalt zertrat in wenigen Tagen all die Spuren, die der Menschengeist in jahrelanger, mühevoller Arbeit geschaffen hatte, und trieb hohnlachend ihr Spiel mit denen, die geglaubt hatten, ihre Herren zu sein – ein furchtbares, todbringendes Spiel!
Freilich die Wolkensteiner Brücke stand noch fest und sicher, wo alles andere wankte und stürzte. Selbst der weiße, kochende Gischt, den die wild schäumende Ache emporschleuderte, drang nicht bis zu ihr, die sich oben in schwindelnder Höhe hinzog. Und so furchtbar es in den Lüften tobte, der Sturm brach sich an den Eisenrippen des mächtigen Baues. Auf seinem Felsengrunde ruhte er, wie für die Ewigkeit geschaffen, und bot all den Unheilsmächten Trotz.
Das Stationsgebäude, das der Chefingenieur einstweilen bewohnte, war seit dem Ausbruch der Katastrophe das Hauptquartier gewesen, wohin sich alle Berichte und Meldungen wandten, von wo all die Befehle und Maßregeln ausgingen. Man hatte diesen Theil der Bahnstrecke bisher für sicher gehalten, da sie hier eins der schmalen, tief eingeschnittenen Seitenthäler kreuzte, die Wolkensteiner Schlucht überbrückte und sich dann auf steilen, hohen Abhängen wieder dem Bergstrome zuwandte, der an dieser Stelle einen weiten Bogen machte. Das Hochwasser, das der unteren Strecke so verhängnißvoll geworden war, konnte die obere nicht erreichen; aber jetzt waren die Wildbäche vom Wolkenstein losgebrochen und die Schlamm- und Geröllmassen, welche sie mit sich führten, drangen bis zur Brücke vor. Die Gefahr mußte auch hier dringend sein, denn Elmhorst selbst war zur Stelle und leitete persönlich die Arbeiten.
Vierzig Jahre sind verflossen, seitdem Kaiser Franz Joseph I., den österreichischen Thron bestiegen, vierzig Jahre so ereignißreich, so reich an wechselvollen Geschicken, daß manches Jahrhundert in der Geschichte einzelner Reiche nicht solchen Wandel und Wechsel aufweisen kann. Doch mitten in der Brandung, in den hochgehenden Wogen des Aufstandes und drohender Kriegsgefahr lag das Steuer des Reichs fest in des Kaisers Hand, der mit unermüdlicher Kraft und Treue für das Wohl seiner Völker sorgte und, wenn ein Unglück die Waffen seines tapferen Heeres traf oder des Reiches Umfang verminderte, um so mehr den innern Ausbau förderte und über seine weiten Gebiete die Segnungen der Civilisation und wachsende Wohlfahrt zu verbreiten suchte.
Als am 2. Dezember 1848 nach der Thronentsagung seines Oheims, des damaligen Kaisers Ferdinand, und der Verzichtleistung seines Vaters Franz Karl auf die Nachfolge der achtzehnjährige Kaiser die Zügel der Regierung ergriff, da drohte das alte, an Ehren und Siegen reiche Oesterreich aus den Fugen zu gehen; der magyarische Aufstand war noch unbezwungen, und Italien suchte das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln. Doch siegte Oesterreichs guter Stern.
Um des Reiches Zusammenhalt zu sichern, wurden alle Zugeständnisse der Verfassung vom 4. März 1849 wieder zurückgenommen: an die Stelle der Verfassung trat das frühere uneingeschränkte Regiment. In den nächsten Jahren bereiste der Kaiser alle seine Kronlande, Böhmen, Steiermark, Italien, Galizien, Ungarn, Kroatien, um sich mit der Eigenthümlichkeit der Völkerschaften, mit den Bedürfnissen der Länder durch persönliche Anschauung und Kenntniß vertraut zu machen. So ernst erfaßte der junge Monarch seine Aufgabe; denn wenn irgend ein Reich nicht bloß aus dem Kabinet des Fürsten heraus regiert werden kann, so ist es das vielsprachige Oesterreich, welches eine genaue Kenntniß seiner Völkerstämme, ihrer Sitten und Sprachen seitens des Monarchen verlangt.
Schmerzliche Erfahrungen blieben indeß dem Herrscher dieses großen Reiches nicht erspart; die Napoleonische Politik, welche Frankreichs gebietende Weltstellung durch die Schutzherrschaft über andere Völker wahren wollte, unterstützte Italien im Kampfe gegen Oesterreich; die Schlachten bei Magenta und Solferino gingen verloren, so tapfer auch das Heer focht, an dessen Spitze sich in der letzten Schlacht der Kaiser selbst gestellt hatte.
Franz Joseph kam dann mit Napoleon bei Villafranca zusammen, unterzeichnete dort am 11. Juli 1859 die Präliminarien, denen im November der Züricher Frieden folgte. Oesterreich verlor die Lombardei. Um so mehr galt es, im Innern des Reiches Kraft zu stärken; hochherzig beschloß der Kaiser, den einzelnen Ländern sowohl wie auch dem ganzen Reiche eine Verfassung zu geben, welche des Volkes Antheil an der Reichsgesetzgebung sichern sollte. Angekündigt durch das Diplom vom 20. Oktober 1860, wurde die neue Verfassung des österreichischen Kaiserstaats am 26. Februar 1861 publicirt. Die Landtage traten bald darauf zusammen und am 1. Mai wurde der Reichsrath eröffnet.
In der Thronrede sagte der Kaiser: „Ich halte fest an der Ueberzeugung, daß freie Institutionen unter gewissenhafter Wahrung und Durchführung der Grundgesetze der Gleichberechtigung aller Völker des Reichs, der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetze und der Theilnahme der Volksvertreter an der Gesetzgebung zu einer heilbringenden Umgestaltung der Gesammtmonarchie führen werden.“ Und weiterhin heißt es: „Ich will dieses Werk, den Grundsätzen einer offenen und freisinnigen Politik gemäß, in allen Theilen des Reichs einer gleichmäßigen Entwicklung entgegenführen, und zwar nach Recht und Billigkeit und mit Rücksicht auf die Vergangenheit der einzelnen Königreiche und Länder sowie mit gleicher Liebe und Sorgfalt für jede der vielen edeln Nationen, welche unter dem Scepter meines Hauses brüderlich vereinigt sind.“
Dieser schönen Worte mag man am Jubeltage des Kaisers freudig gedenken; es sind strahlende Perlen seiner Krone.
Die Schwierigkeiten der großen Aufgabe verhehlte sich der Kaiser nicht, und in der That regte sich bald in Ungarn und Kroatien der Widerspruch; der ungarische Landtag protestirte in einer Adresse an den Kaiser; er wurde aufgelöst und eine Art von Militärdiktatur in Ungarn eingeführt. Mehrere Jahre dauerte die Spannung zwischen den beiden Ländern; der ungelöste Zwiespalt fand erst ein Ende, als der Kaiser im Juli 1865 die Reichsverfassung sistirt, im Februar 1867 das ungarische Staatsrecht anerkannt hatte and am 8. Juni 1867 als König von Ungarn feierlich gekrönt worden war. Die Ausgleichsgesetze, die der ungarische Reichstag ausgearbeitet, waren von dem auf Grund der Februarverfassung wieder zusammenberufenen österreichischen Reichsrath angenommen worden, und so stand jetzt Ungarn neben Oesterreich. Zwei Ministerien, zwei Parlamente, über ihnen aber ein gemeinsames Reichsministerium, welches den Delegationen der beiden Reichstage verantwortlich war – so bestimmten es die Staatsgrundgesetze vom 2. Dezember 1867.
Das Bestreben des Kaisers, eine Reform des Deutschen Bundes durch freie Vereinigung der Fürsten durchzuführen (Aug. 1863), scheiterte daran, daß der wichtigste Bundesstaat, Preußen, sich von demselben fernhielt. Der Kaiser selbst hatte die Verhandlungen des Fürstenkongresses in Frankfurt mit parlamentarischer Gewandtheit geleitet. Der Widerspruch Preußens gegen die von Oesterreich geplante Bundesreform hinderte nicht, daß beide Staaten zusammen ihre Heere in den Krieg gegen Dänemark schickten zur Befreiung des meerumschlungenen, stammverwandten Schleswig-Holstein; doch nach erfochtenem Siege traten Irrungen hervor, die durch die Begegnung des Kaisers Franz Joseph mit König Wilhelm I. in Salzburg im August 1865 ausgeglichen zu sein schienen, aber doch zu heftigerem Ausbruche des innern Zwiespaltes zwischen den beiden Staaten und zuletzt zum Kriege von 1866 führten. Die Niederlage bei Königgrätz hatte den Austritt Oesterreichs aus Deutschland und außerdem den Verlust Venetiens zur Folge, trotz der Siege, welche die österreichische Landmacht bei Custozza, die Seemacht bei Lissa über die Italiener erfochten. Um so erfreulicher war es, daß Kaiser Franz Joseph, nach den freundlichen Begegnungen mit Kaiser Wilhelm I. in Gastein und Salzburg, die sich seit 1871 alljährlich wiederholten, zu dem engen Bündniß zwischen Deutschland und Oesterreich 1879 in staatsmännischer Würdigung der großen Bedeutung desselben seine Hand bot. Daß dieses Bündniß noch fest und unerschüttert dasteht, das haben noch jüngst die Kaisertage in Wien bewiesen, der ebenso glänzende wie herzliche Empfang, welcher dem jungen Kaiser Deutschlands, Wilhelm II., bei seinem Besuche in der Donaustadt seitens des Hofs und der Bevölkerung zu theil geworden. Wir verweisen auf die Schilderung dieser bedeutungsvollen Festtage, die wir in dem Artikel „Kaiser Wilhelm II. in Wien“ (Nr. 45) brachten. Nach den Bestimmungen des Berliner Kongresses von 1878 war Oesterreich die Verwaltung von Bosnien und der Herzegowina zugefallen; es hatte auf der Balkanhalbinsel festen Fuß gefaßt und so seinen Machtbereich nach Süden wesentlich erweitert. Die deutsche Politik ist hier fördernd den großen Intentionen des Kaisers entgegen gekommen.
Dieser kurze geschichtliche Ueberblick, der nur Hervorragendes streifen konnte, zeigt uns, wie ereigniß- und thatenreich das Leben des Herrschers war, der jetzt das 58. Lebensjahr vollendet. Er hat durch eine weise Politik der österreichisch-ungarischen Monarchie zu einer imponirenden Machtstellung im Herzen Europas verholfen, sie zu einer starken Bürgschaft des europäischen Friedens und des siegreichen Kulturfortschrittes gemacht. Jedoch der rastlose Fleiß des pflichtgetreuen Regenten wurde, noch mehr als durch die oft drangvollen politischen Ereignisse, durch die Fürsorge für die innern Angelegenheiten, für die Wohlfahrt seiner Völker in Anspruch genommen. Welche gewaltigen Fortschritte Oesterreich unter seiner Regierung gemacht, das wird die Kulturgeschichte in ihren Jahrbüchern verzeichnen: zahlreiche Schulen und Bildungsanstalten jeder Art, Institute für Hebung des Verkehrs und des landwirthschaftlichen Betriebs, ein immer weiter ausgebautes, immer größere Länderstrecken umfassendes Eisenbahnnetz, die außerordentliche Vermehrung der wirthschaftlichen Erzeugnisse, die Blüthe von Handel und Gewerbe, das alles legt, wieviel auch der schöpferischen Volkskraft zugerechnet werden muß, Zeugniß ab für eine weise und fürsorgliche Regierung, welche die freie Entfaltung derselben gefördert und in die rechten Bahnen gelenkt hat.
Vermählt ist Kaiser Franz Joseph I. seit dem 24. April 1854 mit der Prinzessin Elisabeth, der Tochter des Herzogs Maximilian von Bayern, die am 24. Dezember 1837 geboren wurde. Die [807] anmuthige, schöne, ritterliche Kaiserin von Oesterreich ist bekanntlich eine leidenschaftliche Reiterin, welche vor den Gefahren einer englischen Fuchsjagd nicht zurückschreckt, muthig und kühn, vorleuchtend den glänzenden Reitervölkern, die des Kaisers Scepter beherrscht. Aus dieser Ehe stammen drei Kinder: Gisela, geboren den 12. Juli 1856, seit 1873 mit dem Prinzen Leopold von Bayern vermählt, der Kronprinz Rudolf, geboren am 22. August 1858 und die 1868 geborene Erzherzogin Marie Valerie. Bekannt ist die Liebe zu den Naturwissenschaften, die den österreichischen Thronfolger auszeichnet. Zeugniß dafür legt das große, unter seiner Leitung herausgegebene Werk ab: „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“, zu dem er selbst die schwunghafte Einleitung geschrieben. Als gewandter Schriftsteller hat er sich bewährt in seinen Reiseschriften „Eine Orientreise“, „Fünfzehn Tage auf der Donau“, „Jagdreisen in Ungarn“. Der mit der belgischen Prinzessin Stephanie seit 1881 vermählte Kronprinz ist eine glänzende Hoffnung für Oesterreichs Zukunft; seine Ehe ist mit einer Tochter gesegnet, der anmuthigen jetzt fünfjährigen Erzherzogin Elisabeth.
Am vierzigjährigen Jubeltage der kaiserlichen Regierung aber verewigen sich alle Völker Oesterreichs, wie verschieden auch sonst ihre Sprachen sein mögen, in der einen Sprache, die das Herz diktirt, in den heißen Segenswünschen für ihren geliebten Kaiser, dessen ganzes Leben voll unablässiger Sorge für seines Reiches Wohl war und der noch lange walten möge als die Vorsehung seiner Völker zu ihrem Heil.
Das schöne, poesieverklärte Fest mit seinem Tannenduft und seinem Lichterglanz nähert sich wieder; aber in die kindliche Vorfreude, die wir schon empfinden, in die selige Gebestimmung, die uns in nachdenklichen Stunden beschleicht, drängen sich auch wieder die alten Sorgen: Was schenken wir unseren Lieben? Was kaufen wir unseren Freunden? Wie bewältigen wir am besten die Pflichtgeschenke, denen wir uns nicht entziehen können? Mancher arme Teufel, der froh wäre, wenn er seinem kleinen Mädchen ein Paar tüchtige Schuhe auf den Weihnachtstisch stellen könnte, wird bitter lächeln, wenn er von unseren „Sorgen“ hört - und doch sind es Sorgen, und wir athmen erleichtert auf, wenn wir das Kapitel erledigt haben.
Freilich – wenn ich mir die Sache recht überlege, so scheint es mir, daß wir an diesen „Sorgen“ doch nur selber schuld sind. Diese Sorgen sind eine Art Zeitfrage, und so nebensächlich sie auch scheinen mögen, sind sie doch in gewissem Sinn charakteristisch für die Gegenwart. Man hat früher anders geschenkt als jetzt – man hat vor allem weniger geschenkt! Man hat sich darauf beschränkt, seinen nächsten Angehörigen eine Freude zu bereiten, man hat wenig geschenkt, aber Solides, Tüchtiges, man hat nicht nach dem Seltsamen gejagt, nach Flitter und Tand, nach blendenden Ueberraschungen, und man hat, wo immer man schenkte – ehrlich geschenkt! Heut zu Tage aber wüthet ein wahrer Schenktaumel, wir benutzen auch die Weihnachtszeit, um einander Sand in die Augen zu streuen, die gesellschaftliche Lüge droht sich alles Ernstes auch des lieblichen Festes zu bemächtigen, das wie ein heiliges Idyll unangetastet in dem Sturm unserer Tage steht.
Das Weihnachtsfest ist das Fest des Herzens, das Fest der Liebe, und das Schenken soll nur ein Ausdruck dieser Liebe sein. Es giebt aber Kreise, in denen das Schenken schon eine Art unangenehmen Geschäftes geworden ist. Immer größer wird die Anzahl derer, die man beschenken muß, und die Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit, mit der man das „Geschäft“ nun schon besorgt, wird endlich zur Gewohnheit und wirkt auch auf das Gebiet jener Geschenke zurück, die man wirklich mit Liebe giebt. Ich kenne Eltern, die selbst ihren Kindern Sand in die Augen streuen – nicht weil es ihnen an Liebe fehlt, sondern weil ihnen das gedankenlose, oberflächliche Schenken eben zur Gewohnheit geworden ist, weil sie keine Empfindung mehr haben für die schöne Idee des Weihnachtsgeschenkes, kein Verständniß für die ethische Bedeutung desselben.
Es ist recht schade, daß es keine statistischen Aufzeichnungen über die Weihnachtsgeschenke giebt – das wäre ebenso lehrreich als belustigend zu lesen. Das massenhafte Schenken, wie es jetzt Mode geworden ist, hat ja nicht bloß seine ernste, sondern auch seine drollige Seite. Wer viel Bekannte besitzt, kann sich die erheiterndsten Sammlungen anlegen und er wird mit der Zeit ein ganzes Museum zusammenbekommen: ein Zimmer für Cigarrentaschen und ein anderes für Pantoffeln, eines für Papiermesser und eines für Thermometer, eines für Spazierstöcke und eines für Zündhölzchenbehälter etc. Unter dem Einfluß der Mode hat sich eine förmliche „Weihnachts-Industrie“ entwickelt, gegen die ja so weit nichts einzuwenden ist, als es sich um solide, einigermaßen nützliche Erzeugnisse handelt. Aber ein ernstes Wort verdient das Auftauchen einer Schundfabrikation im Großen, der Erzeugung von Geschenkgegenständen, die billig sind und hübsch aussehen, aber ihren Dienst versagen oder in Trümmer gehen, sowie man sie verwenden will.
Das Weihnachtsgeschenk soll ein Ausdruck der Liebe sein – beschränken wir es deshalb auf diejenigen, die wir wirklich lieb haben. Wozu diese „Pflichtgeschenke“ an Hinz und Kunz, da Hinz und Kunz doch ebenso gut wissen wie wir – wo man billigen, werthlosen Tand kauft. Und wenn wir unseren Lieben etwas schenken, dann vergessen wir wieder nicht, daß das Geschenk ein Ausdruck der Liebe ist, daß es ein Werthstück sein muß. Kein Werthstück, das für hundert Mark erstanden ist, sondern ein Gegenstand, der, wie geringfügig er auch sein mag, doch solid und tüchtig ist und für den Beschenkten Werth besitzt. Wir belügen uns nur selbst, wenn wir glauben, mit einer blendenden Ueberraschung Erfolg zu erzielen. Es ist wenigstens sehr wahrscheinlich, daß auch der Beschenkte des Pudels Kern sehr bald entdecken wird und daß er ein einfaches Taschenmesser, das er zehn Jahre lang benützt, einer prächtig aufgetakelten Standuhr, deren Werk schon nach drei Tagen den Dienst versagt, vorzieht.
Also nochmals und nochmals: Beschenken wir nicht so viele und schenken wir nicht so vielerlei! Entheiligen wir nicht das schöne Fest durch Lüge und Täuschung! Geben wir nur dort, wo uns das Herz dazu drängt, und dann lassen wir uns von unserem Verstand ernstlich berathen. Dann werden die Sorgen für die Weihnachtsgeschenke gleich viel geringer werden und was übrigbleibt an Sorge, ist nur die Sorge der Liebe und auch die ist köstlich. Es mag ja recht praktisch sein, seiner Frau ein paar Goldstücke als Weihnachtsgeschenk auf den Tisch zu legen – auch das ist eine Neuerung, die anfängt Verbreitung zu gewinnen – aber wer das thut, verräth ebenso wenig Sinn für die ideale Bedeutung des Weihnachtsfestes wie jene anderen, die den fabriksmäßig erzeugten Tand und Flitter geschäftsmäßig verschenken. Das Weihnachtsfest ist das Fest der Liebe und diese muß uns aus allem entgegenleuchten, was den Namen Weihnachtsgeschenk verdienen soll.
Fürsorge für Genesende. Auf dem im September in Karlsruhe abgehaltenen Kongreß des Vereins für Armenpflege und Wohlthätigkeit wurde dieser Frage ein besonderes Interesse zugewendet. Sie ist in der That sehr wichtig für die Armen, da die Krankenhäuser auch der größten Städte bei noch so großer Ausdehnung und vortrefflichster Einrichtung die Kranken nicht solange behalten können, bis sie ihre frühere Frische und Rüstigkeit wiedergewonnen haben. Auch die im Hause behandelten Kranken werden oft durch die Nothwendigkeit gedrängt, die Arbeit wieder aufzunehmen, ehe sie im Vollbesitz ihrer früheren Kräfte sind.
Die Fürsorge für unbemittelte Genesende gehört deshalb zu den Hauptaufgaben der Armenpflege. In Deutschland ist im Ganzen noch immer wenig dafür geschehen. München hat eine solche Anstalt mit 20 Betten und in Frankfurt am Main befindet sich beim Hospital zum heiligen Geist eine derartige Anstalt, die den Namen Mainkur führt; in Straßburg trägt eine Filiale des Straßburger Bürgerspitals auf der Ruprechtsau, welche diese Bestimmung hat, den Namen Buchenau. In Berlin hat der Gewerbskrankenverein, zu welchem sich die 60 Ortskrankenkassen mit 220 000 Mitgliedern vereinigt haben, die Behandlung Genesender mit ins Auge gefaßt. Derselbe erhebt von seinen Mitgliedern pro Kopf einen Jahresbeitrag von 95 Pfennigen, 3 Pfennige entfallen auf die Verwaltungskosten, 82 Pfennige auf die Besoldung von 110 Aerzten, der Rest von 10 Pfennigen wird für die Behandlung Genesender verwendet. Das Krankenhaus des Johanniterordens in Lichterfelde stellt dem Verein 25 Betten zur Verfügung. Die Herrschaftsgebäude in Hennersdorf (45 Betten für Männer) und Blankenburg (40 Betten für Frauen und Mädchen) sind ebenfalls für diese Zwecke eingerichtet worden. Die Schwestern des Viktoriahauses leiten diese Anstalten. Vom 8 Dezember 1886 bis 1. Juli 1888 sind mehr als 1000 Personen beiderlei Geschlechts in ihnen untergebracht worden. Das Beispiel der Stadt Berlin möge andere Gemeinden zu gleichem Vorgehen ermuthigen; aber auch den privaten Gründungen ist hier der weiteste Spielraum gelassen. In England leistet die private Wohlthätigkeit hierin Großartiges: die Zahl derartiger Anstalten füllt dort viele Seiten im Verzeichniß der Wohlthätigkeitsinstitute. Die ganze Südküste Englands ist mit ihren Stationen bedeckt. Eastbourne, zum Londoner Allerheiligen-Krankenhaus gehörig, hat 50 Betten; in Woodford befindet sich eine von der Gemahlin Gladstones begründete Anstalt, in welcher jährlich mehr als 1000 Personen kostenfrei verpflegt werden. Eine Krankenhausbehandlung findet nicht statt, Krankenschwestern leiten die Verwaltung.
Vielleicht stellt in Deutschland der Staat diese Pflege Genesender noch auf das Programm seiner socialen Reformen. Die Privatwohlthätigkeit aber wird sich solcher Pflege gewiß mit Eifer zuwenden. Gegenüber dem trüben Eindruck der Krankenhäuser, in welche täglich der Tod seinen Einzug hält, macht ein Asyl für Genesende gewiß einen heitern hoffnungsfreudigen Eindruck. Die Schatten der überwundenen Krankheit treten immer mehr in den Hintergrund zurück; ein neues Wirken in der Welt steht ist Aussicht; die Arbeitskraft soll nicht wieder aufgezehrt werden, ehe sie voll eingesetzt werden kann – und das gereicht dem ganzen Volke zum Heil.
Wer würde nicht gern sein Scherflein beisteuern, um den Genesenden den Uebergang zur vollen Gesundheit und Lebensfreude erleichtern zu helfen![808] Unsterblichkeit. (Mit Illustration S. 801.) Wir sind im alten, kaiserlichen Rom. Durch den Sonnenglanz der Appischen Straße folgen wir einer jugendlichen schlanken Mädchengestalt, die elastischen Schrittes vor uns herschreitet. In der zierlichen Hand hält sie einen Korb mit Blumen und ein Lämpchen aus rothem Thon; über dem weißen Gewande, das ihr in reichen Falten bis auf die Fersen fällt, trägt sie ein dünnes schwarzes Flortuch. Nun biegt sie von der breiten Straße seitab in einen schmalen, von Oleandersträuchen überschatteten Pfad. Vor einem kleinen, zwischen Marmorsäulen sich öffnenden Pförtchen hemmt sie den elastischen Schritt; hier sitzt auf einem Steine ein dürftig gekleidetes Kind mit einer brennenden Ampel. Die Fremde zündet ihr mitgebrachtes Lämpchen an der Ampel an, läßt eine kleine Münze in die mageren Händchen des Kindes fallen und schreitet durch das Pförtchen. Nach wenigen Schritten kommt sie zu einer steil unter die Erde führenden Treppe und steigt behutsam die Stufen hinab. Wir folgen ihr auch hier und stehen gleich darauf in einem matt von oben herab erleuchteten Raume. Hier sind wir in einem römischen Columbarium, einer jener unterirdischen Hallen, welche in zahllosen Mauernischen die Urnen und Thonkistchen tragen, in welchen die Asche der Todten aufbewahrt wird. An manchen dieser Thongefäße zeigen Blumen und Kränze, daß man vor kurzem erst derjenigen gedacht hat, deren Asche hier liegt. In größeren Mauernischen sind auch einzelne Büsten aufgestellt. Zu einer dieser Büsten schreitet das Mädchen mit ihrer Lampe und ihren Blumen: es ist die Büste eines schönen jugendlichen Mannes. Lange steht sie mit gefalteten Händen vor dem schweigenden Bilde; ihre Augen werden feucht. Und zuletzt neigt sie ihr edles blasses Köpfchen gegen das steinerne Antlitz vor sich und preßt einen sanften Kuß auf die kalten Marmorlippen.
Nun wird sie noch die Blumen, die sie mitgebracht hat, um den Fuß der Marmorbüste legen, wird ihr Lämpchen in die Höhe halten, daß ein Strahl vom lieblichen Lichte in das stille Marmorgesicht fällt und dasselbe flüchtig belebt; und dann wird sie mit stummen Gruße wieder Abschied von dem geliebten Bilde nehmen und langsam heimwärts wandern durch den Sonnenschein der Appischen Straße. Wir aber ziehen uns zurück, um diese rührende Todtenfeier nicht zu stören; nur flüchtig werfen wir noch einen Blick auf die Inschrift über der Büste. Hier steht ein Name, der seit achtzehn Jahrhunderten unvergessen geblieben ist: der Name „Catullus“. Ist er’s wirklich, der heitere Dichter, der Liebling von Göttern und Menschen, der einst auf seinem prachtvollen Landsitze über den blauen Wellen des Gardasees seine Lieder sang und der, kaum dreißig Jahre alt, zu den Todten ging, um für immer zu verstummen? Und sie, die ihm da in stiller Treue ihr Todtenopfer gebracht hat – was war sie ihm? Schwester – Freundin oder Geliebte?
Es ist ein ergreifendes Bild treuer Liebe, welches der Münchener Künstler Hermann Kaulbach hier vorführt. Das große Gemälde, das uns diese Todtenfeier zeigt, war eine der anmuthigsten Zierden der internationalen Kunstausstellung des Jahres 1888; jetzt ist dasselbe Eigenthum der Münchener Staatsgalerie. Der Künstler selbst nannte sein Bild „Unsterblichkeit“. Und in der That – selbst wenn der Name jenes Todten nicht im Glanz der römischen Geschichte lebte, Unsterblichkeit wäre sein Los, weil treue Liebe über das Grab hinaus währt und zwischen den Todten und den Lebendigen unvergängliche Herzensfäden webt.Deutschlands merkwürdige Bäume. Die Königseiche bei Peisterwitz. (Mit Illustration S. 805.) Nr. 7 des Jahrgangs 1887 der „Gartenlaube“ enthält die interessante Abbildung einer im verlassenen Elbbette bei Dötzingen ausgegrabenen Rieseneiche. Bei dem Dorfe Peisterwitz, Kreis Ohlau in Schlesien, befindet sich ein noch gewaltigerer und zwar lebender „Zeuge der Urwälder Deutschlands“, eine mächtige Eiche, welche bis jetzt als die größte der noch in deutschem Boden wurzelnden Bäume gilt. Dieselbe – die Königseiche genannt – steht an der Grenze des Fürstenwaldes bei Ohlau, und seit in dem letzten Jahrzehnt der weidmännische „Fürstenruf“ im Forste hallte und die Anwesenheit des kaiserlichen Jagdherrn verkündete, haben der Fürstenwald und namentlich die erwähnte Eiche an allgemeinem Interesse gewonnen. Scharenweise pilgern die Naturfreunde hinaus durch den prächtigen Eichen- und Buchenwald, um den vielgenannten Baumriesen zu bewundern. Die Königseiche ist 23 Meter hoch, der untere Stammesumfang beträgt 10½ Meter, der obere 10 Meter, die unteren Aeste gleichen kräftigen Eichbäumen; ihr Fuß ist umstanden von einem Kranze junger Fichten. – Der bekannte Naturforscher Professor Göppert, ehemals Direktor des botanischen Gartens in Breslau, erklärte die „Königseiche“ für den vollkommensten Typus dieser Baumgattung.
Kind, halte dich gerade! Wie oft hört man nicht diese Mahnung aus dem Munde der Eltern, deren heranwachsende Kinder gebückt einhergehen und den Kopf hängen lassen, als ob sie eine schwere Last aus ihrem Rücken trügen! Das Kind zuckt bei dieser Mahnung zusammen, richtet sich empor und eine Weile ist die Haltung wieder gut, aber nach wenigen Augenblicken läßt die Willenskraft nach und wir haben wieder die nachlässige schlaffe Haltung vor Augen, welche so unschön aussieht und zu manchen Leiden den Grund legen kann.
Die Freiübungen des deutschen Turnens bieten eine ganze Anzahl von Uebungen, durch welche solche Kopfhänger in schmucke, schlanke Menschen umgewandelt werden können, und eine namentlich, der „Zehenstand“, verdient wegen der Einfachheit eine besondere Beachtung.
Die Uebung wird bekanntlich derart ausgeführt, daß aus dem Stande auf der ganzen Sohle die Fersen und damit der ganze Körper gehoben werden. Der Körper ruht alsdann nur auf den Zehen und Fußballen, wie dies unsere beistehende Abbildung andeutet. Die Fersen sind möglichst hoch zu heben, der Körper ist gestreckt aufrecht und ruhig zu halten. Dies erzielt man aber am besten, wenn man den Uebenden ein leichtes nicht zu fest liegendes Kissen oder dergleichen auf dem Kopfe tragen läßt.
In dem trefflichen Buche „Hausgymnastik für Gesunde und Kranke“, von E. Angerstein und G. Eckler (Berlin 1888, Verlag von Th. Chr. Fr. Enslin) wird in dieser Beziehung eine interessante Beobachtung eines älteren Autors mitgetheilt. „Ich habe in einem Kloster,“ heißt es darin, „noch ein anderes Mittel bei Kostgängerinnen anwenden gesehen, welche den Kopf hingen. Die Vorsteherin desselben ließ sie nämlich verschiedene Arten von Spielen spielen und schlug ihnen auch, ohne sich ihre Absicht merken zu lassen, vor, einen runden Ball oder einen anderen leicht abrutschenden Gegenstand so auf dem Kopfe zu tragen, daß diejenige, welche den Ball im Gehen fallen ließe, den Gesetzen des Spieles zufolge ein Pfand gäbe. Man hat mir versichert, daß diese Methode allezeit mit einem guten Erfolg angewendet worden sei; denn diese Kinder gewöhnten sich dadurch, daß sie sich in diesem Spiele übten, bald, den Kopf gerade zu tragen.“
Schlechte Angewohnheiten lassen sich am besten durch derartige erziehliche Mittel beseitigen, bei denen ja die Kinder so zu sagen spielen und Freude empfinden, ohne etwas von Rüge und Tadel zu merken.
Es giebt noch eine ganze Reihe von Freiübungen, welche gebückte Haltung verhüten können, und wer Interesse daran hat und seinen Kindern und Pflegebefohlenen Abwechslung bieten möchte, dem rathen wir, in dem obenerwähnten Buche „Hausgymnastik“ die betreffenden Abschnitte nachzulesen. Dasselbe bietet eine Anweisung für jedes Alter und Geschlecht, durch einfache Leibesübungen die Gesundheit zu erhalten und zu kräftigen, sowie krankhafte Zustände zu beseitigen. Die Hausgymnastik ist überhaupt ein überaus wichtiges Mittel zur Hebung unserer Gesundheit und wir möchten allen denjenigen, die den Turnvereinen fern stehen, empfehlen, wenigstens zu Hause zu turnen.Stud. med. P. in H. Die Gesammtzahl der Studenten auf den 20 deutschen Universitäten und der Akademie zu Münster betrug im vergangenen Sommer 29 190. Davon studierten evang. Theologie 4859, kath. Theologie 1166, die Rechte 6472, Heilkunde 9046; die übrigen waren bei den philosophischen Fakultäten eingeschrieben. Die meisten Studirenden waren in Berlin (4767), dann in München (3809) und Leipzig (3208), die wenigsten in Rostock.
E. L. in Frankfurt. Von Marlitts „Goldelse“ ist außer der billigen Volks-Ausgabe eine Salon-Ausgabe in reichem Prachtband, mit Illustrationen von Paul Thumann, erschienen und zum Preise von 10 Mark 50 Pf. durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen.
C. L. in Dresden. Von Ihren gefälligen Mittheilungen bezüglich unseres Artikels „Aus dem Leben eines nachgiebigen Gesellen“ in Nr. 39 des laufenden Jahrgangs nehmen wir gern Vermerk. Danach soll in Sachsen, bezw. in Mittel- und Süddeutschland, die Herstellung der Korke weniger als Hausindustrie behandelt, sondern meist in größerem Maßstabe in Fabriken betrieben werden. Als Hauptbegründer der Korkindustrie dieses Gebietes nennen Sie Karl Lindemann in Dresden (Firma: Wm. Merckel, Raschau im sächs. Erzgebirge, gegründet 1855) und geben die gegenwärtige Gesammtzahl der Korkgeschäfte in Süd- und Mitteldeutschland auf etwa 200 an.
- ↑ Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von *** (Leipzig, Duncker u. Humblot 1880).