Die Gartenlaube (1888)/Heft 36
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Es war am Sonntag nach dem Johannistage, wo nach altem Brauche in Oberstein der Johannistanz stattfand. Der kleine hochgelegene Gebirgsort, der Wohnsitz des Doktor Reinsfeld, hatte durch den Bau der Eisenbahn allerdings etwas von seiner Einsamkeit und Abgeschiedenheit verloren. Die Arbeiter der Strecke verkehrten bisweilen dort und einige der jungen Ingenieure hatten in dem einzigen Gasthause ihre Wohnung genommen; das war aber bis jetzt alles; das ziemlich armselige Aussehen des Oertchens hatte sich vorläufig noch nicht geändert.
Die Wohnung des Herrn Doktors machte auch keine Ausnahme davon, es war ein kleines Häuschen, das sich nur wenig von den übrigen unterschied, nothdürftig eingerichtet und kaum mit den einfachsten Bequemlichkeiten versehen. Die Witwe des verstorbenen Meßners führte dem jungen Arzte das Hauswesen, so gut oder so schlecht sie es eben verstand, und viel verstand sie wirklich nicht. Es gehörte in der That eine so bescheidene und fast bedürfnißlose Natur wie die Bennos dazu, um in solchen Umgebungen auszuhalten. Seine Vorgänger waren auch stets nur kurze Zeit in dieser Stellung geblieben, er saß nun schon im fünften Jahre hier, unermüdlich und unverdrossen in seiner anstrengenden Thätigkeit, und hatte auch vorläufig noch keine Aussicht, fortzukommen.
In seinem Arbeitszimmer sah es freilich anders aus als in den schönen, behaglichen Räumen, die Oberingenieur Elmhorst bewohnte. Die weiß getünchten Wände zeigten als einzigen Schmuck ein paar kleine Familienbilder, die verstorbenen Eltern Reinsfelds. Ein alter, schon sehr gebrechlicher Schreibtisch, mit einem Armstuhl, dessen ehemals schwarzes Leder längst grau geworden war, ein sehr hartes Sofa, mit derbem Leinenüberzug und Tisch und Stühle von gleich ehrwürdigem Alter, das war die ganze noch von dem Vorgänger übernommene Einrichtung dieses „Salons“, in welchem der Doktor wohnte, arbeitete, Rath ertheilte und auch Besuche empfing wie in diesem Augenblick, wo sein Vetter Albert Gersdorf sich bei ihm befand.
Der Rechtsanwalt war bereits gestern von Heilborn gekommen und hatte schon einen Gast vorgefunden, den er gleichfalls kannte, Veit Gronau, der sich hier von den Folgen seines
[598] Unfalle auf der Geierklippe erholte. Die schmerzhafte Verrenkung des Fußes, die er sich dort zugezogen, war zwar nicht gefährlich, hinderte ihn aber sehr am Gehen. Man hatte ihn damals mit Mühe bis nach Oberstein gebracht und Reinsfeld erbot sich sofort, den Patienten in Pflege zu nehmen, bis er wieder hergestellt sei, was auch dankend angenommen wurde.
Die beiden Vettern hatten sich seit Jahren nicht gesehen und auch nur selten geschrieben, um so freudiger war Benno überrascht gewesen, als Gersdorf gestern ganz unerwartet bei ihm eintraf. Er hatte ihn soeben überredet, den Besuch noch etwas länger auszudehnen, und sagte nun vergnügt:
„Also abgemacht, Du bleibst bis übermorgen! Das ist brav und Deine junge Frau hat hoffentlich nichts dagegen, wenn Du sie so lange in Heilborn bei ihren Eltern läßt.“
„O, sie befindet sich dort vortrefflich,“ erklärte Gersdorf, aber trotz der Versicherung gab sich eine gewisse Verstimmung in der Antwort kund und er sah auch ungewöhnlich ernst aus. Der Doktor blickte ihn forschend an.
„Höre, Albert, es ist mir schon gestern bei Deiner Ankunft vorgekommen, als ob da etwas nicht ganz in der Ordnung wäre. Ich glaubte, Du würdest mit Deiner Frau kommen! Ihr habt Euch doch nicht etwa gezankt?“
„Nein Benno, so arg ist es nicht, ich bin nur in die Nothwendigkeit versetzt worden, meinen Schwiegereltern klar zu machen, daß sich der bürgerliche Schwiegersohn seine Stellung zu wahren weiß.“
„Aha, weht der Wind daher? Was hat es denn gegeben?“
„Vorläufig nur eine kleine Auseinandersetzung. Ich erzählte Dir ja bereits, daß wir versprochen hatten, am Schluß unserer Hochzeitsreise die Eltern in Heilborn zu besuchen, wo meine Schwiegermutter die Kur braucht. Wir fanden sie dort in einem sehr exklusiven Kreise, der allerdings die Gnade hatte, mich aufzunehmen, es mir aber sehr deutlich fühlbar machte, daß ich dies nur der Ehre verdankte, eine Baroneß Ernsthausen zur Frau zu haben. Ich verweigerte also diesen liebenswürdigen Umgang und sagte ab bei einer großen Partie, die für gestern geplant war. Natürlich gab es darüber hochgradige Empörung, die Frau Schwiegermutter erklärte mich für einen Tyrannen, behauptete, ihre Tochter gehöre nach wie vor zu diesem Kreise, und brachte es wirklich dahin, daß auch Wally obstinat wurde. Ich stellte es ihr darauf frei, allein mitzufahren – und sie fuhr in der That mit.“
„Ohne Dich?“
„Ohne mich! Eine Stunde später war ich auf dem Wege zu Dir – ich wollte Dich ja jedenfalls aufsuchen in den nächsten Tagen – und ließ nur eine kurze Benachrichtigung zurück.“
„Es war doch ein Wagniß von Dir, in diese adelstolze Familie zu heirathen“ sagte Benno kopfschüttelnd. „Du siehst, die Kämpfe sind mit der Heirath keineswegs zu Ende.“
„Nein, aber darauf war ich von vornherein gefaßt, das muß eben durchgekämpft werden.“
„Wenn Du Deiner Frau sicher bist?“
Gersdorf lächelte nur bei der etwas bedenklich ausgesprochenen Frage.
„Gewiß, das bin ich! Wally ist so noch ein Kind mit ihren achtzehn Jahren, ein verwöhntes Kind, das im Elternhause so gut wie gar nicht erzogen wurde, aber ihres Herzens bin ich unter allen Umständen sicher. Glaubst Du, daß es mir leicht geworden ist, mein holdes kleines Trotzköpfchen allein zu lassen? Aber es muß durchaus begreifen lernen, daß die Frau einzig und allein zu dem Manne gehört. Lasse ich diesmal meiner Schwiegermutter freies Spiel, so mischt sie sich fortwährend in unsere Ehe und das dulde ich nun einmal nicht.“
Man sah es dem neugebackenen Ehemanne trotz alledem an, daß ihm der Entschluß nicht leicht geworden war; seine Augen schweiften recht sehnsüchtig durch das Fenster, nach der Richtung, wo Heilborn lag, während Benno die Charakterfestigkeit seines Vetters mit höchster Bewunderung anstaunte. Er hätte sich selbst einer tyrannischen Schwiegermutter gefügt, nur um ein geliebtes Wesen nicht zu verletzen.
Sie wurden unterbrochen, denn soeben trat Veit Gronau ein. Er hinkte zwar noch sehr bedeutend, schien sich aber sonst ganz wohl zu befinden und legte ein ziemlich umfangreiches Packet auf den Tisch.
„Eine Empfehlung von Herrn Waltenberg,“ sagte er. „Er wird am Nachmittage mit den Nordheimschen Damen herüberkommen, sie wollen sich das Tanzvergnügen ansehen. Einstweilen hat er den Said geschickt und nun läuft ganz Oberstein zusammen und dem Schwarzen nach, den sie für den leibhaften Gottseibeiuns halten!“
„Was haben Sie denn da?“ fragte Gersdorf auf das Packet deutend.
„Echt türkischen Tabak!“ versetzte Gronau wichtig. „Der Herr Doktor ist nämlich als Mensch vortrefflich, aber als Raucher barbarisch. Seine Sorte ist, mit Erlaubniß zu sagen, ein ganz schändliches Kraut, deshalb habe ich mich um Hilfe an Herrn Waltenberg gewandt und er hat mir auch sofort aus unseren eigenen Vorräthen das Nöthige geschickt. Jetzt werde ich die Pfeifen stopfen – man raucht nämlich noch Pfeifen in diesem biederen Oberstein – und ich verstehe mich darauf.“
„Das glaube ich!“ sagte Benno lachend „Sie und Herr Waltenberg verdampfen in einem Jahre vermutlich so viel, wie mein ganzes Einkommen beträgt. Ich darf nicht so wählerisch sein.“
Veit, der hier schon völlig zu Haus war, hinkte inzwischen an ein kleines Schränkchen und holte verschiedene Pfeifen heraus, die er mit großer Sachkenntniß zu stopfen begann, und bald dampften die drei Herren lustig drauf los. Es war in der That ein vorzügliches Kraut, das alle drei in die rosigste Stimmung versetzte.
Da wurde die Thür geöffnet und auf der Schwelle zeigte sich etwas höchst Unerwartetes: eine junge Dame, im eleganten Reiseanzug, mit einem schleierumwundenen Hütchen und einer zierlichen Reisetasche in der Hand. Sie war im Begriff, rasch einzutreten, blieb aber stehen wie erstarrt von dem Anblick, der sich ihr bot. Gronaus unendlich lange Gestalt lag der Länge nach auf dem Sofa ausgestreckt, der Doktor saß in Hemdärmeln seelenvergnügt in seinem Armstuhl, Gersdorf nicht weit davon und über ihnen schwebten die blauen Tabakswolken und umhüllten die ganze Gruppe mit einem dichten, aber leider durchsichtigen Schleier.
„Herr Doktor,“ meldete die alte Wirthschafterin, deren Gesicht jetzt hinter der Fremden sichtbar wurde. „Da ist eine junge Gnädige angekommen und sie will –“
„Meinen Mann will ich!“ fiel die junge Gnädige in sehr energischem Tone ein, indem sie vollends eintrat und damit einen förmlichen Aufruhr entfesselte. Gronau fuhr vom Sofa auf und stieß dabei einen lauten Schmerzensschrei aus, denn sein Fuß vertrug noch nicht derartige heftige Bewegungen, Benno sprang entsetzt empor und suchte seine Joppe, die er nirgends fand, und aus den Dampfwolken tauchte Gersdorf hervor und rief in freudigster Ueberraschung: „Wally – Du bist es?“
„Ja – ich bin es!“ erklärte Frau Doktor Gersdorf in einem so vernichtenden Tone, als habe sie ihren Gatten auf irgend einem Verbrechen ertappt, und dabei trat sie in die Mitte des Zimmers und nahm eine höchst imposante Stellung an. Leider störte sie der Tabaksrauch darin, sie begann entsetzlich zu husten und kämpfte mit einem förmlichen Erstickungsanfall.
Der arme Benno war ganz vernichtet. Er hatte heimlich aufgeathmet, als er hörte, daß auf den Besuch der neuen vornehmen Verwandten, vor der er einen angemessenen Respekt hegte, nicht zu rechnen sei; er hätte ihr zu Ehren jedenfalls wieder den berühmten schwarzen Staatsanzug angelegt und nun traf sie ihn in solcher Toilette! In seiner grenzenlosen Verwirrung ergriff er sein Taschentuch und versuchte damit, den Rauch zu verjagen, aber er jagte ihn leider nach der falschen Richtung, der Dame grade in das Gesicht! Dabei fegte er die Thonpfeife vom Tische, die nun in Scherben zerbrach, und schließlich warf er noch seinen Armstuhl um, der bei diesem Unglück ein Bein verlor. Gersdorf ergriff endlich seinen Vetter beim Arm.
„Sei ruhig, Benno, Du richtest sonst noch ein Unglück an,“ sagte er beschwichtigend. „Vor allen Dingen laß Dich meiner Frau vorstellen. Mein Vetter, Benno Reinsfeld, liebe Wally!“ Wally blickte mit höchst ungnädiger Miene auf diesen Mann in Hemdärmeln, der ihr als Verwandter vorgestellt wurde, sie schien das empörend zu finden.
„Ich bedaure sehr, die Herren gestört zu haben,“ sagte sie, mit einem niederschmetternden Blick auf ihren Gatten. „Mein Mann theilte mir mit, daß er Sie besuchen werde, Herr Doktor – auf unbestimmte Zeit.“
„Gnädige Frau,“ stotterte Benno ganz fassungslos. „Es ist mir eine hohe Ehre – ganz gewiß [599] „Das freut mich,“ schnitt ihm die gnädige Frau ohne weiteres das Wort ab. „Draußen steht mein Gepäck, Herr Doktor, bitte, lassen Sie es hereinbringen. Ich bleibe auch hier – auf unbestimmte Zeit!“
Das fehlte noch, um die Verzweiflung des Doktors voll zu machen. Er dachte an das kleine, dürftig eingerichtete Giebelstübchen, das er seinem Vetter hatte anbieten müssen, und nun wollte eine Baroneß Ernsthausen darin wohnen! Da fiel sein rathlos umherschweifender Blick endlich auf die so angstvoll gesuchte Joppe, die grade vor ihm lag, er stürzte plötzlich darauf los, packte sie und verschwand mit seiner Beute im Nebenzimmer. Gronau, der eine ebenso respektvolle wie entschiedene Abneigung gegen „die Damen“ hegte, hinkte ihm schleunigst nach und ließ dabei die Thür so unvorsichtig in das Schloß fallen, daß das ganze Hans erbebte.
„Bin ich denn hier unter die Wilden geraten?“ rief die junge Frau entrüstet über diesen Empfang. „Der Eine schreit, der Andere läuft davon und der Dritte –!“ sie schauderte förmlich bei dem Gedanken, daß dieser Dritte ihr Gatte war.
Gersdorf aber kümmerte sich nicht um den bitterbösen Ausdruck des rosigen Gesichtchens. Jetzt, wo sie allein waren, eilte er mit strahlender Miene und ausgebreiteten Armen auf seine kleine Frau zu.
„Wally, also bist Du wirklich gekommen!“
Wally entzog sich der Umarmung, sie trat zurück und erklärte feierlich:
„Albert – Du bist ein Ungeheuer!“
„Aber Wally –!“
„Ein Ungeheuer!“ wiederholte sie mit Nachdruck. „Mama sagt es auch und sie meint, ich müsse Dich mit Verachtung strafen. Deshalb bin ich auch nur hergekommen.“
„So, deshalb?“ sagte Albert, während er ihr die Reisetasche abnahm; sie duldete das zwar, aber sie behielt ihre vernichtende Haltung bei.
„Du hast mich verlassen, mich, Dein eheliches, Dir angetrautes Weib, schändlich verlassen – und das noch dazu auf der Hochzeitsreise!“
„Bitte, mein Kind, Du verließest mich,“ protestirte Gersdorf. „Du bist mit der Gesellschaft gefahren –“
„Auf einige Stunden! Und als ich zurückkam, warst Du fort, warst in die Wildniß gegangen, denn etwas anderes ist ja dies Oberstein nicht, und nun sitzest Du hier in dem abscheulichen Tabaksqualm und rauchst und lachst und jubilierst – leugne es nicht, Albert, Du hast gelacht, ich habe draußen deutlich Deine Stimme gehört!“
„Allerdings habe ich gelacht, aber das ist doch kein Verbrechen.“
„Wenn Deine Frau fern ist!“ rief Wally zornig, „wenn Deine tiefgekränkte Gattin in derselben Stunde ihr Schicksal beweint, das sie an diesen herzlosen Mann kettete – o, Du siehst das nicht einmal ein!“
Sie schluchzte laut auf und warf sich verzweiflungsvoll auf das Sofa, fuhr aber erschrocken wieder in die Höhe – auf eine so harte Ruhestätte für ihren Schmerz war sie nicht gefaßt gewesen.
„Wally,“ sagte ihr Gatte ernst, indem er zu ihr trat, „Du wußtest, warum ich jenen Kreis meiden wollte, und ich glaubte, meine Frau würde darin unbedingt an meiner Seite stehen – es hat mir sehr wehe gethan, daß ich mich darin täuschte!“
Der Vorwurf verfehlte seine Wirkung nicht. Wally schlug die Augen nieder und erwiderte kleinlaut:
„Ich mache mir ja gar nichts aus all den albernen Menschen, aber Mama meinte, ich dürfe mich nicht unterdrücken lassen.“
„Und Du folgtest natürlich Deiner Mutter, nicht meiner Bitte, Du zogst eine fremde Gesellschaft der meinigen vor!“
„Das hast Du ja auch gethan,“ schluchzte Wally; „Du bist fortgefahren, ohne danach zu fragen, ob Dein armes Weib sich verzehrt in Schmerz und Sehnsucht!“
Albert legte leise den Arm um sie und beugte sich zu ihr nieder, seine Stimme klang jetzt in vollster Innigkeit:
„Hast Du Dich wirklich gesehnt, meine kleine Wally? – Ich auch!“
Die junge Frau blickte mit großen Augen zu ihm empor; die Thränen versiegten und sie schmiegte sich fest an ihn.
„Wann wolltest Du wiederkommen?“ fragte sie.
„Uebermorgen – wenn ich es nämlich so lange ausgehalten hätte.“
„Und ich bin schon heute gekommen – ist Dir das genug?“
„Ja, mein süßer, kleiner Trotzkopf, es ist mir genug!“ rief Albert in überströmender Zärtlichkeit, während er sie in die Arme schloß. „Nun wollen wir meinetwegen noch heute nach Heilborn zurückkehren.“
„Nein, das wollen wir nicht,“ erklärte Wally mit großer Entschiedenheit. „Ich habe mich gezankt mit der Mama, die mich nicht fortlassen wollte, und mit dem Papa auch. Ich habe das ganze Gepäck mitgebracht, und nun bleiben wir hier.“
„Um so besser,“ sagte Gersdorf sichtlich erleichtert. „Ich bin ja doch nur Dir zu Liebe nach Heilborn gegangen; hier sind wir mitten in den Bergen. Ich fürchte nur, wir werden uns ein anderes Quartier suchen müssen, das Doktorhaus wird Dich mit all Deinen Koffern schwerlich beherbergen können.“
Die kleine Frau sah sich naserümpfend in dem Zimmer um, wo die Tabakswolken noch immer lieblich wallten und die Pfeifenscherben mit dem nunmehr dreibeinigen Stuhle einträchtig am Boden lagen.
„Ja, es scheint hier überhaupt eine entsetzliche Junggesellenwirthschaft zu sein! Du bist schon ganz verwildert bei diesem vielgerühmten Vetter, der wie ein Unsinniger davonstürzt, wenn eine Dame über seine Schwelle tritt. Hat er denn gar keine Lebensart?“
„Der arme Benno war in so grenzenloser Verlegenheit,“ entschuldigte Albert. „Er hatte vollständig den Kopf verloren. Sei liebenswürdig gegen ihn, Wally, ich bitte Dich – und nun will ich vor allen Dingen nach Deinem Gepäck sehen.“
Er ging, und Frau Doktor Gersdorf setzte sich diesmal mit etwas größerer Vorsicht aus das Sofa, dessen Härte sie vorhin so erschreckt hatte; da wurde leise und schüchtern eine andere Thür geöffnet und der Herr des Hauses erschien. Er hatte die Zwischenzeit benutzt, um sich in aller Eile etwas salonfähiger zu machen, und näherte sich nun verlegen und demüthig der jungen Dame, die vorläufig noch nicht geneigt schien, die Bitte ihres Gatten zu erfüllen und liebenswürdig zu sein, da sie im Gegenteil mit strenger Richtermiene auf den Eintretenden blickte.
„Gnädige Frau,“ begann dieser stockend. „Ich bitte um Entschuldigung, daß Sie bei Ihrer unerwarteten Ankunft – ich war sehr unglücklich darüber, gewiß sehr unglücklich – “
„Ueber meine Ankunft?“ unterbrach ihn die junge Frau entrüstet.
„Um Gotteswillen, nein!“ rief Benno, der sich schon wieder in seiner Rede verwickelte. „Ich meinte nur – ich wollte bemerken – daß ich Junggeselle bin.“
„Ja, leider!“ sagte Wally, noch immer sehr ungnädig. „Ein Junggesell ist etwas Trauriges! Warum heirathen Sie nicht?“
„Ich?“ rief Benno ganz entsetzt über die Frage.
„Natürlich, Sie müssen heirathen, so bald als möglich!“
Die Worte klangen so diktatorisch, daß der Doktor gar nicht zu widersprechen wagte, sondern nur eine Verbeugung machte; das entwaffnete Frau Wally einigermaßen, sie setzte etwas milder hinzu:
„Albert hat auch geheirathet und befindet sich sehr wohl dabei. Oder zweifeln Sie vielleicht daran?“
„O nein, gewiß nicht!“ versicherte der ganz eingeschüchterte Benno, „aber ich – “
„Nun, Sie, Herr Doktor?“ examinirte die neue Verwandte.
„Ich habe keine Gewandtheit im Verkehr mit Damen, keine Manieren,“ sagte er wehmüthig. „Gar keine, gnädige Frau, und das gehört doch dazu.“
Diese Selbsterkenntniß fand Gnade bei Wally; ein Mann, der seine Mängel so tief empfand, schien ihr der Theilnahme werth, sie ließ ihre strenge Miene fahren und entgegnete wohlwollend:
„Das läßt sich lernen! Setzen Sie sich zu mir, Herr Doktor, wir wollen die Sache besprechen.“
„Das Heirathen?“ fragte Benno entsetzt; er schien zu fürchten, daß die Sache augenblicklich ins Werk gesetzt werden könnte, und wich drei Schritte zurück.
„Nein, vorläufig nur die Manieren. Es fehlt Ihnen nicht an gutem Willen, wie ich sehe, aber Sie brauchen jemand, der sich Ihrer annimmt und Sie erzieht – und das werde ich thun.“
„O gnädige Frau, wie gut Sie sind!“ sagte der Doktor mit so rührender Dankbarkeit, daß die achtzehnjährige Erzieherin dadurch völlig gewonnen wurde.
[600] „Ich bin Ihre Verwandte und heiße Wally,“ versetzte sie. „Wir nennen uns fortan beim Vornamen; also, Benno, setzen Sie sich zu mir!“
Er kam der Aufforderung nach, anfangs noch etwas schüchtern, aber die kleine Frau verstand es, ihn zutraulich zu machen. Sie fragte unaufhörlich, und er beichtete denn auch treuherzig alles, seine Unbeholfenheit bei dem Besuche in der Nordheimschen Villa, seine Trostlosigkeit darüber, seine verzweifelten, aber vergeblichen Versuche, irgendwo und irgendwie Manieren zu lernen, und gerade bei dieser Beichte verschwand die Unbeholfenheit vollständig, und der wahre, ehrliche, herzensgute Benno kam dabei zum Vorschein. Als der Rechtsanwalt nach etwa zehn Minuten zurückkehrte, fand er seine Frau und seinen Vetter in vollster Eintracht und unbedingter gegenseitiger Hochachtung bei einander.
„Ich habe das Gepäck einstweilen hereinbringen lassen“ sagte er, „und zugleich nach dem Gasthause geschickt, um zu fragen, ob dort noch Platz ist.“
„Das ist nicht nöthig,“ fiel Wally ein. „Wir bleiben hier, Benno wird schon Platz schaffen, nicht wahr, Benno?“
„Natürlich wird Platz geschafft!“ rief der Doktor eifrig. „Ich ziehe aus, ich ziehe mit Gronau in das kleine Giebelzimmer und überlasse Ihnen die unteren Räume, Wally. Ich werde gleich auf der Stelle das Nöthige besorgen.“
Er sprang mit einem förmlichen Enthusiasmus auf und lief hinaus. Gersdorf sah ihm höchst verwundert nach.
„Benno – Wally? Nun, Ihr seid ja schon recht hübsch weit gekommen in den paar Minuten!“
„Albert, Dein Vetter ist ein höchst vortrefflicher Mensch,“ erklärt Wally. „Man muß sich des jungen Mannes annehmen, das ist Verwandtenpflicht.“
Der Rechtsanwalt lachte laut auf.
„Des jungen Mannes? Er ist gerade zwölf Jahre älter als Du.“
„Ich bin eine verheirathete Frau!“ lautete die sehr würdevolle Antwort, „und er ist leider nur ein Junggeselle, aber dafür kann er nicht und ich werde ihn auch möglichst bald verheirathen.“
„Um Gotteswillen!“ rief Gersdorf. „Du hast den unglücklichen Benno kaum gesehen und hast schon Heirathspläne für ihn? Ich bitte Dich –“
Weiter kam er nicht, denn seine Frau trat mit empörter Miene dicht vor ihn hin.
„Unglücklich nennst Du ihn, weil er heirathen soll! Du hältst also die Heirath für ein Unglück und die Deinige wohl auch? – Albert, was hast Du gemeint mit dem Worte?“
Die Frage klang sehr zornig und die kleinen Füße stampften dazu den Takt auf den Boden, aber Albert lachte nur und nahm sein Weibchen in die Arme.
„Daß es nur eine kleine Frau giebt, die ihren Mann so glücklich machen kann, wie ich es bin!“ sagte er zärtlich. „Bist Du zufrieden mit dem Geständniß?“
Und Frau Doktor Gersdorf war zufrieden!
Die Nachmittagssonne schien hell und lustig herab auf das bunte Traben, das sich vor dem Wirthshause in Oberstein entfaltete. So unbedeutend das Oertchen war, es bildete doch den Mittelpunkt für all die einzelnen in der Umgegend zerstreuten Höfe und Wohnstätten, und deren Bewohner waren sämmtlich zu dem Feste gekommen, das wie üblich mit dem Kirchgange begann und dann dem Vergnügen sein Recht ließ. Der Johannistanz, der nach altem Brauche im Freien stattfand, hatte längst begonnen, auf dem vor dem Wirthshause improvisirten Tanzplatze drehten sich die jungen Bursche und Mädchen, die Alten saßen beim Trunk, die ländlichen Musikanten fiedelten unermüdlich und die Kinder jagten sich und lärmten mitten in dem fröhlichen Durcheinander. Es war ein heiteres, bewegtes Bild, dessen Reiz durch die malerischen Sonntagstrachten der Aelpler noch erhöht wurde.
Die Anwesenheit der „Stadtleute“, die gleichfalls erschienen waren, störte die Festfreude nicht im geringsten, denn die jungen Ingenieure, die in Oberstein wohnten, tanzten wacker mit, und die beiden dunkelfarbigen Diener, welche der fremde Herr aus Heilborn mitgebracht hatte, bildeten ein höchst sehenswerthes Schauspiel für die Gebirgsleute. Veit Gronau, der schon mit aller Welt bekannt geworden war, zog wie ein Menagerieführer mit den beiden umher, sie überall präsentirend und bereitwilligst Auskunft gebend auf all die neugierigen Fragen über den Afrikaner und den Indier. Said und Djelma waren offenbar sehr stolz aus die allgemeine Vewunderung und machten verschiedene Versuche der Annäherung an die Eingeborenen, die Gronau wohlwollend unterstützte, denn er fühlte sich verpflichtet, seine Schützlinge mit europäischen Sitten bekannt zu machen.
In dem kleinen Kraut- und Blumengärtchen zur Seite des Wirthshauses, wohin man für heute Tisch und Stühle geschafft hatte, befand sich Waltenberg mit den Nordheimschen Damen, denen sich Doktor Gersdorf und seine Frau angeschlossen hatten. Die Stimmung der kleinen Gesellschaft war durch das unerwartete Zusammentreffen eine sehr heitere geworden, nur Frau von Lasberg machte eine Ausnahme davon.
Sie liebte es überhaupt nicht, den Volksbelustigungen beizuwohnen, auch nicht als bloße Zuschauerin, und hatte überdies eine leichte Migräne, so daß sie entschlossen war, von der Partie zurückzubleiben. Da schickte Elmhorst die Nachricht, er könne diesmal seine Braut nicht begleiten, auf der unteren Strecke der Bahn habe ein Wasserdurchbruch stattgefunden und er müsse sofort hinunterfahren. Die alte etikettenstrenge Dame hielt es darauf hin nicht für zulässig, daß Waltenberg allein die jungen Damen begleitete, er war ja noch nicht erklärter Bräutigam wie Wolfgang. Sie opferte sich also und fuhr mit, büßte das aber mit einer Zunahme ihrer Kopfschmerzen, und nun führte der Zufall sie auch noch mit Wally zusammen, die bei der Baronin endgültig in Ungnade gefallen war, seit sie die bürgerliche Heirath durchgesetzt hatte. Die kleine Frau wußte das sehr genau und bemühte sich nach Kräften, ihre Gegnerin zu ärgern. Sie äußerte den dringenden Wunsch, mitzutanzen, erklärte die vornehme Abgeschlossenheit in dem Gärtchen für langweilig und machte schließlich den Vorschlag, sich mitten unter die Gebirgsleute zu begeben, kurz, sie jagte die gestrenge Frau Oberhofmeisterin von einer Empörung in die andere.
„Und wenn Benno kommt, tanze ich mit ihm auf die Gefahr hin, meinen Herrn Gemahl eifersüchtig zu machen!“ sagte sie mit einem muthwilligen Blick auf ihren Gatten, der mit Erna und Waltenberg an dem Holzgitter stand und sich das Treiben draußen ansah. „Der arme Doktor kann sich gar keine Erholung gönnen, gerade als wir fort wollten, wurde er wieder an ein Krankenbett gerufen, glücklicherweise hier in Oberstein, und er versprach, in einer halben Stunde nachzukommen. Alice, Du läßt Dich jetzt auch von Benno behandeln, wie ich höre?“
Die junge Dame neigte nur bejahend das Haupt und Frau von Lasberg bemerkte sehr von oben herab:
„Alice fügt sich darin dem Wunsche ihres Bräutigams. Ich fürchte aber, Herr Elmhorst überschätzt seinen Freund sehr, wenn er ihm einen größeren Scharfblick zutraut, als unseren ersten ärztlichen Autoritäten. Jedenfalls ist es ein Wagniß, die Behandlung der Braut einem jungen Arzte anzuvertrauen, der seinem eigenen Geständnisse nach fast ausschließlich eine Bauernpraxis hat.“
„Ich finde, daß Herr Elmhorst in diesem Punkte vollkommen recht hat,“ erklärte Wally würdevoll. „Unser Vetter kann sich getrost jeder ärztlichen Autorität an die Seite stellen, ich versichere es Ihnen, gnädige Frau.“
Die Baronin lächelte etwas spöttisch.
„Ach, ich bitte um Verzeihung! Ich vergaß es wirklich, daß Doktor Reinsfeld jetzt zu Ihren Verwandten gehört, liebe Baroneß.“
„Bitte: Frau Doktor Gersdorf,“ berichtigte diese. „Ich bin sehr stolz auf meinen Doktortitel und meine Frauenwürde und möchte sie um keinen Preis missen.“
„Das sieht man!“ bemerkte die alte Dame mit einem entrüsteten Blick auf die kleine Frau, die ihren bürgerlichen Namen mit einer so herausfordernden Glückseligkeit zur Schau trug und jetzt unbekümmert weiter plauderte.
Wie Vieles und wie Schönes ist nicht schon über die Augen der Frauen geschrieben und gesprochen worden! Wie haben diese „strahlenden Sterne“ seit jeher Sänger und Dichter zu schwungvollen Dithyramben begeistert, zu den schönsten Liedern, welche die schmerzlich-süßen Gefühle besingen, die ein Frauenauge, versagend oder verheißend, hervorzurufen vermag! Von Al-Hafiz und Firdusi bis Heinrich Heine und Bodenstedt-Mirza-Schaffy, stets derselbe Preisgesang, wenn auch in tausend Variationen und in ungezählten Farbenmischungen von verherrlichenden Worten und Tönen!
Und doch ist das Auge der Frau nicht anders gebaut wie das des Mannes, und beide gleichen einander in der Art, wie sie gebildet sind, so vollkommen, daß der gewiegteste Anatom, wenn ihm ein Auge allein vorgelegt würde, nicht im Stande wäre, zu entscheiden, ob es das einer Frau oder eines Mannes gewesen ist. Daher giebt es denn unter den Naturforschern so manchen bösen Skeptiker, der von all dem, was die Dichter in das Auge der Frau hineingelegt und aus ihm herausgelesen haben, nichts, gar nichts vorgefunden haben will, der das schmachtende Blau, den „Widerschein des Himmels“, oder das feurige Schwarz, die „glutvollen Demanten“ des Frauenauges für einfaches blaues oder dunkles Pigment, d. h. Farbstoff in der Regenbogenhaut erklärt, und so kann auch der Arzt leider nicht umhin, zu gestehen, daß die Augen der Frauen ebensoviele „Fehler“ besitzen wie die der Männer, ja, daß es Leiden der Augen giebt, die in der weiblichen Welt viel häufiger anzutreffen sind als in der männlichen. Wenn wir hier mit einigen Worten darauf hinweisen wollen, so leitet uns der Wunsch, eine Mahnung und Warnung auszusprechen mit Bezug auf gewisse zunehmende Verschlechterungen in den Augen vieler Frauen, und dem weiteren Umsichgreifen jener nach Möglichkeit vorzubeugen, damit nicht schließlich die Wirklichkeit in einem zu schroffen Gegensatz stehe zu den Lobhymnen der überströmenden dichterischen Begeisterung.
Zunächst ist es die Kurzsichtigkeit, welche sich auch bei dem weiblichen Geschlechte immer mehr auszubilden beginnt, wenn sie auch nicht die hohen Grade erreicht, die wir bei dem männlichen Geschlechte antreffen. Die Ueberlastung mit Arbeit in den höheren Töchterschulen geht eben glücklicherweise nicht so weit wie in den höheren Bildungsanstalten der Knaben. Nun ist ja allerdings die Kurzsichtigkeit kein so großer Uebelstand, so lange sie nicht hochgradig ist, sie zwingt aber zur Benutzung einer Brille für das Fernsehen, was freilich den Reiz eines schönen Mädchenauges nicht eben erhöht. Allein wenn die Kurzsichtigkeit stärker wird, so machen sich doch größere Beschwerden bemerkbar, da es nothwendig wird, die Gegenstände näher an das Auge heranzubringen, was einen vermehrten Blutandrang nach dem Auge zur Folge hat. Dann stellen sich die sogenannten fliegenden Mücken (mouches volantes) ein, d. h. kleine dunkle Pünktchen, welche im Hellen vor dem Auge hin- und herschweben; es kann ferner zu Trübungen im Glaskörper kommen und zu noch gefährlicheren Veränderungen in der Sehnervenhaut.
Gegen die zweifellose Zunahme der Kurzsichtigkeit unter dem weiblichen Geschlecht läßt sich nur dadurch ankämpfen, daß in den Schulen für bessere Bänke und Tische und für hellere Beleuchtung gesorgt wird, und daß die Arbeiten in der Häuslichkeit, bei denen die Augen angestrengt werden müssen, verringert werden.
Ebenso wie die Kurzsichtigkeit ist auch die von Professor Donders in Utrecht vor noch nicht langer Zeit entdeckte Uebersichtigkeit in großem Maße in der Frauenwelt verbreitet. Während aber bei der Kurzsichtigkeit die Augenaxe zu lang ist, d. h. das Auge in der Richtung von vorn nach hinten länger ist als normal, und dieser Fehler durch eine Konkavbrille ausgeglichen wird, ist bei der Uebersichtigkeit die Augenaxe zu kurz, und hier ist eine Konvexbrille nöthig, um die dadurch bedingten Sehstörungen zu beseitigen. Die Uebersichtigkeit jedoch ist angeboren und läßt sich nicht erwerben.
Wohl zu unterscheiden von der Uebersichtigkeit ist die bei Frauen ebenfalls sehr häufig vorhandene Weitsichtigkeit oder Alterssichtigkeit. Den letzten Namen hat sie daher, daß sie gewöhnlich erst im Anfang der vierziger Jahre auftritt, und ihre Ursache ist die Ermüdung des Accommodationsmuskels, nämlich desjenigen Muskels im Augeninnern, der die Aderhaut anspannt, infolge dessen das an derselben befestigte Band lockert, an welchem die Linse aufgehängt ist, und dadurch die ihrer eigenen Elasticität folgende Linse stärker gekrümmt macht, was für das Sehen in der Nähe (Accommodation) nöthig ist. Wenn dieser Muskel, wie alle Muskeln im Körper, mit zunehmendem Alter schwächer wird, wenn also infolge davon die Linse nicht mehr in die stärker gekrümmte Form versetzt werden kann, dann wird auch das Lesen in der Nähe immer schwieriger. Namentlich zeigt sich dies am Abend, und das Buch wird dann weit vom Auge entfernt und hinter das Licht gehalten, um das Lesen zu ermöglichen.
Hier erspart eine richtige Konvexbrille, die vor das weitsichtige Auge gesetzt wird, der Linse die stärkere Krümmung, erspart dem schwach gewordenen Accommodationsmuskel die Arbeit und ermöglicht also wieder das bequeme Lesen und Arbeiten in der Nähe. Deshalb ist es ein Fehler, unter solchen Umständen das Auge übermäßig anzustrengen, nur um das Tragen einer Brille zu vermeiden, was ja allerdings mancher Frau, die durchaus noch nicht gewillt ist, sich zu den „Alten“ zählen zu lassen, als „großmütterlich“ erscheinen muß. Die Konvexbrille hilft aber unter diesen Verhältnissen jene Altersbeschwerden, die sich unerbittlich geltend machen, leichter ertragen und bewahrt vor größerem Schäden an den Augen.
Gar nicht selten aber stellt sich eine solche Ermüdung des Accommodationsmuskels gewissermaßen vorzeitig ein, also schon vor dem vierzigsten Lebensjahre (oft schon im zwanzigsten Jahre), und dies ist eine der hauptsächlichsten Erkrankungen des Frauenauges. Professor Cohn in Breslau hat dies Leiden unter 811 Fällen siebenhundertzwanzigmal bei Frauen vorgefunden. Es ist also ein Mangel an Ausdauer im Sehen, eine leicht eintretende Ermüdung und wird Asthenopie genannt. Dieselbe kann so hochgradig werden, daß selbst für wenige Minuten ein anhaltendes Lesen oder Arbeiten ist der Nähe zur Unmöglichkeit wird, daß die Buchstaben oder die Nadelstiche durch einander laufen oder gleichsam zittern und schwanken, und daß schließlich bei fortgesetzter Anstrengung der Augen Schmerzen in denselben und Entzündung eintreten können. Die Asthenopie ist gewöhnlich auch die Folge einer andauernden Thätigkeit in der Nähe, kann aber auch von niederdrückenden Einwirkungen auf das Gemüth herrühren, z. B. von Schreck, Gram und Sorge, von erschöpfenden Krankheiten und von vielem Nachtwachen.
Mit zu den wesentlichsten Ursachen gehören die feineren Handarbeiten; vor allem also das Buntsticken, die Kanevasstickerei, die so beliebte Filetguipure, ganz besonders aber das Namensticken, der Plattstich und die feine Perlen- und Spitzenarbeit. Hier ist es erforderlich, die Arbeit dicht ans Auge heranzubringen, und dadurch wird der Accommodationsmuskel in einer Weise angestrengt, die ihn immer mehr entkräften muß, vornehmlich, wenn auch die Beleuchtung bei diesen Arbeiten eine nicht ausreichende ist. Wer durch den Kampf ums Dasein gezwungen ist, solche Arbeiten auszuführen, der möge wenigstens dabei genügende Unterbrechungen zur Erholung des Auges eintreten lassen und möge für gute Beleuchtung und große Vorzeichnungen sorgen. Der übrigen Frauenwelt ist jedoch von jenen feineren Handarbeiten, die ja heutzutage durch die Maschine ebenso gut und wohlfeil hergestellt werden, durchaus abzurathen.
Indem wir andere noch ernstere Augenleiden, welche überwiegend das weibliche Geschlecht bedrohen, z. B. den grünen Staar, hier übergehen, da die dabei auftretenden schweren Symptome sofort zum Arzte führen, wollen wir nicht unterlassen, hervorzuheben, daß, im Gegensatze zu den erwähnten Sehstörungen die Farbenblindheit in der weiblichen Welt äußerst selten ist, während doch drei bis vier Prozent der Männer an dieser Krankheit leiden.
So haben denn also auch die Augen der Frauen ihre Fehler, sogar solche, die ihnen mehr anhaften als den Augen der Männer. Ob auch jener geheimnißvolle Aufruhr, jene uralten und doch ewig neuen Empfindungen, die sie in dem „himmelhochjauchzend zum Tode betrübten“ Mannesherzen wachzurufen pflegen, zu diesen „Fehlern“ zu rechnen sind, darüber zu entscheiden, wollen wir den Dichtern oder den – Ehemännern überlassen.
[603]Der Künstler kann sich vor vielen glücklich preisen, dessen Leben in eine Epoche fiel, welche ihm in ihren geschichtlichen Menschen und Ereignissen wahrhaft große würdige, seiner besonderen Begabung entsprechende Gegenstände und zugleich die Möglichkeit bietet, sein Talent in vollem Maße zu entwickeln und es in deren künstlerischer Behandlung zu bethätigen. Anton v. Werner ist dies Glück zu theil geworden.
Gerade während seiner Lehr- und Wanderjahre begannen jene Persönlichkeiten in den Vordergrund der vaterländischen Geschichte zu treten und die ersten jener Reihe von gewaltigen historischen Thaten zu vollziehen, deren treue Schilderung ihm zur künstlerischen Hauptaufgabe seines Lebens geworden ist. In der persönlichen Anschauung der Ereignisse und in der persönlichen Berührung mit den Männern, welche dieselben so glorreich hinausführten, wuchs mit der Begeisterung auch die Kraft zur Lösung dieser Aufgabe, wurde er sich seines Berufes dafür erst wahrhaft bewußt. Im Vollbesitz einer früh schon errungenen Meisterschaft aber hat es ihm jederzeit ebenso wenig an verständnißvollen Auftraggebern, welche die Größe jener Kraft richtig erkannten und würdigten, als an einem Publikum gefehlt, das seinen Schöpfungen und speciell eben den Darstellungen aus dieser großen Zeitgeschichte freudiges Interesse und warme Anerkennung entgegenbrachte. Aber auch mit Werken von wesentlich anderer Art hat er seines Volkes Herz zu treffen, es zu erheitern und zu rühren verstanden. Der die Wahrheit über alles hochhaltende, streng realistische Maler, welcher „dem Jahrhundert und Körper der Zeit seinen Spiegel“ vorzuhalten trachtet, war und ist ebenso heimisch im alten romantischen Lande der deutschen Dichtung und in der geschichtlichen Vorwelt wie in der modernsten Wirklichkeit. Manche Jahre schon, bevor er die großen historischen Momente und die intimeren Einzelscenen aus den Zeiten des Krieges gegen Frankreich und der Erringung der deutschen Einheit auf dessen Schlachtfeldern schilderte, war er als hochbegabter Nachfolger der romantischen Geschichtsmaler Altdüsseldorfs geschätzt. Seinen heutigen populären Ruhm dankt er zu nicht geringerem Theil als seinen Wand- und Staffeleigemälden, Panoramen und Dioramen, auf denen er Könige, Fürsten, Generale, Staatsmänner und Soldaten unserer Tage lebendig in die Erscheinung ruft, – manchen von ihm gemalten poetischen Allegorien und mehr noch seinen Zeichnungen zu den Dichtungen eines nachgeborenen Sprößlings der deutschen romantischen Poetenschule, Scheffels.
Anton v. Werner ist 1843 zu Frankfurt an der Oder geboren als der Sohn eines Handwerkers. In engen dürftigen häuslichen Verhältnissen wuchs der zarte, anscheinend schwächliche, aber geistig sehr geweckte und lebhafte Knabe auf. Früh schon wurde er in die Lehre zu einem Zimmermaler gegeben, um dessen Kunst gut handwerksmäßig praktisch zu erlernen. Ueber seine künstlerischen Neigungen und seine Begabung hatte er schon als Kind keinen Zweifel gelassen. Bei jenem Beruf meinte man daher den für ihn geeignetsten gewählt zu haben. An die Ermöglichung des höheren Kunststudiums für den Knaben war unter den gegebenen Verhältnissen zunächst gar nicht zu denken. Anton v. Werner hat diese harten Lehrjahre später nie beklagt, sie niemals als eine verlorene Zeit angesehen. Vor der Mehrzahl seiner nur auf dem herkömmlichen modernen Wege des Akademie- und Atelierbesuchs zur künstlerischen Ausbildung gelangten Genossen hat ihm gerade jene von ihm durchgemachte Lehrzeit einen unschätzbaren Vorsprung gegeben. Dankt er ihr doch die handwerklich-technische praktische Schulung, seine Fertigkeit und Sicherheit in der Behandlung auch der größten Flächen und gleichzeitig die Vertrautheit mit allem Ornament und mit dessen Malerei.
Des jungen Gehilfen höherer künstlerischer Beruf und ungewöhnliches Talent, die sich in jenen Jahren mehr und mehr durch wohlgetroffene Bildnisse und Kompositionen bekundeten, erweckten ihm indeß in seiner Vaterstadt thätige Freunde und Gönner. Mit deren Hilfe und der eigenen Kraft vertrauend, begab er sich 1859 nach Berlin, um hier mit dem Studium der Kunst auf der Akademie zu beginnen. Was ihm noch zum Lebensunterhalt mangelte, bestritt er durch eine eifrige illustrirende Thätigkeit. Seine Erfindungskraft und seine Geschicklichkeit im Entwerfen ornamentaler Kompositionen kam ihm dabei vortrefflich zu statten. Seine Vorliebe für dies Genre erweckte und nährte in natürlicher Folge auch die für einen der ersten, phantasievollsten und liebenswürdigsten deutschen Meister desselben, Adolf Schrödter in Düsseldorf.
Anton v. Werner, theils um dem verehrten Manne die Bewunderung für seine Schöpfungen kund zu geben, theils ihn zu einem Urtheil über seines jungen Verehrers eigene derartige Arbeiten zu veranlassen, sendete an Schrödter eine Auswahl seiner Entwürfe und Studien. Sie fanden bei diesem die freundlichste Aufnahme. Es entwickelte sich ein brieflicher Verkehr zwischen ihm und Werner. Als Schrödter damals, 1862, dem Ruf nach Karlsruhe an die großherzogliche Kunstschule folgte, lud er seinen jungen Freund ein, dorthin zu übersiedeln. Letzterer entsprach dieser Aufforderung mit Freuden. In Karlsruhe begann für ihn eine schöne glückliche Zeit, die rechte Blüthenperiode seines Daseins. Schrödters Schwager, C. F. Lessing, der Direktor der Kunstschule, wurde Werners Lehrer. Sehr bald schon überraschte der begabte Schüler letzteren und die gesammte deutsche Kunstwelt durch selbständige Schöpfungen von großer Reife und allseitiger Gediegenheit: die Illustrationen zu Herders „Cid“, zu einigen Dramen Schillers, zu Scheffels „Frau Aventiure“ und besonders durch das im 21. Jahr gemalte, in seiner Einfachheit so hochdramatische und charakteristische Geschichtsbild „Luthers Disputation mit Cajetan“ – eine Gruppe lebensgroßer Halbfiguren von echt geschichtlichem Gepräge, voll Wucht und Nachdruck, – und durch die Genrebilder voll frischer Laune und feiner Beobachtung „Vertrauliche Unterredung“, „Geburtstag im Atelier“, „Das Quartett“.
Den starken Einfluß seines Meisters Lessing verleugneten die in Karlsruhe und demnächst in Paris gemalten größeren Geschichtsbilder, jener Cajetan, „Konradin empfängt das Todesurtheil beim Schachspiel“ (1866) und „Erzbischof Hanno entführt den jungen König Heinrich IV. auf dem Rhein“ (1867 gemalt) keineswegs. Aber an Energie der farbigen Wirkung zeigte Werner sich dem Maler des „Huß auf dem Scheiterhaufen“, seinem Meister, schon damals überlegen.
Mit Scheffel in Karlsruhe persönlich bekannt geworden und für dessen Person wie für seine Dichtungen begeistert, widmete Werner außer der Illustrirung von „Frau Aventiure“ auch den anderen Dichtungen desselben seine künstlerische Kraft. „Juniperus“, die „Gaudeamuslieder“, die „Bergpsalmen“, vor allem der „ Trompeter von Säkkingen“ empfingen durch ihn reichen künstlerischen Schmuck. An der ungeheuren Popularität
[604]der letztgenannten Dichtung haben Werners bewundernswerthe Zeichnungen einen vollgemessenen Antheil.
Nach mehr als vierjährigem Aufenthalt verließ er Karlsruhe, um seine Stadien in Paris fortzusetzen (1867). Dort hat er die zeitgenössische französische Kunst so gründlich studirt wie die daselbst angehäuften Schätze der alten Kunst aller Völker. Einen erkennbaren Einfluß auf seine Richtung und Weiterentwickelung aber hat erstere nicht ausgeübt. Auch Italien, wo er sich während der Jahre 1868 und 1869 aufhielt, ist ohne einen solchen Einfluß auf ihn geblieben. Er nahm die Heimath gleichsam mit sich. Im Schatten der Orangen Sorrentos, auf den sonnenheißen Klippen Capris, unter den immergrünen Eichen Olevanos zog es seine Seele unwiderstehlich zum Tannendunkel des geliebten Schwarzwaldes. Gerade mehrere seiner schönsten, gleichsam vom Duft des deutschen Waldgebirges würzig durchwehten Zeichnungen zum „Trompeter“ hat er an jenen Orten ausgeführt. Ebenso entstanden im Jahre 1869 seine meisterhaften Illustrationen zu Wilhelm Hertz’ epischer Dichtung „Hugdietrichs Brautfahrt“, von denen die vorliegende Nummer der „Gartenlaube“ das stimmungsvolle Bild „König Walmund findet Wolfdietrich im Walde“ wiedergiebt (S. 609).
Ein ehrenvoller Auftrag veranlaßte 1870 Werners Rückkehr nach Deutschland. Die Aula des neuen Gymnasiums zu Kiel, eines gothischen Backsteinbaues, sollte er mit Wandgemälden schmücken: „Luther auf dem Reichstag zu Worms“ und Friedrich Wilhelms III. „Aufruf an mein Volk“.
Der Künstler übernahm die schöne Aufgabe und führte in überraschend kurzer Zeit diese beiden, dem gegebenen Raume vorzüglich entsprechend komponirten, trefflich gemalten Bilder und unterhalb derselben die Einzelgestalten Gutenbergs und Fuggers, des Erasmus und Dürers aus. Während der Arbeit an diesen Malereien war der Krieg mit Frankreich ausgebrochen. Die deutschen Heere standen vor Paris. A. v. Werner wurde beauftragt, für das städtische Museum zu Kiel ein Oelbild zu malen, das die Ankunft der Truppen unter den Augen des Grafen Moltke zur Belagerung der französischen Hauptstadt darstelle. Um die nöthigen Naturstudien vorzunehmen, begab Werner sich ins Hauptquartier zu Versailles (November 1870). Der von dem Großherzog von Baden warm an den Kronprinzen Empfohlene fand dort eine sehr ehrende Aufnahme. Er sah den Krieg und das Leben des Hauptquartiers in der Nähe, zeichnete den Führer und die Soldaten des Heeres, die Landschaft, die Scenen des Marsches und der Gefechte und wohnte dem historischen Akt der Kaiserproklamation in der Spiegelgalerie des Versailler Schlosses bei. Als der Krieg beendet war, folgte Werner der Einladung des Kronprinzen, welcher den Künstler wie den Mann nach seinem vollen Werth schätzen gelernt hatte, nach Berlin. Hier ließ er sich dauernd nieder.
Sein erstes Gelegenheitswerk, das er daselbst ausführte, das kolossale Gemälde für das eine der Velarien, mit denen die Siegesstraße zum Einzuge der Truppen in Berlin geschmückt wurde, machte ihn für die Hauptstadt mit einem Schlage zum berühmten Meister.
Ihm als dem dazu Berufensten wurde dann auch die Lösung einer der größten Aufgaben der monumentalen Kunst übertragen: die als farbiger kolossaler Karton auszuführende symbolisch-historische Darstellung der Erhebung Deutschlands zum Kampfe gegen Frankreich, der Einigung der deutschen Stämme und der Kaiserproklamation, nach welchem Karton das Mosaikgemälde um den Fuß der Siegessäule auf dem Königsplatz zu Berlin ausgeführt werden sollte. Man weiß, in welcher kühnen, großartigen, poesievollen und originellen Weise Werner diesen Stoff behandelt und gestaltet hat.
Damals führte er die Tochter A. Schrödters, seine Braut, als Gattin in seine neue Heimath ein, wo er fortan eine immer ausgedehntere schöpferische Thätigkeit entfaltete. Jenes Bild für Kiel: „Graf Moltke und die Truppen vor Paris“, wurde vollendet, die farbigen Kartons für die tiefsinnigen, theils so heiteren und anmuthigen, theils so ernsten und hoheitvollen Mosaik-Friesbilder am Pringsheimschen Hause in der Wilhelmsstraße, das köstliche Kabinetstück „Graf Moltke in seinem Arbeitszimmer zu Versailles“ ausgeführt.
Dekorative und monumentale Wand- und Deckengemälde für öffentliche Gebäude und Privathäuser, realistische Geschichts- und Genrebilder, romantische Märchenbilder, Bildnisse – zuweilen in mittelalterlicher Maskirung – Illustrationen, Gedenkblätter, Zeichnungen, Aquarellen aller Art wurden in nie stockender Arbeit und gleichmäßiger Gediegenheit geschaffen. Im Auftrage der deutschen Fürsten und Städte malte er das zum Geschenk für den Kaiser bestimmte kolossale Gemälde der Kaiserproklamation zu Versailles. Was er darin gegeben hat, ist ein Triumph der Gewissenhaftigkeit und strengen Wahrhaftigkeit in der Schilderung eines zeitgeschichtlichen Ereignisses. Der gleiche Ruhm gebührt in vollem Maße dem großen Bilde der Schlußsitzung des Berliner Kongresses von 1878 für den Festsaal des Berliner Rathhauses, den realistischen Wandgemälden aus den Kriegstagen Saarbrückens für den Rathhaussaal dieser Stadt, den Bildnißfiguren der Hauptführer der Deutschen für andere Wände desselben Raumes, welchen außerdem das symbolische Gemälde „Die Einigung Nord- und Süddeutschlands“ schmückt.
Die Wahrheit und genaue Richtigkeit in der Darstellung zeitgeschichtlicher Ereignisse in der Gesammtkomposition und -Wirkung wie in allen Einzelheiten bis zum letzten irgend erreichbaren Grade sinnlicher Täuschung zu treiben, gaben unserem Meister das riesige Panoramagemälde der Schlacht von Sedan für Berlin und die in dasselbe Gebäude ausgenommenen drei Dioramen aus der Geschichte jenes großen Tages, seiner Nacht und des folgenden Morgens die willkommene Gelegenheit. Was er dort, unterstützt durch werktüchtige ausgezeichnete Schüler und im Verein mit den Landschaftsmalern Professor Bracht und Schirm, in dieser Richtung geleistet hat, ist unübertroffen, ja mit wenigen Ausnahmen unerreicht in der modernen Panoramamalerei. Theils durch seine Schüler nach seinen Farbenskizzen, theils durch den Meister selbst mit eigener Hand ausgeführt, sind auch jene prächtigen Schilderungen aus altrömischem Leben, mit welchen er die Wände des Café Bauer dekorirte – Bilder, in deren Erfindung sich die künstlerische Phantasie um so freier ergehen durfte.
So zuverlässige, praktisch geübte Schüler und Mitarbeiter heranzubilden, die sich vor keiner Aufgabe zu scheuen hätten, galt A. v. Werner als eine Hauptpflicht auch jenes Amtes, zu dem er 1875 berufen wurde. Damals trat die längst schon als dringend nothwendig erkannte gründliche Umgestaltung des Instituts der Berliner Kunstakademie ins Leben. Wenn auch v. Werners Reorganisationsentwurf nicht in allen Punkten zur Annahme gelangte, so wurde der Meister doch mit dem Direktorat der Hochschule der bildenden Künste
[605]Leitung eines Meisterateliers betraut. Neue frischere Lehrkräfte wurden gewonnen. Ein überraschend schnelles, kräftiges Aufblühen der bereits fast völlig in Verfall geratenen Kunsthochschule war die Folge dieser Berufung des rechten Mannes an die rechte Stätte. Klug und klar im Denken und Beurtheilen der Menschen, Dinge und Verhältnisse: energisch und zäh ausdauernd im Handeln und Ausführen des für richtig Erkannten, hat er den mannigfachen Hindernissen Feindseligkeiten, Schwierigkeiten, die ihm dabei nicht erspart blieben, jederzeit ruhig die Stirn geboten und ist der meisten schließlich Herr geworden.
Aus der Fülle der hier noch unerwähnt gebliebenen Kunstschöpfungen Werners, welche trotz der seine Zeit und Kraft so stark in Anspruch nehmenden Amtsthätigkeit in den letzten Jahren durch ihn zur Ausführung gelangt sind, nenne ich hier nur das tiefergreifende Oelgemälde „König Wilhelm im Mausoleum bei den Grabdenkmälern seiner Eltern vor seiner Abreise zur Armee 1870“; das kleinere Bild der Kaiserproklamation, welches die Mitglieder der königlichen Familie dem Fürsten Bismarck zu seinem 70. Geburtstag stifteten; die Kolossalausführung der gleichen Komposition an der einen Wand der Kuppelhalle des umgestalteten Zeughauses; das zunächst benachbarte dortige Wandgemälde „Krönung Friedrichs I. zu Königsberg“; das liebenswürdige, das innerste Wesen des preußischen Soldaten so treffend charakterisirende Genrebild aus den Tagen der [606] Belagerung von Metz, „Kriegsgefangene“, welches, neben seines Malers lebensvollem Selbstporträt, die Berliner Jubiläumsausstellung zierte, und die herrliche aquarellirte Komposition der Randbilder zur Adresse der Akademie zu des Kaisers Wilhelm I. 90. Geburtstage.
Der Berliner Künstlerverein hat den Meister 1886 zu seinem Vorsitzenden erwählt, in der richtigen Erkenntniß, daß die Interessen der Genossen in ihm den besten Vertreter haben, bei dem sich das eigene schöpferische Vermögen, die anerkannte Meisterschaft, die innige Vertrautheit mit allen künstlerischen Dingen, die Liebe zur Sache mit weltklugem, durchdringendem Verstande, Kraft und Festigkeit im Wollen und Handeln verbinden.
Die Facsimile von Wernerschen Skizzenbuchblättern, die wir unseren Lesern hier darbieten, die Naturstudie eines „anlegenden Soldaten“, das kleine Kind mit dem rührend drolligen, halb weinerlichen Gesichtsausdruck, die schlanken, feinen Knabenfiguren, die mit aufgesetzten weißen Lichtern plastisch modellirte Offiziersgestalt mögen als Proben dafür gelten, wie alles, was die Wirklichkeit seinen immer beobachtenden Augen zeigt, unseren Meister interessirt und anreizt, es wenigstens in raschen Strichen mit unfehlbarer Sicherheit nachzuzeichnen.
Alle Rechte vorbehalten.
Es war inzwischen acht Uhr abends geworden, um welche Zeit Bergsteiger, die ein Alpenschutzhaus zum Uebernachten benutzen, um andern Tags noch vor Sonnenausgang den eigentlichen Aufstieg zum Ziel anzutreten, sich niederzulegen pflegen. Professor Schröder stellte daher der animirten Tischgesellschaft die Entscheidung anheim, ob man die Fortsetzung des Symposions vertagen oder noch beisammen bleiben solle, so daß auch Mr. Whitfield und Herr Kurz noch heute zu Worte kämen Er selbst würde es lebhaft bedauern, wenn der sich rundende Kranz von Erzählungen jetzt unvollendet bleiben müsse, aber dies sei seine Privatmeinung und könne für die übrigen Theilnehmer nicht maßgebend sein. Durch die ins Freie führende Thür, welche das Bärbeli geöffnet hatte, um den Herren frisches Getränk zu holen, pfiff in diesem Moment der draußen noch immer herrschende Sturm so kalt und schrill, daß Herr Kurz wohl die Meinung aller aussprach, als er lächelnd bemerkte:
„Na, morgen früh vom Säntis herab die Sonne aufgehen zu sehen, diese Hoffnung hat wohl ein jeder von uns längst völlig aufgegeben. Ich denke, Herr Whitfield und ich spinnen gleich weiter das Garn zu Ende, um diesen guten norddeutschen Seemannsausdruck zu gebrauchen.“
Der Engländer nickte zustimmend.
„Aber wer von uns beiden fängt an? Was mich betrifft, so lasse ich Ihnen als Ausländer gern den Vortritt, vorausgesetzt, daß der Faden Ihrer Geschichte bereit liegt.“
„Ganz wie es Ihnen beliebt,“ sagte, seine Cigarette niederlegend, Mr. Whitfield. „I am ready.“
Nachdem auch Professor Schröder ihn gebeten, daß er anfangen möge, rückte der schlanke, auffallend schön gebaute Brite näher an den Tisch heran und begann ohne weitere Umstände.
„Auch ich will ein Reiseabenteuer erzählen und von Wanderlust und Wanderglück; aber ich fürchte, daß nicht alles nach dem Geschmack der Mehrzahl von Ihnen ist, denn Sie sind Vergnügungsreisende, die ins Gebirg gekommen sind, um im Anschauen großer und schöner Natur auf kurze Zeit Ihr städtisches Kulturleben zu vergessen; mir ist das Ueberwinden der Schrecknisse der gewaltigen Gebirgsnatur dagegen zum Berufe geworden, die Alpen sind die grande passion meines Herzens, ich bin Alpinist mit Leib und Seele. Ich weiß wohl, wenn ich hier vor Ihnen ein Loblied auf die Kunst des Bergsteigens anstimmen und des längeren auseinandersetzen würde, wie hocherhaben dieser Sport über jeden andern zu stellen ist, Sie würden im Stillen mich einen ,Alpenfex‘ nennen und sich vor allem Folgenden bekreuzen. Es wäre dies auch gerade so verkehrt, wie wenn ein passionirter Jäger von seinen Jagdabenteuern vor Zuhörern schwärmen wollte, die, weil sie keine Jäger sind, während der Erzählung nur die armen Hirsche und Rehe bedauern, um deren Erschießen sich die Jagdlust dreht, oder wenn ein leidenschaftlicher Reiter sein Lieblingsthema eingehend behandeln wollte vor Sonntagsreitern, denen das bloße Zupferdesitzen schon eine Anstrengung ist. Aber ich habe die Frage nach meinem schönsten Reiseabenteuer zu beantworten, und so muß ich wohl oder übel manches vorbringen, was theils ruhmredig klingt, theils Ihnen thöricht erscheint, und was doch nicht zu verschweigen ist, weil es organisch zu meiner Geschichte gehört. Denn gerade dieses Erlebniß hat meine Leidenschaft für die Eis- und Firnwelt der Alpen zur Voraussetzung.
Nur eines lassen Sie mich noch kurz vorausschicken. Die meisten derer, die in den Städten einem friedsamen Berufe nachgehen, meinen, nur die Befriedigung der Eitelkeit sei der eigentliche Ansporn zu dem gefahrvollen Alpensport. Das Gegentheil ist der Fall. Es giebt nichts, was die menschliche Eitelkeit so gründlich demüthigt wie die innige Berührung mit der gewaltigen Hochalpenwelt, die in ihrer Schönheit wie ihrem Schrecken gleich großartig ist. Auch herrscht die Meinung, es handle sich dabei nur um Akrobatenkunststücke von Leuten, welche die Alpen als Klettergerüst betrachten. Aber die wahre Alpinistik ist zugleich eine Kunst und eine Wissenschaft. Die Kunst des Bergsteigens fordert eine Entfaltung der persönlichen Thatkraft und Geschicklichkeit, welche fast alle Fähigkeiten der Seele und der Sinne ins Spiel fetzt, sie fördert und bereichert durch die Erforschung der Alpenwelt unsere Kenntniß der Natur auf allen ihren Gebieten. Vor dem Botaniker, der die Flora, vor dem Zoologen, der die Fauna, dem Geologen, der die Gesteinschichten und Gletscherschiebungen der Alpen erforschte, vor dem Techniker, der bequeme Hochstraßen und kühne Schienenwege über und durch die Alpen legte, dem Meteorologen, der seine Beobachtungsstationen auf hohen Bergesspitzen errichtete, dem Strategen, der die im Kriege vorteilhaftesten Alpenpässe auf seinen Karten eintrug, vor den Erbauern bequemer Alpenschutzhäuser und Unterkunftshütten für das reisende Publikum, stieg als Pionier ihrer aller der Tourist in die Wirrniß der Bergriesen mit ihren Felsgraten und Geröllböden, Gletscherabstürzen und Schneeüberhängen, Firnbassins und Schuttkaminen und erforschte die Gesetze ihres Baues.
Leider freilich macht sich auch in der Alpinistik, wie überall in Kunst und Wissenschaft, der Dilettantismus besonders wichtig. In einem Dorfe am Fuß des Großglocknergebirgs liegt auf dem Friedhof ein junger Mann begraben, der bei einer Besteigung jener eisumpanzerten Spitze ums Leben kam. Ich war damals selber in Kals, als man seine Leiche herunterbrachte. Dieser Verunglückte erscheint mir immer als Typus dilettantischer Bergfexerei. Ohne an kleineren Hochtouren seine Kräfte erprobt zu haben, ohne irgendwie vorbereitet zu sein, in einem leichten Sommeranzug, welcher nur im Zuschnitt der wetterfesten Tracht der Gebirgsbewohner kokett nachgeahmt war, war er nach Kals mit einigen Freunden gekommen ohne die geringste Absicht, den Glockner zu besteigen. Die Rückkehr einer nicht gerade besonders kräftig gebauten Dame von einer glücklichen Besteigung der hohen Eispyramide veranlaßte ihn zu der Behauptung, ihm würde das gleiche Unternehmen eine Kleinigkeit sein, und als er damit auf den Widerspruch und Spott seiner Kameraden stieß, wettete er voll Uebermuth, daß er es ihnen beweisen werde. Unterwegs gerieth er mit seinen Führern in einen eisigen Schneesturm; den Mahnungen der kräftigen Männer, umzukehren, gab er nicht nach, so sehr er fühlte, wie seine Kräfte nachließen; seine Eitelkeit vermochte sich nicht in die aus einer Rückkehr sich ergebende Demüthigung zu finden, und so trotzte er den Elementen, bis er erlag, in Krämpfe verfiel und dann auf dem Rücken des treuen Führers, der ihn heruntertrug, sein Leben aushauchte.
[607] Ein wirklicher Alpinist wird im Gegensatz zu dem Leichtsinn und der Eitelkeit, die hier einen alpinen Unglücksfall bewirkten, alle Hilfs- und Schutzmittel in Anspruch nehmen, welche ihm die Kultur und die Technik zur Ueberwindung der Schwierigkeiten einer solchen Hochtour darbieten. Wir studiren das Maß unserer eigenen Kräfte und richten danach die Inanspruchnahme der Kräfte erprobter Führer sowohl als einer rationellen Ausrüstung. Der Eine läßt beim Ueberschreiten steilerer Gletscher sich anseilen und in das Eis Stufen hauen, der Andere verläßt sich, wenn es sich nicht um besonders gefährliche Entdeckungsfahrten handelt, auf seine eigenen, mit Steigeisen bewaffneten Füße und den Bergstock in seiner Hand. Ein richtiger Alpinist wird auch immer die nothwendigsten Hilfsmittel für Höhenmessung und Terrainbeobachtung mitnehmen und seine Entdeckungen und Erfahrungen der Wissenschaft zu gute kommen lassen. Wenigstens habe ich es immer so gehalten. Daß das Bewußtsein absoluter Schwindelfreiheit und oft erprobter Kraft auch solche Alpinisten bisweilen zu verwegenen Unternehmungen verleitet, bei welchen allein die Lust am gefährlichen Abenteuer und der ‚Reiz des Unbekannten‘ als Motive wirken, will ich ebenso wenig leugnen wie den Ehrgeiz, der im Wetteifer mit Gleichbegabten ins Spiel tritt.
Gerade das letztere war in besonderem Grade bei einer Reihe von Hochtouren der Fall, die ich vor einigen Jahren in dem bereits erwähnten Gebiete des Großglockners ausführte. Und die Persönlichkeit, welche meinen Ehrgeiz und Wetteifer so herausforderte, war – wie im Falle jenes Verunglückten – eine Dame. Kennen Sie Heiligenblut? Wenn man von Regenwetter festgehalten, dort um alle Aussicht betrogen wird und in dem kahlen Wirthszimmer des einzigen alten Gasthofs über seine Specialkarte des Großglocknergebiets gebückt darüber simulirt, welche Partien man machen könnte, wenn nur das Wetter besser wäre, ist’s ein armseliges Gebirgsdorf wie tausend andere. Wenn aber ein günstiger Wind die grauen Wolkenschleier emporweht, welche bisher die hermelingeschmückte Majestät des Großglockners dem Anblick entzogen, wenn über den dunklen Bergen des oberen Möllthals, über den schneebedeckten hohen Leiterköpfen und dem schimmernden Absturz des großen Pasterzengletschers in der Ferne sich die schlanke Firnnadel des Großglockners leuchtend aus der sie umgebenden Eiswelt ins Blau des Himmels hinaufschwingt, erscheint dies Dorf mit seiner gleichfalls schlank emporgestreckten Kirche dem Alpenfreund als die denkbar schönste Pforte zu einem Paradiese im Reiche des ewigen Schnees! Je länger ich vorher die Langeweile des Eingeregnetseins hatte ertragen müssen, um so entzückter wurde ich dann des fascinirenden Reizes dieser Scenerie inne, als endlich – endlich die Spitze des Glockners frei ward. Es waren noch mehrere Herren im Schoberwirthshaus, die gleich mir mit Sehnsucht diesem Ereigniß entgegengesehen hatten. Ein Professor aus München, Botaniker von Fach, ein Entomolog aus Wien, der auf den Almen unterhalb der Firnwelt auf Schmetterlingsjagd ausgehen wollte, und noch mehrere Touristen, welche nur die Wanderung an dem Glocknerhaus und der Pasterze vorüber über die Pfandlscharte ins Fuscherthal vorhatten. Wir saßen gerade in lebhaftem Gespräche bei Tisch, als zum Fenster einfallende Sonnenstrahlen uns die Aenderung des Wetters ankündigten und überdies der freudige Ruf eines Führers vor dem Hause: ‚Der Glockner wird frei!‘ unsere Ahnung bestätigte.
In diesem Augenblicke that sich die Thür auf und in derselben erschien – während wir gerade im Begriff waren, aufzustehen und ins Freie zu eilen, um Zeugen der Aufhellung des Himmels zu werden – eine touristisch gekleidete Dame, bei deren Erscheinen es auch wie Sonnenschein durch die niedrige Stube ging. Da ein blauer, von ihrem Florentiner Strohhut herabwallender Schleier ihr Gesicht zur Hälfte bedeckte, welches obenein zurück nach der Hausflur gewendet war, bestimmte der auffallend schöne Wuchs von seltener Kraft und Grazie den ersten Eindruck. Sie trug eine anliegende, leicht geschürzte Kleidung aus hellbraunem Lodenstoff, in der Rechten hielt sie einen Bergstock, ihre Schuhe waren aus dickem Leder und auch vorn mit Nägeln beschlagen. An der Seite der Wirthin, welche sie als alte Bekannte begrüßte, trat sie nunmehr ganz ein, indem sie zu dieser sagte:
‚Der Michel soll nur mein Gepäck gleich auf mein Zimmer tragen; ich aber will hier unten bleiben; der Weg von Dölsach hierher hat mir Appetit gemacht.‘
‚Das ist schön,‘ sagte die Wirthin, welche der Dame auf einem andern Tisch als dem unseren ein Gedeck zurechtlegte, ‚und schönes Wetter haben Sie auch mitgebracht, nachdem es vierzehn Tage lang bei uns geregnet hat. Das heiße ich Glück und gute Vorbedeutung.‘
Ueber das Antlitz der Dame glitt bei dieser Beglückwünschung ein herber Zug, der jedoch die eigenthümliche Schönheit des Gesichtes eher erhöhte als minderte. Dasselbe war von einer gleichmäßigen, nicht ungesunden Blässe, mit welcher das große grünlich blaue Auge, dessen Blick klar und bestimmt, beinahe streng war, sonderbar kontrastirte. Die feingeschwungenen Lippen waren fest geschlossen und ihr Ausdruck deutete wie die Kontour ihres Kinns auf besondere Energie. Sie hatte den Strohhut abgenommen, wodurch das schöne edle Profil ganz sichtbar geworden war, sowie ihr blondes welliges Haar, das vorn schlicht gescheitelt, hinten in einem einfachen Knoten aufgesteckt war, ähnlich dem, den wir an antiken Statuen der besten Zeit kennen. In diesem Haare spielte etwas wie ein goldener Schimmer, und ich konnte dem Professor neben mir nicht unrecht geben, der auf meine leise hingeworfene Bemerkung, welche auf die Aehnlichkeit dieses Gesichts mit einem bekannten Dianakopf hinwies, mir antwortete: ‚Nein, die Gletscherkönigin selber.‘
Dieser Nachbar, der ein Stammgast von Heiligenblut war, wußte mir dann auch, als wir draußen auf dem Wege zum Katzensteig dem Spiele der Wolken zuschauten, welche mehr und mehr den vollen Anblick des Glockners freigaben, näheres über den neuen Ankömmling zu sagen.
Ihr Vater war ein Kollege von ihm gewesen, der, zwar Deutscher von Geburt, als Professor an einer russischen Universität vor einigen Jahren gestorben war. Derselbe hat sich als Entdeckungsreisender dauernden Ruhm erworben. Ihre Mutter, eine geborene Russin, war ihm bald in den Tod gefolgt. An der Seite dieses Vaters hatte die Tochter schon in frühen Jahren viel von der Welt gesehen und auch die Gefahren des Hochgebirgs schon als Mädchen verachten gelernt. Die letzten Hochtouren, welche sie mit dem geliebten Vater gemacht, hatten einigen Spitzen des Glocknergebiets gegolten und daher stamme ihre Vorliebe für diese Gegend. Weiter erzählte mir der gesprächige alte Herr, daß die Dame trotz des jungfräulichen Ausdrucks ihres Wesens kein Mädchen mehr, sondern eine Frau sei, aber eine geschiedene. Warum die Scheidung nach einer übrigens nur kurzen Ehe erfolgt sei, darüber seien seiner Zeit die verschiedensten Meinungen laut geworden. Auf jeden Fall war dieselbe von ihrer Seite eingeleitet worden, und zwar unter Angabe keines andern Grundes als dem unüberwindlicher Abneigung. Es sei wahrscheinlich, daß diejenigen recht hätten, welche damals behauptet, der Mangel an Mannhaftigkeit und Muth, den ihr Mann in einem kritischen Augenblicke an den Tag gelegt, habe diese Abneigung ihr eingeflößt. Ja, er habe Anlaß, zu glauben, daß jenes Erlebniß einen allgemeinen Widerwillen gegen das männliche Geschlecht, oder wenigstens gegen die gebildeten Vertreter desselben in ihr zurückgelassen habe, denn sie meide seitdem geflissentlich, freilich auch ohne Ostentation, allen Umgang mit solchen; nur im Verkehr mit den wetterfestest, wortkargen, durch Muth und Entschlossenheit ausgezeichneten Führern dieser Gegend aus Kals, Fusch oder Heiligenblut habe er sie gesprächig und frei von jeder Zurückhaltung gesehen.
Alles dies war nur geeignet, mein Interesse für die Dame, das schon ihre Erscheinung geweckt hatte, wesentlich zu steigern, und mit Spannung sah ich einer Gelegenheit entgegen, mich ihr zu nähern und ihre Bekanntschaft zu machen. Bei der gleichen Vorliebe für die Alpenwelt und das Ersteigen ihrer Gipfel und Uebergänge konnte es ja an Anknüpfungspunkten nicht fehlen, und was ihre Antipathie betraf, so nahm ich es ja, wie ich meinte, in Bezug auf Muth und Entschlossenheit mit dem besten Bergführer im Glocknergebiet auf. Als ich aber erleben mußte, daß sie mir gerade wie jedem andern Touristen dieselbe Unnahbarkeit und Ablehnung zu theil werden ließ, entbrannte ich vor Begier, diesem selbstbewußten und selbstgenügsamen Weibe Respekt vor meiner Kraft abzugewinnen und sie die Ueberlegenheit eines Mannes, eines männlichen Willens fühlen zu lassen.
Es ist ein natürliches Bedürfnis nach einer glücklich zurückgelegten Hochtour, während welcher kein unnötiges Wort gesprochen wird, mit Gleichgestimmten die überstandenen Erlebnisse zu [608] besprechen. Gerade hieraus ergiebt sich ja die Würze der Geselligkeit in den Unterkunftshütten der Alpenklubbisten, welche auf andere Unterhaltungsmittel völlig verzichten muß. Wir hatten das damals noch sehr primitive Glocknerhaus des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins am Absturz der Pasterze ziemlich gleichzeitig zur Station genommen, um den öfteren Rückweg nach Heiligenblut zu sparen. Es konnte nicht fehlen, daß wir des Morgens vor Aufbruch und abends nach der Rückkehr an dem einzigen Tisch des einzigen Gastzimmers dieses Asyls unsere Mahlzeiten nahmen, und gleich am zweiten Tag nach einer glücklich durchgeführten Besteigung der Glocknerspitze auf dem Wege über den Ködnitzgletscher, die Vanitscharte und den Stüdlweg fühlte ich mich gedrängt, ohne weitere Umstände das Wort an die Dame zu richten, obgleich sich dieselbe an einem Platze möglichst fern von mir niedergelassen hatte. Der Uebergang über die Vanitscharte hatte mir unerwartet viel Mühe gemacht, und so unterdrückte ich denn auch die Klage darüber nicht, nachdem ich meinem Entzücken über den auf der Spitze erlebten Sonnenaufgang und die einzig grandiose Aussicht Luft gemacht hatte.
Die Gletscherkönigin, so nannte ich unwillkürlich in meinen Selbstgesprächen die schöne Einsame weiter, blieb auch bei dieser Gelegenheit dem in diesem Namen ausgedrückten Charakter treu. Meine enthusiastischen Schilderungen nahm sie, zwar ohne die Höflichkeit zu verletzen, aber mit eisiger Kälte entgegen, und nur nach jener Beschwerde ging ein Lächeln über ihre Lippen, ein Lächeln des – Mitleids. Es war, als wolle sie sagen: wie, du prahlendes Männlein, schon diese kleine Anstrengung macht dir Beschwerniß; schon recht, was drängst du dich in mein Reich ein, wo deinesgleichen nicht hingehören. Wohl fühlte ich das Bedürfniß, auf dieses Lächeln mit gebührendem Hohn zu antworten, doch fand ich ihrer stillen Gelassenheit gegenüber keine passenden Worte dafür, ohne Gefahr zu laufen, mich vor ihr lächerlich zu machen. Als ich dann in die Stube der Führer hinausging, um mit den meinen einiges für den folgenden Tag zu verabreden, war ich Zeuge, wie der Heiligenbluter Recke, der sie gerade auf die Johannisspitze zu führen gehabt hatte, in Worten höchster Bewunderung von ihrer sicheren Kraft und Gewandtheit beim Steigen, der Unbeirrbarkeit ihres Willens, der völligen Furchtlosigkeit ihres Wesens sich aussprach, wie sie in solcher Vereinigung auch bei den kräftigsten Männern selten nur anzutreffen seien.
Dieser empfindlichen Demüthigung meines Selbstgefühls folgte bald eine zweite. Es war einige Tage später. Der Zufall hatte es gefügt, daß wir beide gleichzeitig einen Rasttag hielten. Die Post hatte Briefe gebracht, die beantwortet werden mußten; ich hatte außerdem das Bedürfniß gehabt, einige werthvolle Funde für meine Sammlungen näher zu bestimmen und provisorisch zu konserviren sowie meine Beobachtungen in meine Tagebücher einzuschreiben. Auch sie hatte Aehnliches vor, und da wir auch dafür gemeinsam auf das Touristenzimmer angewiesen waren, in welchem gerade auch ein bekannter Naturforscher aus Wien sich aufhielt, dessen ruhige, schlichte Gelehrtennatur selbst die Sympathie der gestrengen Gletscherkönigin zu gewinnen wußte, so kam ein ganz leidliches Einvernehmen zwischen uns zu stande. Die schlichte liebevolle Art, mit der sie von ihrem Vater sprach, dessen hinterlassene Aufsätze über seine Forschungsfahrten in die Alpenwelt sie herauszugeben vorhatte, die anspruchslose Sicherheit, mit der sie sich als dessen verstandesscharfe Schülerin erwies, gewannen meine höchste Sympathie.
Am Nachmittag saßen wir drei vor dem Glocknerhaus auf dem grasbedeckten Felsenvorsprung, von welchem der Abhang zum Pasterzenkees und seiner Moräne hinabzieht. Das Licht der Sonne fiel voll auf den breiten mächtigen Gletscherabsturz vor uns und die Strahlen erzeugten ein magisches Glitzern und Leuchten in den riesigen Eisspalten des tausendfach zerschründeten Eiskatarakts, dessen Risse und Sprünge die grauweiße Farbe des Massivs mit bläulich grünem Geäder durchfurchten. Das großartige Bild dieses schaurig schönen Gletscherabsprungs, der rechts und links von dunklen Felsenwänden umrahmt wird, während sein scheinbares Ende nach oben hin von dem hochaufstrebenden Firnkegel des Großglockners überragt ist – in Wahrheit dehnt sich die Eismasse um die Freiwand einbiegend noch stundenlang weiter als ein breites Eismeer bis zu dem eigentlichen Massiv von Groß- und Kleinglockner und Glocknerwand hin – dieses prachtvolle Bild fesselte bald unsere Aufmerksamkeit derart, daß das von uns geführte wissenschaftliche Gespräch über die verschiedenen Theorien der Gletscherentstehung und Gletscherbewegung plötzlich versiegte, weil ein jeder dem magischen Reize des Anblicks erlag. Als wir so in stumme Bewunderung eines der größten und schönsten Wunderwerke der Natur verloren dasaßen, tauchten plötzlich vor uns die Gestalten zweier Führer auf, die vom Gletscherrand heraufgestiegen kamen, ein jeder seinen Bergstock und Steigeisen in Händen. Es waren die zwei Kalser Führer, die ich mir, auf besondere Empfehlung hin, für die Dauer meines Aufenthalts hier gemiethet hatte, zwei prächtige, unternehmungsfrohe, kraftstrotzende Burschen, die auf meine Frage, woher sie kämen, lachend erwiderten, sie hätten einen Probemarsch über die Pasterze versucht.
In früheren Jahren hätte es einen leidlichen Weg über die durcheinander geschichteten Eisberge und Blöcke gegeben, auf welchem schwindelfreie Touristen, vorausgesetzt daß sie Steigeisen benützten und sich anseilen ließen, nach der Franz Josephshöhe am rechten Rande derselben hätten gelangen können. Die strenge Kälte des letzten Winters, die Nachwirkungen des vielen Neuschnees, verschiedene Eislawinen von oben her hätten die Verhältnisse des Gletschers jedoch derart verändert und verschoben, daß ein solcher Weg noch nicht wieder ausfindig gemacht worden sei. Auch ihre Mühe sei eben vergeblich gewesen.
Meine Natur würde sich gänzlich verleugnet haben, wenn ich auf diese Mittheilung hin nicht sofort den Vorschlag geäußert hätte, mit ihnen gleich jetzt eine zweite Expedition in die Gletscherwelt, deren Anblick uns eben erst in höchstes Entzücken versetzt hatte, anzutreten. Immer entferntere Ziele im Auge, war ich nie auf den Gedanken gekommen, dem nahen Pasterzeabsturz einen Besuch abzustatten. Die Führer erklärten sich mit Freuden bereit und der Professor aus Wien bat um die Erlaubniß, sich anschließen zu dürfen, was ich selbstverständlich herzlich willkommen hieß, indem ich auch meine Nachbarin aufforderte, an der kleinen Exkursion theil zu nehmen. Gern, sagte sie in ihrer kurzen Weise, aber mit höflicher Freundlichkeit, und so brachen wir denn, nachdem die Führer noch die nöthigen Steigeisen und Seile herbeigeholt hatten, auf. Unten auf dem letzten Ausläufer des Gletschers ging’s an die Ausrüstung. Die Steigeisen waren bald angeschnallt. Weniger schnell ging das Anseilen. Frau Wallenheim, dies war der eigentliche Name der Gletscherkönigin, erklärte plötzlich, sie bedürfe des Anseilens nicht, dasselbe genire sie bloß. Ich entgegnete, daß auch ich des Anseilens nicht bedürfe, daß aber bei derartigen Unternehmungen, bei welchen der Weg fast beständig an Spalten und Klüften vorübergehe, es die gemeinsame Sicherheit erfordere, daß sämmtliche Theilnehmer sich durch Seile mit einander verbänden. Strauchle oder falle dann einer, so sei die Kraft und der sichere Stand der Anderen ihm Stütze. Dies sah sie ein, aber nun wollte sie wenigstens die letzte im Zuge sein. Dagegen protestirten jedoch die Führer: einer von ihnen müsse die Führung haben, der andere den Schluß bilden, dafür hätten sie die Verantwortung.
Ohne ihren Mißmut ganz verbergen zu können, ließ sie sich nunmehr anseilen, wie es den Führern beliebte. Die Reihenfolge war jetzt die folgende: voran ein Führer, dann der Wiener Gelehrte, dann Frau Wallenheim, dann ich, gefolgt von dem zweiten Führer. Und nun ging das Steigen los. Anfangs mit übermäßiger Vorsicht, denn der mir voranschreitende Professor, des Ueberschreitens von Eisbergen ungewohnt und durch die Nähe der unheimlich schimmernden, weitklaffenden Spalten geängstigt, wirkte zunächst als Hemmniß. Bald aber hatte auch er seine Scheu überwunden und nun wurden unsere Bewegungen schneller und kühner. Bald ging es bequem über schräge Absenkungen wellenförmiger Erhebungen hin, bald auf den emporragenden Rippen von langsam ansteigenden Eisbergen, bald mußten wir vorsichtig von einer Eiswand zur anderen springen oder eine Kluft überklettern, wobei vorragende Eiszungen in Gletscherspalten unseren Füßen Halt bieten mußten. Der Professor glitt manchmal aus und nahm auch sonst öfters die Hilfe des ihm voranschreitenden Führers in Anspruch. Um so sicherer und leichter überwand dagegen die ihm folgende Dame jede Schwierigkeit. Es war, als sei ihr all dies nur ein Spiel, als sei dies Klettern und Voltigiren auf Eis und Firn ihr eigentliches Element. Und spielend in ihrer Grazie und darum ein Schauspiel für mich von fesselndem
[609] [610] Reize waren ihre Bewegungen. So kam es, daß auch ich ein paar Mal ins Stolpern kam, eben weil meine Blicke an der vor mir schreitenden schönen Gestalt hingen, statt auf den Weg zu achten. Da endlich schien auch sie einmal ihre sichere Ruhe einzubüßen. Mit einer gewissen Genugthuung, in welcher ich die Empfindungen eines Lebensretters vorschmeckte, sah ich sie plötzlich nach links ausgleiten und mit jähem Ruck ein Stück der schrägen Eiswand herunterrutschen. Mit zwei gewaltigen Sätzen war ich dicht hinter ihr und umfaßte sie mit voller Kraft. Doch sie hatte inzwischen, wie ich jetzt erst merkte, schon wieder festen Stand gewonnen, und, mit heftiger Gebärde sich meinen Armen entziehend, wandte sie sich nach mir um und sagte mit herbem Lächeln:
‚Sahen Sie denn nicht, daß ich absichtlich diesen Abrutsch ausführte? Dort oben hat der sich aufschwingende Tritt des Professors die Stütze abgebrochen, welche der Führer für seinen Weg fand, und wenn ich das nicht rechtzeitig bemerkt hätte, so wäre Ihre jetzt sehr unnöthige Hilfeleistung allerdings vielleicht nöthig geworden. – Uebrigens, meine Herren,‘ fuhr sie mit gehobener Stimme fort, ‚kommen wir so nicht ans Ziel. Die Eiswand dort zur Rechten können wir nicht nehmen und hinter derselben schichtet sich Eisklotz an Eisklotz. Probiren Sie doch einmal, über die Rippe, welche dort nach links hinzieht, vorzudringen, ich sollte meinen, daß wir so den Westrand der Pasterze erreichen können, von wo aus wir bequem unseren Weg über den Felsenrand und dann den minder schwierigen Pasterzenboden zur Franz Josephshöhe einschlagen können.‘
Um mich kümmerte sie sich nicht weiter. Und zu dieser Demüthigung kam noch die zweite, daß ihr Rath sich als vollkommen richtig erwies. So hatte also auch der erfahrene Führer, der vorangegangen war, seine Lektion weg – von einer Dame.
Diese Scharte muß ausgewetzt werden, dieses Verlangen beherrschte nunmehr mein ganzes Geistesleben. Auch meinen Führern glaubte ich anzumerken, daß sie schwer an der Erfahrung trugen, von einer Flachländerin in ihrem eigensten Berufe zurechtgewiesen worden zu sein. Auf jeden Fall kam es mir wie eine Herausforderung ihrerseits vor, als sie zwei Tage später des Abends nach einer kürzeren Tour, da Frau Wallenheim und ich allein in dem Gastzimmer des Glocknerhauses saßen, mit der Bemerkung vor mich hintraten, sie wüßten noch eine schöne Aufgabe für mich. Durch den Sturz einer Eislawine vom Glocknerkarkees herab sei vor einigen Tagen der untere Theil des Hofmannsweges, der bisher über felsiges Gestein führte, verschüttet worden; es gälte, über das veränderte Terrain einen brauchbaren Steig ausfindig zu machen, so daß dieser kürzeste Aufstieg zum Glockner dem Touristenverkehr wieder gewonnen würde. Vielleicht entschlösse sich auch die gnädige Frau, sich an dem Unternehmen zu betheiligen; sie fände sich ja mit ihren scharfen Augen in der Gletscherwelt noch besser zurecht als sie, die Führer. Sie hatten sich mit dieser letzteren Bemerkung fragend an sie gewandt. Und diese, weit entfernt, irgend welche Anzüglichkeit darin zu erblicken, ging mit lebhaftem Interesse sofort auf den Gegenstand ein. Ich selber war nunmehr für die Idee Feuer und Flamme. Meine Rivalin bewies auch sofort wieder ihren touristischen Scharfblick und klaren Verstand. Die Hindernisse von unten aus zu nehmen, so führte sie aus, würde viel unnötige Kletterei verursachen; es sei rathsam, von oben her auf dem Kalser Weg über Stüdlhütte und Adlersruhe sich dem Operationsfeld zu nähern, wobei man es mit dem Fernrohr und Feldstecher rekognosciren und danach den Angriffsplan einrichten könne.
Mir war im Grunde die Art der Ausführung gleichgültig, mein ganzes Sinnen und Trachten stand nur darauf, bei dieser Gelegenheit mich in Bewährung von Muth, Thatkraft und Scharfsinn mit der stolzen Gletscherkönigin zu messen. Ein Feldherr kann nicht begieriger dem Ausgang eines Treffens entgegensehen als ich dem Ausgang des verwegenen Unternehmens.
Während ich mit meinen Führern am folgenden Tage den Weg nur bis zur Stüdlhütte zurücklegte, ging sie mit ihrem Heiligenbluter, einem ruhigen älteren Mann, noch bis zur Erzherzog Johannhütte auf der Adlersruhe hinauf, um dort zu übernachten. Den Vorsprung, den sie dadurch früh am Morgen voraus hatte, benutzte sie, und zwar wider die Abrede, zu einer selbständigen Rekognoscirung des veränderten Gletscherterrains. Die heiße Witterung der letzten Tage hatte viel Neuschnee zum Schmelzen gebracht und dies jene Eisrutschungen bewirkt. Auch Sprünge hatte der oft in einem Winkel von vierzig Grad abschüssige Glocknerkargletscher bekommen; die einsame Exkursion der einzelnen Dame war daher sehr gewagt. Der Ehrgeiz war eben auch in ihr zum Ausbruch gekommen und hatte ihre ruhige Besonnenheit getrübt. Ihr Führer war aber viel zu sehr überzeugt von ihren oft bewährten Tugenden als Bergsteigerin, um ihrer Weisung, uns oben auf der Adlersruhe zu erwarten, einen Widerspruch entgegenzustellen. So hatte er sie ziehen lassen und ihr nur noch ein paar rothe Fähnchen mitgegeben, die sie an besonders markanten Stellen ihres Vordringens möglichst weit sichtbar befestigen sollte.
Als wir gegen sechs Uhr früh auf der Adlersruhe eintrafen, fanden wir den biederen Graubart in großer Unruhe und Sorge. Er hatte seine Schutzbefohlene so lange wie möglich mit sorgsamen Blicken verfolgt, bis sie diesen gänzlich entschwunden war, und seitdem – es war wohl der Verlauf einer Stunde – war sie in seinem Gesichtsfeld nicht wieder aufgetaucht. Mit großer Eile schritten wir – zunächst angeseilt – den Weg hinunter, scharf ausspähend, ob nicht eines der rothen Fähnchen sichtbar werde. Wir waren schon nahe bei der Stelle, wo in früheren Jahren der Gletscher zu Ende gewesen, als wir fast gleichzeitig an verschiedenen Stellen mitten in dem vor uns im Absturz sich überschichtenden Eisblockgewirre drei der rothen Fähnchen ansichtig wurden. Leider ist man in dieser Gletscherregion den ärgsten optischen Täuschungen ausgesetzt; so kam es, daß wir alle vier verschiedener Meinung waren, welches von den Fähnchen das nächste, welches das entfernteste sei. Daraus ergab sich das Bedürfniß, in getrennter Marschordnung vorzurücken. Ich und einer meiner Führer zogen geradeswegs auf das mittlere los. Die beiden anderen Männer rückten zu beiden Seiten vor. Es war ein verwegenes Wandern; jetzt galt es, felsiges Terrain zu überklettern, dann wieder über steile Gletscherabhänge vorsichtig abzurutschen und wieder, tiefe Gletscherspalten zu überspringen oder, wenn dies nicht ging, zu umgehen. Bald befanden wir uns mitten in einem Labyrinth von Eisbergen, -Nadeln, -Kegeln und Firnhängen, in welchem wir nur Dank des Kompasses die Richtung einhalten konnten, so verwirrend wirkte diese Umgebung. Sowohl die rothe Fahne als die Führer waren uns aus dem Auge gekommen; auf unsere Jodelrufe kam keine Antwort. Doch verloren wir dadurch nicht unsere Geistesgegenwart. Ohne Aufenthalt, aber auch mit kluger Ausnutzung jedes Terrainvortheils rückten wir vorwärts.
Endlich erreichen wir die Zinne einer hohen Eiswand, die uns einen Ueberblick nach vor- und rückwärts gestattet. Erstaunt entdecken wir zwei der rothen Fähnchen hinter uns. Vielleicht hatten wir also die Gesuchte schon überholt. Wir lugen scharf aus, ob wir nicht in irgend einer der Einschartungen im Eise ihr Gewand sehen. Nirgends läßt sich eine Spur nur entdecken. Da plötzlich – fast direkt unter uns – werden wir sie gewahr. In einer äußerst steil geneigten Eisrinne, deren Boden offenbar fußtief von Schnee bedeckt war, denn bei jedem Schritt sank sie bis an das Knie ein, schritt sie langsam vorwärts. Mein Führer wollte sie gerade anrufen, als ich ihm stumm bedeutete, zu schweigen. Mich gelüstete es, dem kühnen Weibe zuvorzukommen, das offenbar im Geiste schon den Triumph genoß, ohne jegliche Manneshilfe das schwierige Unternehmen durchgeführt zu haben. Wir kletterten leise über die steile Neigung des Eisbergs nach Osten hinab, fanden hier günstiges Terrain zum Vordringen in die Rinne und waren gerade in einer breiten Kluft zwischen zwei Eiswänden angelangt, welche in diese mündete, als ein prickelndes Geräusch in dieser uns still stehen heißt. Entsetzen macht unser Blut für einen Moment erstarren: die Schneedecke in der steilen Eisrinne vor uns bewegt sich. Durch das Gewicht der Tritte eines der anderen Führer, der auch die Einsame entdeckt hatte und von oben her in die Rinne, halb rutschend, eilte, war, so erfuhren wir später, die auf dem Eise lagernde, von der Sonne erweichte Schneedecke ins Gleiten gekommen. Schon war die Bewegung und das von ihr erzeugte Geräusch ein Sausen. Es war kein Zweifel, die tollkühne Frau mußte von dem Sturze mit fortgerissen und auf die an die hundert Meter unter dem Ausgang der Rinne lagernde Pasterzenmoräne mit rasender Wucht geschleudert werden. Ohne uns zu besinnen, stürzten wir vor nach dem Rand, an welchem jeden Augenblick die Unglückliche vorbeitreiben mußte.
Noch rechtzeitig gelange ich, als der vordere, zu dem wilden Schneesturz, und vom Instinkt getrieben, stürze ich, als die halben Leibs im Schnee noch aufgerichtet Stehende, mit starren Augen [611] dem Tod Entgegensehende herantreibt, mich ihr entgegen, indem ich dem Führer hinter mir zurufe, das Seil fest anzuziehen, das mich und ihn verband. Mit dem Unterkörper tief in den Schnee gesunken, mit dem rechten Arm die vom Schreck Erstarrte um die Hüfte fassend, während die Linke fest das Seil umklammert hält, gelingt es mir, für einen Moment die Bewegung zu hemmen. Der treue Führer hat Stand hinter einem Eisvorsprung genommen und hält unverrückbar den gewaltigen Ruck aus, der das Seil um seine Brust furchtbar anzieht, so daß ihm, dem Starken, fast der Athem vergeht, der aber auch uns beide aus der Todesgefahr hinauf auf festen Boden bringt. Auch der nachstürzende Führer hatte von dem Stillstand der Bewegung profitirt. Ihm war es gelungen, sich mit Hilfe seines Bergstocks ans Ufer der Rinne zu schnellen. Es war eine Rettung aus höchster Todesgefahr.
Schon aus diesem Grunde steht dieser verhängnißvolle Tag als der Bringer meines schönsten Reiseerlebnisses mir im Gedächtniß. Es giebt kein beseligenderes Gefühl, als einem anderen das Leben zu retten, indem man das seine preisgiebt. Die That als solche war kaum etwas Besonderes; der Antheil des Führers an derselben war gleich stark wie der meine, und jeder Bergführer der Alpen ist jeden Tag bereit, ähnliches zu tun, und thut es ohne Aufhebens. Mir aber war zudem in jenem Momente klar geworden, welch ein Verlust gerade der Tod dieser Frau für mich sein würde. Sie verkörperte das Ideal einer Lebensgenossin für mich, so schön, so bewundernswerth, wie ich es bis dahin für unmöglich gehalten hatte, es im Leben finden zu können. Und nun lag sie vor mir, doppelt schön in ihrer Todesblässe, lebend, weil ich sie gerettet! Sie war nicht die unnahbare, unbesiegbare Gletscherkönigin mehr, sondern ein gebrochenes Weib, das der furchtbaren Gewalt des Königs, der im ewigen Eise regiert, in Schwachheit erlegen war. Sie war ein Weib wie ein anderes auch, das einer Stütze bedurfte – diese Stütze wollte ich ihr sein.
Und ich war ihr, der Ohnmächtigen, zunächst auch die nöthige Stütze. Ich ließ es mir, nachdem wir ihr Wein eingeflößt und den Blutumlauf durch Reiben gefördert hatten, nicht nehmen, sie selbst herniederzutragen auf dem Wege, welchen die inzwischen vereinigten Führer für uns über das Gletschereis gehauen. Und mir wurde das Glück zu theil, daß die aus ihrer Ohnmacht Erwachende sich in meinen Armen fand ohne Zeichen des Mißmuths oder des Mißbehagens, vielmehr den sanften Druck meiner Arme dankbar erwidernd.
Unten über die Pasterze trugen wir die wieder Entschlummerte zu viert und in der Hofmanns-Hütte zimmerten wir eine Bahre, auf der wir sie wohlgebettet ins Glocknerhaus brachten. Leider verfiel die geliebte Frau in ein schweres Fieber. So lange bis eine ihr besonders befreundete, von mir telegraphisch herbeigerufene Cousine herbeikam, ließ ich mir, im Bunde mit der Wirthin in Heiligenblut und unter Hinzuziehung des Dölsacher Arztes, ihre Pflege angelegen sein. Dann mußte ich dringender Geschäfte halber fort. Auf mein Landgut in Surrey ließ ich mir Nachrichten über ihren Zustand nachsenden. Als ich vernahm, daß sie wieder genesen sei, hielt ich brieflich um ihre Hand an. Nach einigen Tagen empfing ich die Antwort. Sie war ablehnend, aber die Ablehnung hat mich nicht gedemüthigt.
Sie schrieb mir, daß sie meine Neigung bis zu einem gewissen Grade herzlich erwidere. Und zwar nicht bloß von dem tiefen Dankgefühl getrieben, das sie mir als Retter aus Todesgefahr schulde. Sie verehre in mir den muthigsten und unerschrockensten Mann, der ihr im Leben begegnet sei, aber der Mann, dem sie ihr Leben ganz anvertrauen möchte, müsse ihr auch das Vertrauen einflößen, daß er das seine wie das ihre nie verwegen aufs Spiel setze. Das hätte ich gethan, als ich sie zu einer Art Wettkampf im Reiche des ewigen Eises herausgefordert. Durch mein Beispiel sei sie damals sich selber untreu geworden und ihre Buße solle sein, daß sie hinfort nur sich, sich ganz allein treu sein wolle.
So bin ich ledig geblieben und sie auch. Aber eine treue Freundschaft verbindet uns. Es ist wahr, ein Alpinist, wie ich, taugt nicht zur Ehe. Aber wenn ich zur Winterszeit in meinem Arbeitszimmer daheim zwischen den hohen Regalen mit meinen alpinen Sammlungen das Bild, das sie mir damals schenkte, heruntergrüßen sehe, – ich muß gestehen, daß ich dann recht melancholisch werden kann.“
Der „Gartenlaube-Kalender“ 1889. Seit dem Erscheinen des ältesten gedruckten deutschen Kalenders, der 1439 von Hans v. Schwäbisch-Gmünd herausgegeben wurde, hat sich mit Hilfe der Buchdruckerkunst eine ganze Kalenderlitteratur herausgebildet.
Solch ein Kalender damals war freilich nur in Folioausgabe zu haben und bestand aus zwei einfachen Holztafeln, auf welchen die Schriftzeichen eingravirt waren. Heutzutage haben unsere Kalender schon ein anderes Aussehen bekommen; nehmen wir nur den „Gartenlaube-Kalender“ mit seinem reichverzierten Prachteinbande in die Hand, um das zu erkennen.
Wenn wir die „Inhaltsübersicht“ ansehen, so sind es Namen vorzüglichen Klanges, die uns genannt werden; gehen wir aber an den Inhalt selbst heran, so bietet sich uns eine schier unversiegbare Quelle der Belehrung und Unterhaltung dar, daß wir das schöne und billige Büchlein als ein wahres Schatzkästlein für Hans und Familie bezeichnen möchten.
Gleich vorn, wenn wir die Buchschale aufgeschlagen haben, können wir leicht an der Hand einer übersichtlichen Tabelle die Zinsen unseres, eines jeden Kapitals berechnen; wir blättern um, und das sinnige Auge eines reizenden Mädchenkopfes von Defregger ruht auf uns. Das Kalendarium, dessen einzelne Blätter mit hübschen Kopfleisten geziert sind, ist gleich nutzbar für Protestanten wie Katholiken Deutschlands und Oesterreich-Ungarns, Russen wie Juden; es läßt auch nicht im Zweifel über die genauen Daten der fürstlichen Geburtstage, Bußtage etc., versorgt uns mit hauswirthschaftlichen, astronomischen und anderen Notizen, sowie einer Reihe von Denk- und Sinnsprüchen.
Nun folgen eine Genealogie der Regentenhäuser, dann statistische Notizen für das Deutsche Reich in großer Mannigfaltigkeit, und eine Tafel, welche die Zeitunterschiede zwischen Berlin und anderen Orten angiebt. Auch die vergleichende Zusammenstellung der Thermometergrade nach Celsius, Réaumur und Fahrenheit fehlt nicht, der sich eine Münzvergleichungstabelle, Stempeltabelle für Aktien, Obligationen etc. und ein Wechselstempel-Tarif anreiht. Ferner ist der Fürsorge für blinde, taubstumme und andere unglückliche Kinder ein Kapitel von weitestgehender Bedeutung gewidmet, das ein genaues Verzeichniß der bestehenden Heil- und Pflegeanstalten veröffentlicht. Vergessen wollen wir in unserer Aufzählung auch nicht der tabellarischen Uebersicht betreffs Verjährung der Klagen und Forderungen im Deutschen Reiche, und einer recht praktischen Fleckenreinigungstabelle von Hermann Krätzer. Jetzt können wir uns in ein Jahrmarktsverzeichniß mit Einwohnerzahl der Städte, Servisklassen-Eintheilung und Angabe der Garnisonen vertiefen und weiterhin uns mit den Post- und Telegraphenbestimmungen nebst Tarifen bekannt machen.
Ein reizendes Bildchen, „Die Waisen“ von G. Hahn, taucht da plötzlich vor uns auf und eröffnet den Reigen der nun in reicher Zahl durch das Ganze verflochtenen Illustrationen. Viktor Blüthgen tritt uns mit einem launigen Gedichte entgegen, das mit gefälligen Zeichnungen von A. Lewin versehen ist. Die beliebte „Gartenlaube“-Erzählerin W. Heimburg fügt dem im vorjährigen Kalender begonnenen Novellencyklus unter dem Titel „Onkel Leos Verlobungsring“ eine zweite, der ersten an fesselndem Reiz nicht nachstehende, von E. Zopf hübsch illustrirte Geschichte hinzu. Durch eine interessante musikhistorische, mit Bildchen von der Hand Fritz Bergens geschmückte Novelle erfreut uns ferner Moritz Lilie, und von dem Vorhergehenden nur durch einige sinnreiche „Orientalische Sprüche“ getrennt, ist es eine hübsche, von Oskar Justinus verfaßte Obstfabel, die uns überaus angenehm unterhält. Wer noch nicht am Rhein selber war, der hat doch schon seine Weine getrunken, und einem jeden wird es willkommen sein, „eine Rhein- und Weinfahrt“, wenn auch nur im Geiste, anzutreten, zu der uns in führerkundiger Gemeinschaft Emil Peschkau und R. Püttner in weindurchduftetem Bild und Wort hier einladen. Ein ergreifendes Gedicht von M. Eichler bringt Abwechslung in die lange Reihe der Darbietungen, aus der wir einen lehrreichen Aufsatz, „Geibels Jugendliebe“, von Dietrich Theden noch besonders hervorheben möchten. Aber dem Ernste darf sich auch der Scherz beigesellen, und da ist es denn eine Humoreske, „Doktor Puppke“ von B. Renz, die im Verein mit den charakteristischen Illustrationen O. Gerlachs die Heiterkeit des Lesenden erregen muß. „Blätter und Blüthen“! Welche Fülle an Interessantem und Unterhaltendem diese spenden, das allerdings auszuplaudern ist uns nicht gestattet, soll doch dem Leser auch eine kleine Ueberraschung aufgespart bleiben; nur verschweigen wollen wir nicht, daß auch diese Rubrik des Kalenders mit trefflichen Bildern von F. Wahle und O. Gerlach bedacht worden ist. Doch wir sind noch immer nicht fertig. Ein kleines Kunstblatt ist es, welches uns da wieder in die Augen sticht; „Musikunterricht“ von A. Müller-Lingke lautet die Unterschrift des Holzschnitts. Dr. M. Taube, eine medicinische Autorität, giebt uns in dem lebendig geschriebenen Artikel „Die erste Hilfe gegen Masern, Diphtherie und Scharlach“ wohlbewährte Rathschläge, und Hermann Pilz bespricht in leichtfaßlicher Weise die Reichsgesetzgebung der Neuzeit. Ein wohlgetroffenes Porträt des Kaisers Wilhelm I. leitet gleichsam die letzte Abtheilung des Kalenders ein, die in einem von Schmidt-Weißenfels geschriebenen „Rückblick auf die merkenswerten Ereignisse vom Juli 1887 bis Juli 1888“ besteht, dem wieder viele Illustrationen von E. Thiel, H. Lüders und anderen beigegeben sind.
Den Schluß des überaus zeitgemäß zusammengestellten, allen Gartenlaube-Lesern bestens empfohlenen Werkchens bildet ein Bericht „vom Büchermarkt“ von Rudolf von Gottschall und eine ebenfalls illustrirte polytechnische Umschau.[612] Prinz Friedrich Karl-Denkmal zu Frankfurt a. O. In Nr. 34 der „Gartenlaube“ brachten wir eine Abbildung der Reiterstatue des Prinzen Friedrich Karl von Preußen, welche in Steglitz bei Berlin errichtet werden soll; inzwischen ist ein anderes dem tapferen Reitergeneral gewidmetes Denkmal in Frankfurt a. O. bereits enthüllt worden, und zwar am 16. August, in Gegenwart Kaiser Wilhelms II. Das Denkmal zeigt den Prinzen in stehender Figur ohne jede allegorische Zuthat in der streng historischen Husarenuniform, den Marschallstab in der Rechten. Die Gesichtszüge des Feldmarschalls zeigen Erregung und Energie; die Porträtähnlichkeit ist eine unverkennbare.
Der Schöpfer des Denkmals ist der noch junge Berliner Bildhauer Max Unger, der mit diesem Standbilde – seinem ersten Werke von monumentaler Bestimmung – einen sehr glücklichen Wurf gethan hat.„Hugdietrichs Brautfahrt“ von Wilhelm Hertz (Stuttgart, Verlag von Gebrüder Kröner) ist unter den nachgerade fast allzu zahlreich gewordenen Prachtwerken eines derjenigen, welche in textlicher und illustrativer Beziehung gleich dauernden Werth behaupten. Wie meisterhaft Anton v. Werner das Buch illustrirt hat, das haben wir schon in der vorstehenden Schilderung des Künstlers und seiner Werke erwähnt und beweist wohl am besten die dem Werke entlehnte stimmungsvolle Illustration: „König Walmund findet Wolfdietrich im Walde“ (S. 609).
Wolfdietrich ist der Enkel König Walmunds, aber seine Geburt mußte dem Großvater verheimlicht werden; das Kind wurde verstoßen und im Walde von einer Wölfin genährt, bis es nach Wochen vom Jagdtroß des Königs aufgefunden und ins Schloß zurückgebracht wurde. Der Dichter selbst erzählt den Vorgang mit Humor folgendermaßen:
„Nach Wochen zog vom Königshaus
Walmund, der Herr, zu jagen aus;
Er streifte Thal und Schlucht entlang
Und kam nach manchem sauren Gang
Hin, wo im niedern Tannenschlag
Die Wölfin bei den Jungen lag.
Die Jäger sah’n das Kind und schrien,
Die Alte wandte sich zu fliehn;
Sie wich, doch eilt’s ihr nicht zu sehr:
Die Wölflein trabten nebenher.
Zum Lager ging der Herr sodann, –
Da saß der Knab’ und lacht ihn an.
Herr Walmund sprach: ‚Bei Gottes Bart!
Das ist ein Kind von guter Art!‘
Er hub es auf und nahm es mit
Und herzt es schier bei jedem Schritt.
Oft hält er unterweges an
Und zeigt’s den Jägern Mann für Mann:
‚Habt ihr, das sollt ihr mir gestehn,
Jemals solch schönes Kind gesehn?
Fürwahr, ich bin dem Rangen gut,
Als wär’s mein eigen Fleisch und Blut.“
Daß es in der That „sein eigen Fleisch und Blut“ ist, ahnt er nicht und auch Frau Liebgart, die Königin, weiß es noch nicht. Gerade sie wird aber bald eingeweiht, giebt der heimlich vermählten Tochter den Segen und sucht nun auch den König zu gewinnen, auf Umwegen. Sie fragt ihn eines Morgens beim Erwachen vorsichtig:
„Was thut man zu dem Ding mit Fug,
Das nicht durch Kraft und nicht durch List
Zu heben noch zu ändern ist?“
„Da sprach Herr Walmund lobesan:
‚Das muß man eben fahren lan.‘“
Aber trotz dieser weisen Einsicht braust ihm doch die Wahrheit, als er sie endlich von seiner Frau erfährt, „wie ein Schlag im Ohr“:
„Herr Gott, behüt uns allerwegen,
Das ist ein schöner Morgensegen!“
Aus den in obigem Bilde maskirt enthaltenen Buchstaben ist der Name einer Stadt des alten Griechenlands zu enträthseln, resp. zusammenzustellen, auf welche die Figuren des Wappens, die auf eine klassische Schilderung dieser Stadt Bezug haben, hindeuten.
Man halte sich genau an den Wortlaut der Aufgabe und nehme von den Buchstaben des Wortes LICHTENSTEIN nichts (die Buchstaben NICHTS) hinweg. Es bleiben hierauf die 6 Buchstaben LETEIN übrig, welche sich nun bequem in den 6 Fächern der Figur unterbringen lassen.
B. in K. Alte Aale kehren in der Regel nicht vom Meere in unsere Flüsse zurück. Die großen Aalzüge, die im Frühjahr in den Flußläufen beobachtet werden, bestehen aus jungen, höchstens neun Centimeter langen Fischen. Daß diese in ihrem Zug zu Berge weder durch Stromschnellen, noch durch Wehre, noch durch Wasserfälle aufgehalten werden, ist richtig. Wahr ist es auch, daß sie selbst den Rheinfall von Schaffhausen überwinden, indem sie an den Uferfelsen emporklettern; aber nur den wenigsten gelingt es, vielleicht einem von zehntausend. Es wird darum im Rhein unten Aalbrut aufgefangen und oberhalb des Falles eingesetzt. Thatsache ist, daß der Aal einen Tag und länger außerhalb des Wassers leben kann. Daß er aber nachts in die Erbsen- und Wickenfelder schleicht, um dort Würmer und Schnecken zu fangen, ist zwar seit Jahrhunderten behauptet, aber niemals überzeugend bewiesen worden.
„Was befreit?“ Wir bitten um Angabe der Adresse, damit wir Ihnen das Manuskript zurücksenden können.
M. E. in Coswig. Die Dauer der Eisenbahnfahrt durch den großen St. Gotthardtunnel beträgt bei Schnellzügen 20 bis 21 Minuten, bei den andern Personenzügen 27 bis 30 Minuten. Die erste Probefahrt durch den Tunnel fand in der Christnacht des Jahres 1881 statt.
G. F. in B. Von Herbert Spencers „Erziehung in geistiger, sittlicher und leiblicher Hinsicht“ ist allerdings eine deutsche Uebersetzung erschienen, und zwar von Prof. Dr. Fritz Schultze, die bereits in dritter Auflage vorliegt (Jena, Friedrich Maukes Verlag).
Frau H. N. in C. Wie uns von zuständiger Seite mitgetheilt wird, beträgt das Kostgeld für die Pfleglinge der Kinderpflegeanstalt zu Norderney monatlich 60 Mark.
In unserem Verlage ist erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
Den vielen Freunden und Verehrern des alten Veterans der „Gartenlaube“, Dr. Friedrich Hofmann, wird ein Hinweis auf obige Gedicht-Sammlung als bleibendes Andenken an den dahingeschiedenen Dichter willkommen sein.