Die Gartenlaube (1884)/Heft 21
[341]
No. 21. | 1884. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
(Fortsetzung.)
Es war das Gefühl der vollkommensten Hülflosigkeit, was Salvatore in dem düstern Kerker bewältigte, und sofort war seine Einbildungskraft am Werk, sich Möglichkeiten zu malen, die ihm bis jetzt kaum in den Sinn gekommen.
„Wie,“ sagte er zu sich selbst, „wenn Monsignore De Fabris, der doch allein außer Nacosta um die Verabredung weiß, eines plötzlichen Todes stürbe? Der hohe Herr ist keiner mehr von den Jüngsten; er liebt den Luxus, das Wohlleben, die schweren sicilianischen Weine ...! Stand nicht kürzlich in der ‚Gazetta‘, daß zu Palermo ein Richter inmitten der Proceßverhandlung zusammengebrochen sei – das Opfer eines Gehirnschlages! Wenn Seine Eminenz den Cardinal De Fabris ein ähnliches Schicksal ereilte, dann war er, Salvatore, unrettbar verloren, mochte Emmanuele Nacosta noch so ernstliche Anstrengungen zu seiner Befreiung machen. Wer würde dem Polizei-Aspiranten glauben, daß Alles nur Komödie gewesen? Wer bezeugte eine so unwahrscheinliche Aussage? So unwahrscheinlich, daß Emmanuele sie voraussichtlich gar nicht versuchen würde, denn wenn er sie vorbrachte, lief er Gefahr, daß man die Sache zur Hälfte glaubte und eine Verabredung lediglich zwischen Nacosta und Salvatore annahm – zu leicht ersichtlichem Zwecke ...“
Es ward ihm siedend heiß bei diesen Erwägungen. In einer Anwandlung von Trostlosigkeit blickte er zu dem dreifachen Gitter auf, das etwa zehn Fuß hoch über dem Boden die kleine viereckige Maueröffnung verkreuzte, die einzige Lucke, durch welche das unheimliche Gelaß die Tageshelle empfing.
In der That, die Kerker von Pizzo Falcone waren ganz darnach angethan, die Schwarzsichtigkeit zur üppigsten Entfaltung zu bringen. Diese Quadern, dem Gemäuer der Hafendämme vergleichbar, wuchtig, unerbittlich und stets mit einer Feuchtigkeit überkleidet, deren Ausdünstung an den Salzgeruch faulender Meergewächse erinnerte; – dieser gestampfte Lehmboden mit den mannigfachen Unebenheiten und den eigenthümlichen Fußspuren in der Nähe des Wandrings, wo man die besonders gefährlichen Sträflinge an kurzen Stahlketten festschloß, dergestalt, daß sie nur einen begrenzten Halbkreis beschreiben konnten; – die halbzerschlissene Matte aus geflochtenem Spartgras mit der löcherigen Wolldecke; – die elende Holzbank; – und als Rest der dürftigen Ausstattung ein bauchiger Krug mit zwei Henkeln: – das war ein Gesammtbild von geradezu niederschmetternder Trübseligkeit.
Salvatore gedachte der Nachmittagsstunde, da er von der kleinen Marine zu Capri aus mit seiner liebeglühenden Zingarella in die leuchtende See gerudert.
In der Ekstase seines leidenschaftlichen Herzens schien ihm damals die unermeßliche Fluth und der endlos blauende Himmel zu eng für das gewaltige Begehren, das ihn erfüllte, für die stürmische Sehnsucht seines Gemüths nach Glück und Glanz und lebensvollem Genuß.
Jetzt sah er von diesem Himmel nur einen schmalen, flimmernden Streifen, umrahmt von dem festungsähnlichen Mauerwerk des schrecklichsten und verrufensten aller Verließe, und statt der Arme seiner Maria umschlang ihn der Bast der Stricke, deren Lösung der Kerkermeister ihm schnöde verweigert hatte.
Salvatore setzte sich auf die Holzbank. Die verschnürten Hände begannen zu schmerzen. Seine Stimmung sank tiefer und tiefer. Dann aber fand er das Gegengift wider all diese Eindrücke in der ewigen unerschöpflichen Quelle seines phantastischen Optimismus.
Anfänglich nur einem zweckmäßigen Entschluß seines Verstandes folgend, zwang er sich, die Zukunft, wie sie Nacosta ihm vorgespiegelt, wie er selbst sie mit Maria geträumt hatte, nach allen Richtungen durchzudenken, – und im Handumdrehen ward die Kunst zur Natur. Die sausende Einbildungskraft riß ihn fort; die Gegenwart mit ihren qualmenden Dämmerungen sank hinab in das Nichts; die Quadermauern öffneten sich; alle Blumen des Frühlings rankten herein; alle Wonnen des Paradieses durchströmten ihm die pochenden Adern.
Mit diesem ersten Triumphzug seiner gewaltigen Phantasie hatte er ein für allemal über die Schrecknisse des Kerkers gesiegt. Als nach Verlauf einer Stunde, vom Gefängnißwärter begleitet, ein höherer Beamter die Zelle betrat, um zunächst die Stricke durch regelrechte Handschellen ersetzen zu lassen und dann mit dem Verhafteten ein kurzes Verhör vorzunehmen, da empfing Salvatore die beiden Männer mit dem Ausdruck einer fast bedenklichen Zuversicht – bedenklich, weil es durchaus nicht seiner Rolle entsprach, wenn er zu gleichmüthig schien. Er sagte das auch sich selbst, und bemühte sich demgemäß, eine gewisse Beklommenheit zu erkünsteln.
Uebrigens that der Beamte redlich das Seine, um den Bestrebungen Salvatore’s in diesem Sinne gebührend nachzuhelfen; denn die inquisitorische Herbheit, die der Frager gleich zu Anfang [342] bekundete, legte sich wie ein giftiger Dunst über das ganze Verhör, und als der finster blickende Herr von dem Resultat seiner Bemühungen nicht völlig befriedigt schien, machte er Andeutungen, die auf die weitere Haltung des jungen Mannes nicht ohne Einfluß blieben.
Er stellte nämlich dem Verhafteten die Anwendung einer gelinden Folter in Aussicht, falls derselbe nicht rückhaltslos die volle Wahrheit bekenne.
Salvatore zuckte bei dieser Eröffnung zusammen. Doch beruhigte er sich im Gedanken, daß die Bekenntnisse, die er nach und nach sich würde abringen lassen, dem Beamten und den künftigen Richtern ja ganz unzweifelhaft als Wahrheit erscheinen würden; denn Emmanuele Nacosta – das mußte man dem Polizei- Aspiranten einräumen – war ein Meister in der Kunst, selbst das Unwahrscheinliche glaubhaft zu machen, und die Vorgeschichte des Scheinattentats, die Salvatore in Gemeinschaft mit Emmanuele ersonnen hatte, überschritt durchaus nicht die Grenzen des Denkbaren.
Nach zahllosen Kreuz- und Querfragen zog sich der Beamte zurück.
Nochmals die Einzelheiten dieses Verhörs überdenkend, schritt der Apulier wohl eine Stunde lang hin und her. Allmählich ergriff ihn die Müdigkeit. Seinen Widerwillen bekämpfend, streckte er sich auf das verwahrloste Lager und schloß die Augen. Nach kurzer Frist war er eingeschlafen, und die Zügellosigkeit der Traumphantasie spann die Bilder nun weiter, die er vorhin im Rausch seiner wachen Ekstase begonnen hatte.
Am dritten Tage ward Salvatore in Begleitung zweier Carabinieri vor den Untersuchungsrichter geführt, der in einem der oberen Räume des alten Castells mit seinen Schreibern und Gerichtsdienern Sitzung hielt.
Nachdem der Richter den Verhafteten um Namen, Herkunft, Alter, Beruf etc. gefragt hatte, fuhr er mit langsamer, geschäftsmäßiger Stimme fort:
„Salvatore Padovanino, Ihr seid eines Verbrechens beschuldigt, das die Gesetze des Königreichs mit dem Tod durch die Hand des Henkers bedrohen. Den Aussagen glaubwürdiger Zeugen zufolge, in deren Zahl der Polizei-Aspirant Emmanuele Nacosta obenan steht, habt Ihr am sechsundzwanzigsten dieses Monats in der vierten Nachmittagsstunde am Eingang der Piazza des Carlo-Theaters auf Seine Eminenz den Cardinal Monsignore De Fabris, den ersten Minister Seiner Majestät des Königs, einen Schuß abgefeuert in der nicht weiter zu erhärtenden Absicht, Seine Eminenz zu tödten. Ihr seid mit der Waffe in der Hand von dem Polizei-Aspiranten Emmanuele Nacosta ergriffen und mit Hülfe einiger wackeren Männer glücklich bewältigt worden, ehe Ihr im Stande waret, Euren verbrecherischen Angriff gegen die erhabne Person des Monsignore zu wiederholen. Die Waffe, eine Reiter-Pistole schwersten Calibers, ist bei der königlichen Gerichtsstätte durch den Zeugen Emmanuele Nacosta deponirt worden. Ihr erblickt sie hier auf dem Seitentisch. Salvatore Padovanino, ich frage Euch nun: bekennt Ihr Euch des Mordversuchs auf Seine Eminenz schuldig, und räumt Ihr ein, daß dieser Mordversuch vermittelst der hier vorliegenden Waffe begangen wurde?“
Der Apulier athmete schwer und bänglich. Das verhängnißvolle Ja wollte ihm nicht über die Lippen. Freilich, aus den Worten des Untersuchungsrichters ging ja hervor, wie glücklich und glaubhaft Emmanuele Nacosta sich als Zeuge geberdete. Das flößte dem Beschuldigten ein Gefühl der Sicherheit ein. Der Instinct aber war mächtiger als die Erwägung. Der Untersuchungsrichter mußte die Fragen unter Beifügung einer sehr nachdrücklichen Ermahnung wiederholen, ehe sich Salvatore zu einer bejahenden Antwort entschloß.
„Gut,“ versetzte der Untersuchungsrichter; „ich muß Euch bemerken, daß die Verstocktheit, mit der Ihr Euch weigern zu wollen schient, eine Thatsache einzuräumen, die durch so und so viele Augenzeugen beglaubigt ist, eine große Kurzsichtigkeit verräth. Nur ein rückhaltsloses Geständniß bietet möglicher Weise dem königlichen Tribunal Veranlassung, Euch als verirrt und verblendet der allerhöchsten Gnade Seiner Majestät zu empfehlen. Leugnet Ihr aber, laßt Ihr uns über die Beweggründe Eurer That im Unklaren, so ist Euer Schicksal besiegelt. – Das vergeßt nicht, wenn ich Euch jetzt um die Einzelheiten befrage! Verstanden?“
„Ja, Herr,“ sprach der Apulier.
„Also nochmals: Ihr hattet die Absicht, den Monsignore De Fabris zu tödten. Was bewog Euch zu dieser Missethat?“
„Der Wunsch, meinem Vaterlande zu nützen.“
„Wieso? Nützt man dem Vaterlande, wenn man seine Gesetze mit Füßen tritt? wenn man den Wohlthäter des Vaterlandes meuchlings ermordet?“
Dem Geist seiner Rolle entsprechend, nahm Salvatore jetzt eine etwas theatralische Haltung an.
„Herr,“ sagte er augenrollend, „Ihr redet von Eurem Standpunkte aus; ich aber handelte von dem meinen. Monsignore De Fabris hat keinerlei Anspruch auf den Ruhm eines Wohlthäters der Nation; er ist ihr Feind, ihr Tyrann – und diesen Tyrannen aus dem Wege zu räumen, das hielt ich für eine verdienstliche That der Vaterlandsliebe. Wäre geglückt, was ich plante, so würde Neapel heute mir zujauchzen, und Ihr selber, Signore, mühtet Euch vielleicht um die Freundschaft des Mannes, der jetzt gefesselt vor Euren Schranken steht.“
Der Untersuchungsrichter nagte die Lippen.
„So! So!“ nickte er vor sich hin. „Dacht’ ich’s doch! Also wiederum ein Opfer jener unheilvollen staatsfeindlichen Propaganda! Bei Gott, es wäre nun Zeit, daß endlich einmal aufgeräumt würde mit den Männern der Revolution!“
Er sagte dies mehr zu sich selbst als zu dem Angeklagten. Dann fuhr er fort:
„Habt Ihr Mitschuldige?“
„Gesinnungsgenossen, ja,“ gab der Apulier trotzig zur Antwort; „unzählige; aber Mitschuldige, in Eurem Sinn – nein! Ich gedachte den Lorbeer, nach dem ich strebte, für mich allein zu erwerben.“
Der Untersuchungsrichter ließ sich durch die herausfordernde Haltung des jungen Mannes nicht aus seiner geschäftsmäßigen Kaltblütigkeit herausdrängen.
„Die That also habt Ihr allein geplant. Wohl! Die Einzelheiten erörtern wir noch. Aber die Gesinnung, aus der sie hervorgegangen, theilt Ihr mit Andern. Ihr habt dieserhalb Eure Gedanken ausgetauscht, und so im Verkehr mit Leuten von gleicher Pietätslosigkeit den traurigen Muth geschöpft zu dem Verbrechen, für das Ihr Euch jetzt verantworten sollt. Ist dem so?“
„Nicht ganz, Herr. Ich habe hier in Neapel so gut wie keine Verbindung; mein Verkehr beschränkte sich auf zwei Hülfsarbeiter des Rechtsanwalts, bei dem ich beschäftigt war; und diese Beiden – davon werdet Ihr Euch leicht überzeugen – gehören nicht zur Partei der Freiheitsfreunde . . .“
„Ihr aber seid ein eifriges Mitglied dieser Partei, besucht ihre geheimen Versammlungen, betheiligt Euch an der ganzen wüsten Agitation?“
„Auch das nicht,“ sprach Salvatore mit fester Stimme. „Ich sagte ja schon, daß ich ohne alle Beziehungen bin. Gleichwohl hat die Partei der Freiheitsfreunde mich erheblich beeinflußt. Ihr wißt, daß die Grundsätze dieser wirklichen Patrioten in Flugblättern aller Art auseinander gesetzt und vertheidigt werden, – in Schriften, die man aus dem Sardinischen oder von Frankreich her einschmuggelt. Diese Flugblätter hab’ ich mit Eifer gelesen, und schon nach kurzer Frist die Ueberzeugung gewonnen, daß Wahrheit und Recht auf Seiten der Oppositionspartei kämpfen, und daß kein Heil zu erwarten ist, so lange der Monsignore am Ruder bleibt.“
„Wo verschafftet Ihr Euch diese Flugblätter?“
Salvatore lächelte.
„Die Hausirer vertreiben sie unter den Augen der Polizei, vor dem Palaste des Cardinals, an den Thoren des königlichen Schlosses.“
„Unerhört!“ sagte der Inquirent mit einem Blick auf die Secretäre, die seines Dictats gewärtig an dem Nebentisch saßen. „Hattet Ihr eine Ahnung von diesem Unfug, Signor Breda?“
„Leider, Siguor Cavaliere,“ gab der Secretär mit einem flüchtigen Achselzucken zur Antwort. „Freunde von mir sind an verschiedenen Stellen der Via Toledo von den Verbreitern solcher Pamphlete geradezu molestirt worden, obgleich sie kaltblütig ablehnten, ja mit sofortiger Anzeige drohten. Daheim angelangt, fanden sie dann die Zettel mit den revolutionären Attaken in ihren Rocktaschen.“
[343] „Das sind ja erbauliche Zustände!“ sagte der Untersuchungsrichter. „Nun, so Gott will, nimmt das Governo aus diesem jüngsten Frevel der Revolutionspartei endlich Veranlassung, die bisherige Milde in rückhaltlose Strenge zu verwandeln!“
Er legte nun dem Beschuldigten einige weitere Fragen vor, die Salvatore mit großer Glaubwürdigkeit beantwortete. Sie bezogen sich sämmtlich auf die Beweggründe, auf das allmähliche Ausreifen des verbrecherischen Projects und auf Salvatore’s gegenwärtige Stimmung.
Der Apulier gab sich so ungezwungen und entwickelte bei aller Ruhe des Auftretens so viele Spuren eines heimlichen Fanatismus, einer verborgenen dämonischen Gluth, daß der Richter mit der psychologischen Situation sehr bald in’s Reine gelangte. Widersprüche in den Aussagen des Apuliers waren nicht nachzuweisen; andere Beweggründe als die zugestandenen schienen nicht denkbar. So schloß denn der Untersuchungsrichter diesen ersten Theil des Verhörs in der klaren Gewißheit, daß der Mordversuch auf Monsignore De Fabris die That eines wüthenden Revolutionärs, eines wahnwitzigen Schwärmers sei, der, bethört von den frevelhaften Ideen des Liberalismus und dem Fieber einer krankhaften Ehrsucht, blindlings zur Waffe gegriffen.
Nachdem sich diese Ueberzeugung einmal bei dem Richter festgesetzt hatte, erleichterte er, ohne es zu wollen, durch die ganze Art seines Inquirirens dem Beschuldigten außerordentlich die folgerichtige Beibehaltung der Maske. Eine Reihe von Punkten, vor denen Salvatore ernstlich gebangt hatte, wurde gar nicht berührt; ja, in einzelnen Fällen, wo der Beschuldigte zweifelhaft war, wie er sich zu verhalten habe, gab ihm der Inquirent durch die Form seiner Fragestellung das Erforderliche klar an die Hand.
Die Erwerbung der Reiter-Pistole erzählte Salvatore der Wahrheit gemäß; er hatte sie einige Tage zuvor bei einem Waffenhändler der Strada Medina nebst den dazu gehörigen Patronen gekauft, angeblich, weil er eine Reise nach Eboli vorhatte.
Das Unbehaglichste für Salvatore war die Confrontation mit Emmanuele Nacosta. Die virtuose Schauspielerkunst jedoch, mit der der Polizei-Aspirant seine Aufgabe angriff, gab dem Apulier nach wenigen Augenblicken des Schwankens die volle Sicherheit wieder. Als der Richter den Polizei-Aspiranten ganz wie beiläufig fragte: „Ihr entsinnt Euch nicht, den Beschuldigten früher jemals gesehen zu haben?“ – da ertheilte Nacosta die verneinende Antwort mit so vollkommener Gleichgültigkeit, als wäre es rein unmöglich, der Frage des Inquirenten eine gewisse Bedeutsamkeit zuzuschreiben. Er sagte Nein, als hätte er ebenso gut Ja sagen, als hätte er antworten können: „Ich hab’ ihn gelegentlich in einer der Osterien von Santa Lucia beobachtet.“ Dabei war Nacosta dem Apulier einen so neugierig-fremden Blick zu, daß Salvatore beinahe erschrak: der Polizei-Aspirant schien die Rolle, die er hier durchführte, nicht zu spielen, sondern zu leben; er schien selber an ihre Wahrheit zu glauben.
Nun, so sehr auch der Apulier über die unheimliche Meisterschaft seines Mitverschwornen erstaunte, so unsympathisch sie ihn berührte: er jauchzte doch, als er wahrnahm, wie das Alles glatt und geräuschlos von Statten ging. Wenn die Angelegenheit schon in den ersten Stadien so über alle Erwartung glückte, so durfte das als günstiges Vorzeichen für den ferneren Verlauf gelten. Nach Verlesung des langstieligen Protokolls ward Salvatore Padovanino wiederum abgeführt.
Trotz der muthvollen Stimmung, in die das Verhör ihn versetzt hatte, seufzte er, als er sich wieder allein sah in der dumpfen, lichtlosen Zelle, während Nacosta jetzt hinausschweifen würde an das Meer oder nach der Via Toledo. Kein Zweifel: der Polizei-Aspirant hatte den leichteren Theil der Aufgabe übernommen, und wenn der Gewinn nach dem Maßstabe der Leistung vertheilt wurde, dann mußte Seine Eminenz ihn, den Apulier, ungleich höher belohnen als den schlauen Emmanuele.
Vier Tage verstrichen dem Verhafteten in erdrückendem Einerlei. Nur der Kerkermeister trat zweimal zu bestimmten Stunden in das Verließ, um die reichliche, aber unschmackhafte Nahrung zu bringen und den thönernen Krug zu füllen.
Von Erleichterungen oder Vergünstigungen, wie sie der Pseudo-Cardinal bei jener Audienz im Albergo zum „Goldenen Kreuz“ in Aussicht gestellt, war Nichts zu verspüren.
Einmal wandte sich Salvatore geradezu an den Kerkermeister: ob es nicht möglich sei, das abscheuliche Spartgrasgeflechte mit der schmutzigen Wolldecke durch ein halbwegs erträgliches Bett zu ersetzen.
Der Gefängnißwärter lachte ihm brutal in’s Gesicht.
„Werdet wohl noch eine Unterlage genießen, die Euch härter bedünkt,“ sagte er höhnisch. Dabei machte er eine Geberde, die nicht zu mißdeuten war; er meinte das Delinquentenbrett unter dem Fallbeil.
Auch die Handschellen wurden dem beklagenswerthen Apulier nicht abgenommen.
„Ihr könntet sonst auf den Einfall kommen,“ meinte der Kerkermeister, „dem Signore di Napoli und seinen Gehülfen die Arbeit vorweg zu nehmen!“
„Signore di Napoli“ – so nannte man damals mit artigem Euphemismus den Scharfrichter.
Ein Andrer hätte bei so unangenehmen Erfahrungen zweifellos dem Andrange trübseliger Empfindungen nachgegeben, Seiner Eminenz im Stillen den Vorwurf allzu scheuer Zurückhaltung, wenn nicht gar der Vergeßlichkeit und Herzlosigkeit gemacht; er hätte von dieser Einen Enttäuschung auf die Möglichkeit weiterer Mißverständnisse und Fatalitäten geschlossen; er wäre skeptisch und muthlos geworden. Salvatore jedoch besaß – wir wissen es – das ewig neue, unfehlbare Auskunftsmittel, das ihn siegreich über das Jetzt hinaushob, die Kunst des Träumens, und niemals schien seine Fähigkeit, sich in den Aether zu schwingen, so voll entwickelt, als jetzt. Er bezwang sein Mißbehagen, eh’ es noch recht zur Entfaltung kam. In der That: mit absoluter Gewißheit war ihm ja von Seiten des vermeintlichen Monsignore Nichts zugesagt worden.
Zu Anfang der folgenden Woche trat ein unverhofftes Ereigniß in die äußere Monotonie dieses Kerkerlebens. Der Schließer führte einen ernst und vornehm dreinschauenden Herrn in die Zelle, sagte sehr höflich: „Sobald der Signore fertig ist, beliebe er dreimal wider die Thür zu pochen“ – und entfernte sich dann, den Riegel mit ungewohnter Geräuschlosigkeit in die Kramme schiebend.
Salvatore hatte gesenkten Hauptes auf der Holzbank gesessen. Jetzt erhob er sich langsam. Der Fremde kam auf ihn zu, musterte ihn mit einem ruhigen, durchdringenden Blick und sagte dann halblaut:
„Ich bin Antonio Cesari, Advocat am königlichen Gerichtshof. Dem herrschenden Brauch zufolge hat mich das Loos zu Eurem Vertheidiger bestimmt, da Ihr als Unansässiger nicht das Recht freier Wahl habt. Salvatore Padovanino, ich hoffe, der Zufall, der gerade für mich entschieden, soll Euch nicht zum Unheil gereichen; denn was ich bis jetzt aus den Protokollen des Untersuchungsrichters entnahm, das scheint darauf hinzudeuten, daß Ihr mehr ein irregeführter Thor seid, als ein wirklicher Missethäter, – und für Bethörte und Verblendete Alles aufzubieten, was ich vermag, weit über die Grenzen meines advocatorischen Berufes hinaus – das halte ich für die Aufgabe meines Lebens!“
Der Apulier fühlte sich bei dieser warmblütigen Ansprache aus mehr als Einem Grunde verwirrt.
Zunächst berührte es ihn eigenthümlich, daß gerade eines der hervorragendsten Mitglieder der Oppositionspartei seine Vertheidigung führen sollte.
Oft genug hatte er den Namen Antonio Cesari’s im Zusammenhang mit den Bestrebungen der „Freiheitsfreunde“ vernommen, um sich sofort klar darüber zu sein, daß dieser seltsame Zufall dem ganzen Gewebe der mit Emmanuele geplanten Erfindungen gleichsam den letzte Stempel der Wahrhaftigkeit aufprägte. Für gewisse Kreise des Publicums stand Salvatore nunmehr zweifellos als das unmittelbare Werkzeug des Liberalismus da, als der Beauftragte, der von den Auftraggebern geschützt und geschirmt wurde.
Wenn ihn diese Erwägung nun auch befriedigte, – denn ein solcher Irrthum des Publicums verwirklichte ja, wie er glaubte, die Absicht des Cardinals – so regte sich doch, neben der rein verstandesmäßigen Genugthuung, eine instinctive Beklommenheit. [344] Er mochte sich sagen, daß eine gewisse Grenzlinie der Glaubwürdigkeit nicht erreicht werden durfte, wenn es gelingen sollte, ihn später in der Meinung Neapels vollständig rein zu waschen. Der Bühnenkünstler, wenn er den sterbenden Fechter spielt, muß sich hüten, die Naturwahrheit bis zur Durchstoßung der eignen Brust zu treiben.
Gleich darnach überkam ihn eine Besorgniß völlig entgegengesetzter Art.
Salvatore empfand vor den Künsten der advocatorischen Beredsamkeit einen kindlich-naiven Respect.
Die hyperbolischen Wendungen, wie sie im Volksmund gäng und gebe sind: daß ein Rechtsgelehrter aus Schwarz Weiß machen, daß er durch seine Geriebenheit die größten Missethäter als schuldlos darstellen und sie von aller Strafe befreien könne, spukte auch im Gehirn des Apuliers. Einige mißverstandene Fälle aus der Praxis des Rechtsgelehrten, bei welchem er arbeitete, unterstützten dies Vorurtheil. –
Nun hatte Antonio Cesari die günstige Meinung, die er von Salvatore hegte, und namentlich das Bethört- und Verblendetsein, im Gegensatze zur wirklichen Missethat, so energisch betont, daß der Apulier die Möglichkeit eines Erfolges voraussah, welcher dem Endziel des ganzen Planes schnurstracks zuwiderlief.
Wenn Cesari erreichte, daß man dem Beschuldigten die Zurechnungsfähigkeit aberkannte, – wenn man ihn freisprach: dann war der Eindruck des Attentats auf die Nation von Grund aus zerstört, und nichts von Alledem ward geerntet, was der Apulier zum Heil der Regierung unter so großen Opfern gesäet hatte. Wer aber konnte wissen, ob alsdann nicht auch Monsignore De Fabris den Pact für gelöst hielt und sich weigerte, die verfehlte Leistung so zu belohnen, wie er’s vereinbart hatte?
So schwankte Salvatore Padovanino, ein Spielball seiner unermüdlichen Einbildungskraft, von Extrem zu Extrem, hier wie dort hoffend und fürchtend, ein Mensch, der kaum noch selbst wußte, wie ihm zu Sinne war.
All’ diese Befürchtungen aber schienen gering im Vergleich mit der Einen, welche ihn jetzt plötzlich ergriff, wie mit Geierkrallen.
Antonio Cesari hatte sich ein wenig zur Seite gewandt, so daß die Lucke, durch die das Licht fiel, sein Antlitz und die tief nachdenklichen Augen voll bestrahlte. Der Blick dieser Augen schien bei aller Gelassenheit so durchdringend, und das Verlangen, die Wahrheit zu finden, malte sich so unverkennbar auf den energisch gemodelten Lippen, daß Salvatore von dem Gedanken durchzuckt ward: „Wie? Wenn dieser Cesari Alles durchschaute? Wenn er entdeckte, daß deine That nur Komödie gewesen?“
Der Untersuchungsrichter war glücklich getäuscht worden; das Tribunal würde der Angelegenheit mit vorgefaßter Meinung entgegentreten und stark unter dem Einflusse dessen stehen, was der Untersuchungsrichter protokollirt hatte. Antonio Cesari jedoch machte den Eindruck der vollkommensten Selbstständigkeit, und wenn er nun das Gewebe Faden um Faden auflöste, wenn er seinen Clienten durch Kreuz- und Querfragen in die Enge trieb und den Zusammenhang so enträthselte: war dann vorauszusehen, daß er schweigen würde?
Schwerlich!
In erster Linie zwang ihn ja seine Pflicht als Vertheidiger zur Enthüllung, – denn dem Tribunal gegenüber verbesserte er ganz augenscheinlich die Situation des Beschuldigten. Mochte man das Schein-Attentat noch so bedenklich finden: es fiel doch nicht annähernd so schwer in die Wagschale, als der Mordversuch.
Dann aber hatte Antonio Cesari, als glühender Anhänger seiner Partei, ein Interesse daran, das unheilvolle Verbrechen, das man jetzt den Principien der „Freheitsfreunde“ aufbürdete, in das schlau geplante Manöver der königlichen Regierung aufzulösen.
Salvatore, so leicht er sich durch die schamlosen Gaukeleien Marsucci’s hatte bethören lassen, besaß doch Urtheil genug, um zu begreifen, daß eine solche Entlarvung – die seiner Meinung nach ja den wirklichen Cardinal compromittirte – ein wahrer Triumph sein mußte für Alles, was zur Opposition zählte. Es schien ihm daher nicht zweifelhaft, daß Antonio Cesari, wenn er Verdacht schöpfte, Alles aufbieten würde, dem wahren Sachverhalt auf die Spur zu kommen. In diesem Falle jedoch war das Resultat des mühsam geplanten Werkes nicht nur abermals in Frage gestellt, sondern für Salvatore ergab sich, seiner Meinung nach, eine ernste Gefahr: die Ungnade des Monsignore De Fabris. Was die zu bedeuten hatte, – davon machte sich der erregte Apulier die ausschweifendsten Vorstellungen . . .
Sofort entschloß er sich, über jedes Wort seiner Zunge mit der äußersten Sorgfalt zu wachen, und, wenn ihm nichts Anderes übrig bleibe, lieber den wahnsinnigsten Fanatismus zur Schau zu tragen, als Raum zu lassen für die Ermittelung jenes abgekarteten Spiels. Er schalt sich im Stillen feige, daß er sich von dem Anblick dieser ernsten, männlichen Züge so hatte verblüffen lassen, – und absichtlich verlängerte er das Schweigen, das ursprünglich die Folge seiner Unsicherheit und Erregtheit gewesen. Er hoffte so bei Cesari den Eindruck düstrer Verstörtheit und theilnahmloser Erbitterung hervorzurufen.
„Salvatore Padovanino,“ hub der Rechtsbeistand nach einer langen Pause des Nachdenkeus an, „Eure That hat mich nicht überrascht.“
Bei diesen Worten fuhr der Apulier aus seiner erkünstelten Starrheit unwillkürlich empor.
„Wie?“ fragte er staunend. „Also Ihr kanntet mich?“
„Ich sah Euch in Capri, wo ich die Ferien verbrachte; Ihr stiegt aus dem nämlichen Marktschiff, das auch mich über den Golf trug. Unter der Fahrt hatte ich nicht auf Euch Acht: als ich aber hinaufschritt in der Richtung der Stadt, da machte ein Freund mich aufmerksam auf Eure Erscheinung, die – das wißt Ihr wohl selbst – nicht der ersten und besten gleicht.“
„Und da gewahrtet Ihr . . .?“ stammelte Salvatore, fassungslos über die Sicherheit dieses Auftretens.
„Da gewahrte ich, daß Ihr ein Mensch seid, fähig zum Ungewöhnlichen, verzehrt von einer inneren Rastlosigkeit, die planlos nach hundert Zielen schweift und ihre tollsten Träume in Handlung umsetzt, sobald der Zufall ihr die Gelegenheit bietet. Ich las es Euch an der Stirn, daß Ihr die Keime des Großen und Rühmlichen, wie die des Verwerflichen in Euch trugt, – und ich bangte für Euch, denn die Leidenschaftlichkeit Eures Blickes ließ mich befürchten, daß Euer Urtheil unschwer zu trüben sei. Später sah’ ich Euch nochmals, – an der Seite Eurer Verlobten – und da nerkte ich, daß mein Auge sich nicht getäuscht hatte! So dämonisch ist Eure Eigenart, daß Ihr mit Euren Phantasmen sogar die starke, klare Seele des Mädchens völlig zur Sclavin macht.“
Salvatore tastete mit der Hand nach der Mauer. Er fühlte, wie die Kniee ihm wankten.
War dieser Avvocato allwissend?
Bei San Gennaro, es sah so aus! Sprach er nicht jetzt schon, da Salvatore kaum ein Wort über die Lippen gebracht, beinahe unumwunden die Meinung aus, Maria sei Mitwisserin? Oder war Salvatore nur so eigenthümlich erregt, daß er die Worte Cesari’s so weitgehend auslegte?
Der Apulier pries sich in diesem Momente glücklich, dem Verlangen Emmanuele’s nachgegeben und Maria bestimmt zu haben, daß sie beim Bekanntwerden des Attentates zum Scheine sich von ihm lossage. Es war ihm schwer gefallen, unsäglich schwer – aber nun zeigte es sich, daß Emmanuele ein schlauer Kopf war, der Alles klug in Erwägung zog! – Jetzt in dem Augenblicke, da Antonio Cesari sprach, hatte Maria unzweifelhaft ihr Spiel schon in Scene gesetzt. Wenn das der Avvocato erfuhr, so mußte es dem Verdacht des Einverständnisses zwischen Maria und Salvatore wohl den Todesstoß geben. Daß ihm jedoch die Kunde zu Ohren kam – dafür sollte unverzüglich gesorgt werden.
So griff denn Salvatore die Worte des Avvocato über Maria auf. Befähigt, sich in jede Stimmung hineinzureden, sodaß er beinahe selbst an sie glaubte, lieh er der Schilderung seiner inneren Kämpfe ein Colorit von überraschendster Wahrheit. Er berichtete, wie er geschwankt habe zwischen den beiden Wegen, an deren Kreuzung er stand: der eine habe ihm als mühelos zu erreichendes Ziel das Glück der Liebe gezeigt, der andere jenseits einer langen Reihe von Opfern die Errettung des Vaterlandes und das stolze Bewußtsein, der Angebeteten, wenn Alles geglückt wäre, den unsterblichen Ruhmeskranz zu Füßen zu legen. – Nach langem Zögern habe er sich endlich für die gefahrvolle That entschieden. Nun sei Alles zu Ende. – Er kenne sein Schicksal – und mit Standhaftigkeit würde er auch das Schwerste ertragen, wenn der Gedanke an die Geliebte nicht wäre ...
[345]
[346] Nun kam die Bitte: Cesari, wenn er wirklich Erbarmen fühle mit dem Beschuldigten, möge der Muhme der Zingarella ausführlich schreiben, und in Erfahrung zu bringen suchen, wie Maria über die That Salvatore’s denke, ob ihre Liebe noch die alte geblieben, oder ob sie mit einstimme in die Rufe des Hasses, die rings im bethörten Volke jetzt laut würden.
Cesari hatte ihn ruhig ausreden lassen. Er versprach ihm, den Wunsch betreffs des Briefes heute noch zu erfüllen. Dann stellte er eine Reihe von Fragen, und schloß dann seufzend die halbstündige Conferenz.
„Es ist, wie ich dachte!“ sprach er mit einer Stimme, die etwas müde und traurig klang. „Ihr seid unauflöslich verstrickt in die Truggebilde eines entsetzlichen Irrwahns. Wann und wo hätten die ‚Freiheitsfreunde‘ den abscheulichen Grundsatz gepredigt, daß zur Erreichung schätzbarer Zwecke jedes Mittel erlaubt sei? Wann und wo hätten sie die Berechtigung des politischen Mordes vertheidigt? Wehe dem Unglücklichen, der so die Pflichten der wahrhaften Vaterlandsliebe unter die Füße tritt! Genug für heute! Ihr macht mir die Sache leicht, denn Eure Motive sind durchsichtig, und jetzt schon erkenn’ ich, welche Richtung meine Thätigkeit hier einschlagen muß. Künftigen Sonnabend besuch’ ich Euch wieder. Laßt nicht völlig den Muth sinken, – und lernt Euren Irrthum bereuen! Gehabt Euch wohl!“
Salvatore athmete auf. Antonio Cesari pochte wider die Thür und verließ dann die Zelle. Dem Kerkermeister reichte er im Corridore ein Goldstück.
„So weit Euer Amt es gestattet, erleichtert ihm sein trauriges Schicksal!“ bat er im Weggehen. „Ich werde erkenntlich sein.“
Und ganz erfüllt von gramumflorten Erinnerungen – vom Bilde seines unsäglich geliebten Vaters, der monatelang schuldlos im Abgrund solcher Mauern geschmachtet hatte, bestieg er das Fuhrwerk, das ihn durch die lärmenden Straßen der Großstadt hinausführte in die Einsamkeit seiner stillen vornehmen und doch so freudlosen Wohnung.
Heißblütige Pflanzen.
Die Pflanzen erscheinen uns als so vorwiegend wärmebedürftige Wesen, daß uns kaum die Frage aufsteigt, ob sie wohl auch in ihrem Körper eine gewisse Eigenwärme erzeugen, wie die Thiere. Höchstens könnte man sie den sogenannten kaltblütigen Thieren vergleichen, denn ihre grünen Theile fühlen sich, wie der Körper eines Frosches, stets kühler an als die Luft eines warmen Sommertages, und dies ist die natürliche Folge der an ihrer Oberfläche beständig stattfindenden Wasserverdunstung. Andererseits wissen wir aber, daß die Pflanze nicht blos Kohlensäure aus der Luft aufnimmt, sondern in bestimmten Theilen und Zeitabschnitten auch Kohlensäure ausscheidet und zwar in Folge eines wirklichen Athmungsprocesses, der mit Kohlenstoffverbrennung und Wärme-Entwickelung, wie im thierischen Körper, vor sich geht. Namentlich beim Keimen und Blühen der Pflanzen werden diese wärmeerzeugenden Athmungsprocesse und der Stoffwechsel in den Pflanzenzellen sehr lebhaft, aber die dabei erzeugte Wärme vertheilt sich so schnell, wie sie entsteht, in die Umgebung der kleinen Wärmeherde; wir spüren sie nur, wenn wir eine Menge Samen, wie es bei der Malzbereitung geschieht, in dichten Haufen keimen lassen, oder wenn wir, unter Abschluß des abkühlenden Luftzuges durch eine Glasglocke, ein kleines Thermometer in eine eben aufbrechende größere Blüthe, wie z. B. die einer Distel, Seerose oder Gurkenpflanze senken. Wir finden, daß das Thermometer in der Blüthe um einen halben oder ganzen Celsiusgrad höher steigt, als ein anderes daneben befindliches.
Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts weiß man jedoch, daß die Wärme in manchen Blüthen viel höher steigt, sodaß man sie unmittelbar mit der Hand spüren kann, ja selbst so hoch, daß sich die betreffende Blüthe wie eine fieberglühende Stirn oder wie ein warmer Ofen anfühlt. Soviel bekannt, war es Lamarck, der berühmte Vorgänger Darwin’s, der zuerst im Jahre 1789 an den Blüthen des italienischen Aronstabs, Arum italicum (Fig. 1), eine erhebliche Wärme-Entbindung wahrgenommen hat, aber später ergab sich, daß viele Verwandte dieser Pflanze dieselbe Erscheinung in ihrem Blüthenkolben zeigen, obwohl sie nur in einzelnen Fällen ebenso auffallend wird, wie bei jener Pflanze.
Wohl jedem meiner Leser dürfte die eigenthümliche Blüthenbildung der Zehrwurzgewächse oder Aroideen von der äthiopischen Calla oder dem weißen Aronstab, Richardia aethiopica (Fig. 2), her bekannt sein, jener bei Arm und Reich beliebten Zimmerpflanze. mit den mächtigen dunkelgrünen, glänzenden Blättern von pfeilförmiger Gestalt und der schneeweißen Düte oder Blüthenscheide, welche am Ende des üppigen Schaftes den goldgelben Blüthenkolben umhüllt. Was wir Blume nennen, ist aber hier und bei allen Aroideen, von denen sehr zahlreiche Arten, der ornamentalen oft herrlich buntgefleckten Blätter wegen, als sogenannte Blattpflanzen in den Gewächshäusern gezogen werden, keine einzelne Blüthe, sondern ein ganzer Blüthenstand: der Kolben oder die Blüthenaxe ist dicht mit zahllosen kleinen Blüthen bedeckt, und
zwar wird der obere Theil gewöhnlich von Staubblüthen, und der untere Theil von Stempelblüthen eingenommen (Fig. 3). Aus den letzteren entstehen zur Reifezeit beerenartige Früchte, die den untern Theil des Kolbens dicht wie die Körner den Maiskolben umgeben. Unsere heimische Flora zählt an diesen Pflanzen außer dem Kalmus, einem entfernten Verwandten der Aroideen, die Sumpf-Calla (Calla palustris), die ein stark verkleinertes Bild der äthiopischen Calla darstellt, und den gefleckten Aronstab, Arum maculatum, unserer feuchten Laubwälder und Parke, und es mag hier daran erinnert werden, daß auch die größte aller Blume, die früher in der „Gartenlaube“ (Jahrg. 1879, S. 292) beschriebene Titanenblume (Amorphophallus Titanum) zu den Aroideen gehört.
Wenn man die Blumenscheide einer frisch aufgeblühten Aroidee, z. B. diejenige unseres gefleckten Aronstabes, welcher seine unscheinbaren grünlichen Blumenhüllen im Mai öffnet, außen und [347] innen mit Watte verwahrt, um die Wärme zusammenzuhalten, so steigt ein Thermometer, dessen Kugel in die Nähe der bräunlichen Blüthenkeule gebracht wird, in bestimmten Tagesstunden um mehrere Grade über die Lufttemperatur. Eine viel bedeutendere Erwärmung beobachteten Hubert und Bory de Saint-Vincent vor vielen Jahren in den Blüthen des herzblättrigen Aron (Arum cordifolium) der Insel Bourbon, denn das Thermometer stieg hier bei einer Luftwärme von 15° auf 35 bis 39° sodaß der von dem Blüthenkolben entwickelte Wärmeüberschuß 20 bis 24° betrug! Man ist leicht geneigt, dieses Phänomen für eines jener Tropenwunder zu halten, wie sie in unserer bescheidenen europäischen Flora nicht vorkommen können, allein der ausgezeichnete deutsche Pflanzenphysiologe Professor Kraus hat sich vor nicht langer Zeit davon überzeugt, daß der gemeine italienische Aronstab den tropischen Vetter in seiner Heißblütigkeit noch beträchtlich übertrifft.
Es ist eine Pflanze, die dem gefleckten Aronstab unserer Wälder ähnlich sieht, nur noch größere, dunkelgrün glänzende Blätter besitzt, die durch eine gelbe Aderung im Landschaftsbilde bald auffallen. Alle Diejenigen, die einmal einen Winter in Mentone oder an einem anderen klimatischen Curort an der Riviera verbracht oder einen römischen Frühling genossen haben, werben sich dieser in den Olivenpflanzungen ebenso häufigen wie auffälligen Pflanze erinnern. Sie entfaltet im März und April ihre ansehnlichen mattgelben Blüthenscheiden, die nicht wie bei unserem Aron auf langen Stielen stehen, sondern Irrlichtern gleich dicht über dem grünen Rasen aufflammen.
Die Blüthenscheiden öffnen sich des Nachmittags zwischen vier bis sechs Uhr unter Verbreitung eines weinartigen Duftes, und wenn man dann den Kolben anfaßt, so fühlt man die Wärme deutlich. Am 28. März bei einer Lufttemperatur von 16° C. fand Kraus bei vier verschiedenen Kolben, die er in der Nähe von Rom untersuchte, daß das Thermometer auf 43,7°, also 27,7° über die Lufttemperatur gestiegen war; in anderen Blüthenständen betrug sie blos etwas über 40° C., das heißt, immer noch mehr, als wir im heißen Bade ertragen. Am nächsten Morgen war die Erwärmung völlig geschwunden; die Blüthenscheiden erschienen verblaßt, mehr oder weniger faltig oder ganz zusammengesunken und die Blüthenstände abgeblüht. – Unabweisbar drängt sich alsbald die Frage auf: was hat diese bei so vielen Aroideen auftretende Wärme-Entwickelung zu bedeuten? Die älteren Botaniker waren hinsichtlich dieser Frage völlig rathlos. Humboldt spricht von einer „Fieberwärme“ der Aroideen; er dachte an einen Paroxysmus des Liebesfiebers, wie ja der Vergleich der Blumen mit Hochzeitshäusern den früheren Botanikern geläufig war. Die neueren Blumenforscher haben nach den von Sprengel, Darwin und Hermann Müller gegebenen Anregungen eine viel wahrscheinlichere Deutung gefunden. Wie die Leser der „Gartenlaube“ aus meinen früheren Artikeln (vergl. besonders Jahrgang 1878, Seite 50 bis 52) wissen, bedürfen die meisten Blüthen, um keimfähigen Samen zu reifen, fremden Blumenstaubes aus anderen Stöcken ihrer Art, den ihnen entweder Luft- und Wasserströmungen oder lebende Boten (Insecten, Vögel und andere Thiere) zutragen, die sie durch lebhafte Farben, Düfte und andere Reizmittel schon aus der Ferne zu ihren Nektarquellen und sonstigen Gastspeisen heranlocken. Die Aroideen entbehren, wie wir sogleich des Genaueren sehen werden, der gewöhnlichen, in Düften, Farben und Genußmitteln bestehenden Anlockungsmittel nicht, aber sie überbieten, wie es unter den Menschen erfindungsreiche Geschäftsleute thun, ihre Collegen noch durch ein ihnen allein eigenthümliches Anziehungsmittel für ihre Gäste, sie bieten ihnen, wie der italienische Botaniker Delpino zuerst erkannt hat, ein warmes Gastzimmer und einen gemüthlichen Aufenthalt in ihrem Blüthenstande. Die meisten Aroideen der gemäßigten Zonen blühen früh im Jahre, wenn die Nächte noch sehr kühl sind, und locken daher allerlei Gethier an den warmen Ofen ihres Gastzimmerchens, wobei die Eingangsthür, um die Wärme zusammenzuhalten, sorgfältig verschlossen gehalten wird.
Bei dem gewöhnlichen italienischen, wie bei dem deutschen Aronstab sind es allerlei kleine Fliegen und Mücken, die eingeladen werden, in die warme Stube einzutreten, und die dabei als Gastgeschenk Blumenstaub von ihrem letzten Quartier mitbringen. Bei mehreren südeuropäischen und ausländischen Arten sind Blumenscheide und Kolben zart rosa fleischroth, trüb braunroth oder fast schwärzlich braun gefärbt und verbreiten einen täuschenden Aasgeruch, wodurch sie Aasfliegen herbeilocken, die sich auf ein Stück faulenden Fleisches niederzulassen glauben und ihre Brut darauf, zum Verderben derselben, absetzen. Bei den oben genannten Arten ist der untere kesselartig erweiterte Theil der Blüthenscheide durch einen Ring von längeren Haaren abgeschlossen.
Diese Haare sind innerhalb der Blüthenscheide schräg nach unten gerichtet und lassen die von oben her anfliegenden Besucher leicht in die warme Stube hinabsteigen, aber nicht ebenso schnell wieder heraus kommen. Sie bleiben in der kesselförmigen „Mausefalle“ zum Danke dafür, daß sie den Stempelblüthen fremden Blumenstaub mitbrachten, so lange gefangen, bis die später aufbrechenden Staubblüthen desselben Kolbens ihren Staub entsenden können, der dann theils von selbst auf die unten gefangen sitzenden Insecten hinabfällt, theils von ihnen beim Verlassen des Gefängnisses abgestreift wird. Denn zugleich vertrocknen die Haare des schließenden Ringes und die Insecten wandern davon, um den angenommenen Blumenstaub neuen Stöcken zuzutragen. Wer wollte ihnen verdenken, daß sie ein solches „fideles Gefängniß“ immer von Neuem aufsuchen, denn in dem warmen, duftenden Kämmerchen wurden sie außerdem mit Nectar bewirthet, welchen die verblühten Stempelblüthen absonderten. Nur der einen südlichen Art, dem haarigen Aronstab, sagt man nach, daß sie die angelockten Aasinsecten zum Danke dafür, daß sie ihr fremden Blumenstaub brachten, nachher zum großen Theile verzehre. Die Blüthenscheide ist hier nämlich auf der Innenseite mit abwärts gerichteten klebrigen Haaren besetzt, welche einen sauren Saft ausscheiden, mit dessen Hülfe die in dem Kessel verendenden Insecten ebenso ausgesogen und verdaut werden, wie es beim Sonnenthau und anderen insectenfressenden Pflanzen der Fall ist (vergl. „Gartenlaube“ 1875, S. 166).
Noch seltsamer sind die Gäste einer ganzen Anzahl anderer Aroideen, für welche die warme Herberge ganz speciell aufgethan
zu sein scheint, nämlich Sumpfschnecken, die den Aronstab von unten her erklettern und daher auch unten an der Blumenscheide eine schmale Spalte, die sich später schließt, zum Eintritte vorfinden. Die Aroideen sind vorzugsweise Bewohner von Sümpfen und feuchten Wäldern, und bei einer größeren Anzahl derselben konnte sich Delpino durch den Augenschein überzeugen, daß ihr Gastzimmer von kleinen Schnecken ausgesucht wird, bei anderen ausländischen Arten unserer Gewächshäuser deutet die ganze Einrichtung auf dieselbe Gastfreundschaft. Auch die Calla unserer Sümpfe bietet den Schnecken in ihrer halboffenen Düte Zuflucht.
[348] Eine höchst interessante Schneckenaroidee, Philodendron bipinnatifidum (Fig. 4), ist vor Jahr und Tag von Dr. F. Ludwig in Greiz in den dortigen fürstlichen Gewächshäusern studirt worden. Es ist eine prächtige Blattpflanze mit großen, doppelt eingeschnittenen Blättern, ähnlich jener bekannteren Art mit durchlöcherten Blättern, Philodendron pertusum (Fig. 5), der wir häufig auf größeren Blumentischen begegnen. Auch bei dieser Aroidee entwickeln sich die von dem unteren kesselförmigen Theil der außen grünlichen, innen weißgefärbten Blumenscheide eingeschlossenen Stempelblüthen zuerst, und zugleich tritt eine so starke Erwärmung in der Hülle auf, daß sie von der Hand bereits in einiger Entfernung wahrgenommen wird. Das Aufblühen und die Wärme-Entwickelung begannen bei der Ludwig’schen Beobachtung gleichzeitig am Mittage, und die Wärme-Entbindung nahm dann zu und erreichte Abends 7 Uhr ihr Maximum, welches nahezu 38° betrug, während die Luft des Gewächshauses nur 15° Wärme besaß. Zu derselben Zeit, die auch hier mit dem Aufbrechen der Stempelblüthen zusammenfiel, verbreitete sich plötzlich aus dem Blüthenkessel ein äußerst starker, gewürzhafter, zwischen Zimmt und Muskat in der Mitte stehender Duft, welcher das ganze Gewächshaus erfüllte und in der Heimath der Pflanze jedenfalls dazu dient, die Schnecken zu benachrichtigen, daß das Nachtquartier geheizt ist.
Erst am Mittage des nächsten Tages, nachdem sich der Kessel mit den weiblichen Blüthen vollkommen abgeschlossen und die Wärme- und Duftentbindung beträchtlich nachgelassen hatte, brachen am oberen Theile des Kolbens die Staubgefäße auf, aber die Blumenstaubkörner traten nicht wie sonst in Form eines feinen Staubes, sondern kettenförmig an einander klebend hervor und bildeten zolllange Troddeln, die dem oberen Theile des Kolbens das Aussehen eines Greisenhauptes gaben. Diese Fäden können von Insecten nicht mitgenommen werden, aber in Berührung mit dem feuchten Körper der Schnecken lösen sich die Troddeln sogleich in einzelne Körner auf, die am Körper der Schnecken festhaften. Diese können sich nicht allzu lange in dem warmen Kesselraum aufhalten, denn derselbe füllt sich in Folge der starken, Wärme erzeugenden Athmung bald so vollständig mit Kohlensäure, daß ein hineingehaltenes glimmendes Hölzchen sofort darin erlosch. Die später kommenden Schnecken finden den Kessel, der vorher durch einen Spalt von unten her zugänglich war, geschlossen und können nur die Staubblüthen erreichen, von denen sie Blumenstaub mitnehmen. Sollten einzelne Schnecken in dem Kessel, bevor er sich schloß, zurückgeblieben sein, so müssen sie darin ersticken, und dies mag eine Art Nothwehr von Seiten der Pflanze sein, da die Schnecken sonst die jungen Fruchtanlagen verzehren würden.
Man sieht, diese Pflanzen bedurften gegen ihre Besucher, so nöthig ihnen dieselben auch geworden sind, doch einer gewissen Sicherung. Die Schnecken sind gefräßige Thiere, welche gern das Laub und die fleischigen Theile der von ihnen besuchten Pflanzen verzehren. Manche Aroideen geben dem Hunger ihrer Gäste die fleischige Blüthenscheide, die ja doch bald entbehrlich wird, preis, aber bei den meisten müssen sie sich an dem warmen Nachtquartier und einer kleinen Menge Nektar genügen lassen, denn dieselben entwickeln in ihren gesammten grünen Theilen einen Giftstoff von solcher Schärfe, daß es unmöglich ist, auch nur die geringste Menge davon zu genießen. Unsere gewöhnliche Zimmer-Calla enthält beispielsweise einen so scharfen Stoff in ihren Blättern, daß die geringste Menge, die man davon kaut, auf der Zunge ein stundenlang anhaltendes Stechen, wie mit Nadeln, verursacht.
Bei einer westindischen Art, dem Caladium seguinum, ist dieser Giftstoff so bedenklicher Natur, daß Jemandem, der aus Unwissenheit von den Blättern kostete, Mund und Zunge derartig anschwellen, daß er kaum im Stande ist, zu sprechen, viel weniger etwas zu genießen. Auch in dieser unerhörten Schärfe, welche die vom spanischen und Cayenne-Pfeffer noch übertrifft, malt sich die Heißblütigkeit dieser Gewächse. Glücklicher Weise ist dieser auch in den an Stärkemehl reichen Wurzelstöcken und Knollen einiger Arten vorkommende Giftstoff so flüchtiger Art, daß er beim Rösten und Kochen derselben vollkommen verschwindet, weshalb dieselben ein Hauptnahrungsmittel für die Bewohner der Tropenländer, namentlich Südamerikas und der Südsee-Inseln abgeben. Der Taro, Colocasia esculenta (Fig. 6), wird zu diesem Zwecke vielfach wie die Kartoffel angebaut und treibt mächtige herzförmige Blätter, die in der Form denen der buntblätterigen Caladien unserer Gewächshäuser gleichen, aber die meisten derselben an Größe übertreffen.
Werfen wir zum Schluß noch einen Rückblick auf die geschilderten Verhältnisse, so müssen wir über die Umwege erstaunen, welche in der Natur mitunter eingeschlagen werden, um den für eine kräftige Nachkommenschaft unentbehrlichen fremden Blüthenstaub herbeizuschaffen. Nichts konnte zur Uebertragung des Blüthenstaubes bei diesen Gewächsen der Sümpfe, Ufer und feuchten Wälder geeigneter sein, als kleine Schnecken, deren Gefräßigkeit indessen durch besondere Mittel in Schranken gehalten werden mußte. Denn sonst würden die Schnecken ja nicht bis zu dem Blüthenstande emporklettern, sondern einfach am ersten Blatte zu fressen beginnen. Das mußte ihnen somit verleidet werden, dagegen mußte der am Ende eines oftmals ziemlich hohen Schaftes befindliche Blüthenkolben so ungewöhnliche Reizmittel entfalten, daß die langsamen Schnecken den für sie ungeheueren Weg nicht scheuen, um zu jenem Sehnsuchtsziele zu gelangen. Ein behaglich warmer Aufenthalt, ein prächtiger Duft, irgend eine Lieblingsspeise winkt ihnen da oben, und ohne rechts und links zu blicken, klettern sie an dem spiegelglatten Schaft in die Höhe; man wird dabei an jene Kletterstangen der Volksfeste erinnert, an deren Spitze duftende Würste und leckere Kuchenbündel hängen und die man hinterlistiger Weise mit schlüpfrigen Stoffen beschmiert hat, um das Erklettern zu erschweren. Sobald der Aroideenkolben[WS 1] seine flüchtigen Reize eingebüßt hat, hat auch die Schnecke da oben nichts weiter zu suchen, sie kriecht ebenso aufenthaltslos wieder hinab, um schnell einen benachbarten Kolben zu erklettern, der eben zu duften beginnt, und diese Eile kommt den Pflanzen zu Statten, die so den erforderlichen fremden Blumenstaub mit schnellster Schneckenpost erhalten. Kann es etwas Wunderbareres geben, als dieses Ineinanderleben der verschiedenen Naturwesen, welches wir den Lesern der „Gartenlaube“ nun schon in so vielen Beispielen vorgeführt haben?
[349]
Deutschlands Colonialbestrebungen.
Eine geheimnißvolle Macht waltet über Ruinen. Jahrhunderte vermögen nicht ihren Einfluß zu schwächen, denn eifersüchtig wird sie von der Sage und der Geschichte beschützt, die aus Schutt und Staub das Edelste zu retten wissen. In den Erinnerungen an große Thaten vergangener Zeiten ruht diese Zaubermacht, und mehr als einmal hat sie Wunder gewirkt. So drang in den Zeiten der nationalen Zersplitterung ihr Ruf von den Trümmern des Kyffhäuser in die deutschen Gaue, bald zornig mahnend, bald bessere Zukunft verheißend; in den Vorbereitungen zum Kampfe sprach sie herausfordernd aus den Ruinen des Heidelberger Schlosses, und auf der Höhe der Wartburg ließ sie einst die Jugend aus dem unvergänglichen Born der Erinnerung an den siegreichen Streit eines gewaltigen Mannes frischen Muth für die Tage der Bedrückung schöpfen. So griffen oft in entscheidendem Augenblick die alten Zeugen der Vergangenheit in’s volle frische Völkerleben und drängten die Massen auf die Bahn des Ruhmes.
Darum haben wir auch heute eine denkwürdige Ruine gewählt zum Ausgangspunkte unserer Betrachtungen über eine Frage, welche als die brennendste der Gegenwart bezeichnet werden muß und von deren Lösung zum großen Theil die künftige Macht und Weltstellung Deutschlands abhängt. Fern von der Heimath, am afrikanischen Strande wollen wir die verfallenen Reste einer deutschen Burg aufsuchen und ein Bild schauen, wie es kein Dichter besungen. Hier grüßen uns keine wilden Rosen an dem zerklüfteten Gemäuer, der Schatten deutscher Eichen breitet sich nicht über den versunkenen Wällen, und der immergrüne Tannenbaum, der treue Begleiter deutscher Burgen, fehlt an den Abhängen der Hügel. Ueber der Ruine, zu der wir heute wandern, leuchtet ein südlicher Himmel, tropische Lianen wuchern an dem verlassenen Wachtthurm empor, und schlanke Palmen umrahmen das seltsame Strandbild, auf dessen Vordergrund uns die Reste von Groß-Friedrichsburg entgegenschauen. Mehr als zweihundert Jahre sind verflossen seit ihrer Gründung, seit jenem Augenblick, da auf ihren Zinnen die brandenburgische Flagge zum ersten Mal wehte, und von ihren Wällen die brandenburgischen Feldschlangen zur Taufe der Burg im langdonnernden Jubel ihre eisernen Zungen lösten.
Damals schaute Groß-Friedrichsburg schmuck und stolz in den weiten Ocean hinaus, damals war ja die Burg die Wiege hochfliegender, vielverheißender Pläne. Heute liegen die eisernen Kanonen, die Schwestern der Siegerinnen von Fehrbellin, tief im Schutt vergraben, vom Rost zerfressen, und während die jugendfrische Macht der Hohenzollern vom Fels zum Meer reicht, ist dieses Werk des großen Kurfürsten längst fremdes Eigenthum.
Erzählen wir die Geschichte dieses südlichsten Postens der ehemaligen deutschen See- und Handelsmacht, sie ist zugleich die Geschichte der ältesten deutschen Colonialbestrebungen.
Vor nunmehr zweihundert Jahren, Anno 1684, erschien in Berlin eine Deputation schwarzer Eingeborener von der Guineaküste, um dem großen Kurfürsten ihre Huldigung darzubringen. In ganz Europa erweckte die Reise dieser Deputation nach der brandenburgischen Hauptstadt großes Aufsehen. Der längst erwachte Neid der seefahrenden Nationen, vornehmlich der Holländer, erhielt neue Nahrung durch die Thatsache, daß es des großen Kurfürsten rasch emporgeblühter Macht zur See nun auch gelungen war, an der westafrikanischen Küste festen Fuß zu fassen und die Colonien zu Groß-Friedrichsburg, Accada und Takarari sowie die Factorei Arguin nördlich vom Cap Verde in brandenburgischen Besitz zu bringen.
Nachdem nämlich die unter des Marinedirectors Raule sachkundiger Leitung errichtete brandenburgische Marine sich in den Kriegsjahren 1676 bis 1679 so glänzend bewährt, ließ es sich der große Kurfürst angelegen sein, nunmehr seine Schiffe zur Lösung friedlicher Aufgaben zu verwenden, wie es schon im großen Artikulsbrief Friederici Wilhelmi gesagt war: „daß sie – (die Marine) – fähig sei zur Führung unserer Kriege zu Wasser, zum Widerstande der allgemeinen Feinde und Seeräuber, auch zur Beschirmung unserer Lande und dero guten Unterthanen, so zur See negociren und handeln.“
Im Verfolg seines Lieblingsplanes, außereuropäische Colonien zu erwerben, sandte der Kurfürst im Januar 1681 unter Führung des Capitain Blank eine brandenburgische Fregatte von der damaligen Marinestation Pillau nach der Guineaküste ab. Blank brachte im Mai einen Vertrag mit drei Häuptlingen eines Negerstammes am Cap Tres Puntas zu Stande, nach welchem sich dieser Stamm, die Kabozeros, unter die Schutzherrlichkeit des Kurfürsten von Brandenburg begaben und gestatten wollten, daß ein festes Castell an ihrer Küste errichtet werde.
Zur Gründung einer afrikanischen Handelsgesellschaft, deren Stiftungsurkunde der große Kurfürst am 7. März 1682 unterzeichnete, hatten viele bedeutende Firmen ihren Beitritt erklärt, sodaß der Kurfürst, ermuthigt durch den guten Anfang, dem Entdeckungsreisenden [350] Major Otto Friedrich von der Gröben die Leitung der Guinea-Expedition übertrug und ihn im Anfang des Jahres 1682 mit den Kriegsfregatten „Kurprintz“, Capitain Voß, und „Moriau“, Capitain Philipp, von Hamburg aus auf die Reise nach der Goldküste sandte. In einem 1694 herausgegebenen Werke hat „der adeliche Pilger Otto Friedrich von der Gröben“ die Expedition nach Guinea sehr eingehend und drastisch beschrieben. Er war mit seinen Schiffen, welche 300 Matrosen und 100 Landsoldaten als Besatzung zählten, nach guter Fahrt bis zur Mündung des Senegal gelangt und machte an der Sierra-Leone-Küste die erste Bekanntschaft der pechschwarzen „Nägers“. Westlich vom Cap Tres Puntas, beim kleinen Ort Axim, der Hauptniederlassung der Kabozeros, stieg von der Gröben an Land und kundschaftete auf dem direct am Wasser belegenen Berge Mamfro ein sehr geeignetes Terrain zur Anlage eines die Umgegend beherrschenden Castells aus. Durch reiche Geschenke an Waffen und Spielwaaren wurden die Eingeborenen veranlaßt, am Bau der kleinen Festung nach Kräften durch Herbeischaffen des benöthigten Materials mitzuarbeiten. Der Bau, von den deutschen Ingenieuren Walter und Leugeben geleitet, ward Ende December 1682 glücklich zu Ende geführt. Der in eine immerhin respectable Festung verwandelte Berg Mamfro wurde dann mit sechs Kanonen armirt und 40 Mann der Landtruppen erklärten sich bereit, als Besatzung für die Dauer einiger Jahre zurückzubleiben. Die Zahl der Geschütze wurde später auf 40 erhöht.
Unter besonderen Feierlichkeiten ließ von der Gröben am 1. Januar 1683 die Taufe der deutschen Feste auf schwarzer Erde vornehmen.
„Den folgenden Tag,“ so berichtet er selbst, „als den ersten Januarii Anno 1683 brachte Capitän Voß die große Churfürstlich Braudenburgische Flagge vom Schiff, die ich mit Pauken und Schallmayen auffgeholet, mit allen im Gewehr stehenden Soldaten empfangen und an einem hohen Flaggenstock habe auffziehen lassen; dabei mit fünff scharff geladenen Stücken das neue Jahr geschossen, denen jedes Schiff mit fünff geantwortet, und ich wieder mit drei bedanket. Und weil Sr. Churf. Durchlaucht Nahme in aller Welt groß ist, also nennete ich auch den Berg den Großen Friedrichsberg!“
Die kleine, später Groß-Friedrichsburg genannte Factorei bildete bald den Ausgangspunkt weiterer Unternehmungen. Benachbarte Negerstämme suchten den Schutz des großen Kurfürsten auf, und diese Erwerbung neuer Gebiete hatte noch die Errichtung des mit zwölf Geschützen armirten Forts „Dorothea“ und eines kleineren Forts bei Takarari zur Folge.
Leider blieb dieser neuen Handelsniederlassung der Segen des friedlichen Gedeihens nicht lange erhalten. Schon im Jahre 1688 brachen Conflicte mit den benachbarten eifersüchtigen holländischen Factoreien aus, welche bald zum kriegerischen Zusammenstoß führten. Die holländisch-ostindische Compagnie ließ die deutschen Forts auf eigene Faust, ohne die Zustimmung ihrer Regierung, angreifen und plünderte einen Theil der deutschen Waarenlager. Groß-Friedrichsburg allein widerstand tapfer den holländischen Angriffen.
Die Nachfolger des großen Kurfürsten hatten ihr Auge auf andere Ziele gerichtet. Namentlich aber hatte König Friedrich Wilhelm I. gar kein Interesse an der Entwickelung der preußischen Seemacht, und so faßte er den Beschluß, die Besitzungen der brandenburgischen Handelsgesellschaft in Westafrika einfach zu verkaufen. Man bot dieselben zunächst für 600,000 Gulden aus, als aber Niemand diesen Preis zahlen wollte, wurde die Colonie schließlich an die holländische Compagnie für 6000 Ducaten und – 12 junge Mohren, die als Trommler und Pfeifer in der preußischen Armee verwendet werden sollten, verkauft.
Zweihundertundzwei Jahre nach vollzogener Besitzergreifung und Taufe des Castells Groß-Friedrichsburg – am 27. Januar 1884 – warf wiederum ein deutsches Kriegsschiff, S. M. Corvette „Sophie“ vor Groß-Friedrichsburg Anker. Dasselbe ist von der tropischen Vegetation gänzlich überwuchert, sodaß von der See her nur der 11 Meter hohe Signalthurm und eine Frontmauer zu sehen waren. Im tropischen Grün liegt in der Nähe des Forts ein kleines Negerdorf.
In Begleitung mehrerer Officiere fuhr der Commandant der „Sophie“ in einer Jolle an Land, wobei ein von 12 Negern bemanntes Canoe – welche den Fremdlingen nur friedliche Absichten zutrauten – die am wenigsten durch die Brandung gefährdete Landungsstelle durch Vorausfahren angab. Zweck der Landung war, einige Aufnahmen von diesem für Preußen historischen Fleckchen Erde zu machen. In einer der Bastionen fanden die Officiere sechs alte brandenburgische Geschützrohre, welche, unter Trümmern und Erde begraben, unbemerkt schon mehrere Menschenalter hindurch gelegen haben mögen. Gern gab der Häuptling der Neger, der sich selbstbewußt „king“ nennt, seine Einwilligung zum Fortschaffen eines Rohres, und freudig legten die Schwarzen Hand mit an, dasselbe vom Berge bis zum Strande zu schaffen, wofür ihnen ein jubelnd aufgenommenes Gegengeschenk von vier Flaschen Rum und ein Pfund Sterling an Geld gemacht wurde. An Deck gebracht, erwies sich das Geschützrohr, welches 2,05 Meter lang ist und ein Caliber von acht bis neun Centimeter zeigt, derart von Rost zerfressen, daß von einer Gravirung nichts mehr zu sehen war. Unzweifehaft aber ist es, daß das Rohr von der ursprünglichen Armirung des Castells herstammt.
So ist die brandenburgische Festung Groß-Friedrichsburg heute ein leerer Trümmerhaufen, mit dem ein elender Negerhäuptling, wie es scheint, nach Belieben schalten und walten kann. Die deutsche Staatsmacht ist von der Küste Westafrikas zurückgedrängt, die preußische Flagge wurde hier freiwillig eingezogen. Die Fehler der Staatsmänner entmuthigten jedoch keineswegs die deutschen Kaufleute, die anfangs ohne jede staatliche Unterstützung, ohne jeden Schutz hier auf eigene Faust Factoreien gründeten und, dem unermüdlichen deutschen Afrikaforscher auf der Spur folgend, das Innere des Landes dem Welthandel erschlossen. Längs der afrikanischen Küste weht mitten unter den englischen, französischen und holländischen Farben auch die schwarz-weiß-rothe Fahne. Für die muthige Schaar deutscher Unternehmer, die sie hier aufgehißt, scheinen jetzt nach der Aufrichtung des Reiches bessere Zeiten anzubrechen. Die deutsche Flotte ist stark genug, um den deutschen Handel zu schützen, und die Kriegscorvette „Sophie“, Capitain von Stubenrauch, hatte Gelegenheit unmittelbar nach ihrem Aufenthalt vor Groß-Friedrichsburg den Beweis zu liefern, daß die Zeiten der deutschen Schwäche vorüber sind.
Am 28. Januar nahm die „Sophie“ ihre Fahrt längs der Küste wieder auf und legte am 30. desselben Monats auf der Rhede von Little Popo an. Vom Strande aus begrüßten mehrere schwarz-weiß-rothe Flaggen deutscher Factoreien das deutsche Kriegsschiff. Etwa 36 Angehörige des in seinem Besitzthum von England anerkannten freien Negerkönigs Lawson erschienen bald an Bord, um gegen Früchte Kleidungsstücke einzutauschen, aber auch vier junge deutsche Kaufleute ließen sich zum Schiff bringen, um dem Commandanten Klagen über einige Negerhäuptlinge wegen Verletzung der mit letzteren abgeschlossenen Verträge vorzutragen und ihn um seine Intervention zu ersuchen. In unvertragsmäßiger Weise [351] forderten nämlich die Negerhäuptlinge von den schwarzen Waarentransporteuren der Factoreien einen Tribut, wenn sie, mit Waaren aus dem Innern des Landes kommend, ihre Dörfer passirten. Dem energischen Einschreiten des Commandanten, welcher sich in Begleitung einiger Officiere an’s Land begab, gelang es, drei Häuptlinge zur Raison zu bringen, während der King Lawson renitent verblieb und den schriftlich erneuerten Vertrag nicht unterzeichnen wollte.
Am 2. Februar lichtete die „Sophie“ wieder die Anker, um die fünf Meilen von Little Popo entfernte Ansiedelung Grand Popo zu besuchen. Hier erwartete die Deutschen eine Ueberraschung, welche die „Sophie“ zur schleunigen Rückkehr nach Little Popo zwang. Nach ihrer Abfahrt von letzterem Ort hatten die Neger des King Lawson das Leben und Eigenthum der Deutschen bedroht; sie hatten den Verkehr zwischen dem deutschen Dampfer „Carl Woermann“ und den Ansiedlern gehindert und letztere selbst gezwungen, in ihre am Strand belegenen Factoreien zu flüchten. Einem Deutschen, Herrn Randad, war es gelungen, noch ein Pferd zu besteigen und im Galopp nach Grand Popo zu reiten, um dem Commandanten der „Sophie“ Meldung von der Revolte zu machen und um Beistand zu bitten. Schon während der Rückfahrt wurden an Bord Vorbereitungen zur Landung eines Expeditionscorps getroffen. Die Mannschaften wurden mit Nackenschleiern, mit Limonade gefüllten Feldflaschen und mit je 40 scharfen Patronen versehen. Am frühen Morgen des nächsten Tages wurde das aus 120 Mann inclusive den Unterofficieren und Officieren bestehende Expeditionscorps auf den vom Dampfer „Carl Woermann“ bereitwilligst zur Verfügung gestellten Brandungsbooten glücklich durch die hohe Brandung bei der Hamburger Factorei gelandet[.]
Unter dem Commando des ersten Officiers der Corvette, Capitainlieutenant Trützschler von Falkenstein, begannen nach vorher festgesetztem Kriegsplan die Manöver. Aufgabe des Corps war es, den König Lawson mit seinem Premierminister gefangen zu nehmen, hierbei so viel wie möglich Blut zu schonen und nur im Nothfall zu feuern. Eine Abtheilung unter Führung des Lieutenants z. S. von Usedom bestieg einige den Deutschen gehörende Lagunenboote, um den Bewohnern des von zwei Seiten von Wasser umgebenen Hauptdorfes Bagi, woselbst der König in einem großen bereits baufälligen, jedoch mit überraschendem Luxus ausgestatteten Lehmwandgebäude residirte, den Wasserweg zur Flucht abzuschneiden.
Ein andres Detachement unter Capitainlieutenant von Trützschler marschirte um das am Strand liegende Dorf Little Popo herum und umstellte in Bagi von allen Seiten des Königs Palais. Von verschiedenen Richtungen waren einige Schüsse gefallen, jedoch ohne zu treffen. Der Premierminister und die Diener des Königs versuchten vergeblich zu entfliehen. Das Wohngebäude des letzteren mußte gewaltsam geöffnet werden und nun erst verstand sich der König nach kurzem Parlamentiren dazu, den Weg zum Landungsplatz anzutreten, um dort zu hören, was ihm der Commandant zu sagen habe. Der König stieg alsbald in eine Sänfte, und gefolgt von seinen Ministern und zahlreichen Negern ging es in pomphaftem Zug zum Landungsplatz. Als jedoch der Zug die Grenze zwischen dem Negerdorf und den deutschen Ansiedelungen erreicht hatte, wollten die zahlreich herbeigeeilten Eingeborenen beiderlei Geschlechts ihren König verhindern, weiter zu ziehen.
Besonders ungeberdig zeigten sich die heulenden und schreienden Negerweiber, sie wurden aber durch Marinesoldaten, welche mit aufgepflanztem Bajonett den Zug umgaben, am Durchbrechen desselben verhindert. Ein Leibdiener des Königs, der sich nahe herandrängte und den Revolver zog, um ihn auf einen Unterlieutenant abzufeuern, wurde noch im rechten Augenblick durch die Kugel eines Matrosen niedergestreckt. Die Kugel hatte des Negers linke Brust durchbohrt und ihn sofort getödtet. Nun räumten die Schwarzen unter Mitnahme ihres Todten sehr eilig den Platz.
Ohne weitere Schwierigkeiten fand nun das Einschiffen der afrikanischen Majestät mit seinen Ministern statt. Andern Tages wurden die übrigen Negerhäuptlinge an Bord berufen und in Gegenwart der deutschen Colonisten die Verträge einer nochmaligen Revision unterzogen, worauf dem König Lawson eröffnet wurde, daß man ihn freilassen werde, falls er einen passenden Ersatzmann zu stellen vermöchte. Hierzu erbot sich ein Verwandter von ihm, Namens Albert Wilson, dessen achtzehnjähriger Sohn den Vater nicht verlassen und mit ihm die Gefangenschaft theilen wollte. Außerdem wurde noch ein Mulatte Namens Gomez, ein einflußreicher und begüterter Anhänger des Königs, als Geisel zurück behalten, während letzterer wieder an’s Land gesetzt und dort von den Seinen mit Freuden empfangen wurde. Mit einigen anderen Negerfürsten, insbesondere dem König Jamble aus Abanaque, gab es in den darauffolgenden Tagen noch Verhandlungen, die bei der entwickelten Energie der Deutschen zu befriedigendem Ende geführt wurden.
So hatte die Besatzung des deutschen Kriegsschiffes im Augenblick hoher Gefahr für die dortigen Deutschen noch rechtzeitig eingreifen können. Die Geiseln wurden nicht etwa als Bürgschaft für eine Contributionssumme mit nach Deutschland genommen, sondern als Bürgschaft für das Wohlverhalten der Schwarzen von Little Popo und für das Einhalten der Verträge während der Zeit, da an der dortigen Küste kein deutsches Kriegsschiff weilt. Das Kanonenboot „Möve“ hat nunmehr in Kiel die Geiseln wieder an Bord genommen, um sie in ihre Heimath zurückzubringen. Genanntes Schiff wird an der westafrikanischen Küste längere Zeit Station machen, um die Deutschen und ihr Besitzthum gegen jeglichen Uebergriff zu schützen.
Hinzuzufügen bleibt noch, daß die Geiseln, übrigens die intelligentesten Leute ihres Stammes, in Wilhelmshaven, Berlin, Hamburg und Kiel Gelegenheit genug gehabt haben, sich von der Macht des deutschen Reiches, welche sie so geringschätzig beurtheilt, zu überzeugen. Es ist anzunehmen, daß sie mit anderen Gesinnungen erfüllt in ihre tropische Heimath zurückkehren und ihre Landsleute darüber aufklären, daß nicht nur Englands Einfluß groß ist.
Für die deutsche Colonialbewegung dürfte die oben skizzirte Reise der Kriegscorvette „Sophie“ von großer Bedeutung sein. Der schlichte Bericht wirkt mehr als hundert Reden und Flugschriften. Die Geschichte spricht deutlich aus den Ruinen von Groß-Friedrichsburg und weckt in allen Herzen die Frage, ob nicht endlich die Zeit gekommen ist, wo ein kühner Staatsmann das Vermächtniß des großen Kurfürsten antreten muß. Wir sehen in Deutschland eine mächtige Agitation und hören den lauten Ruf nach endlicher Lösung der Colonialfrage! Hier öffnet sich ein großes Wirkungsfeld für Alle ohne Rücksicht auf Parteistellung, und das hohe Ziel dünkt uns erreichbar ohne kriegerische Verwickelungen und Opfer an Menschenleben. Man darf nur diejenigen nicht im Stiche lassen, die bereits zu handeln begonnen haben. Mit dieser Zuversicht scheiden wir heute von dem alten brandenburgischen Fort, um neue lebenskräftige Schöpfungen aufzusuchen.
[352]
In Constantinopel.
Kronprinz Erzherzog Rudolf von Oesterreich ist ein begeisterter Verehrer des Morgenlandes und besitzt ein theilnehmendes Verständniß für seine Bewohner und deren Sitten. Bereits vor drei Jahren, kurz bevor er die Königstochter Stephanie von Belgien heimführte, unternahm er eine Reise nach dem Orient. Er besuchte die Stätten, welche das Heiligthum der gesammten Christenheit geworden sind, und ging von dort nach Aegypten, um in Kairo die Metropole arabischen Culturlebens kennen zu lernen. Die Ergebnisse jener Reise hat der fürstliche Autor in seinem Buche „Eine Orientreise“ niedergelegt. Wichtiger als diese war jedoch die zweite im verflossenen April unternommene Orientreise, auf welcher der Kronprinz in Begleitung seiner anmuthigen Gemahlin den Sultan in Constantinopel und die Höfe der kleinen Balkanfürsten besuchte. Dem freudigen Empfang, welcher dem österreichischen Kaisersohn in jenen Ländern von den Höfen wie von den Völkern bereitet wurde, ist allseitig, und wohl mit Recht, eine über den Charakter bloßer Höflichkeitsbezeugungen hinausgehende Bedeutung zugeschrieben worden.
Das kronprinzliche Paar hatte für seine Reise die denkbar günstigste Zeit auserwählt. Die zweite Hälfte des April ist die Wonnezeit Stambuls, und es erstrahlt da die unvergleichliche Stadt in schönerem Glanze als je. Am Ostermontage Nachts verließ der Hofzug Wien und brauste, in großen Absätzen nur die bedeutendsten Städte, Budapest, Szegedin, Orsova, Verciorova, berührend, Varna zu. Im Hafen dieser Stadt harrte die kaiserliche Yacht „Miramar“ der Gäste, um sie nach Constantinopel zu bringen. Diese Yacht ist ausschließlich für Mitglieder des Kaiserhauses bei Fahrten auf hoher See bestimmt und mit größter Pracht und Eleganz eingerichtet. Mittwoch den 16. Abends dampfte die „Miramar“ von Varna ab und erreichte bei Tagesgrauen die Mündung des Bosporus.
Die Ufer von Asien und Europa rückten immer näher an einander, und von beiden Seiten grüßten malerische Landschaften die Gäste. Aus Cypressenhainen, aus den mit Lorbeerbäumen und Platanen beschatteten Buchten lugten Paläste, Kiosken und Dörfer hervor, tauchten von Zeit zu Zeit Schlösser und alte Ruinen auf, und an vorgeschobenen Punkten erhoben sich Castelle und Strandbatterien, mit schwerem Geschütz armirt. Die eisernen Schlünde entsandten heute kein Verderben, willkommenen Gästen zu Ehren drang der Donner ihrer Salven zu der „Miramar“ hinüber.
Diese „Ochsen“- oder „Rinderfuhrt“, so heißt auf deutsch der Bosporus, ist in der That eine der herrlichsten Landschaften des Orients. Und ihr Reiz wird noch erhöht durch die Bilder aus Sage und Geschichte, die hier vor der Seele des Wanderers auftauchen. Erinnert uns doch schon der Name dieser Meerenge an die griechische Sage von der schönen Io, die hier, in eine Kuh verwandelt, durch das Meer geschwommen. Dort tauchen in der Nähe des europäischen Leuchtthurmes die Kyanäischen Felsen auf, die Symplegaden
[353][354] der Argonauten, die Alles, was zwischen ihnen schwamm oder flog, unbarmherzig zermalmten. Hier muß auch die Stelle liegen, an welcher einst der Perserkönig Darius mit seinem ungeheueren Heere über den Bosporus zog, um das freie Hellas mit Krieg zu überziehen.
Wahrlich, diese Fahrt durch die berühmte Meerenge ist eine würdige Vorbereitung zum ersten Anblicke Constantinopels, jener Wunderstadt, welche, wie einst vor Jahrhunderten, noch heute das heiß ersehnte Ziel gewaltiger Eroberer bildet.
Am Eingange zum Bosporus erwartete eine kleine Flottille von acht Lloydschiffen das kaiserliche Fahrzeug. Die österreichische Colonie war an Bord und brachte dem Kaisersohne den ersten Willkommensgruß entgegen. Von den Forts und den Strandbatterien längs den beiden Ufern donnerten die Salutschüsse: die Mannschaften traten unter das Gewehr, wenn die Yacht vorüberkam. Immer mehr Schiffe schlossen sich dem Gefolge an; die fremden Kriegsfahrzeuge leisteten in voller Flaggengala die Honneurs, dann kam der österreichische Gesandte in Constantinopel, Baron Calice, an Bord. Man näherte sich der Stadt; jetzt gab das türkische Wachtschiff den Salut ab, und sämmtliche Geschütze aller Forts verkündeten nun dem Großherrn die Ankunft seiner Gäste. Um zehn Uhr hielt die Yacht vor der Marmortreppe von Dolma-Bagdsche an. Die Gäste befanden sich in Constantinopel.
Es kann nicht unsere Absicht sein, dem Leser einen vollständigen Bericht dieser Reise zu bieten, welche zwei Wochen hindurch währte und während welcher die Lustbarkeiten, Ausflüge, Besuche, Festtafeln etc. in rascher Folge und großer Zahl einander ablösten. Vielmehr werden wir bei Einhaltung der chronologischen Ordnung nur die bemerkenswerthesten Momente hervorheben und bei jenen länger verweilen, welche der Stift unseres Zeichners illustrirt hat.
Besonders glänzend war der Empfang, der dem kronprinzlichen Paare bei seiner Ankunft in Stambul bereitet wurde. Die „Miramar“ hielt, wie bereits erwähnt, an dem Quai vor dem kaiserlichen Palast von Dolma-Bagdsche an, das – ehemals eine Lieblingsresidenz der Chalifen – mit großer Pracht und verschwenderischem Reichthume eingerichtet ist. Der gegenwärtige Sultan Abdul-Hamid bewohnte es jedoch nie. Eben dieses prachtvolle Schloß war anfangs dazu ausersehen, den kaiserlichen Gästen als Wohnung zu dienen, der Sultan jedoch bestand darauf, daß dieselben in seiner Residenz Yldiz-Kiosk (Sternpalast) untergebracht würden. Und so geschah es auch.
An der Marmortreppe des Schlosses Dolma-Bagdsche harrten nun der Großvezier Said Pascha, der neuernannte Minister des Aeußeren Assym Pascha, der oberste Ceremonienmeister Munir Bey und zahlreiche Spitzen des Civil- und Militärstaats der Ankunft des kaiserlichen Schiffes. Der Großvezier begab sich zuerst an Bord der „Miramar“ und begrüßte die Gäste Namens seines Herrn. Kronprinz Rudolf und seine Gemahlin bestiegen sodann den Kaïk des Sultans – ein reichvergoldetes Boot, mit zwölf in weißrother Seide gekleideten Ruderern bemannt – und setzten an’s Land, wo ihnen seitens der ausgerückten Ehrencompagnie die Honneurs dargebracht und die Würdenträger vorgestellt wurden. In sechsspänniger Galacarosse, welcher noch viele zweispännige nachfolgten, geschah die Fahrt nach der Residenz des Sultans. Der Weg dahin ist steil, steinig. Auf Befehl des Sultans war in wenigen Tagen eine neue geradlinige Straße gezogen worden. Es verschlug Nichts dabei, daß unzählige Baracken, die Wohnungen armer, genügsamer Leute, ganz oder zum Theil niedergerissen werden mußten: – der Sultan hatte es befohlen, und die Leute duldeten es ohne Murren. Bei der Fahrt des kronprinzlichen Paares that dieser neue Weg seine Schuldigkeit; in Gold gekleidete Lakaien gingen zu Fuß neben den Wägen einher, Hofbeamte schritten ihnen voran. Als der Zug die Ringmauer des Yldiz-Kiosk überschritt, stimmte eine dort aufgestellte Musikcapelle die österreichische Volkshymne an.
Yldiz-Kiosk ist als Residenz des Großherrn ganz jungen Datums und erst von dem gegenwärtigen Sultan zu einer solchen auserkoren worden. Noch unter Abdul-Aziz war es nur ein kleines Häuschen, in welchem der Sultan ausruhte, wenn ihn sein Weg nach Dolma-Bagdsche führte. Nun umfaßt dieser Lustsitz eine Menge Paläste, Casernen, Cypressen- und Lorbeerhaine, von denen aus das Auge eine entzückende Aussicht über den Bosporus, das Marmarameer, Stambul, Scutari und bis zum schneeigen [355] Gipfel des Olymp hin genießt. Hier verträumt der Sultan sein monotones Leben, im wahren Sinne des Wortes ein armer Mann, von einer unüberwindlichen Furcht vor Meuchelmördern gefoltert. Niemand betritt Yldiz-Kiosk ohne seine Erlaubniß. Daß er also darauf bestand, das kronprinzliche Paar bei sich wohnen zu lassen, war eine höchst bemerkenswerthe Artigkeit. Er ließ seinen Gästen ein neues Haus – Jeni-Kiosk – in nächster Nähe des Harems erbauen und auf das Prächtigste einrichten. Sie selbst erwartete er mit seinem gesammten Hofstaate am Tage der Ankunft im Thronsaale und empfing sie auf das Freundlichste. Die Kronprinzessin geleitete der Sultan zu einem Ehrensitze, stellte seinen Hof vor und ließ dann seine Gäste in feierlichem Zuge nach den für sie bestimmten Gemächern geleiten. Eine Rundfahrt durch die Straßen Constantinopels, welche die fürstlichen Gäste Nachmittags unternahmen, wobei einige Bazare besichtigt wurden, beschloß den ersten Tag in Stambul.
Der darauffolgende Freitag brachte den Gästen gleich eine imposante Ueberraschung, da sie dem „Selâmlik“, das ist dem Moscheengang, welchen der Sultan an jedem Freitage unternimmt, beiwohnten. Es ist dieser Gang eine religiöse Ceremonie, welcher der Sultan sich absolut nicht entziehen kann. Selbst der menschenscheue und ängstliche Abdul-Hamid wagt es nicht, hierin seinen eigenen Wünschen zu folgen, und zeigt sich an jedem Freitage, welcher der türkische Sonntag ist, dem Volke. Eine Art Truppen-Revue geht mit der religiösen Ceremonie Hand in Hand, indem zu beiden Seiten des Weges, welchen der Padischah nimmt, Truppen Spalier bilden. Sonst besucht der Sultan die Beschiktasch-Moschee: diesmal kam aber und zwar im letzten Augenblicke die Weisung, die Medschidje-Moschee herzurichten. Die Truppen bildeten längs des Weges Spalier, um die tausendköpfige drängende Menge abzuhalten. Gegenüber der Moscheenthür wurden Teppiche ausgebreitet und Möbel aufgestellt, auf welchen die Gäste Platz nahmen, weiter südwärts hatten einige Carossen mit der Sultanin-Valide und Damen des Harems Aufstellung genommen. Der Sultan ritt auf einem Araberschimmel durch die Reihe der Truppen und betrat dann die Moschee, in welcher er mehr als eine halbe Stunde im Gebete verweilte. Sodann ließ er die Truppen vor den Gästen defiliren, und damit war die Feierlichkeit zu Ende.
Das kronprinzliche Paar benützte seinen siebentägigen Aufenthalt in Constantinopel hauptsächlich zu Ausflügen und Besuchen. Mit dem Sultan kam es nur bei den Galadiners und dann bei dem Abschiede zusammen; sonst genoß es die vollste und ungebundenste Freiheit. Keine Stadt der Welt, Rom vielleicht ausgenommen, bietet soviel des Interessanten und Sehenswürdigen als Stambul. Fast zwei Jahrtausende ununterbrochenen Culturlebens haben dort ihre Spuren zurückgelassen, denen das Auge nun auf Schritt und Tritt begegnet. Die Aja Sophia, das „Wunder der Erde“, allein verlohnt der Mühe gesehen zu werden. Und wem wäre es nicht bekannt, daß Constantinopel unbestritten, was die Lage anbelangt, als die schönste Stadt Europas gilt?
Die fürstlichen Gäste genossen denn auch reichlich von den Freuden, welche die paradiesische Umgebung darbietet, und durchstreiften sie nach allen Seiten. Sie besuchten Scutari, die Friedhofstadt Stambuls, setzten nach den Genueser Schlössern am Bosporus über, bestiegen den Mont Géant mit seinem Hünengrabe, besichtigten Beikos und noch viele andere der reizend gelegenen Umgebungen der Stadt. In nachhaltiger Erinnerung wird dem hohen Paare jedoch der Ausflug nach den „Süßen Wässern von Europa“ bleiben, welchen sie am Freitage Nachmittags unternahmen. Es sind diese „süßen Wässer“ für Stambul das, was der Prater für Wien, der Prado für Madrid und allenfalls das Bois für Paris ist – alle Welt, jung und alt, reich und arm, wandert an Feiertagen dahin und ergötzt sich nach Landesart. Die „süßen Wässer“ sind eine sehr lange, grün bewaldete Thalschlucht, welche ein schmales Wässerlein durchfließt. An den Ufern desselben sitzen nun die Bewohner Stambuls in Gruppen und sehen in würdevoller Ruhe dem lärmenden Treiben der Kleinen zu. Süße Näschereien und der dampfende Tschibuk, wohl auch einige mitgenommene Früchte bilden die Labung. Es ist ein Bild tiefen Friedens, das sich dem Auge darbietet, und Niemand würde es dem harmlosen Völkchen ansehen, daß es, allem Anscheine nach, dazu ausersehen ist, langsam aus der Liste der Nationen gestrichen zu werden. Nichts erinnert hier an die träge, fast stumpfsinnige Ruhe, welche sonst den Türken kennzeichnet. Hier ist er noch ganz Mensch, fühlender, glücklicher Mensch.
Auch Stambul selbst bot den hohen Gästen fast unerschöpflichen Stoff zur Betrachtung. Aja Sophia und die weltberühmte Achmed-Fontaine davor wurden bewundert, der Atmeidan – der einstige byzantinische Hippodrom mit seinen Obelisken, ferner die Achmedjeh, die größte Moschee Stambuls, sowie das Mausoleum Mahmud’s II. in Augenschein genommen. In den riesigen, von Tausenden von Händlern erfüllten Bazaren machte das kronprinzliche Paar zahlreiche Einkäufe. Kronprinz Rudolph besichtigte auch die großartigen militärischen Etablissements von Tophane und manche andere den übrigen Sterblichen unzugängliche Sehenswürdigkeit; das Schönste blieb aber doch der Prinzessin Stephanie vorbehalten, denn sie durfte das Heiligste des Heiligen – den Harem – betreten. Sie stattete mit ihrer Hofdame, der Gräfin Silva-Toronoza, daselbst einen zwar nur sehr kurzen Besuch ab, über welchen jedoch jeder Bericht fehlt.
Am 22. April schiffte sich das kronprinzliche Paar, nachdem es sich vom Sultan in herzlichster Weise verabschiedet hatte, am Bord der „Miramar“ ein, um nach Mudania, der Hafenstadt Brussas, überzusetzen. Die eintägige Fahrt erfolgte denn auch, aber eine mittlerweile eingetretene Indisposition der Kronprinzessin machte die beschwerliche Tour zu Wagen und zu Pferd bis nach Brussa selbst unmöglich. So dampfte denn die Yacht zurück und langte, ohne Constantinopel auf der Rückfahrt berührt zu haben, wieder in Varna an.
Blätter und Blüthen.
Die Ursachen der Krebspest. In den letzten Jahren hat man in den verschiedensten Gegenden Deutschlands (Thüringen, Schlesien, Baiern) ein massenhaftes Erkranken und Hinsterben der Flußkrebse beobachtet, ohne daß es möglich war, sich eine bestimmte wissenschaftliche Ansicht über die Ursachen der verheerenden Seuche zu bilden. Daß die sogenannte „Krebspest“ den Infectionskrankheiten zugehören müsse, durfte allerdings schon nach der Art ihres Auftretens und ihrer Verbreitungsweise als unzweifelhaft gelten; über den die Krankheit bedingenden Parasiten gingen die Meinungen der einzelnen Forscher jedoch weit aus einander.
Da die zootomische Untersuchung der erkrankten (oder bereits gestorbenen) Exemplare sehr häufig ergab, daß die Kiemen derselben mit Krebsegeln (Branchiobdella) behaftet waren, so wurden letztere eine Zeit lang als die ausschließliche Ursache der Krebspest betrachtet. In dem gleichen Verdachte hatten andere Forscher die im Muskelfleische der Krebse frei und eingekapselt lebenden Saugwürmer (Distomeen), und es wurde bereits ernstlich von einer Egelkrankheit der Krebse (Distomatosis astacina) gesprochen.
Wenn nun auch keineswegs in Abrede gestellt werden soll, daß parasitische Saugwürmer, wo sie sich übermäßig vermehren, Gesundheit und Leben ihrer Wirthe gefährden können, so spricht die mikroskopische Untersuchung der Gewebstheile pestkranker Krebse doch keineswegs dafür, daß die Distomeen als die wahre und einzige Ursache der unter den Flußkrebsen wüthenden Seuche anzusehen sind. Es ist dies schon darum unwahrscheinlich, weil die Distomeen nur durch Vermittelung eines anderen Thieres übertragen werden können, während sich die Pestkrankheit von Krebs zu Krebs fortpflanzt.
Im Hinblick auf diese Erwägung ist es vom höchsten Interesse, das Ergebniß einer neueren Untersuchung kennen zu lernen, welche von dem Director des zootomischen Instituts in Leipzig, Herrn Geheimrath Prof. Dr. Leuckart, in Gemeinschaft mit Prof. A. Rauber vor Kurzem angestellt worden ist.
Leuckart, von dem eine englische Fachzeitschrift mit Recht sagt, daß er der hervorragendste Wurmforscher der Gegenwart (The prince of modern helminthologists) sei, sah sich auf Grund der ihm vorliegenden Thatsachen nicht veranlaßt, Saugwürmer (Distomeen) als das die Krebspest verursachende Moment zu betrachten. Leuckart gesteht mit gewohnter Ehrlichkeit zu,[1] daß er eine Zeit lang über die Natur der krebsvertilgenden Krankheit vollständig im Unklaren sich befand. In der Folge erhielt er jedoch eine Sendung pestkranker Krebse, die ihn die Ursache der räthselhaften Seuche mit aller wünschenswerthen Klarheit erkennen ließen.
Die betreffenden Krebse waren sämmtlich todt; an vielen Exemplaren waren die Scheeren und auch die Beine abgefallen. Die Muskulatur der abgefallenen Gliedmaßen sowohl wie die der Stümpfe erwies sich als im Zerfalle begriffen, und bei der mikroskopischen Untersuchung konnte man eine reichliche Pilzwucherung erkennen. Helle, hirschgeweihartig sich verästelnde Fäden, die eine Menge gelblich schimmernder Körnchen enthielten, [356] durchzogen in üppiger Entwickelung die gesammte Muskulatur und die übrigen Organe der verendeten Thiere. So verhielt es sich nicht blos bei einem oder bei nur wenigen Exemplaren, sondern bei allen Individuen der betreffenden Sendung. Der mörderische Pilz erwies sich auf den ersten Blick als ein zur Gruppe der Saprolegniaceen (Fadenpilze) gehöriger Schmarotzer.
Es blieb nun noch der Zweifel übrig, ob nicht vielleicht dieser Pilz sich erst nach dem Absterben der Krebse entwickelt habe. Hierüber verbreitete eine neue Sendung von noch lebenden (aber kranken) Krebsen das erforderliche Licht, insofern sich bei der Untersuchung die Anwesenheit derselben Fadenpilze im lebenden Krebskörper gleichfalls ergab. Allem Anscheine nach dringen die Schmarotzer durch die weichen Gelenkhäute des Schwanzes sowohl wie der Gliedmaßen in die Krebse ein und verbreiten sich von da massenhaft durch die gesammten Gewebe.
Da der Parasitismus ähnlicher, wenn nicht derselben Parasiten, bei Fischen und anderen Wasserbewohnern erwiesenermaßen (nach mehr oder minder langer Dauer) zum Tode führt und ganze Culturen vernichtet: so glaubt Leuckart jene Fadenpilze mit Recht auch bei den Krebsen als die Ursache des rapiden Hinsterbens in Anspruch nehmen zu dürfen. Wir hätten es demnach in der Krebspest mit einer wirklichen Schimmelpilzkrankheit (Myosis astacina) zu thun.
Dieses von Leuckart neuerdings erhaltene Ergebniß ist um so bemerkenswerther, als auch ein anderer Forscher (Harz) zu einem ganz ähnlichen Resultate gekommen ist. Auch Harz sieht Pilze als die Ursache der Krebspest an und differirt nur insofern von Leuckart’s Ansicht, als er neben den Pilzen auch noch die Distomeen als bei der Pesterzeugung mitwirkend ansieht.
Zur Verhütung der Krebspest giebt es selbstverständlich kein anderes Mittel als Reinhaltung der Gewässer. Man hat nach Möglichkeit dafür zu sorgen, daß sich keine faulenden thierischen Substanzen in den Bächen und Krebszwingern anhäufen. Da übrigens die Pilze durch geringen Salzzusatz zum Wasser getödtet werden, so könnte man vielleicht auch den Versuch machen, die verpesteten Gewässer mit Kochsalz zu desinficiren. Es wäre von großem praktischem Werth, darauf bezügliche Versuche anzustellen. Dr. Otto Zacharias.
Durch fünf deutscher Herren Länder in – 88 Minuten. Da, wo die weiße Elster in das Flachland austritt, von dem am linken Ufer des Flusses sich weitenden Blachfelde aus, auf dem sich jenes blutige Drama abspielte, welches mit den Worten: „das ist die Hand, mit der ich meinem Könige Treue geschworen!“[2] seinen sühnenden Abschluß fand, von dort aus beginnen wir unsere Wanderung, um das Kunststück auszuführen, in einer Bahnfahrt von 88 Minuten Dauer die Grenzen von fünf deutschen Staaten zu überschreiten.
Bald befinden wir uns auf Bahnhof Crossen – Kreis Zeitz – Königreich Preußen – der königlich preußischen Staatsbahn.
„Einsteigen! Einsteigen! meine Herrschaften!“ mahnen die Schaffner. Die üblichen drei Glockenschläge – ein schriller, dünnstimmiger Pfiff der Signalpfeife des Zugführers – ein ungestümer, übellauniger Antwortruf der Locomotive – dahinstiebt der Train. Die Bahnhofsuhr zeigt 1,49 Uhr Mittags.
Ein Duft wie von Millionen köstlicher Rosen strömt von rechts drüben, aus einem umbuschten Idyll kommend, herein in das Coupé.
„Station Köstritz!“ tönt es draußen, Fürstenthum Reuß j. L., fügen wir in Gedanken hinzu. Die Coupéthür wird aufgerissen. „Steigt hier Jemand aus von den Herrschaften?“
Weiter geht es. Es ist 2,1 Uhr Nachmittags.
Zwischen langgedehnten Bergrücken in weiten Bogen hingebettet: Gera mit den Villen und zahlreichen Dampfschloten. Mit ehernem Schritte ist die Geschichte über diesen Theil des Thales der weißen Elster geschritten. Massenmord und Blutströme im Bruderkriege, der Dreißigjährige, der Siebenjährige Krieg, die kometengleiche Erscheinung des ersten Napoleon vor der Katastrophe von Jena u. a.
2,30 Uhr.
„Station Wolfsgefärth!“ – Großherzogthum Sachsen-Weimar. Die Fahrt geht weiter. Die Uhr zeigt 3,13. „Ein Kirchlein seh’ ich blauen auf steiler Bergeshöh’.“ Das altersgraue Kirchlein des Dorfes Veitsberg, die erste christliche Capelle Ostthüringens, eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges.
„Greiz!“ – Fürstenthum Reuß ä. L. – Ein prächtiges Stückchen deutscher Erde! Das politische Verhalten seines Regentenhauses viel gestreift vom Humor der Zeitgenossen, die Bewohner des Ländchens aber auf der vollen Höhe der Zeit stehend, auf dem Weltmarkte mit den Erzeugnissen ihrer Fabrikationsthätigkeit erfolgreich concurrirend.
4,3 Uhr.
„Station Elsterberg!“ – Königreich Sachsen. – 4,14 Uhr.
Ziehen wir das Facit. Den Ausgangspunkt unserer Fahrt – Bahnhof Crossen im Königreich Preußen – verließen wir 1,49 Uhr. Bringen wir von den inzwischen verflossenen 145 Minuten 57 Minuten fahrplangemäße Aufenthaltszeit auf den verschiedenen Stationen in Abzug, so haben wir das Ergebniß, daß wir in 88 Minuten Bahnfahrt fünf deutschen Ländern Besuch abgestattet und dabei eines der landschaftlich reizendsten Flußthäler Deutschlands kennen gelernt haben. H. Meißner.
- ↑ Sendschreiben an Herrn Rittergutsbesitzer Max von dem Borne. 1884.
- ↑ Die Schlacht bei Mülsen am 15. October 1080, in welcher Kaiser Rudolf von Schwaben im Kampfe gegen Kaiser Heinrich den Vierten fiel und vor seinem Tode bei dem Anblicke seiner abgehauenen Hand jene Worte gesprochen haben soll. Vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1880, S. 861.
Dalmatinerin. (Mit Illustration S. 345.) In letzter Zeit sind sie auch in Süddeutschland wenig mehr zu sehen, diese einsam daherpilgernden, oft melancholischen Mädchengestalten, die man früher häufig dort treffen konnte. Von Stadt zu Stadt zogen sie und von Dorf zu Dorf, um mühsam ihr Brod zu verdienen. Ein Schafpelz diente ihnen als Schutz gegen die Unbill der Witterung und als wärmende Hülle auf dem meist dürftigen Lager während des Schlafes; sie trennten sich von diesem nothwendigen Kleidungsstück weder Sommer noch Winter. Ihre ganze Kunstfertigkeit bestand in der Handhabung eines eigenthümlichen italienischen Instrumentes, dessen Bau halb an eine Drehorgel, halb an eine Guitarre erinnerte. Die sechs Darmsaiten dieses Instrumentes – der sogenannten Savoyardenleier oder Liebesgeige – wurden theils durch Tasten, theils durch bloßen Druck der Finger mit einem durch eine Kurbel in Bewegung gesetzten Rad in Berührung gebracht und gaben eine Musik, die einförmig und melancholisch zugleich war. Die Heimath der wunderlichen Pilgerinnen bildeten zumeist die Länder östlich vom adriatischen Meere, nicht Dalmatien allein.
Allerlei Kurzweil.
Die Eule.
Von
S. Atanas.
Auflösung der Schachaufgabe Nr. 5 in Nr. 20:
Weiß: | Schwarz: | |
1. D c 8 – b 8 | T b 7 : D b 8 † | |
2. K e 8 – f 7 | D b 3 – f 3 : † | |
3. S g 4 – f 6 matt. |
Auf 1 . . . ., D b 4 oder f 3 : folgt 2. S e 3 † etc.
Kleiner Briefkasten.
Auf eine „herzliche Bitte“ in Nr. 3 gingen unaufgefordert ein: Th. Simon in Leipzig Mark 5; von einem heiteren Freundeskreise im Hinze’schen Locale in Laszwedel 11,05; Adolf Kröner 5; W. in Eilenstedt 1; Hermann Hempel in Töppendorf 5; N. N. in Wiesbaden 20,30; J. Kettembeil in Leipzig 10; Dressel in Saarmund 3,05; Schmidt, Wegemacher in Rosheim 3; M. in Grottau 100; E. Wallenfels in Straßburg i. E. 10; H. Grube in Merseburg 3; H. Jannasch sen. in Bernburg 10,50; O. V. in Zell i. W. 10; E. in Metz 20; R. C. in Hamburg 15; P. Sch. G. in Dahlen 3; mehrere Angestellte einer deutschen Exportfirma in London 10; aus Frankfurt a. M. 5; B. H. in Trier 5; Martha und Anna Schwartz in Görlitz 1; Heinrich Scheel in Stralsund 10; Elise in Wien „Wenig ab aus gutem Herzen“ (2 Gulden ö. W.) 3,35; Dr. H. in Würzburg 5; Fr. E. A. Hd. in Leipzig 5; J. u. B. in Dresden „Hurrah, Germania“ 6; P. R. in Waldenburg i. Schl. 3,05; Ungenannt
in Leipzig 1; Ungenannt in Herzberg, Reg.-Bez. Merseburg 3; Marie verw. Seifert in
Zwickau 4; Büsching in Löhne 1; Balletmeister Horschalt in Hamburg 10; Einer für Mehre
in Bremen 13; Auch eine tiefgebeugte Wittwe 5; B. Ludwig in Dresden 3; Robert Gerlach
in Spremberg 1; H. A. in St. 1; P. in Husum 20; G. S. in Taucha 3; Marie Lange in
Dresden 3; F. W. L. in Nienhof 20,10; Amtsrichter Manicke in Schirgiswalde 3; Ein
kranker Kamerad in Nordhausen 5,25; Franz Uthemann in St. Petersburg 50; Ein Rheinländer
in Tiflis (4 Rubel) 7,95; Neisbob in Wismar 1; M. B. in Frankfurt a. M. 10;
Aus einem russischen Winkel (5 Rubel) 10,15; Betrag einer Sammlung in Syke 15; „Voll Hoffnung und Vertrauen“ aus Brüssel 5; Th. Renius in Topore (5 Rubel) 10,30; O. P.
in Dresden 2; M. v. B. in Dresden 10; Aus Sinsheim a. d. Elsenz 1; Aus Köngen 0,50.
Folgende für die Nothleidenden in der Eifel eingegangenen Beträge, nachdem die Sammlung dafür geschlossen, wurden der Wittwe überwiesen: E. B. in Metz 20; Hellwig in Kolberg 2; Miethpfennig von Hauptmann Krömelbein und J. Oppenheimer in Frankfurt a. M. 3,05.
In Summa 532 Mark 60 Pfennig. Die Redaction der „Gartenlaube".
F. H. in Eisenach. Kaiser Wilhelms-Spende.
M. Tew. Die Hauptquelle bildet Grimm’s Mythologie.
Enzian. Brinckmeyer, „Der Seidenbau". Leipzig 1882. Durch jede Buchhandlung.
E. E. in Teplitz. Einen Aufsatz über das Erröthen finden Sie in der „Gartenlaube" von 1876, Nr. 13 (Carus Sterne, „Die holde Scham").
L. S. in Hambg., J. M. und M. H. in Berlin: Nicht geeignet.
A. M. in K. Nicht ganz geeignet. Sie finden Brief sub. A. M. K. postlagernd Hauptpost.
Inhalt: Salvatore. Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein (Fortsetzung). S. 341. – Heißblütige Pflanzen. Von Carus Sterne. S. 346. Mit Abbildungen S. 346, 347 und 348. – Deutschlands Colonialbestrebungen. 1. Ruine Groß-Friedrichsburg. S. 349. Mit Illustrationen S. 349, 350 und 351. – In Constantinopel. Eine Erinnerung an die Orientreise des österreichischen Kronprinzen. Von J. D. Beckmann. S. 352. Mit Illustrationen S. 352, 353 und 354. – Blätter und Blüthen: Die Ursachen der Krebspest. Von Dr. Otto Zacharias. S. 355. – Durch fünf deutscher Herren Länder in – 88 Minuten. Von H. Meißner. S. 356. – Dalmatinerin. S. 356. Mit Illustration S. 345. – Allerlei Kurzweil: Magisches Tableau. Die Eule. Von S. Atanas. – Auflösung des Ketten-Räthsels in Nr. 20. – Auflösung der Schachaufgabe Nr. 5. in Nr. 20. – Kleiner Briefkasten. S. 356.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Aroidenkolben