Textdaten
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Autor: Carus Sterne
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Titel: Die holde Scham
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aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 217–219
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Die holde Scham.


Das Erröthen in seiner seelischen und körperlichen Entstehung.


Menschen von Gefühl werden sich von dem Ausspruche des alten Humoristen Hippel: nächst der Morgen- und Abendröthe sei die Schamröthe das schönste Roth von der Welt, sicher nicht befriedigt finden, Diejenigen zum Mindesten, denen einst die Gluth der Wangen der Geliebten früher noch als ihr Mund verkündete, daß sie ihr nicht gleichgültig seien, werden die Schamröthe sogar noch schöner finden als das Erglühen der kommenden und scheidenden Sonne und es in diesem Punkte mit Petrarca halten, wenn er von dem Erröthen seiner Laura sagt:

So schön sah ich den Morgen nimmer strahlen,
Wenn kein Gewölk den Himmel überzogen,
Als bei dem Keimen meiner süßen Qualen
Ihr Antlitz glüh’nde Röthe überflogen,
Der, was ich schön auf Erden auch erwogen,
Nichts gleichkommt – und ich liebe nicht zu prahlen.

Nicht weniger entzückend erscheint uns bei gleicher Gelegenheit die liebliche Verwirrung des Geistes, welche dieses unfreiwillige Auflohen einer bis dahin vielleicht sorgsam im innersten Herzen verborgenen Empfindung begleitet und sich in ungenügender Antwort genügend verräth, ferner das hastige Athmen und stürmische Klopfen des Herzens, endlich die Schüchternheit der vor Erregung leuchtenden Augen, welche nach jedem kühnen Aufschlage immer wieder schnell zum Boden oder zur Seite abirren. Aber auch ganz von dem Parteiurtheile des Urhebers so zarter Empfindungen abgesehen, wie viel wohlthuender berührt Jeden von uns z. B. bei den an vielen Orten noch immer öffentlichen Preisvertheilungen an Schüler der Anblick eines über seine Belobigung tief erröthenden Jünglings, als der kecke Rundblick eines anderen, welcher befriedigt beobachtet, ob auch alle Leute der Stadt seinen Triumph gewahren!

Wenn nun jene Ansicht der Tochter des Aristoteles, Pytheas, daß die Schamröthe die schönste Gesichtsfarbe sei, die man sich denken könne, im Rathe der Poeten einstimmig angenommen ist, so wird im Kreise der Theologen und Philosophen nicht weniger eifrig einer andern Behauptung beigestimmt, daß nämlich in diesem Verräther der inneren Empfindung, welcher sich ebenso schwer wie das Gewissen zum Schweigen bringen läßt, ein erhabenes Naturgeheimniß verborgen sei, daß die göttliche Abkunft des Menschen in dieser zarten, allen Thieren versagten Seelenregung am unverkennbarsten zum Ausdrucke komme; daß das Schamgefühl, mit einem Worte, ein göttliches Geschenk sei, wenn es die Bibel auch immerhin erst durch das Kosten verbotener Frucht in der Menschenbrust erweckt werden läßt. Selbst ein Arzt, Dr. Burgeß, der vor etwa vierzig Jahren dieser Erscheinung zum ersten Male zergliedernd näher getreten ist und ein besonderes Buch über die Physiologie der Scham geschrieben hat, meinte, daß dieser im unverdorbenen Menschen nicht niederzukämpfende und bei dem Versuche dazu nur erstarkende Verräther dem Geschöpfe vom Schöpfer als eine Art Talisman, als ein Hemmniß, seine Gebote ungescheut zu übertreten, eingepflanzt sei.

Allein, wenn wir der Sache näher treten, so muß uns schon der Umstand in Zweifel versetzen, daß ein und dieselbe Erscheinung bald den Abglanz der Unschuld, bald das Kainszeichen der Schuld vorstellen soll, und wahrlich, der Untersuchungsrichter würde übel fahren, welcher von dem Erröthen eines Menschen bei irgend einer Anklage auf sein Schuldbewußtsein schließen wollte. Der Unschuldige erröthet, wenn ihm eine schwere Anklage in’s Gesicht geschleudert wird, leichter, als der Schuldige, der sich solche „Kindereien“ in der Regel längst abgewöhnt hat, und meistens sind es die allerleichtesten Vergehen, Schulbubenstreiche, Etiquettenfehler etc., die sich bei ihrer Entdeckung in den allertiefsten Purpur kleiden.

Wir ersehen hieraus, daß diese Farbenerscheinung durchaus nichts mit einem für unfehlbar geltenden Gewissen zu thun hat, daß sie eben nur eine innere Erregung kund macht, die bald durch bloße Schüchternheit, bald durch Liebe, Theilnahme (wenn wir für Andere erröthen), durch Unschulds- oder Schuldbewußtsein, durch Bescheidenheit, Stolz und manche andere Gemüthsbewegungen erweckt werden kann. In allen den unzähligen Fällen aber, in denen der Mensch zu erröthen pflegt, läßt sich ein und derselbe sehr wenig überirdische, sondern vielmehr sehr weltliche Grund als letzte Ursache der inneren Erregung nachweisen, nämlich die Rücksichtsnahme auf unsere Beurtheilung durch Andere. „Was wird die Gesellschaft dazu sagen, daß du dich so furchtbar ungeschickt benimmst?“ heißt die fixe Idee des Schüchternen, die ihn aus der Purpurtinte nicht herauskommen läßt. „Was sollen die Leute dazu sagen, daß du hier so über Gebühr gelobt wirst?“ ist der Gedanke des Bescheidenen, wenn er erröthet. „Was muß dein Nebenmensch von dir denken, daß er dir eine solche Schlechtigkeit nur zutrauen kann?“ lautet der höchst beunruhigende Gedanke des im Gefühle seiner Unschuld Erröthenden. Die geistige Unruhe also, die uns beim unumgänglichen [218] und unwillkürlichen Erwägen der möglichen Gedanken unserer uns zuschauenden Mitmenschen ergreift, nichts Anderes ist der Mittelpunkt der für so geheimnißvoll ausgegebenen Erscheinung. Und wenn nun für eine Person die ganze Welt sich in einer einzigen andern zusammenfaßt und personificirt, so ist es deren Gegenwart und die mit ihr wachgerufene Frage, ob wir auch ihre Billigung finden, die uns bis zur stärksten Rothgluth einheizt. Darum erglühen wir am tiefsten vor denen, die wir am höchsten lieben oder verehren, und daher kommt es, daß die Liebeserklärungen meist unter so lebhaftem Farbebekennen vor sich gehen, und daß der übermüthige, aber von Herzen gute Junge über denselben Streich, mit dem er sich eben noch gegen Seinesgleichen rühmte, vor seinem Vater oder Erzieher tief erröthet.

Darwin, dessen tiefdurchdachte Auffassung uns hier zur allgemeinen Richtschnur dient, hat den Nachweis erbracht, daß das Schamgefühl sich bei allen Menschenracen durch das Erröthen und seine Begleiterscheinungen äußert, daß selbst den Negern, Kaffern und andern dunkelhäutigen Menschen, bei denen man wenig davon merken kann, bei gegebener Veranlassung das Blut in die Wangen schießt, ebenso wie eine wohlerzogene Europäerin auch im Dunkeln erröthet, obwohl in beiden Fällen der vorgebliche Zweck des verrätherischen Blutstroms verloren geht. Bei solchen Negern, die Wundnarben, welche in der Regel lange hell bleiben, auf den Wangen haben, kann man die Spur des Blutstroms, der sonst nur ein wenig Nachdunkelung hervorbringt, an ihrem Rothwerden leicht erkennen. Bei hellfarbigen Racen wird das Erröthen dadurch gesteigert, daß es sich leichter verräth, und der Wunsch, seine innere Erregung zu verbergen, nur die Verwirrung und ihre Wappenfarbe zu erhöhen geeignet ist, eine Steigerung, die nicht so leicht eintreten wird bei Personen, deren von Natur dunklere Gesichtsfarbe eine leichte Erregung maskiren kann. Im Uebrigen hängt die Empfindlichkeit des Schamgefühls natürlich von dem Grade der angeborenen oder anerzogenen Feinfühligkeit ab, und während die eine Person nur ganz leicht rosenfarben angehaucht erscheint, sinkt die Andere bei derselben Veranlassung bis über die Ohren in Päoniengluth; während die meisten Menschen nur bis zum Halse, viele bis zur Brust erröthen, spricht man von Anderen, die vom Wirbel bis zur Zehe roth werden. Aerzte haben einzelne Personen angetroffen, die in diesem Punkte so empfindlich waren, daß die Röthe sich auf jeden Körpertheil verbreitete, den sie behufs der Untersuchung entblößen mußten. Wir dürfen wohl schließen, daß die übliche Beschränkung der Röthe auf die von der Mode unverhüllt gezeigten Theile der menschlichen Büste eben durch den Umstand, daß sie die innere Erregung allein nach außen spiegeln können, hervorgebracht worden ist, wie sich das Brennen in unseren Wangen durch den Gedanken, es zur Schau zu tragen, vermehrt und am ersten nachläßt, wenn das Antlitz hinter dem Fächer, den Händen oder einem Taschentuche Schutz finden kann.

Denen, welche sich scheuen, eine Rose zu zerpflücken, um ihren Bau kennen zu lernen, wird es wohl sehr schamlos erscheinen, der körperlichen Natur und Entstehung einer so poesievollen Erscheinung, wie es dieser Rosenschmuck der aufblühenden Jugend ist, nachzuspüren. Wir müßten eine solche Scheu indessen, wo sie hervorträte, in das Gebiet der falschen Scham oder Prüderie verweisen, welches freilich ungleich ausgedehnter ist, als das der wahren und berechtigten. Wenn wir zuerst Umschau halten im Thierreiche, so findet sich, daß das Vermögen, die Farbe zu wechseln, kein Vorzug des Menschen vor den Thieren ist; wenn es den Säugethieren beinahe fehlt, ist es in desto größerer Ausdehnung den riesenhaften Seepolypen oder Kraken, vielen Fischen und in besonders ausgezeichnetem Grade dem Chamäleon verliehen. Bei den meisten dieser Thiere scheint das Farbenspiel der Haut sowohl dem Ausdrucke der Stimmung wie auch als eine Kriegslist zu dienen, um dadurch, daß sie die Farbe ihrer Umgebung annehmen, den Nachstellungen ihrer Feinde besser entgehen zu können. Wie sehr der Eindruck der Umgebung die Farbe der Fische beeinflußt, hat G. Pouchet kürzlich nachgewiesen, indem er zeigte, daß Fische, die man blendet, unter allen Umständen eine dunklere Färbung annehmen, als sie vorher zeigten, als wollten sie die Trauerfarbe, in welche die Natur sich für sie kleidet, wiederspiegeln. Das Farbenspiel der sterbenden Meerbarbe war ein Schaustück, welches einer wohlbesetzten römischen Schwelgertafel nicht fehlen durfte. Wenn es sich in diesen Fällen meistens um die Füllung besonderer verästelter Hautgefäße mit einem eigenthümlichen flüssigen Farbstoffe, der beim Zusammenziehen derselben zurücktritt, handelt, so bringt bei den Säugethieren das Blut ähnliche Erscheinungen hervor, indem es die feinen Haargefäße (Capillaren) der Oberhaut beim Erröthen anschwellt, beim Erblassen verläßt. An dem haarlosen Gesichte des Affen läßt sich leicht erkennen, daß es in der Leidenschaft sich ebensowohl röthet, wie das eines zornigen Menschen, aber daß es niemals von dem edeln Roth der Scham besucht wird, ist bei der bekannten Schamlosigkeit dieser Bestien nur zu natürlich.

Allein weshalb sollten wir sie tadeln für einen Mangel, der uns an unseren eigenen Kindern so über alle Beschreibung hold und reizend erscheint, wegen jener Unbefangenheit, die uns den Beweis liefert, daß das Schamgefühl hauptsächlich nur ein Erzeugniß der Erziehung des Menschengeschlechts, und zwar sowohl der persönlichen, wie der allgemeinen im Laufe der Jahrtausende ist. Wer hätte nicht in seinem Leben die Unbefangenheit und Unschuld kleiner Kinder bewundert und beneidet, wie sie, ohne mit der Wimper zu zucken, Jedem unverwandt in’s Auge blicken und sich auch in der allervornehmsten Gesellschaft niemals wohler fühlen, als wenn sie die letzte Hülle von sich geworfen. Wir erhalten hier den vollsten Beweis, daß das Schamgefühl nichts unmittelbar in der Natur Gegebenes ist, und die schönste Rechtfertigung, welche der Dichter der gedankenreichen biblischen Erkenntnißmythe irgend verlangen kann. Erst mit dem zweiten Lebensjahre etwa, nachdem die Erziehung ihr Werk begonnen und die Mahnung „Was sollen die Menschen von Dir denken?“ unaufhörlich vor dem Ohre des Kindes wiederhallt – und, setzen wir hinzu, nicht wohl entbehrt werden kann –, entwickelt sich auch die Fähigkeit des Erröthens in einem oft so bedenklichen Grade, daß spätere Selbsterziehung ihre Noth hat das Uebermaß, die allzu peinliche, auf Kleinlichkeiten ausgedehnte Rücksichtnahme auf unsere Mitmenschen wieder einzuschränken. Im Uebrigen kann ein äußerstes Zartgefühl in Bezug auf den Nächsten, wie alle anderen Gemüthsanlagen, leicht vererbt werden, und ein solches „Erbtheil des Blutes“ mag dann viel schwerer, als eine „alberne Angewohnheit“, auf ein erträgliches Maß zurückführbar sein. In solchen Fällen hat die Erziehung die ernste Pflicht, zu mäßigen, da ein Uebermaß auch hier sehr lästig und hinderlich werden kann. Dem starken Geschlechte gelingt es in der Regel in einem viel höhern Grade als dem zarteren, sich über das Urtheil seines lieben Nächsten hinwegzusetzen und nicht mehr über jeden Hühnerdreck zu erröthen. Dieses Beherrschenkönnen seiner innersten Empfindungen ist nicht immer eine Tugend, aber stets ein Gewinn für’s praktische Leben, wenn wir auch jene Stufe, die über nichts erröthet, in den meisten Fällen als einen traurigen Gewinn bezeichnen müßten. Der Volksmund nennt solche Menschen „abgebrüht“, als wäre die Schamröthe eine Anstrichfarbe, die sich ein- für allemal durch kochendes Wasser entfernen läßt. Auch hier ist die Mitte das Richtige, aber ein Zuviel besser als ein Zuwenig. Nicht nur von der Wange des Jünglings fordern wir mit Anakreon: „Und sieh zu, daß sie das edle – Roth der Scham erkennen lasse!“ auch einem Männerantlitze steht eine wohlangebrachte Gesichtsröthe zu Zeiten vorzüglich.

In dem erwähnten Seelenzustande, der mitunter einer Geistesabwesenheit gleicht, haben wir offenbar den eigentlichen Mittelpunkt der ganzen Erscheinung zu suchen. Geistige Vorgänge beeinflussen nun bis zu einem solchen Grade die Thätigkeit des Herzens, daß man den Leidenschaften, wie der Liebe und dem Hasse geradezu diesen Hohlmuskel als Wohnung zugewiesen hat. Der Muth und die Sehnsucht schwellen das Herz; Angst und Erwartung lassen es heftiger pochen; Furcht preßt es zusammen, und Entsetzen bringt das Blut zum Starren. Da nun die das Herz, den Verdauungsapparat und andere innere Organe bewegende Nervenkraft nicht dem Gehirne und seiner Rückenmarksfortsetzung entstammt, vielmehr von besonderen Kraftmagazinen des sogenannten sympathischen Nervengeflechtes ausgeht, so können wir den Herzschlag, die Verdauungsbewegungen etc. nicht willkürlich beeinflussen, und sie dauern auch nach einer Enthauptung, namentlich bei niederen Thieren, noch Stunden lang fort. Es besteht also hierin nur ein mittelbarer Zusammenhang, der sich [219] auf eine Regelung jener Lebensthätigkeiten vermittelst des aus dem Gehirne entspringenden, umherschweifenden Nerven (Vagusbündel) beschränkt. Dieser Vagabundus unter den Nerven spielt eine Art Oberaufseher im Körper; er treibt an, wo seinem Gefühle nach nicht genug gethan wird, und mäßigt, wo man zu viel thut. Während er nun in der Erwartung oder Furcht möglicher Weise direct den Herzschlag beschleunigt oder verlangsamt, verliert, wie man bemerkt zu haben glaubt, der Herr Oberaufseher in der Verwirrung, welche unsere emsige Beschäftigung mit den Gedanken Anderer im Oberstübchen anrichtet, gleichsam den Kopf und vernachlässigt seine Pflicht, ja verführt obendrein die Nerven, welche die haarförmigen Blutgefäße der Haut (Capillaren) im Zaume halten, seinem Beispiele zu folgen. Das Herz pocht deshalb, so lange eben die Verlegenheit andauert, ungezügelt darauf los und füllt die durch nichts mehr beengten Haargefäße der Wangen überreichlich mit Blut; die Lungen beeilen sich, in gleichen Schritt zu kommen, kurz, der Körper benutzt den Augenblick, wo der Geist „außerm Häuschen“ ist, zu einer kleinen Revolte.

Auf diese interessanten Vorgänge ist ein merkwürdiges Licht geworfen worden durch das Studium der Wirkungen des Amylnitrits, eines neuen, bei Migräne und anderen Nervenleiden angewendeten Arzneimittels. Es ist dies eine schwachgelbliche, durchdringend obstartig riechende Flüssigkeit, welche, beiläufig bemerkt, aus dem Kartoffelfuselöle, dem Abfalle der Spiritusbrennereien, durch Behandlung mit Salpetersäure erzeugt wird. Schon im Jahre 1859 hatte ein Selbstbeobachter (Guthrie) die Bemerkung gemacht, daß das Einathmen sehr geringer Mengen dieser Aetherart das Antlitz in Purpurgluth taucht und die Zahl der Herzschläge verdoppelt. Darwin wies sodann in seinem Buche über den Ausdruck der Gemüthsbewegungen (1872) auf den sonderbaren Umstand hin, daß dieser Blutrausch mancherlei Aehnlichkeit mit der natürlichen Beschämung bietet, daß sich unter Anderm die künstliche Röthe nur ausnahmsweise über die Grenzen der natürlichen ausbreite etc. Schließlich hat Dr. Filehne (1874) durch eine Reihe von Untersuchungen nachgewiesen, daß der durch Amylnitrit erzeugte Zustand sich körperlich gar nicht von einer rechtschaffenen Scham unterscheidet. Die Purpurgluth der Büste, das glänzende Auge, die geistige Verwirrung, das hastige Athmen und starke Herzklopfen, Alles stellt sich ein. Sogar der halberloschene Herzschlag eines übermäßig Chloroformirten läßt sich, wie ein Londoner Arzt kürzlich entdeckt hat, durch das Einathmen von Amylnitrit neu beleben, sodaß dasselbe als wichtiges Gegenmittel bei Chloroformvergiftungen erkannt worden ist.

Es ist gewiß eine höchst überraschende Erscheinung, daß das Einathmen eines aromatischen Dunstes sämmtliche Aeußerungen einer anscheinend sehr zusammengesetzten Gemüthsbewegung hervorrufen kann. Und dieser Einwirkung vermag sich nicht einmal derjenige zu entziehen, welcher sich das Schämen längst gänzlich abgewöhnt hat; drei Tropfen eines Parfüms, auf einem Taschentuche unter die Nase gehalten, bringen nach wenigen Secunden den abgebrühtesten Schuft, den abgehärtetsten Sünder und hartgesottenen Gründer dahin, zu erröthen und in Verwirrung zu gerathen, wie ein sechszehnjähriger Backfisch. Vielleicht läßt sich von diesem Mittel auf der Bühne Nutzen ziehen, wo mitunter Jemand erröthen soll und es doch ebenso wenig vermag, wie Immermann’s „Münchhausen“, der stets ergrünte, oder wie jene Unglücklichen Jean Paul’s, die nur eine einzige Thräne zum Besten geben sollten, um lachende Erben zu werden. Der angehende Heirathscandidat aber, der bisher so großen Werth auf das züchtige Erröthen seiner Auserwählten legte, muß künftig, wenn er von einem purpurnen Antlitze begrüßt wird, oder ein solches hinter dem Spitzentaschentuche verschwinden sieht, aufmerken, ob sich nicht vielleicht gleichzeitig ein Duft nach Bergamottbirnen im Zimmer verbreitet.

Das Erröthen schamloser oder blödsinniger Menschen, die sonst nie erröthen, unter dem Einflusse des Amylnitrits mußte darauf führen, es auch bei Thieren zu versuchen und in der That, sie errötheten wie ein Mensch. Hier konnte nun auch festgestellt werden, daß dabei nicht etwa die genannten gefäßbewegenden Nerven vorübergehend gelähmt werden, sondern daß die Arbeitseinstellung im Bureau derselben, im Gehirne, stattfindet. Man fand also, daß, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Mechanik oder Claviatur des Vorganges schon unter den höheren Thieren gegeben ist, und daß es hier offenbar nur an dem eingeschulten Spieler, einer feinfühlig entwickelten Psyche fehlt, um das verführerische Farbenspiel anzustimmen. Jedenfalls muß die Verbindung des bewegenden Theiles der gefäßregulirenden Nerven mit dem Denkorgane eine sehr innige sein, da sie so überaus leicht, und selbst bei verhältnißmäßig rohen Völkern in Mitleidenschaft gezogen werden. Es wäre eine anziehende Aufgabe, sich auszumalen, wie diese zarte Rücksicht auf die Meinung der Andern, von dem Geselligkeitstriebe geweckt, allmählich aus schwachen Anfängen durch immerwährende Wiederholung und Steigerung endlich zu jener hochgradigen Sensibilität entwickelt worden ist, deren auf- und abwogendes Spiel unserem geselligen Verkehre beständig neue Reize und Vorzüge zuführt.

Carus Sterne.