Die Gartenlaube (1884)/Heft 22
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No. 22. | 1884. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
(Fortsetzung.)
Es war Januar geworden. Im Erdgeschoß eines behaglichen Häuschens unweit von Capodimonte saß Emmanuele Nacosta am geöffneten Fenster und blickte hinaus in den Vorgarten, wo die grün-weißen Stämme halbwüchsiger Feigenbäume zwischen dem satten Grün der Citronen hervorschimmerten. Der Frühling schien diesmal vor der Zeit seinen Einzug zu halten; die Wahrheit zu reden, hatte er gar nicht aufgehört. Seit Menschengedenken war der napoletanische Winter nicht so mild, so sturmlos und sonnig gewesen, und jetzt blühten bereits die blauen Sternblumen und die feurigen Anemonen, wie sonst zu Ende des Februar.
Emmanuele Nacosta war für die glückliche Festnahme Salvatore’s glänzend belohnt worden. Nicht allein, daß man höheren Ortes plötzlich erkannte, welch ein Genie des Polizei-Dienstes in dem glattgebürsteten Rocke des ehemaligen römischen Steuerbeamten steckte – eine Erkenntniß, die ihm bei dem königlichen Polizei- General des Nordviertels einen wohlbesoldeten Posten eintrug –: auch die übliche Prämie für die Ergreifung gefährlicher Missethäter war ihm ausgezahlt worden, und überdies hatte sich Monsignore De Fabris persönlich dankbar erwiesen. Mit der väterlichen Vermahnung, auch künftighin über die Sicherheit des Staates zu wachen, hatte er seinem thatkräftigen Beschützer ein Geschenk von tausend Goldgulden baar übermitteln lassen.
Es war nun allerdings herb, daß Marsucci die volle Hälfte der Prämie, und von dem Privatgeschenke des Cardinals ein Drittel für sich begehrte: immerhin blieb noch mehr als genug, um die Familie Nacosta dauernd gegen alle Entbehrungen sicher zu stellen und ihr den Aufenthalt in einem so reizenden Heim zu gewährleisten, wie das Häuschen an der Höhe von Capodimonte.
Crispina hatte mit der ungestümen Beweglichkeit der römischen Kleinbürgerin sofort das nöthige Mobiliar angeschafft, und die drei Wohnräume mit den vier blinkenden Frontfenstern in dem grellen Geschmack von Trastevere decoriren lassen. Auf den Steinfliesen lagen sauber geflochtne Matten; im Hauptzimmer ein blau und purpurn gewirkter Teppich; die Fenster waren mit Mullgardinen und schweren Wollvorhängen verschattet; es fehlte weder die hohe Schreibcommode mit den übliche Bronzelampen, noch die Madonna von Carlo Dolci mit den Rosmarinzweigen und der ewigen Lampe. Das Töchterchen, bis vor Kurzem in Lumpen gehüllt, glich jetzt einer drolligen Jahrmarktspuppe, und laut krähend spielte es auf der Strohdecke mit einem halbjährigen Pudel, den Crispina, einer alten Vorliebe fröhnend, am Toledo gekauft hatte. Die Frau selbst bekundete eine geräuschvolle Lustigkeit. Mit ihrer durchdringenden Stimme sang und trällerte sie von früh bis spät; zuweilen tollte sie mit dem Kinde und dem Pudel Pomponio über die Matten, wie ein ausgelassener Schulknabe, und lachte, daß die Scheiben erklirrten.
Trotz dieser Neugestaltung seiner Verhältnisse ward Nacosta von Tag zu Tag trübseliger. Der Mann, der nach der Confrontation mit Salvatore förmlich berauscht gewesen von der Leichtigkeit des Gelingens, der so stürmisch gejubelt hatte, als er die goldne Ernte für seine ruchlose That einheimste – er fand jetzt im Vollbesitz des Erworbenen nicht mehr die Fähigkeit des Genusses, und je näher der letzte Moment heranrückte, der den Frevel besiegeln sollte, um so schwerer und dumpfer lag es ihm auf der Seele.
Heute, in den Nachmittagsstunden, fand die Sitzung des Tribunals statt, in welcher endgültig über das Schicksal des Apuliers Beschluß gefaßt werden sollte.
So wenig von den Verhandlungen des Processes in das Publicum drang, so vollkommen war Emmanuele des schließlichen Ausgangs gewiß.
Noch einmal war er vernommen worden – und schon die Art der Fragestellung belehrte ihn, daß Alles sich so entwickelte, wie er vorausgesetzt. Salvatore war voll unglaublicher Standhaftigkeit; er ließ sich durchaus nicht irre machen; er glaubte fest an die Ehrlichkeit seines Mitverschworenen und die Zusage des vermeintlichen Cardinals.
Zu allem Ueberfluß war Emmanuele auf ein Mittel verfallen, den Verhafteten noch einmal unter vier Augen sprechen zu können.
Das Beispiel der Henker anrufend, die den Verurtheilten um Verzeihung bitten, wußte er, auf die Fürsprache eines Priesters gestützt, Zutritt in’s Verließ zu erlangen, unter dem Vorwand, daß es ihn dränge, den Verbrecher vor der Hinrichtung, die ja zweifellos sei, zu versöhnen, damit Salvatore nicht etwa mit einem Fluche wider den Mann, der ihn festgenommen, in’s Jenseits hinübergehe.
In Wahrheit jedoch galt es dem schlauen Frevler, der Entschlossenheit des Apuliers, die doch in’s Wanken gerathen konnte,
[358] wenn das Furchtbare nun immer näher an ihn heran trat, neue Nahrung zu geben, ihm zuzuraunen, daß er ja seine Rolle bis zum letzten Augenblick durchführe und sich durch Nichts, weder durch den feierllch-furchtbaren Eindruck des Verdicts, noch durch die Hinausführung auf die Richtstätte, verblüffen und abschrecken lasse.
Der Cardinal – so hatte Nacosta seine Predigt geendet – habe ihm heilig versprochen, das Begnadigungsdecret des Königs durch seinen zuverlässigsten Schreiber nach dem Richtplatze zu schicken; man werde dann allerdings den Verurtheilten noch im Gewahrsam halten, da, wie begreiflich, der Cardinal die Maske so bald noch nicht könne fallen lassen; ehe aber der Monat vergehe, solle für eine Gelegenheit des Entkommens gesorgt werden, bis dann späterhin eine nicht allzu ferne Zukunft die Sache aufklären und Alles in Wohlgefallen verwandeln würde.
Salvatore glaubte ihm um so lieber, als Nacosta schon die Thatsache seines Besuchs als einen Beweis für den Eifer ausgab, mit welchem der Cardinal über der ganzen Angelegenheit seine leitende Hand halte. Nur durch den directen Eingriff Seiner Eminenz sei dieser Besuch überhaupt möglich gewesen.
Dieser unausgesetzte Erfolg hatte den Polizisten anfangs mit einer teuflischen Freude erfüllt. – Dann aber, mit einem Male, und ohne sichtbare Ursache, war seine Stimmung herabgesunken, und jetzt fühlte er inmitten seiner behaglichen Häuslichkeit unablässig eine verborgene Pein, dumpfer bald, und bald erregender, wilder, brennender.
„Was stöhnst Du nur wieder?“ fragte Crispina, die, ihr Töchterchen auf dem Arme, näher kam. „Man sollte glauben, es thäte Dir leid, daß wir die grauenhafte Spelunke in der Via di Balbo verlassen haben und hier endlich wieder ein Dasein führen, wie Du mir’s ausgemalt, als Du mich nach Livorno schlepptest! Weißt Du“ – fügte sie leiser hinzu – „daß es Verdacht erregt, wenn Du so albern den Kopf hängst? Man beobachtet uns. Drüben das alte, garstige Weib in der Mansarde lauert den ganzen Tag hinter den Scheiben, und wenn sie grinst, so mein’ ich, sie brächte uns Unglück. Daß sie den bösen Blick hat, sagst Du ja selbst, und Leute von dieser Art sehn durch die Wände. Sei doch vernünftig, Emmanuele!“
Er gab keine Antwort.
Die junge Frau trat in das Zimmer zurück, setzte das Kind vorsichtig auf den Fußboden und kam dann wieder zu Emmanuele heran. Sie umarmte ihn zärtlich und legte ihren üppigen Mund ganz dicht an sein Ohr.
„Siehst Du,“ flüsterte sie, „ich kann Dir nicht sagen, wie ich aufathme, seit wir die Tage des Elends hinter uns haben! Willst Du mir’s nun wieder vergällen? Die Woche noch – dann ist Alles vorüber! – Der Hausnarr, der ja unschuldig ist, geht in die Freuden des Paradieses ein . . . Wie Du ihn schilderst, hätte er so wie so auf dieser Erde kein Glück gefunden! Nun, und dann ist ja die letzte Möglichkeit einer Entdeckung zu Grabe gegangen. Marsucci verräth uns nicht, und die verliebte Person da auf Capri wird auch schon begreifen, daß sie mit ihrem nachträglichen Lamento den Todten nicht wieder lebendig macht!“
„Das schon! Aber die Rache!“ murmelte Emmanuele. „Diese Capresen sind heißblütig, wie die Leute von Corsica. Wenn sie nun plötzlich aufträte . . .“
„Um als Mitwisserin Salvatore’s in den Kerker zu wandern? Sie wird sich hüten! Zudem – was weiß sie denn? Daß ihr Verlobter mit einem gewissen Carlo Grisi eine Geschichte geplant hat, die fehlschlug! Von Emmanuele Nacosta ist niemals die Rede gewesen! Ich bitte Dich, die Sache ist doch so einfach!“
„Aber das Frauenzimmer hat doch inzwischen erfahren, daß der Mann, der den Apulier ergriffen hat, nicht Carlo Grisi, sondern Emmanuele Nacosta heißt.“
„Was schadet das? Vorläufig glaubt sie also meinetwegen, der Carlo Grisi und der Emmanuele Nacosta seien eine und dieselbe Person; schließlich aber wird sie auf die Idee kommen, der Plan mit Carlo Grisi habe Schiffbruch gelitten, und Salvatore sei von Emmanuele Nacosta ertappt worden, ehe noch Carlo Grisi wie verabredet herzuspringen konnte. Dann hält sie das Ganze für ein Unglück, an dem Nichts zu ändern ist, weint ihrem Thoren von Bräutigam ein paar Thränen nach und heirathet ein Jahr darauf einen Andern.“
„Ja, ja,“ murmelte Emmanuele . . . „Dennoch – ich komm’ nicht darüber hinaus! Hätte ich mir’s von Anfang so vorgestellt . . .! Es ist und bleibt schauerlich!“
„Nun, so geh’ doch und klage Dich an!“ sagte Crispina. „Die Welt verliert Nichts dabei, und ich für mein Theil finde den Weg durch’s Leben auch ohne Dich.“
„O ja, das hast Du bewiesen!“ rief Emmanuele emporfahrend.
Die Erinnerung an seine Haft im Bagno zu Civitavecchia, an Crispina’s Treulosigkeit und die verhaßte Gestalt des Marseillers, die dem Apulier so ähnlich sah, durchzuckte ihn wie ein Blitz, und mit erneuter Wuth schüttelte ihn die halb überwundene Eifersucht. Crispina hatte gesiegt; der letzte menschlich-milde Gedanke Emmanuele’s ging unter im Getümmel der erwachenden Leidenschaft. Dieser Gedanke war der gewesen: Emmanuele wollte sich mit der Ernte begnügen, die er bereits in’s Trockne gebracht; er wollte Neapel und den Boden Italiens verlassen, und von auswärts, wo die königlichen Behörden ihm Nichts anhaben konnten, durch eine Zuschrift an Monsignore De Fabris das ganze Lügengewebe zerreißen, um so den Apulier vom Tode zu retten. Jetzt war das Alles dahin, wie zerflatterndes Rauchgewölke. Hatte er, Emmanuele, so Schweres erduldet, so verschmähte er auch das Mitleid mit Andern! Niemals war ihm Crispina so blühend, so begehrenswerth erschienen, als jetzt – und nie glaubte er sich vollkommener berechtigt, beim Aufwärtsschreiten nach dem Ziel, das ihm vorschwebte, den Apulier – und wen immer sonst – unter die Füße zu treten.
Trotz dieser Gemüthsverfassung überrieselte es ihn eiskalt, als gegen Abend, in den dichtesten Mantel gehüllt, Marsucci über die Schwelle trat.
„Nun?“ fragte Crispina, die eben ihr Töchterchen zur Ruhe gebracht hatte und jetzt funkelnden Auges zu Marsucci emporsah.
Der Gehülfe des Scharfrichters nickte, wie ein behäbiger Kaufherr, der ein gutes Geschäft gemacht hat.
„Alles in Ordnung,“ sagte er kaltblütig.
Emmanuele war starr. Er hatte sich bis zu dieser Minute für den vorurtheilslosesten und dreistesten Egoisten unter der Sonne gehalten: jetzt aber sah er ein, daß es Menschen gab, denen die Missethat so naturgemäß ist, wie das Leben und Athmen. Das anfängliche Zögern Marsucci’s, – damals vor dem Kaffeehause der Strada del Gigante, als Nacosta ihm zuerst von dem Projecte geredet – war also offenbar nur Vorsicht und Verstellung gewesen.
Auch Crispina klatschte mit einem bestialischen Lachen in die rundlichen Hände, erst dann ihre Ausbrüche mäßigend, als ihr Blick auf das verstörte Antlitz Emmanuele’s fiel.
Nun warf sie sich zärtlich an seine Brust, streichelte, küßte ihn und verscheuchte ihm so auf’s Neue die erwachende Qualempfindung.
Während der Viertelstunde, die Marsucci bei dem Ehepaare verbrachte, hielt sich Emmanuele schweigend und zuwartend. Crispina dagegen und der Gehülfe des Nachrichters tauschten unaufhörlich geflüsterte Reden aus, – so leise und hastig, daß Emmanuele sich vorbeugen mußte, um einigermaßen folgen zu können.
„Also verurtheilt?“ fragte Crispina. „Ohne Weiteres? Keinerlei Abmilderung?“
„Verurtheilt,“ wiederholte Marsucci, „so blank und voll, wie je ein Räuber des Monte Sant’ Angelo. Einen von den Carabinieri, die ihn bei der letzten Verhandlung vorgeführt haben, kenn’ ich von Rom aus. So fragt’ ich ihn beiläufig, ob wir Arbeit bekämen, wir –: nämlich mein Chef und ich und der Andre. ‚Leider!‘ – sagte der Mensch; denn er meinte, um einen so hübschen Kerl wie den Salvatore Padovanino sei’s schade; der hätte als Carabiniere eine Figur gemacht, wie kaum er selbst; – und das wolle doch viel sagen.“
„Und wie benahm er sich bei der Sache?“
„Wer? Der Apulier? Nun, der hielt sich wie all’ die Zeit über! Was sollt’ er auch machen? Hat er A gesagt, muß er auch B sagen! Uebrigens wißt Ihr ja von Eurem Gemahl, wie fest der Bursche davon durchdrungen ist, daß Monsignore De Fabris über ihm wacht und zur rechten Zeit in das Trauerspiel eingreifen wird.“
„Unglaublich!“ meinte Crispina.
„Der Mensch ist eigentlich glücklich,“ fuhr der Gehülfe des Scharfrichlers fort. „Bis zum letzten Moment lebt er in dem [359] rosigen Wahn, für sich und das Wohl der Regierung etwas Kolossales zu leisten – und zur Erkenntniß vom Gegentheil kommt er ja überhaupt nicht. Das Alles geht eins, zwei, drei, – und dann spricht der Pfaffe ein Paternoster.“
„Wenn ihm nur die frappante Aehnlichkeit zwischen dem vermeintlichen Cardinal und Herrn Marsucci nicht auffällt! Oder habt Ihr die Möglichkeit, Euch für diesmal den Obliegenheiten Eures Berufs zu entziehen?“
„Das nicht, Signora. Gleichwohl ist Nichts zu befürchten. Mein Bart ist inzwischen tüchtig gewachsen, und mein Costüm thut das Uebrige. Auch wird der Apulier trotz seiner Zuversicht ein bischen aufgeregt sein, – das begreift sich ja – und in solcher Verfassung hat man wenig Talent zum Beobachten.“
„Ich für mein Theil, ich würde Euch erkennen, Marsucci!“
„Ja, Ihr! Die Weiber sind wie die Schlangen! Der aber – der sieht wohl, daß eine Wolke, die droben im Aether segelt, wie ein Adler gestaltet ist oder wie ein Gesicht – aber das Nächste – was ihm dicht unter die Augen tritt – das existirt für ihn nicht! Nun, und wenn auch, so wird er höchstens auf den Gedanken kommen, für den Gehülfen des Scharfrichters sei es anßerordentlich schmeichelhaft, mit Seiner Eminenz das gleiche Profil zu haben. Wie gesagt, Ihr glaubt nicht, Signora, wie bornirt diese Virtuosen der Phantasie in Fragen des alltäglichen Lebens sind! Na, alltäglich ist die Sache ja eigentlich nicht – aber ich meine nur . . . Und wenn ich auch hierin mich täuschte, so ist Eines doch zweifellos: der Signore di Napoli wird ihm nicht lange Zeit lassen, sein Staunen in Worte zu kleiden.“
Es entstand eine Pause. Dann fragte Crispina zögernd:
„Und wann . . .?“
„Sobald das Urtheil rechtskräftig wird. Das dauert noch eine Weile – länger vielleicht als uns lieb ist.“
„Wie so?“
„Nun, der Cesari, der ihn vertheidigt hat, ist ein zäher Geselle, – doppelt zähe vielleicht, weil die Regierung aus Anlaß des Attentats die ‚Freiheitsfreunde‘ vielfach gemaßregelt hat. Ihr wißt doch –“
„Ja, ja, ich weiß! Aber was hat das mit dem Proceß zu thun?“
„Nichts, nichts! Ich meinte nur, ein Bär, den man reizt – Ihr kennt ja das alte Sprüchwort. Der Signore Cesari wird Alles aufbieten, um die Sache hinauszuziehn. Ich verstand nicht recht, was der Carabiniere mir vorschwatzte. Es scheint, daß es noch Rechtsmittel giebt. Helfen wird’s ihm freilich so wenig, wie alles Andre, was er bis jetzt in’s Feld geführt hat. Einiges davon stand ja in der Gazzetta. Er behauptet, Salvatore sei nicht klar bei Vernunft; seine Aussage enthalte eine Reihe von Widersprüchen – nun, Ihr habt es wohl gelesen. Dann aber soll auch bei den Verhandlungen irgend ein Fehler mit untergelaufen sein, der eine Handhabe bietet – natürlich nur zum Verschleppen, nicht etwa zur Aenderung des Urtheils. Ich betone das nur, damit Ihr nicht staunt, wenn’s vielleicht ein paar Wochen noch dauert. Uebrigens – merkwürdig, woher dieser Cesari den Muth nimmt, so mit den Herren vom Tribunale Fangball zu spielen, während er selbst doch scharf an der Kante steht – Ihr wißt, von wegen der königlichen Edicte! Vier oder fünf seiner Gesinnungsgenossen hat die Regierung dieser Tage erst über die Grenze geschickt! Es scheint jedoch, daß er Verbindungen hat bis hinauf ... Sonst wäre es rein unbegreiflich, wie es ihm gestattet wird, bei jedem Anlaß über die Schnur zu schlagen.“
„Der verwünschte Geselle!“ platzte Crispina heraus. „Was er nur will, der Laffe! Wenn der Apulier sich bei dem Urtheil zufrieden giebt – und das wird er doch wohl –“
„Gewiß! Der Apulier hat sofort Ja und Amen gesagt. Cesari jedoch, als Vertheidiger, legt Protest ein – und da er nicht von Salvatore gewählt, sondern durch das Loos ihm bestimmt wurde, so hat er ein Recht hierzu. Auch versichert er ja, der Apulier sei nicht zurechnungsfähig. Nun, er mag sehn, was er anstellt; ausrichten wird er nicht das Geringste, denn der Cardinal selber steckt, wie es heißt, hinter den Richtern, und trägt Kohle zum Feuer. Der heillose Schreck ist dem Monsignore dergestalt in die Glieder gefahren, daß er ein Exempel statuiren will, – und er scheint es eilig zu haben.“
Crispina erhob sich jetzt und trug aus dem Nebenzimmer eine Foglietta mit dunklem Asti herbei. Dann holte sie Gläser und schenkte ein.
„Euer Wohl, Herr Gevatter!“ wandte sie sich zu Marsucci. „Ich hoffe, Ihr tragt es mir nicht nach, wenn ich früher auf Euch gescholten, – und daß ich erschrocken bin, als ich hörte, welch’ verteufelt Geschäft Ihr jetzt treibt. Es liegt uns im Blut – von der Mutter her: aber ich hab’ mir’s nun abgewöhnt, und so find’ ich, daß der Titel ,Signore di Napoli‘ ganz respectabel klingt. Nun, Emmanuele, weshalb trinkst Du nicht mit?“
„Ich kann nicht,“ versetzte Nacosta. „Mir ist die Kehle wie zugeschnürt.“
„Narr! Versuch’s nur! Das klärt Dir das dumpfige Blut! Du lebst zu üppig, Emmanuele! Wahrhaftig, manchmal bedünkt’s mich, als setztest Du Fett an! Komm! Auf Einen Zug!“
So suchte sie ihn mit hereinzuziehn in die Stimmung, die den Gehülfen des Scharfrichters und sie selbst mit so naiver Schamlosigkeit beherrschte. Emmanuele trank. Sie füllte sein Glas von Neuem. Er leerte es abermals – dann aber schien ihm zu grauen vor dem teuflischen Gelächter, das Crispina beim Anblick seiner Fügsamkeit aufschlug. Die Schultern hoch ziehend lehnte er sich in den Sessel zurück und schloß mit einem tiefen, peinvollen Seufzer die Augen.
Als Marsucci mit der flotten Crispina die Foglietta geleert hatte, nahm er Abschied.
Emmanuele murmelte ein gepreßtes „Gott sei Dank!“, erhob sich und trat hinaus in den Garten. Crispina folgte ihm und hing sich, wie eine Verliebte, an seinen Arm. So durchwandelten sie, Schulter an Schulter gelehnt, die lauschigen Kieswege. Eine friedvolle Abendstille senkte sich mehr und mehr auf das reizende Fleckchen Erde, das Nichts gemein hatte mit der lauten Unrast Neapels.
Ruhiger und kühler floß Emmanueles erregtes Blut; er vergaß allmählich, was ihn zuletzt wieder bei dem geilen Gelächter des jungen Weibes bestürmt hatte; die beiden Verbrecher feierten eine Idylle inmitten der schauerlichsten Tragikomödie.
Da es zu dunkeln begann, eilte Crispina ins Haus, um das Mahl zu richten. Sie speisten mit vortrefflichem Appetit. Den Abend verbrachten sie im Teatro San Carlo.
Auf die nämliche Weise verstrichen zehn oder zwölf Tage. Emmanuele wechselte zwischen den Anwandlungen einer reuevollen Verzweiflung und der leidenschaftlichsten Hingabe an das Genießen der Gegenwart. Doch schien die Gewohnheit dieses Genießens, das Crispina bei ihrem Gatten geflissentlich nährte, eine wachsende Leichtherzigkeit zu erzeugen, und hiermit die Aussicht, daß die Bedenken und Kümmernisse immer seltner emportauchen würden. – War dies völlig erreicht – dann, ja dann war Emmanuele der Mann, wie Crispina ihn brauchte, der scrupellose Abenteurer aus der Via di Balbo, dem die glänzendste Zukunft bevorstand.
Eines Tages hatten sie wieder die Abendstunden im bunten Gewühl der Toledostraße, in den Kaffee-Häusern und den glanzerfüllten Bazaren verbracht und schritten in rosigster Laune ihrem Capodimonte zu, als Marsucci, wie aus dem Boden gewachsen, breit vor sie hin trat.
Erschreckt prallte Emmanuele zurück, denn in der Person seines Spießgesellen verkörperten sich ihm all’ die Beklommenheiten der letzte Woche.
„Was giebt’s?“ fragte Crispina.
„Geduld, Signors! Hier ist die Straße noch zu belebt.“
Nach drei Minuten erreichte man so den Vico, der nach der Wohnung Nacosta’s führte.
Crispina machte nun Halt und frug, ob Marsucci mitkommen wolle.
„Ich danke Eüch,“ sagte Marsucci. „Was ich zu sagen habe, ist bald auseinandergesetzt. Hört, – und laßt Euch beglückwünschen! Ich weiß mit Bestimmtheit, daß wir am Ziele sind! Ich meine, am letzten Ziel . . . Ihr versteht mich!“
„Endlich!“ sagte Crispina, aus tiefster Brust Athem holend.
„Schon, Frau Gevatterin! Die Sache ist ganz verflucht schnell gegangen! Cesari hat mit allem Gethu’ und Geschreibe Nichts zu Stande gebracht – nicht einmal die Begnadigung oder den Aufschub! Das Todesurtheil, vom Könige unterzeichnet, befindet sich seit gestern bereits in den Händen des Tribunals-Präsidenten.“
„Woher wißt Ihr . . .?“ stammelte Crispina erbebend.
„Woher? Einfach genug. Auf morgen ist die Execution festgesetzt. Ich habe schon Ordre . . .“
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[361] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [362] „Komm!“ raunte Nacosta zähneklappernd. „Man überrascht uns hier noch! Es ist gut, Marsucci! Geht, geht – ich beschwöre Euch!“
Er zog Crispina hinweg.
„Der kriegt vor Freuden das Zipperlein,“ lachte Marsucci. Dann machte er Kehrt.
Emmanuele sprach keine Silbe. Zu Hause angelangt, warf er sich, noch im Ueberrocke, auf’s Bett, und preßte sein Gesicht wider den Arm. Seine Brust schien zu krampfen. Es packte und schüttelte ihn wie ein Fieberanfall.
Staunend hatte Crispina sein Gebahren beobachtet. Eine Weile stand sie mit übergeschlagenen Armen da, als sei sie unschlüssig, ob sie ihm zureden solle. Dann plötzlich trat sie an ihre Kommode, öffnete, nahm vorsichtig Etwas heraus und schloß wieder ab.
In diesem Augenblicke sprang Emmanuele empor.
„Morgen! Morgen!“ schrie er mit geller Stimme. „O, ich wußt’ es im Voraus, es würde mich niederwerfen! Du, Du allein bist schuldig an dieser Erbärmlichkeit! Du und Marsucci!“
„Sprich nicht so laut!“ versetzte Crispina frostig. „Du lügst, Emmanuele! Die ganze Idee ging von Dir aus, nicht von mir, – und den Marsucci hast Du erst später geworben, wie der Apulier Dir Miene machte, aus dem Netze zu schlüpfen. Du, Du bist der Urheber: also laß Dein Gewinsel! Ueberhaupt, was bezweckst Du damit? Du geberdest Dich wie ein schlotterndes Weib, nicht wie ein Mann, der Courage hat und Mark in den Knochen!“
„Crispina,“ versetzte er tonlos, „pack’ zusammen, was Dir von Werth scheint – noch jetzt, noch in dieser Minute! Wir müssen fort! Ich erfuhr heute auf Santa Lucia, daß morgen in aller Frühe ein Schiff nach Malta geht. Dort sind wir in Sicherheit. Für Pässe habe ich längst schon gesorgt. Eh’ wir an Bord steigen, schicke ich einen Beamten des Viertels zum Cardinal und enthülle ihm, was er zu wissen braucht. Kannst Du denn ruhig mitansehn, wie dieses Scheusal, dieser Marsucci, einen Menschen auf’s Brett schnallt, der unschuldig ist wie ein Kind? Ich, Crispina, ich ertrage es nicht! Also vorwärts! Was zögerst Du noch? Pack’ ein, sag’ ich! Hörst Du? Ich unterdessen schreibe den Brief!“
„Elender Feigling!“ raunte die junge Frau, hochroth vor Zorn und Erbitterung. „Einmal hast Du mich zur Närrin gemacht – aber ich schwöre Dir’s: nicht zum zweiten Mal! Hältst Du Dein Wort nicht aus freien Stücken – wohl: so zwinge ich Dich!“
„Du ?“
„Ja, ich! Eh’ ich Dich abreisen lasse, geh’ ich selber zum Polizei-General und zeige Dich an! Mag dann werden, was will! Ich bin’s müde, ewig wie eine Heimathlose von Ort zu Ort zu wandern und nirgends Ruhe zu finden, nur weil mein Gatte ein verächtlicher Tropf ist!“
„Gut!“ stöhnte Emmanuele außer sich. „Geh’, – geh’, Crispina – oder besser: ich gehe selbst!“
So sprechend wollte er nach der Thür.
Crispina vertrat ihm den Weg. In ihrer Rechten blitzte ein Terzerol.
„Wag’ es, Du Memme!“ flüsterte sie mit dämonischem Augenrollen. „Ich zerschmettere Dir das Gehirn, wenn Du nicht augenblicklich einen Eid auf das Kreuz schwörst, daß Du schweigen willst und Dich ruhig verhalten!“
Emmanuele war beim Anblick der gespannten Waffe zurückgeschreckt. Jetzt lachte er höhnisch auf.
„Schieß’ nur zu, Du zwiefache Mörderin!“ ächzte er, einen Schritt vorwärts machend. „Was liegt mir wohl am Leben? Ich erkenn’ es nun, wie verblendet ich war, als ich dem Marseiller das zärtliche Liebchen abjagte! Ohne Dich – wie stünde es anders um mich! Du allein hast mich in den Bagno gebracht mit Deinem verwünschten Hang zum Genuß, mit Deiner blöden Verschwendung und Deiner schmeichlerischen Verlogenheit. Schieß’ doch zu, schöne Crispina! Der Marseiller bleibt Dir ja immer noch – oder ein Andrer!“
Durch den Lärm dieser Scene geweckt, hatte das Kind in seinem Bettchen sich aufgerichtet. Mit großen, ängstlich blickenden Augen starrte es um sich, – bald auf den Vater, bald auf die Mutter, deren wilde Geberde es nicht verstand.
Plötzlich, wie vom Taumel des Wahnsinns erfaßt, richtete Crispina den Lauf ihres Terzerols nach der Stirne der Kleinen.
„Ich drücke los, wenn Du Dich rührst, Du Verräther!“ raunte sie ihrem Gatten zu. Der Ausdruck ihrer verzerrten Züge war fürchterlich. „An Deinem eignen Leben mag Dir wenig gelegen sein, – denn der Feigling ist nicht die Kugel werth, die ihm dem Schädel zerschmettert – aber das Kind –! Hörst Du, Emmanuele? Du hast sie lieb gehabt, die kleine Laurella; sie war Dein Glück und Dein Trost zu einer Zeit, da uns Alles verloren ging! Ich tödte Laurella, und mich darnach, wenn Du noch die leiseste Miene machst, wie ein Schwächling zu handeln!“
Emmanuele sank in die Kniee.
„O Gott, o Gott!“ stammelte er todtenblaß. Er fühlte: dieses Weib war zu Allem fähig.
„Steh’ auf,“ herrschte sie ihn an, „und begieb Dich zur Ruhe! Ich will’s vergessen, was zwischen uns vorgefallen, wenn Du mir beim Leben der Kleinen schwörst, nichts zu beginnen, was ich nicht gutheiße!“
„Das Terzerol!“ stöhnte Nacosta, angstvoll die beiden Arme ausstreckend.
Crispina senkte langsam den Lauf ihrer Waffe.
„Tritt zu Laurella an’s Bett!“ befahl sie. „Leg’ ihr die Hand auf’s Köpfchen und schwöre!“
Emmanuele gehorchte. Nachdem er ihr nachgesprochen, was sie ihm vorsprach, schloß er das Kind, das jetzt laut zu weinen anfing, krampfhaft in seine Arme.
Die Uhr schlug Eins.
Kein Wort mehr wurde zwischen den beiden Ehegatten gewechselt. Während sich Emmanuele entkleidete, goß Crispina frisches Oel auf die Lampe.
„Ich will die Nacht über Licht halten,“ sagte sie halb zu sich selbst. „Mein Schlaf ist leise. Wehe ihm, wenn er versucht, mich zu täuschen!“
Das Terzerol neben sich auf den Stuhl legend, ging sie zu Bett. Unruhig warf sich Emmanuele von einer Seite zur andern. Erst gegen fünf Uhr entschlief er; Crispina jedoch schloß kein Auge.
So schien denn die letzte Möglichkeit, die das Schicksal des unglücklichen Apuliers hätte abwenden können, durch den Willen dieses leidenschaftlichen Weibes vernichtet.
Gegen halb zehn richtete sich Emmanuele wie verstört in den Kissen auf.
„So!“ rief Crispina mit triumphirendem Hohn. „Jetzt thu’, was Du willst! Ehe Du noch den Richtplatz erreichst, hat Marsucci sein Werk schon gethan!“
An dem nämlichen Morgen ward Salvatore Padovanino gegen halb sieben geweckt.
Der Verurtheilte hatte, seitdem das Urtheil verkündet war, dem Tage der Execution mit den Empfindungen des Schülers entgegengesehen, der, des glücklichen Ausgangs gewiß, ein Examen durchmachen soll. – Jetzt aber, als der Gefängnißwärter mit den Schergen des Signore di Napoli die Zelle betrat, überlief’s den Apulier wie von heimlichen Schauern. Sein Stolz bäumte sich auf. Selbst vor den Schranken des Tribunals hatte er sich leichter und freier gefühlt, als im Anblick der beiden Knechte . . .
„Salvatore Padovanino,“ sagte der Aeltere – ein roher, wüster Geselle, der gleichwohl den Eindruck einer gewissen Jovialität machte, „wir kommen, Euch abzuholen. Der Geistliche, der Euch gestern besuchte, wartet einstweilen in der Wohnung des Schließers. Es steht Euch frei, ob Ihr noch einmal, eh’ wir Euch fertig machen, mit dem hochwürdigen Manne allein sein wollt. Es ist Zeit mehr als genug.“
Den Apulier fröstelte. Starr die Augensterne auf den Sprecher gerichtet, fragte er, was das heiße: „Eh’ wir Euch fertig machen“?
„Nun,“ gab ihm der Scherge zur Antwort, „Ihr könnt doch nicht so, wie Ihr da seid – Na, Ihr werdet schon sehen! Also: wollt Ihr den Priester, oder genügt’s Euch, wenn er zuletzt . . .?“
Salvatore machte eine Geberde der Ablehnung. Als gläubiger Katholik hatte er’s schon gestern kaum über’s Herz gebracht, dem Priester, der ihm die Beichte abnahm, den wahren Sachverhalt [363] zu verschleiern. Jetzt nun gar in dieser wachsenden Aufregung – nimmermehr! Die erneute Begegnung hätte ihn zu erneuten Kunstgriffen genöthigt, und er hatte jetzt vollauf zu thun mit der Hauptsache.
Der Kerkermeister legte das Verhalten des Delinquenten als frevelhafte Verstocktheit aus. Mit einem halblauten Fluch auf die ‚Freiheitsfreunde‘ entfernte er sich, während die beiden Knechte Dasjenige bei dem Apulier in Angriff nahmen, was in der Amtssprache des Nachrichters die Toilette genannt wird.
Die Ansteckungswege der Kinderkrankheiten.
Gar manche sorgsame Mutter hat heutzutage von den erwähnten kleinen Pilzen gehört und kennt die Gefahr ihrer Uebertragung von Kind zu Kind. Damit aber, daß sie diese Gefahr erkennt, verdoppelt sie ihre Wachsamkeit. Da mit der Ansteckung nicht auch der Ausbruch der Krankheit zusammenfällt, so wird es im einzelnen Falle oft recht schwer, die Verschleppung nachzuweisen. Der Zeitraum, in welchem bereits das Krankheitsgift im Körper eines Kindes verborgen ist und sich still, ohne merkliche Krankheitszeichen, erst festsetzt und weiter entwickelt, ist bei den einzelnen Krankheiten verschieden, aber man hat doch für ihn bei jeder Krankheit mittlere Zahlen herausgefunden. Bei der Bräune ist das Stadium kaum vierundzwanzig Stunden lang; bei Scharlach und Diphtherie dauert es durchschnittlich fünf, bei Masern und Keuchhusten zehn Tage. Pocken und Windpocken machen sich erst zwei, Typhus erst drei Wochen nach dem Eindringen der betreffenden Krankheitskeime in den Körper bemerkbar. Durch Zurückrechnen dieser Zeitmaße vom ersten Tage des merkbaren Auftretens der Krankheit ab kann man zuweilen den Tag, selbst den Weg der Ansteckung ermitteln – für die Verhütung der Ansteckung des eigenen Kindes ist es zu spät, aber nicht für die Verhütung von Weiterverbreitung durch vielleicht schon angesteckte, aber noch nicht erkrankte Geschwister.
Muß nun jedes Kind erkranken und in gleichem Maße erkranken, wenn es durch eine Einwanderung derartiger Pilzkeime heimgesucht wird? Gewiß nicht; sonst würde nicht in ein und derselben Familie ein Kind leichter und schneller, ein anderes in schwererem Grade nach einiger Verzögerung erkranken, ein drittes ganz verschont bleiben. Wir sehen, daß die Neigung des Körpers sehr verschieden ist, daß sie jedenfalls theils von der Zahl der Krankheitskeime, theils von der Energie abhängt, mit welcher sich der Körper der in ihn eingedringenen Feinde erwehrt, sie abschwächt, ihnwn den nöthigen Nährboden entzieht. Ein schwaches, zartes, wenig widerstandsfähiges, nervös und furchtsam erregtes Kind wird in diesem Kampfe den Kürzeren ziehen, ein kräftiges auch kräftig reagiren. Giebt es doch Kinder, die stets, trotz mannigfacher Gefährdung, manchmal umgeben von Kranken, frei von Ansteckung bleiben, während anderen schon der kürzeste indirecte Verkehr mit Angehörigen erkrankter Spielcameraden die Erkrankung bringt.
Eine praktisch, besonders für die Isolirung der Kranken wichtige Frage ist die, ob eine ansteckende Kinderkrankheit während ihres ganzen Verlaufs gleich leicht übertragbar ist, oder ob in gewissen Zeiten die Weiterverschleppung leichter vor sich geht, als in anderen. Man weiß in dieser Hinsicht nicht viel mehr, als daß wahrscheinlich bei den meisten ansteckenden Kinderkrankheiten die Zeit des fieberhaften Beginns, des sogenannten „Ausbruchs“ der Krankheit, auch die der größten Ansteckungsfähigkeit ist. Das schließt aber nicht aus, daß z. B. bei Masern schon vor dem Ausbruche der Schnupfen ansteckt, daß bei Scharlach schon vor dem Auftreten des Ausschlags eine Uebertragung vorkommt, daß andererseits aber der im Beginne erzeugte Ansteckungsstoff in den inficirten Hautschuppen sich eine bis drei Wochen wirksam erhält.
Dies bringt uns auf das mehr oder weniger lange „Haften“ des Ansteckungsstoffes. Bei manchen Krankheiten, wie Masern, ist er sehr flüchtig, leicht vergänglich und schwindend, nicht so leicht übertragbar. Bei anderen, wie Scharlach und Flecktyphus, haftet er mit großer Zähigkeit, erhält sich hartnäckig wirksam und überträgt sich nach langer Zeit auf Gesunde. Keine Kinderkrankheit gleich[t] darin der andern.
Um einem so gefährlichen Gaste, wie einer Infectionskrankheit, die Eingangspforten in den kindlichen Körper zu verschließen, muß man dieselben kennen und sich die Frage vorlegen: Auf welchem Wege gelangen jene entsetzlichen kleinen Feinde in den Organismus, dem sie nur zu leicht mit ihrer verheerenden Wirkung den Untergang bereiten? Mit größter Wahrscheinlichkeit sind es in den meisten Fällen die Athmungswerkzeuge, also Mund, Nase, Hals, Kehlkopf, Luftröhre und Lunge. In ihrer feuchten, vielfach gebuchteten Schleimhaut setzen sich bei jedem Athemzuge nicht nur zahllose unschuldige Stäubchen aus der umgebenden Luft fest, sondern auch die schädlichen Pilze. Von der Oberfläche oder den vorhandenen Grübchen aus dringen sie durch die feinsten Spalten in die Lymph- und Blutgefäße, um rasch den Gesammtkörper zu durchsetzen. Gar mancher Arzt ist auf diesem Wege von einem kranken Kinde direct angesteckt worden und als Märtyrer seines Berufes gestorben.
Viel seltener mag, im Gegensatze hierzu, die Haut, etwa durch directe Berührung oder Impfung (wie bei Pocken) dem Krankheitserreger Eintritt gestatten. Ein Kuß hat gewiß schon viel häufiger den Tod gebracht, als ein Händedruck. Oft genügt ein flüchtiges Verweilen am Krankenbett zur Ansteckung. Aber auch fernhin wirkt die Ansteckung, von einem Kinde zu einem andern, ohne daß beide direct mit einander in Berührung gekommen. Mittelspersonen, sogenannte Zwischenträger, haben sie, ohne es zu ahnen und ohne selbst zu erkranken, mitgeschleppt. Kein Wunder, wenn man erwägt, daß von der mit Pilzkeimen erfüllten Kranken-Atmosphäre ein Theil in Haaren, Bart und Kleidungsstücken mit fortgetragen wird und daß ein winziges Partikelchen von Auswurf, von Schleim, von Hautschuppen, das Hunderte von Mikrokokken oder Bacillen enthalten kann, unbemerkt mit wandert, um in einem andern Hause den Ausgangspunkt einer neuen Ansteckung zu bilden.
Diese Thatsache muß auch den Trägsten, den Sorglosesten zu viel größerer Vorsicht mahnen, als sie gewöhnlich üblich ist. Schon als Kinder haben wir aus der Fabel gelernt, daß man das Kleine nicht gering schätzen soll, und Goethe hat es uns in der Legende wiederholt mit den Worten:
„Wer geringe Dinge wenig acht’t,
Sich um geringere Mühe macht.“
Suchen wir also, selbst wenn die heimlichen Feinde unserer Kinder für unser Auge unsichtbar sind, den Schleichpfaden, auf denen sich die Krankheitskeime und Ansteckungsstoffe weiter verbreiten, nachzuspüren!
Heutzutage ist es nicht mehr zu verantworten, wen man irgend welche Ausscheidungen und Absonderungen eines scharlachkranken Kindes unbeachtet und undesinficirt läßt, wenn man den Löffel, womit ihm in den Mund gesehen worden war, und der mit Krankheitsproducten bedeckt ist, auf das Bett, auf den Tisch legt, an dem Handtuch oder an einer Schürze abwischt, anstatt sofort in fünfprocentige Carbollösung zu legen und dann sogleich zu reinigen. Es ist nicht zu dulden, daß der Auswurf des an Keuchhusten leidenden Kindes unbeachtet auf dem Fußboden bleibt, daß die Hautschuppen in dem Abtheilungsstadium der Masern mit der Krankenwäsche weiter getragen, Flüssigkeiten aller Art undesinficirt in die Ausgüsse und Kloaken geschüttet werden.
Wer die peinliche Sorgfalt berücksichtigt, mit der wir vor einer größeren Operation unsern Körper, unsere Kleider, das Zimmer, die Instrumente desinficiren, um die Wunde frei von Ansteckungsstoffen zu halten, der kann nur schaudern über die noch herrschende Unkenntniß und Nachlässigkeit in der Desinfection alles dessen, was von dem kranken Kinde herrührt oder mit ihm in Berührung war. Man kann es nicht genug beklagen, daß das Verständniß für die Unschädlichmachung der Ansteckungsstoffe, die Rücksicht auf das Wohl der anderen Hausbewohner und der Nachbarn, oft sehr gering sind, während um das Leben der eigenen Kinder alle Welt [364] in Alarm versetzt wird. Wären Angst und Sorge geringer und die stillschweigende Beachtung der Vorsichtsmaßregeln größer, es wäre für manche Mutter besser und manche Epidemie würde im Keime unterdrückt werden können.
Leicht zu vermeiden ist es freilich nicht, solche winzige Partikelchen aus dem Krankenzimmer zu verschleppen, und es wäre wohl viel besser, wenn die Mutter oder Pflegerin jeden Verkehr mit den gesunden Familienmitgliedern aufgeben, wenn sie sich mit dem Kranken isoliren könnte. In den seltensten Fällen aber dürfte dies durchführbar sein, ebenso wenig wie der Arzt, bei aller Sorgfalt, mit der er sich vor dem Verlassen des Krankenbettes zu desinficiren bemüht ist, dies vollkommen genug thun kann, um nicht selbst zum Träger der Infection Anderer zu werden. Es ist nicht unmöglich, daß der Arzt selbst, während er von Haus zu Haus eilt, um den Leidenden Genesung zu bringen, auch Ansteckungsstoffe mit sich trägt, welche Anderen, ja vielleicht seiner eigenen Familie Verderben drohen.
Aerztliche Besuche sind aber wenigstens eine Nothwendigkeit. Nichtärztliche Krankenbesuche, oft nur der Ausdruck conventioneller Theilnahme, könnten und sollten eingeschränkt werden.
Wie die Menschen, so können auch Thiere Träger der Ansteckung sein. In den Haaren des Hundes oder der Katze, in den Federn des Vogels können sich Krankheitskeime hartnäckig festsetzen und so aus dem Zimmer verschleppt werden. Hat man doch beobachtet, daß selbst die Stubenfliege diese Rolle übernehmen kann, indem sie Spaltpilze und Sporen weiter- und auf Nahrungsmittel überträgt.
Ein Schleichpfad der Ansteckung, auf den erst in dem letzten Jahrzehnt hingewiesen wurde, ist die Verwendung von Wasser aus inficirten Brunnen. Man hat Epidemien in solchen Familienkreisen entstehen sehen, welche aus einem bestimmten Landgute die Milch bezogen, und gefunden, daß ein Zusatz von verdorbenem Wasser hieran Schuld trug. Auch der innerliche Gebrauch von Eis aus verunreinigten Teichen hat zu Epidemien Veranlassung gegeben.
Ueberhaupt ist es oft nur dem Arzte, der so viel bei Hoch und Niedrig verkehrt, möglich, einen Einblick in manche verborgene Ursache der Ansteckung zu gewinnen. Wenn er sieht, wie unmittelbar neben dem Verkaufsraum eines Bäckers oder Victualienhändlers, in der Werkstätte einer Schneiderin und in dem ärmlichen Dachstübchen, wo irgend eine Haus-Industrie betrieben wird, Kinder mit Scharlach, Diphtherie, Masern, Keuchhusteu etc. liegen, wo die Eltern ab und zu gehen und Alles in diesem Raum inficirt sein muß, dann wird er sich nicht wundern, wenn mit den Waaren auch die an Allem haftenden Mikrokokken in Hunderte von Häusern wandern und dort gleiche Krankheiten erregen, deren Ursprung ganz räthselhaft erscheint.
Die Wenigsten sind sich überhaupt dessen bewußt, welche Rolle die Einrichtungsgegenstände eines Krankenzimmers bei dem Festhalten und Weiterverbreiten von Ansteckungsstoff spielen. Monate lang haftet er in den Tapeten, an Möbels, in Polstern; Betten und Vorhänge – letztere bekanntlich förmliche Staubfänger – gewähren ihm ein beliebtes Asyl. Selbst durch ein Clavier, das im Krankenzimmer verblieb und in seinem Innern nicht gereinigt werden konnte, wurde er weiter getragen. Mit Löffeln wandert er von Mund zu Mund, mit der Leibwäsche, besonders mit Hand- und Taschentüchern durch andere Räume der Wohnung, mit Lese-Journalen und Leihbibliothekbüchern von Haus zu Haus, und gar manches arme Kind, dem die Kleider oder Spielsachen eines verstorbenen Altersgenossen geschenkt wurden, empfing damit ein gefährliches Geschenk. Man hat Briefe, die aus inficirten Wohnräumen kamen, Briefmarken, die kranken Kindern gehört hatten, Droschken, in denen kleine Patienten dem Krankenhause zugeführt wurden – kurz, die verschiedensten Dinge der indirecten Uebertragung des Krankheitsgifts beschuldigt – oft gewiß mit Recht und auf Grund guter Beachtung. Als Curiosum muß freilich beigefügt werden, daß bei der letzten Cholera-Epidemie eine aus Alexandrien abgesandte Depesche vierundzwanzig Stunden später in Wien anlangte, weil sie unterwegs desinficirt worden war. Der wahren Verbreitungswege giebt es jedoch so zahllose, daß sie sich in einer kurzen Schilderung gar nicht erschöpfend anführen lassen.
In der Familie und zwar besonders in dem gut situirten Hause, wo Reinlichkeit, Lüftung und Desinfection zu Gebote stehen, werden krankheiterregende Pilze nicht Zeit und Gelegenheit haben, sich massenhaft anzusammeln und weiter zu entwickeln. Anders in den engen, überfüllten Wohnungen der Armen, in Localen, welche weder an Sauberkeit, noch an Ventilation den nöthigen Ansprüchen genügen. Hier findet gewissermaßen eine Verdichtung der Ansteckungsstoffe statt, und daher die viel stärkere, verheerendere Wirkung derselben in solchen Kreisen. Aehnlich liegen die Verhältnisse auf Schiffen, in Schulen, Spielschulen und Kinderbewahr-Anstalten. Es ist ganz natürlich, daß in allen Räumen, wo größere Mengen von Menschen vereinigt sind, die Krankheitskeime concentrirter und dann, selbst durch Ventilation und Desinfection, viel schwerer zu bekämpfen sind. Ein Zerstreuen und Isoliren der Kranken verdünnt und schwächt die Ansteckungskeime, ebenso wie dies gegen das Ende von Epidemien dadurch geschieht, daß die empfänglichen Personen alle durchseucht sind. Die Wirkung des Krankheitsgiftes läßt auch dabei, ähnlich wie in Folge der Impfung, nach.
Das englische Sprüchwort: „Prevention is better than cure“ (Verhüten ist wichtiger als behandeln), ist gerade bezüglich der ansteckenden Kinderkrankheiten ein Wahrwort. Denn hier gilt es aufzuklären und zu belehren, damit die Kenntniß und Fertigkeit in allen nöthigen Schutzmaßregeln jeder Mutter rechtzeitig geläufig sei, ehe etwa bei einem dringenden Fall Gefahr im Verzuge ist oder überhaupt jede Maßregel zu spät kommt. Es ist geradezu bedauernswerth, wie eine Hausfrau, die sich in den Tagen der Gesundheit ihrer Kinder absolut um Nichts kümmert, was sie über Ansteckung und Desinfection wissen und können sollte, plötzlich bei dem Hereinbrechen der Seuche in ihren Familienkreis vollständig den Kopf verliert und Alles gethan zu haben glaubt, wenn sie „vor Angst keine ruhige Stunde hat“ und das Uebertriebenste unternimmt. „Mein Killd wird mir doch nicht krank werden?“ Diese halb fragende, halb gegen jeden Eingriff einer höheren Macht gegen Leben und Gesundheit ihrer Kinder, für die sie wohl einen Ausnahmsschutz beansprucht, fast frevelhaft protestirende Aeußerung ist die ganze Summe ihrer mütterlichen Fürsorge.
Würde sich dieselbe Frau in gesunden Tagen ruhig die Frage vorlegen: „Was kann ich thun, um mein Kind vor Ansteckung zu schützen?“ und nun ruhig, bedächtig, umsichtig einfach ihre Pflicht thun, so würde die Gefahr nicht nur viel seltener an das Glück ihres Hauses herantreten, sie würde auch gefaßt, wohlbewandert, voll Geistesgegenwart dem Eindringling gegenüberstehen und in ihrer Pflichterfüllung stets den besten Halt, die beste Ueberzeugung finden, nach menschlichem Wissen Alles zur Vorbeugung oder Einschränkung der Infection gethan zu haben.
Die Verlobung im Keller
Es war am Tage vor Pfingsten, im blühenden Mai, da saß ich, ein junges Ding von sechszehn Jahren, auf dem Fensterbrette in der tiefen Nische eines im Geschmacke des vorigen Jahrhunderts eingerichteten Zimmers. Mit Aufbietung all meiner Kräfte hatte ich das altmodische Guillotinen-Fenster in die Höhe geschoben, sodaß der Duft des Syringenbaums, der draußen dicht vor dem Fenster stand, hereindringen konnte und seine blüthenschweren Zweige mich wie eine Laube umgaben.
Manchmal, wenn starker Syringenduft mich umweht, sehe ich noch immer, nach so vielen Jahren, die Bilder vor mir, die jener Maimorgen mir zeigte: den Garten mit den phantastisch zugeschnittenen Taxus- und Buchsbaumhecken, den rosig blühenden Apfelbäumen und das holzgetäfelte Gemach mit der verblichenen Rosentapete, den verschnörkelten Truhen und Spinden, auf welchen wunderlich geformte Gläser mit künstlichen Wachsblumen und chinesischen Figürchen standen. Ich sehe auch durch die dreitheilige, weit geöffnete Thür in den Saal nebenan, bewundere die lange, prächtig geschmückte Tafel und die beiden bekränzten Sessel, vor welchen neben den Tellern goldene Myrthensträuße prangen. Vor Allem aber sehe ich mir gegenüber die alte Frau im tiefen Lehnstuhle, mit der weißen Spitzenhaube über dem vollen grauen Haar und dem Gebetbuche auf den Knieen, meine Großmutter. – Sie betete hier, weil sie nicht mit in die Capelle gehen konnte, die draußen vor dem Stadtthore lag. Ich aber war schnell hinausgelaufen, ehe ich die Großmutter in’s Hochzeitshaus geführt, und hatte mir das kleine Kirchlein angesehen. Es war wunderschön geschmückt; der Altar verschwand fast unter all den Blumen, und es herrschte ein Kerzenglanz, daß Einem schier die Augen weh thaten.
Dann wartete ich im Hochzeitshause mit der Großmutter, welche ich nicht so ganz allein lassen wollte, und zerbrach mir den Kopf darüber, warum in aller Welt „Ohm Dernau und Dernau’s Tant’“ – wie ich das Jubelpaar nach der patriarchalischen Sitte des Städtchens mit allen Verwandten und Nichtverwandten nannte – ihre kirchliche goldene Hochzeitsfeier in der kleinen Capelle da draußen auf dem Felde und nicht in der großen Stadtkirche hielten, und grübelte nach über manche Anspielung, die gestern am Polterabend, gemacht worden, und die, während sie die Andern höchlichst zu amüsiren schien, mir unverständlich und räthselhaft geblieben war. Dernau’s Tant’ war eine kleine, zierliche Erscheinung, mit hellen Augen, noch braunem Haare und ungewöhnlich kleinen Händen und Füßen. Sie hatte gestern in ihrem altmodischen Damastkleide mit der unglaublich kurzen Taille und dem dreieckigen Fichu, den kleinen absatzlosen Schuhen, die mit breiten Kreuzbändern über den gestickten Strümpfen befestigt waren, in einem reizenden Menuett, das ihr zu Ehren arrangirt, noch „zu guter Letzt“, wie sie sagte, mitgetanzt und allgemeine Bewunderung geerntet. Am Schlusse des Tanzes machte der Ohm, ihr Tänzer, eine tiefe Verbeugung und sagte, indeß der Schalk aus seinen Augen blitzte:
„Sie tanzen trotz einer Französin, Madame, und es war doch wohl ein Mißgriff, daß ich Sie damals den Franzosen entführte!“
Da lachten Alle, und Dernau’s Tant’ erröthete wie ein junges Mädchen.
Was mochte das Alles nur bedeuten? Ob ich die Großmutter fragte? Sie hatte mir, als ich einmal auf kurze Zeit ihr Gast war, gesagt, die Tant’, ihre liebste Jugendfreundin, habe seltsame Schicksale erlebt, und die wolle sie mir später, wenn ich älter sei, erzählen. Ob ich sie jetzt an ihr Versprechen erinnerte? Eben legte sie ihre Brille bei Seite und schlug das Gebetbuch zu. Schnell glitt ich von meinem Blüthenthrone herab und kauerte mich auf ein Bänkchen der alten Frau zu Füßen.
„Großmutter,“ sagte ich bittend, „könntest Du mir nicht heute die Geschichte Deiner Freundin erzählen? Weißt Du, Du hast mir’s versprochen!“
„Ei Lili, kleine Neugier,“ erwiderte sie, „das ist Nichts für solch Backfischchen wie Du bist! Warte noch ein paar Jährchen!“
Warten, mich gedulden war aber leider niemals meine Sache gewesen und so bat und schmeichelte ich weiter, recht wohl wissend, daß die Großmutter mir höchst selten Etwas abschlug.
„Heute paßt es so schön,“ schloß ich meine Rede, „und wir haben gute zwei Stunden Zeit; erst der Gottesdienst, dann die [366] Trauung mit der langen Rede, – die vielen Glückwünsche, und zuletzt der weite Weg hierher – Siehst Du, Großmutter, wir haben Zeit genug!“
„Du bist ein Quälgeist, Lili!“ sagte die Großmutter, allein sie rückte sich lächelnd in ihrem Sessel zurecht und war nach einigen Minuten im vollen Erzählen. Schmeichelnd umfloß uns der Blumenduft, und jetzt klang durch die klare Luft fernes Glockengeläute – der Brautzug näherte sich der Capelle.
„Ja, ja, mein Kind,“ begann die Großmutter, „das war eine schöne Zeit, als wir Beide noch jung waren, das Lorchen und ich! Ich sprang und lachte den ganzen Tag, und Lorchen erst – hast Du nicht gesehen! ein wilderes Ding gab es nimmer! Die Bachstelze nannte man sie, weil sie so flink und zierlich war und so helle Augen hatte in dem feinen, beweglichen Köpfchen. Weit und breit gab es kein schöneres Mädchen, als sie, und ihre Schönheit war so eigenartig, so zart und vornehm und so anmuthig dabei, daß man die Augen kaum von ihr abwenden konnte.
Das wußte Lorchen aber auch und führte ein unbeschränktes Regiment; alle Männer, jung und alt, huldigten ihr, und wie Mancher machte nicht in jener Zeit den Versuch, das Bachstelzchen für sein Haus einzufangen! Aber das ging nicht so leicht; Lorchen war ein Trotzkopf und kannte kein größeres Vergnügen als ihre Verehrer mitleidlos zu quälen, wo und wie sie nur konnte. Oft genug habe ich ihr darüber Vorwürfe gemacht, denn ich war ihre liebste Freundin, der sie alle kleinen Teufeleien, die sie verübte, ehrlich beichtete. Manchmal erzürnten wir uns ernstlich darüber, wenn nach einem Balle oder nach einer Waldfahrt ihr Sündenregister gar zu lang war; allein was half’s? Sie wußte doch, daß ich ihren Bitten, ‚ihr wieder gut zu sein‘, nicht widerstand (war eben gerade so eine kleine Schmeichelkatze, wie Du, Lili!) und daß bei der nächsten Gelegenheit all die jungen Männer, die sie genarrt und gequält, ihr wieder zu Füßen liegen würden. Ich habe Dich in diesen Tagen häufig ein Lied singen hören, Kleine,
‚Ich weiß ein Maidlein hübsch und fein,
Hüt’ Du Dich!
Sie kann wohl falsch und freundlich sein, –‘
war’s nicht so?“
„Gewiß, Großmutter,“ sagte ich und citirte ihr den zweiten Vers:
„Sie hat zwei Aeuglein, die sind braun,
Hüt’ Du Dich!
Sie wird Dich überzwerch anschau’n,
Hüt’ Du Dich!
Vertrau’ ihr nicht! sie narret Dich!“
„Nun sieh, Kind,“ fuhr die Erzählerin fort, „das beschreibt das Schelmentreiben der Lore, als sei es eigens für sie gemacht! Aber denke Du nicht schlecht von ihr, sie war doch ein liebes, süßes Geschöpf und hatte trotz ihrer vielen tollen Streiche das beste, bravste Herz.
Bei der allgemeinen Bewunderung, die das schöne Mädchen erregte, war es einigermaßen befremdlich, daß der junge Kaufmann Dernau, der sich neben Lorchen’s elterlichem Hause, demselben, in dem wir heute goldene Hochzeit feiern, angekauft, gegen seine reizende Nachbarin kalt und zurückhaltend blieb. Ich neckte sie zuweilen damit, daß er der Einzige sei, der ihrem Zauber widerstehe und der nie mit ihr getanzt habe, nicht ein einziges Mal! Da wurde sie denn stets böse, warf trotzig die rothen Lippen auf und sagte:
‚Mag er doch gehen, Christel, er ist ein Bär!‘
Nun brach aber über das Land eine schwere Zeit herein: die Franzosen wurden die Herren, unser König und die engelschöne Königin Louise mußten mit ihren Kindern flüchten, und wir Alle sollten französische Unterthanen werden. Wir hatten es schlimm, denn unser Städtchen erhielt eine neue Obrigkeit, die den Feinden wohlgesinnt war. Bald hörten wir in der Nähe Waffenlärm, und der heimathliche Friede wurde durch rohe Soldatenhorden gestört.
Ach, Kind, es war schrecklich und traurig zugleich! Der Wohlstand schwand unter dem beständigen Drucke, in Angst und Noth verbrachte man seine Tage.
Für Lorchen aber erwuchs in dieser Zeit noch eine besondere Trübsal. Das ging so zu. Von allen Seiten kam die Kunde, daß die Franzosen eine gar gewaltsame Art hätten, deutschen Schönen die Cour zu machen. Gefiel ihnen ein Mädchen, so ließen sie dasselbe ohne Weiteres durch ihre Soldaten rauben und schleppten die Unglückliche mit fort, hinein in das Kriegsgetümmel. Handlungen der rohesten Willkür waren an der Tagesordnung, gegen Diebstahl und Raub fand man wenig Schutz durch das Gesetz, das von den Franzosen oder deren Helfershelfern stets zu ihren eigenen Gunsten ausgelegt wurde. Was war zu thun? Man versteckte seine Schätze, Geld und Werthsachen vor der Gier der Fremden in hohle Bäume, in Mauern und in die Erde. Selbst Frauen und Töchter verbarg man aus Furcht vor rohen Beleidigungen, wenn Franzosen sich dem Städtchen näherten.
Das arme Lorchen hatte die härteste Zeit; die Mutter sah in ihrer Angst beständig Gespenster und zwang das Mädchen, die meiste Zeit in dem Keller des Hauses zu verbringen. Manch’ einen Nachmittag habe ich ihr dort Gesellschaft geleistet. ‚Schau,‘ sagte ich einmal, ‚durch das Fensterchen hier kannst Du ja direct in den Garten des Nachbars Dernau sehen! Nun, ist’s ein richtiger Bärenzwinger?‘ – Da wurde das Lorchen roth und wandte sich ab.
Eines Tages nun, es war am Sonnabend vor dem Pfingstfeste und ein blühender Maitag wie heute, da durchzog ein großer Trupp Feinde die Stadt. Lore saß natürlich im Keller und führte ein unterirdisches, beschauliches Leben. Als die gefürchteten Partelewuhs zum Thore hinaus waren, wurde die Eingesperrte an’s Licht geholt, und was thut das naseweise Ding? Lehnt sich im Wohnzimmer in’s offene Fenster! Nach der langen Haft war es so wonnig, die würzige Frühlingsluft einzuathmen und dem Treiben auf der Straße zuzuschauen. Aber Unglück schläft nicht! – Sein Pferd, das ein Hufeisen verloren hatte, am Zügel führend, kam ein junger französischer Officier daher. Das reizende Mädchengesicht hinter den Rosen und Gelbveigelein erblicken, seine Zügel einem Jungen zuwerfen und die Treppe hinan stürmen in’s Haus, war nur das Werk eines Augenblicks. Schnell entschlüpfte zwar die Kleine in ihr Versteck, allein was half’s? Der Franzose hatte sie nun einmal gesehen und stürmte wie toll durch’s Haus.
„Ick will die schöne Mäd!“ so schrie er unaufhörlich, und von der zitternden Mutter gefolgt, kletterte er, nachdem er alle Zimmer und auch die Böden vergeblich durchsucht, zuletzt auch in den Keller. Aber o Wunder! Das Nest war leer, das Vögelein entflohen! Durch die vergebliche Haussuchung noch wüthender gemacht, schwur der Officier, er würde am andern Tage mit einer ganzen Schwadron zurückkommen und dann das Mädchen schon finden. Nachdem er im Wohnzimmer noch ein kleines, auf Elfenbein gemaltes Portrait Lorchen’s von der Wand gerissen und zu sich gesteckt, verschwand er unter Verwünschungen und Drohungen.
In Thränen aufgelöst blieb die Mutter zurück, verwirrt und vollkommen rathlos.
Doch wer beschreibt ihre Verwunderung, als plötzlich ihr Nachbar, der junge Dernau, erscheint und sie in aller Form und Feierlichkeit um die Hand ihrer Tochter bittet!
‚Ach Gott,‘ meint die Arme, ‚das Lorchen ist ja verschwunden, sie ist nicht mehr in ihrem Versteck! Und fände ich sie auch heute, was hülf’s? morgen raubt mir der Franzose sie doch! Was fang’ ich Unglückliche an? O, der Krieg, der Krieg!‘
Da hat der junge Mann recht verlegen gelacht und gemeint: „Verlassen Sie sich nur ganz auf mich, Mama – wenn ich Sie so nennen darf! – ich werde das Lorchen schon beschützen, ist sie erst meine Frau! Und im Keller – ist sie doch! Zwar nicht in dem Ihrigen – aber in meinem Keller!“
Er führte die übeeraschte Dame in sein Haus, viele Treppen hinunter. Die jetzt doppelt Gefangene fand sich richtig; ein bischen beschämt und verweint, aber dennoch mit sehr glücklichem Gesichtchen fiel sie der Mutter um den Hals und bat, ihren Karl und sie zu segnen als Brautpaar.
Dann folgte in den beiden Nachbarhäusern allerlei geheimnißvolles Gethue, zuletzt wurde sogar der gute alte Pastor zur Berathung geholt. Spät Abends aber, eine Stunde vor Mitternacht, begab sich das Verwunderlichste, was unser friedsames nüchternes Städtchen je erlebt: in der alten Capelle auf freiem Felde, da vor dem Martini-Thor, wurde bei Nacht und Nebel ein junges Paar getraut.
Lili, Kind, stelle Dir mein Erstaunen vor, als ich geheimnißvoll hergeholt und in der Finsterniß zur Capelle gebracht wurde, um dort zusammen mit Lorchen’s Mutter und Fritz Berger, dem [367] besten Freunde Dernaus, Trauzeuge bei meiner Lore zu sein! Wundervoll gruselig für einen siebenzehnjährigen Kopf, in welchem alle Vehmgerichtsgeschichten, deren ich als echtes Kind der rothen Erde viele gehört und gelesen, lebendig wurden!
Es war eine weiche, dunkle Frühlingsnacht; der Himmel theilweise mit dunklen Wolken überzogen, aus denen ferne Blitze das Herannahen des ernsten Gewitters verkündeten.
Das schwache Licht zweier Kerzen auf dem Altare schien die in der kleinen Capelle herrschende Finsterniß noch zu erhöhen. Ein plötzlich sich erhebender Wind ließ die Flammen ängstlich hin und her schwanken und schlug die Zweige der mächtigen Linden draußen gegen die Kirchenfenster. Es war schaurig!
Der alte würdige Pfarrer, der die Mutter schon getraut und Lorchen getauft hatte, hielt eine kurze, aber um so ergreifendere Rede, die uns Alle auf’s Tiefste rührte. Nach der Trauung half ich schluchzend dem Lorchen den Myrthenkranz aus dem Haar lösen und mit einer mächtigen Haube – Fladus’ genannt –, wie die Bauernfrauen, deren Costüm sie auch als Verkleidung gewählt, sie in unserer Gegend trugen, vertauschen. Die Mutter war sprachlos vor Schmerz und wie betäubt durch den plötzlichen Verlust der geliebten Tochter. Karl Dernau hatte inzwischen ebenfalls die Tracht eines Bauern angelegt, leitete einen armseligen, einspännigen Bauernwagen vor. die Thür der Capelle und hob nach einem herzzerreißenden Abschiede von uns Allen das bitterlich weinende Lorchen unter das schützende Zeltdach. Grell beleuchtete der Blitz die traurige Scene, in der Ferne grollte dumpf der Donner, die Nacht war rabenschwarz geworden, und unter ihrem Schutze entkamen die Beiden glücklich über die nahegelegene Grenze, wo die Franzosen damals noch keine Geltung hatten. Lorchen galt als kranke Bäuerin, die zu einem berühmten Wunderdoctor und ‚Krankheitsbesprecher‘ gebracht werden sollte. Karl Dernau sah, als er das Rößlein des kleinen überdachten Bauernwagens, auf dem sie ihre seltsame Hochzeitsreise antraten, zu schnellem Trabe antrieb, so kühn und zuversichtlich aus, daß uns Zurückbleibenden die Ueberzeugung kam, die kleine Bachstelze sei bei ihm in einem sicheren Neste geborgen.
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„Zwei Jahre vergingen. Ich hatte mich indessen auch verheirathet, regelrecht, am lichten Tage mit Brautjungfern und Hochzeitsessen, und ohne all die ein bischen spukhafte Romantik, welche Lorchen’s Trauung ausgezeichnet. Allein, wer weiß, eben diese damals gemeinsam erlebte Romantik hatte vielleicht dennoch auch mit meiner Hochzeit zu thun, war am Ende gar die Veranlassung zu derselben gewesen. Ob sie zuerst den Keim der Liebe in unsere Herzen gepflanzt, ob diese schon längst darin war und plötzlich unter dem Banne jenes seltsamen Ereignisses um Mitternacht in der kleinen halbdunklen Kirche ihren Wunderkelch entfaltete, ist schwer zu sagen. So viel nur ist gewiß, als Fritz Berger und ich das nächste Mal vor dem Altare zusammenstanden, da war es nicht, um Andern als Trauzeugen zu dienen, sondern um selbst mit einander einen glücklichen Ehebund zu schließen.
Die Stadt bekam eine neue, weniger franzosenfreundliche Obrigkeit, und das flüchtige Paar kehrte in die Heimath zurück. Karl erwarb, als sein alter Vater gestorben war, Lorchen’s elterliches Haus, die Mutter zog zu ihnen und sie lebten sehr glücklich.
Das war eine Freude, als wir uns wiedersahen! Gleich in der ersten ruhigen Stunde erzählte mir Lorchen die Geschichte ihrer Verlobung, denn die konnte ich ja noch immer nicht recht begreifen.
‚Schau, Christel,‘ erzählte sie, ‚Du kanntest mich genau und wußtest all’ meine Geheimnisse; aber daß ich dem Karl schon so lange gut war, das wußtest Du nicht! Ich schämte mich, Dir’s zu gestehen, und mir selbst. Als er aber an jenem schrecklichen Tage vor dem Kellerfenster erschien, im Augenblicke der höchsten Gefahr, das Fenster, welches ich in meiner Betäubung nicht zu öffnen wagte, einstieß, mich auf seine Arme hob und, ehe ich noch recht zur Besinnung kam, in den Keller seines Hauses gebracht hatte, da wußte ich, daß mein Herz ihm gehörte, und ich brach in ein heftiges Weinen aus. Er aber setzte sich zu mir und faßte still meine Hand. Endlich konnte ich sprechen und bat ihn herzlich um Verzeihung wegen meines seitherigen spöttischen Benehmens und dankte ihm. Was weiter folgte, kannst Du Dir denken! Romantisch war unsere Verlobung nicht, Christel! Wir saßen auf einer alten Zuckerkiste, mein Kleid war bestäubt und zerrissen, dumpfe Kellerluft wehte uns an. Doch was kümmerte es uns? Um uns blühten die Rosen, wir waren in einem Paradiese des Glücks. Und was das Romantische anbelangt, so leisteten wir ja am selben Tage noch so Erstaunliches darin, daß es für ein ganzes Menschenleben ausreichend war.‘
So beichtete mir Lorchen und wir dankten beide Gott, der uns glücklich gemacht durch die Liebe und uns wieder zusammengeführt. Dieses Glücksgefühl ließ uns die Sorgen unseres täglichen Lebens leichter tragen; denn wir lebten noch immer in Noth und Bedrückung und am politischen Himmel hingen schwarz und düster die Wolkenmassen. Die Tauffestlichkeiten unserer Kinder wurden daher aller Sitte zuwider in der Stille gefeiert, und trotz unseres Glückes fiel manche Thräne auf die blonden Köpfchen der Kleinen. Tausende fühlten, litten wie wir. Aber aus dem tiefen Weh so viel edler deutscher Herzen keimte, Gott sei es gedankt, eine herrliche Saat auf und reifte still der Ernte entgegen. Es war plötzlich, als wehe ein frischer Luftzug durchs Land; woher er kam, wußte so recht Niemand, allein er war da, und wir fühlten seinen erfrischenden Athem.
Auch bemerkten die Lola und ich bald allerlei heimliches Treiben, das uns viel Verwundern und Besinnen machte. Fuhrleute, [368] die eigentlich gar nicht aussahen wie solche, brachten Karl Dernau häufig schwere Waarenladungen, und mein Fritz, der doch als Advocat niemals mit solchen Sachen zu thun hatte, war stets beim Ausladen der Waaren, die dann bei anbrechender Dunkelheit im Keller verpackt wurden, beschäftigt. Unsere Männer hatten ein Geheimniß vor uns, das war klar! Eine Zeitlang ertrugen wir geduldig diesen unnatürlichen Zustand, dann aber verschworen wir uns, der Sache durch List auf den Grund zu kommen, und da hatte die Heimlichkeit bald ein Ende, wenigstens für die Lore und für mich. Kind, wir triumphirten nicht schlecht, das kannst Du mir glauben!
Karl und Fritz, so erfuhren wir, waren Mitglieder jenes Bundes, der heimlich und über ganz Deutschland verzweigt dahin strebte, das Vaterland von der Fremdherrschaft zu befreien. Die sogenannten Fuhrleute waren ebenfalls Bundesbrüder, und ihre Waaren Waffen, die in Dernau’s Keller versteckt wurden. Dort, wo Lorchen als Opfer französischer Willkür gefangen gesessen, hielten die Verbündeten ihre Berathungen. Dann zündeten wir Frauen oben im Saale die Kronleuchter an, klirrten mit Gläsern und trugen Flaschen und Schalen hin und her, um den Verdacht von den unterirdischen Versammlungen abzulenken und den Leuten Sand in die Augen zu streuen.
Was überall in der Stille vorbereitet war, das trat zu Tage, als der Aufruf des guten Königs erschien: „An mein Volk!“ In hellen Flammen loderte die Begeisterung empor und entzündete alle deutschen Herzen. O Kind. es war eine große Zeit! Nie werde ich den Tag vergessen, an dem der Pfarrer auf dem Marktplatze, denn die Kirche faßte die Menschenmenge nicht, die Worte des Königs las und die Männer aufforderte in den heiligen Befreiungskrieg zu ziehen. Es war eine Bewegung ohne Gleichen; weinend umarmten sich Freunde und Bekannte, die ärgsten Feinde reichten sich die Hand. Die Ersten, die sich stellten als freiwillige Kämpfer für’s Vaterland, für den heimischen Herd, für Weib und Kind, waren Karl Dernau und mein Fritz, und Viele, Viele folgten ihrem Beispiele. Und dann kam der Abschied, der schwere Abschied! Ohnmächtig brach ich zusammen, aber das Lorchen hat sich wie eine Heldin gehalten.
Wir Beiden blieben treu zusammen in der Zeit des qualvollen Wartens, der Zeit des Kampfes und der Trübsal. Endlich, endlich kamen die Siegesbotschaften! In trunkener Begeisterung trug man sie von Stadt zu Stadt, und von allen Bergen loderten die Freudenfeuer himmelan. Ein Rausch hatte sich Aller bemächtigt: Das Vaterland war frei! Der Feind vertrieben! Und unsere Lieben lebten! Im Lorbeer des Sieges kehrten sie zurück! Wir hatten viel Leid erduldet, allein wir priesen uns glücklich, daß es uns vergönnt war, solch große Zeit zu schauen!
Aber kleine Lili, wie bin ich in’s Plaudern gekommen! Ich wollte Dir ja nur –“
„O Großmutter,“ unterbrach ich sie, stürmisch dankend, „laß Dich’s nicht gereuen! Ich möchte Dir noch den ganzen Tag zuhören!“
„Nun,“ lächelte sie, „so hast Du doch Deinen Lohn dafür, daß Du die Kirchenfeier opfertest, um mir alten Frau Gesellschaft zu leisten. Eigentlich wollte ich Dir nur die Geschichte der Einsperrung von Dernau’s Tant’ erzählen, damit Du daraus ersehen könntest, welch’ gefährliche Gabe die Schönheit ist!“
„Ei, Großmutter,“ erwiderte ich, „Deine Moral gefällt mir nicht! Die Franzosen sind weit, und was mich anbelangt, so möchte ich es schon mit ein bischen Schönheit versuchen!“
Sie wollte böse werden, allein es zuckte verrätherisch um ihren Mund, wie verhaltenes Lachen, und ehe sie das bekämpft hatte und mit mir schelten konnte, sprang ich auf.
„Hörst Du,“ rief ich, „es läutet schon eine ganze Weile; die Trauung ist aus, nun müssen sie gleich kommen!“
Eilig ging ich noch durch alle Zimmer, ob’s überall recht schön geordnet sei, und streute Blumen bis vor die Hausthür. Dann warteten wir am Fenster, die, Großmutter und ich. Und nicht lange währte es, da kamen sie. Ein langer, langer Zug! Erst die Alten, viele Paare, dann das junge Volk; manch Brautpärchen unter diesen, die von der Zukunft einen ähnlichen Tag erhofften. Zum Schluß kamen die Urenkel, blühende Kinder, die blumengeschmückt wie Genien des Mai auf leichten Füßchen daher trippelten.
Am schönsten aber war das goldene Brautpaar! Wie gut der Tant’ das blaugeblümte Damastkleid stand, das gestickte Spitzentuch und im Haar die Goldmyrthen! Ohm Dernau sah gar stattlich aus mit seinen krausen, schneeweißen Haaren; ungebeugt, eine hohe, würdevolle Gestalt, neben dem Goldsträußchen im Knopfloch die Orden aus den Freiheitskriegen tragend. Er führte mit sorgsamer Liebe das Lorchen und sah so zärtlich auf die kleine zierliche Gestalt nieder, wie er es wohl damals gethan, als sie noch die junge Schönheit war, die sein Weib wurde vor fünfzig Jahren im sonnigen Mai am Tage vor Pfingsten.
Die altheimischen Feste unseres Volkes, deren Ursprung in die fernste heidnische Vorzeit zurückreichte, standen wie der ganze Heidenglaube im innigsten Gemüthsverhältniß zur Natur. Aufzüge, Mummenschanz und mimische Spiele – die frühesten Regungen dramatischer Kunst – brachten die Naturvorgänge des Jahrs in sinnvolle Beziehung zur Menschenwelt. So kam im Leben des Volkes von Geschlecht auf Geschlecht ein Vätererbe echter Poesie, das, soviel davon verloren und verschleudert wurde, selbst in unseren Tagen noch lange nicht erschöpft ist und noch da und dort wie Fundgold aufleuchtet.
Anziehend vor Allem waren die Bräuche der Frühlingsfeier. Da wurde die Feindschaft zwischen Sommer und Winter im fröhlichen Kampfspiel vorgestellt. Bald stritten die beiden im Einzelkampf: bald tummelten sich ihre Schaaren in kriegerischem Aufputz, bis nach hartnäckigem Widerstand das Heer des grämlichen eisgrauen Winters besiegt und verdrängt wurde. Noch schöner als dieses kriegerische Treiben war aber der friedlich heitere Einzug des holden Sommers, dem alle Herzen freudig und hoffnungsreich entgegenschlugen. Dieser Brauch, der sich an vielen Orten bis heute erhalten hat, ist bei allen germanischen Völkern heimisch und außerdem noch in Frankreich, in Litthauen und in den slavischen Ländern verbreitet. Er besteht im Wesentlichen darin, daß ein junger Mensch – Knabe, Jüngling oder Mädchen – ganz in frischgrünes Laub und Blumen eingehüllt, von den Landleuten im Walde feierlich eingeholt und mit festlichem Geleite in’s Dorf geführt wird. Nach dem naiven Glauben des Volkes war dies ursprünglich kein bloßes Schauspiel; der grüne Laubmann war kein einfacher Figurant: es war der Genius des Frühlingswaldes selbst, den man so als Gast zur Wohnstätte der Menschen führte, und sein Erscheinen brachte den Feldfrüchten und Hausthieren Wachsthum und sprossende Fülle wie die Gegenwart eines göttlichen Wesens.
In Oberdeutschland pflegt dieser Aufzug zur Pfingstenzeit stattzufinden; daher heißt der Stellvertreter des Waldgeistes im Elsaß Pfingstklötzel oder Pfingstquark, in Schwaben Pfingstbutz, Pfingsthagen oder Pfingstlümmel, in Baiern Pfingstl. Im bairischen Franken trägt der Vegetationsgeist ein Kleid und eine Krone von Aehren und heißt der Walber nach dem Walburgistag, dem 1. Mai. In der Ruhla geleiten ihn die Kinder und nennen ihn Laubmännchen, im Nassauischen Laubpuppe. Als Herrscher im grünen Reich heißt er in Niederdeutschland Maikönig, Pfingstkönig im Harz und in Oesterreich, Graskönig in der Gegend von Langensalza, Lattichkönig in Thüringen. In England heißt er „Hans im Grün“ (Jack in the green), in Nordfrankreich „der Vater Mai“ (le père May), bei den Slovenen in Kärnthen und Krain „der grüne Georg“ nach dem Georgitag, der den Ostslaven den Frühlingsanfang bezeichnet. Bei den Litthauern wird das schönste Mädchen als „Maja“ mit einem Kranz geschmückt und mit Birkenzweigen umwunden. Die Namen wechseln; die Sache bleibt dieselbe.
Grußartiger entfaltete sich der Festbrauch, wenn der Fruhlingsgenius zu Roß mit stattlichem Reitergefolge daherzog. So erscheint der thüringische Lattichkönig, der Graskönig und zuweilen der schwäbische Pfingstbutz. Musik zieht voran; der grüne Mann reitet zwischen zwei Geleitern; seine Dienstmannen folgen in bestimmter Maskerade: der „Maienführer“ mit einem kleinen bändergeschmückten Maibaum, ferner Oberst, Fähnrich, Koch und Kellermeister und andere zum Theil sehr possenhafte Gestalten.
So waren die Mairitte der deutschen Dorfgemeinden von Alters her. In die Städte mag der Brauch frühe, vielleicht schon durch die bei der Gründung einwandernden Landbewohner verpflanzt worden sein. Als aber die Blüthezeit der Städte begann und die stolze Lebenslust der Bürger in reichen farbenbunten Festen zum Ausdrucke kam, da wurde auch das Maienreiten nach dem feineren Geschmacke der städtischen Aristokratie umgestaltet. Der unförmliche Aufputz der ganz in ihrer Laubhülle verschwindenden Pfingstpuppe wurde abgethan; ein grüner Kranz genügte, um dem Herrn des Festes zum Abzeichen seiner Würde zu dienen. Dieser Umschwung vollzog sich in den niederdeutschen Städten. So ritten die Bürger von Köln am Donnerstag nach Pfingsten auf die „Holzfahrt“, an ihrer Spitze ein erwählter Anführer, der Rittmeister genannt, dem im Ostendorfer Busch ein Kranz aufgesetzt wurde; dann kehrte der Zug in festlichem Gepränge nach der Stadt zurück. Dieser Anführer, der hier Rittmeister heißt, erhielt in den Hansestädten den Titel „Maigraf“, nach anderen bei den Niederdeutschen üblichen Amtstiteln wie Holzgraf, Deichgraf: „Graf“ in seiner echten alten Bedeutung von „Befehlshaber“. Name und Fest verbreitete sich mit den hanseatischen Kaufleuten über die deutschen Colonien an der Ostsee, wie Danzig, Riga und Reval, und nordwärts nach Skandinavien. Im deutschen Süden blieb beides unbekannt.
Ursprünglich wurde der Maigrafenritt als das ausschließliche Vorrecht der vornehmen Altbürger angesehen. In Greifswald war immer der jüngste Rathsherr der berufene Maigraf. Anderwärts konnte später jeder Bürger oder Geselle diese Würde erlangen. Doch kam es zuweilen zu Spaltungen zwischen den Patriciern und den Bürgern wie zu Danzig im Jahre 1486, wo die Junker ihren Mairitt für sich abhielten. Die jungen Bürgersöhne und die fremden Gesellen thaten sich zusammen, um sie durch ein prächtigeres Maigrafenfest za überbieten; aber der Rath untersagte es ihnen, um fernerem größerem Hader vorzubeugen.
Die Wahl des Maigrafen geschah meist am 1. Mai, dem „Maientag“ schlechthin, in Danzig am Pfingstmontag oder Pfingstdienstag, in Hildesheim am Samstag vor Pfingsten. Seine Würde dauerte ein Jahr. Die Wahl fand in der Regel auf freiem Felde statt. Zu den Wählern gehörten Bürgermeister und Rathsverwandte und der Maigruf des abgelaufenen Jahres. Der neugewählte empfing den Kranz, der gewöhnlich schräg über die Brust getragen wurde. Sofort erlas er sich aus der Schaar der jungen Gesellen seine Amtleute, die beiden Beireiter und den Marschall, und dann ging es in festlichem Zuge nach der Stadt zurück. Wie der bäuerliche Laubmann ritt er zwischen zwei Geleitern; wie den Pfingstbutzen und Pfingstkönigen wurde ihm zuweilen ein Maibaum vorangetragen. In Greifswald ritt ein vornehmer Knabe als Schildjunge vor ihm her, der ihm seinen Kranz wie eine Krone vorantrug. In der Stadt empfing man ihn mit den Ehren eines einziehenden Kaisers oder Königs. Dem Einzuge folgte ein Gastgelage, „der Hof“ genannt, wofür in der Regel der an diesem Tage abtretende Maigraf „das Abenteuer zu stehen“, das heißt, die Zeche zu zahlen hatte. Das Gelage fand entweder in seinem Hause oder auf der Gildestube statt, in Danzig und Riga in dem sogenannten Artushof. Daran schloß sich ein Abendtanz.
In Hildesheim wurde das Fest noch im vorigen Jahrhundert mit großer Feierlichkeit begangen. Nach altem Recht bezog die Stadt die Maien, die Birkenreiser, welche die Herren und Rathsverwandten, die Kirchen und Klöster. zum Pfingstschmuck bedurften, aus einer sieben benachbarten Dörfern gehörigen Waldung. Diese Maien wurden von den Holzerben, den Waldeigenthümern, gehauen und ein vierspänniger Wagen damit beladen. Wo der aus dem Walde herauskam, umringte ihn die Festgenossenschaft. Der neugewählte Maigraf erhielt seinen Kranz und ritt, während sich der Maienwagen nach der Stadt in Bewegung setzte, mit den Anwesenden nach einem Festplatz im Freien, wo eine Menge Zelte aufgeschlagen waren. Dort wurde unter den Salven der Stadtsoldaten eine vorgeschriebene Reihe von Trinksprüchen ausgebracht. Bei der Bewirthung, welche der Maigraf gab, durften Krebse für die Holzerben nicht fehlen. Um halb vier Uhr Nachmittags bliesen die Trompeter zum Aufbruch, und der Maigraf hielt seinen Einzug in die Stadt. Zu seinen Seiten ritten die beiden Ridemeister, die Bürgermeister von Hildesheim; alle Wachen salutirten; die Kanonen wurden gelöst. So ging es durch alle Gassen und Märkte der Stadt, um bestimmte Brunnen herum vor die Thür des regierenden Bürgermeisters und zuletzt zur Wohnung des Maigrafen. Diesen führte einige Tage später, am Pfingstdienstag, der Magistrat unter Pauken- und Trompetenschall nach dem Rathskeller und bewirthete ihn da im Namen der Stadt.
In Reval nahm der Maigraf auch an der großen Frohnleichnamsprocession theil, wobei ihm riesige Wachskerzen vorangetragen wurden, deren Anfertigung ihm die vornehmen Frauen der Stadt besorgten. Dafür hatte er sie und die Kerzenträger in seinem Hause mit Bier und Nüssen zu bewirthen. Mägde trugen die Einladungen umher. Pfeifer und Fiedler spielten auf.
Bei so einfacher Gasterei blieb es aber nicht, wie uns magistratische Verordnungen aus verschiedenen Städten bezeugen, welche dem bei den Maigrafentrünken in Schwang gekommenen Luxus zu steuern suchten. Durch die Ueppigkeit der Bankette war die Maigrafenwürde mit solchen Kosten verknüpft, daß diese Auszeichnung nicht Jedermann erwünscht war, daher einmal ein Stralsunder Junker, der im Jahre 1474 in den Mai reiten sollte, vor dieser Ehre nach Rostock entfloh und vom Rathe bei Strafe gemahnt werden mußte, sich einzustellen.
In den Ostseestädten, z. B. in Danzig und Reval, schloß sich an das Maigrafenfest ein Vogelschießen, wo die Figur eines Papageis mit Armbrust und Eisenbolzen von der Stange geschossen wurde und wo man beim Schützentrunk wacker poculirte. Von Niederdeutschland aus verbreitete sich das Maigrafenfest, wie bemerkt, nach den skandinavischen Ländern.
Urkundliche Nachrichten über Maigrafenfeste haben wir aus den nordischen Städten Ripen, Aalborg, Malmö und Lund. In der jütischen Stadt Ripen erkoren sich die vornehmen Jünglinge am 1. Mai ihren Maigrafen und zogen mit ihm durch die Nordpforte in die Stadt ein. Das hieß man „den Sommer in die Stadt einführen“. Sein Gefolge, nur aus Jüngllngen bestehend, trug grüne Maienbüsche auf den Hüten und sang beim Einzug ein altes Sommerlied. Wie in den Ostseestädten verband die Gilde der dänischen und deutschen Kaufleute in Aalborg das Maifest mit dem Schützenfest. Am Walburgistag versammelte man sich vor dem Walde, wo der Maigraf gewählt wurde; dann zog man zu der Vogelstange und schoß nach dem Papagei. Schließlich hielten der Maigraf und der Schützenkönig, welcher auch der Papageienkönig genannt wurde, verbrüdert ihren Einzug in die Stadt.
Doch nicht blos die nordischen Städte, auch die Dörfer kannten den Brauch des Sommereinreitens. Am Walburgistag hielten die Bursche und die Mädchen gesonderte Umzüge.
An einzelnen Orten bestand der schöne Brauch, daß die Mädchen in ihrem Sonntagsputz den Maigrafen umringten und er sich eine zur „Maiin“ oder Maigräfin erwählte, indem er einen Kranz auf sie warf. Die Mädchen sangen dabei ein altes, nur noch halb verstandenes Lied mit dem Kehrreim: Mai, Ihr seid willkommen! –
So war also das deutsche Städterfest bei den Dänen wieder zum ländlichen Volksfest geworden. Der mit seiner Maiin daherziehende Maigraf gemahnt an jene fernen Frühlingstage, da noch der milde Sommergott Freyr mit seiner schönen Gemahlin in Gestalt seines Tempelbildes und seiner Priesterin auf einem verhüllten Wagen durch das schwedische Land fuhr, allenthalben mit Festjubel und Opferschmäusen bewillkommt. Der Umzug des Götterpaares brachte sonnige Lüfte und ein gesegnetes Jahr.
Wie der altgermanische Gott ist nun auch der mittelalterliche Maigraf längst aus unserer ernüchterten Welt verschwunden. Da und dort, wie in Pasewalk und Malmö, lebte sein Andenken noch längere Zeit in einem Frühlingsfeste der Schuljugend fort. An anderen Orten, wie Greifswald, blieb schließlich von dem ganzen Fest nur noch das Bankett übrig. An den meisten Orten kam der Maigrafenritt im Laufe des 17. Jahrhunderts in Abgang; am längsten erhielt er sich in Hildesheim, wo er erst im Jahre 1782 abgeschafft wurde.
Blätter und Blüthen.
Ein Thüringer Kantor und sein Werk. Nicht blos der Männergesang mit seinen Tausenden von Liedertafeln und Singvereinen, auch der gemischte Chor hat in Deutschland gute Pflege gefunden und letzterer namentlich für das geistliche Concert, für den Kirchenchor. In dieser Kunst, wie in den bildenden Künsten, sind wir lange Zeit bei den Italienern in die Schule gegangen. Als aber der Glaubensernst, die Glaubensbegeisterung durch die Reformation den größten Theil des deutschen Volkes ergriff, überflügelte die deutsche Kirchenmusik bald die italienische. Während letztere mehr und mehr in Opernstil und Instrumentenprunk ausartete, erhoben die deutschen Componisten die Orgel zu ihrer Würde empor und bewahrten endlich dem Chor seine Freiheit von aller Instrumentenbegleitung, den Gesang „a capella“, den sie aus der italienischen Glanzperiode der Kunst hervorzogen. Auf diesem Wege sind die berühmten Kirchenchöre entstanden, die seit langer Zeit in Deutschland an der Spitze derselben stehen: der Berliner Domchor, der Dresdener Kreuzkirchen- und der Leipziger Thomanerchor. In Italien behauptete der Chor der Sixtinischen Capelle in Rom den ersten Rang.
Ein ganz besonderes Verdienst um die Pflege und Ausbildung dieses geistlichen Chorgesanges haben sich die deutschen Cantoren erworben, die, zumeist in bescheidener Stellung, stets am begeistertsten und mit hingebender Liebe der Kirchenmusik gedient und öfters die ihnen unterstehenden Chöre aus unscheinbaren Anfängen heraus zu einem künstlerisch hochbedeutenden Ensemble gestaltet haben. Thüringen war die Heimath ganzer Cantorengeschlechter, und es ist ja bekannt, daß kein Geringerer als Johann Sebastian Bach, der Vater der deutschen protestantischen Kirchenmusik und der Meister des Leipziger Thomanerchors, einer solchen Thüringer Cantorfamilie entsprossen ist.
Ein solcher Thüringer Cantor war auch der Mann, welchem es gelungen ist, in einer kleinen thüringischen Stadt eine Schöpfung zu vollenden, die mit den gleichartigen von Rom und Berlin, Dresden und Leipzig auf der nämlichen Höhe steht. Mit der Gründung und der Erhebung des „Salzunger Kirchenchors“ zu solcher Bedeutung hat der einfache Cantor eine That vollbracht, die eine deutsche Ehre ist und mit welcher er es sich verdient hat, daß sein Name von allen sangesfrohen Deutschen geachtet werde.
Dieser Mann war Bernhard Müller, welcher, am 25. Januar zu Sonneberg im Meininger Oberlande geboren und ein Schüler Bogenhardt’s, im Jahre 1844 als Cantor nach Salzungen berufen wurde. Die Begründung des Salzunger Kirchenchors fällt in das Jahr 1851. Der verständniß- und liebevollen Leitung Müller’s gelang es bald, seine Schöpfung zu künstlerischer Bedeutung zu bringen, sodaß man in weiteren Kreisen auf dieselbe aufmerksam wurde; der durch seinen Kunstsinn hochverdiente Herzog Georg von Meiningen wandte ihm eine besondere Fürsorge zu. Er setzte Müller in den Stand, nicht nur alle hervorragenden Kunstinstitute in Deutschland kennen zu lernen, sondern auch den Gesang der Sixtinischen Capelle an Ort und Stelle zu studiren, ernannte ihn 1867 zum Kirchenmusikdirector und übergab ihm die Oberleitung des Kirchen- und Schulgesangs im ganzen Herzogthum. Der Salzunger Kirchenchor besteht aus 40 Knaben- und 20 Männerstimmen, und in der musikalischen Welt weiß man ebenso sehr die große technische Schulung dieses Chors wie den warm empfundenen und stilgerechten Vortrag zu würdigen. Bernhard Müller hat das ermutigendste Beispiel gegeben, was mit den Gesangskräften auch einer kleinen Ortschaft zu erstreben ist, wenn eine tüchtige Leitung sich ihrer mit Liebe und Beharrlichkeit annimmt.
Leider ist der Meister durch einen plötzlichen Tod seinem ruhmvollen Wirkungskreise entrissen worden. Der Salzunger Kirchenchor gab am 15. December vorigen Jahres in Meiningen vor dem Herzoge ein Concert; der von Müller außerordentlich wirkungsvoll componirte 23. Psalm bildete den Schluß des Programms und der Dirigent hatte so auch als Componist hohe Anerkennung gefunden. Kaum vom Herzog mit freudigem Handdruck geschieden, wurde Müller unmittelbar nach dem Verlassen des Concertsaales auf der Treppe von einem Schlaganfalle getroffen, an welchem er noch im Schlosse starb.
Für einen Künstler gewiß ein schöner Tod, im Augenblicke eines Triumphes Abschied von der Welt zu nehmen! Aber für die Familie Müller’s war der plötzliche Verlust um so schmerzlicher und folgenschwerer, als sie durch ihn ihrer einzigen Stütze beraubt wurde. Und hieran, an die keineswegs sorgenfreie Lage der Hinterbliebenen Müller’s, möchten wir in dem Augenblicke erinnern, in welchem die treue Sängerschaar den Entschluß gefaßt hat, ihrem früheren Meister und Führer ein Denkmal zu setzen. Wer könnte, wenn er je den Melodien des berühmten Kirchenchores gelauscht, sich mit dem Gedanken versöhnen, daß die hinterbliebenen Lieben dieses Meisters mit Alltagssorgen zu kämpfen haben? Gewiß verdient Bernhard Müller vor vielen hervorragenden Männern seiner Zeit ein Denkmal, allein näher scheint uns die Aufgabe zu liegen und mehr im Geiste des Verstorbenen das Bestreben zu sein, den Dank für Müller’s große Verdienste in die Form einer Ehrengabe für seine Hinterbliebenen zu kleiden. Wir wollen nicht versuchen, Diejenigen, welche dem verstorbenen Künstler ein steinernes Denkmal zu setzen gedenken, von ihrem pietätvollen Vorhaben abzulenken; aber wir würden uns freuen, wenn damit zugleich eine Anregung dazu gegeben wäre, der Familie Bernhard Müller’s mit derselben opferfreudigen Hingabe zu gedenken, wie er sie dem großen Werke seines Lebens gewidmet hat.
Im Sommerrefectorium. (Mit Illustration S. 360 und 361.) Es ist Besuch im Kloster angekommen, hoher geistlicher Besuch. Ob die beiden Aebte in den kurzen Stunden ihres Beisammenseins vorwiegend Geistliches oder auch Weltliches zu verhandeln haben, wissen wir nicht; es ist nicht einmal den dem Abt untergeordneten, an Gehorsam gewöhnten Insassen der weltabgeschiedenen Klause bekannt. Jedenfalls gilt es, die Gäste, nachdem sie sich den Reisestaub von Kutte und Kapuze geklopft und sich im Sommerrefectortium gesammelt haben, mit einem Labetrunk zu erfrischen. Und was könnte in den holden Tagen, da der Waldmeister seine zarte weiße Blüthe zu erschließen beginnt, erquickender sein als der goldigklare Rebensaft von der besten Lage der Klosterweinberghalden, vermählt mit dem wonnesamen Duft des würzigen Kräutleins?
Das Winterrefectorium mit seinen kurzen Doppelsäulen, mit seinen niedrigen rundbogigen Fenstern steht heute verlassen. Der Maitrank muß in den lichten, hochgesprengten, herzerhebenden Hallen des Sommerrefectoriums, wie sie der heitere kühne Geist des Uebergangsstils gewölbt hat, zubereitet, gespendet und genossen werden. Und warum sollten sich die Brüder heute nicht im Sommerrefectorium sammeln? Der Mai hat ja den Winter aus dem Feld geschlagen, die Fastenzeit ist voruber. Durch die Scheiben der schöngemusterten, schlanken, spitzbogigen Fenster fluthet das Licht und die Wärme des Frühlingstags, draußen an der mittäglichen Halde des Klosterberges blühen in rosigem Schimmer die Apfelbäume.
Der liebliche Sonnenstrahl umspielt die sieben Säulen, auf denen die Decke des Sommerrefectoriums ruht, von dem grünlich überhauchten Sockel an bis hinauf zu den feinen Gewölberippen, er umspielt die an den Wänden angebrachten Bilder, in deren Umrissen uns ein paar Heilige, ein Abt und ein fürstlicher Wohlthäter des Klosters entgegentreten, er umspielt die Gruppen der Brüder, die den Maitrunk bereiten und schlürfen. Er verklärt auch die Nische, in welcher das stolzragende Vorlesepult angebracht ist, dort wird sonst während des Mahles ein Abschnitt aus einem biblischen Buche, meist aus dem Buche Leviticus verlesen, und von dem Brauche, daß der Abt nach geschehener Vorlesung die Verfehlungen einzelner Brüder zu rügen pflegt, hat solche Rüge den Namen „einem den Leviten lesen“ erhalten. Heute steht kein Vorleser auf dem Pult; Maiweinduft und Levitenlesen würden schlecht zusammenstimmen, auch ist die Unterhaltung an den einzelnen Tischen der Brüder bis hinein dort in die kühle Ecke, wo Einer in jugendlichem Muthe das funkelnde Glas erbebt, schon zu lebhaft. –
Sieben Säulen sind’s, abwechselnd die eine schlank und leicht, sodaß sie ohne den gürtenden Wirtel in der Mitte fast zu schwach erscheinen würde, die andere von gedrungener Kraft. Vielleicht hat dem Baumeister, als er diesen eigenthümlichen Gedanken ausführte, der salomonische Spruch vorgeschwebt, daß die Weisheit ihr Haus auf sieben Säulen gründete.
Wie prächtig hat Meister Riefstahl den architektonischen Reiz dieses klösterlichen Raumes in seinem Gemälde wiedergegeben! Jeder, der einmal eingekehrt ist im Kloster Maulbronn in Schwaben und auch nur mit flüchtigem Blicke die Schönheiten dieses trefflich erhaltenen Schmuckkästchens altdeutscher Art und Kunst genossen hat, erinnert sich an die herrliche Halle, deren Linien der Maler hier nachgebildet hat und die im Volksmunde den anheimelnden Namen „das Rebenthal“ führt.
Und wenn auch der Künstler, dem wir so manches gelungene Werk verdanken, der malerischen Wirkung zu lieb die Mönche nicht in das schwarzweiße Gewand der Cisterzienser, mit denen Kloster Maulbronn thatsächlich früher besiedelt war, gekleidet, überhaupt das Costüm mit freiem, aber feinem künstlerischem Sinne behandelt hat: das ganze Bild ist doch ein echtes und gerechtes Maulbronner Klosterbild und heimelt nicht nur Den an, der, wie der Schreiber dieser Zeilen, manch liebes Jahr in Maulbronn heimisch gewesen ist.[1]
- ↑ Ein vortrefflicher, mit reichem Bilderschmuck gezierter Führer für das Kloster ist: Dr. Eduard Paulus „Die Cisterzienserabtei Maulbronn“.
Der Aussichtsthurm auf dem Astenberg. (Mit Abbildung S. 364.) Der gegen 840 Meter aufsteigende Astenberg ist der zweithöchste Punkt der rheinisch-westfälischeu Berglande, der nur vom großen Feldberge im Taunus überragt wird. Noch heute bildet das südwestwärts vom Astenberge sich erstreckende Rothhaargebirge die Naturgrenze zwischen dem Lande des sächsischen und des fränkischen Volksstammes, jenseits deren der niederdeutsche Dialekt aufhört und der fränkisch-oberdeutsche seinen Anfang nimmt. Vergeblich aber suchen wir jetzt von der Höhe des Berges aus nach jenen trennenden und verderblichen Grenzen deutscher Staaten, wie sie durch Jahrhunderte hindurch seit dem Vertrage von Verdun sich dem Auge darboten. Dagegen erfreut sich der Besucher des Astenberges auch heute an einer wahrhaft überraschenden Aussicht auf die reizendsten Landschaften. Er sieht die langgestreckten Ruhrberge und die Kegel der Lenneberge, aus den Thälern blitzen silberglänzende Flüsse und Bäche zu ihm hinauf, grüne Wiesen schimmern fern und nah, dichte Waldungen umkränzen malerisch Thäler und Berge, von den Berghängen grüßen saubere Dörfchen und durch die Lichtungen der Wälder winken schlanke Kirchthürme und lachende Städtchen, oft noch halb vom Grün üppiger Baumgruppen verdeckt. Am östlichen Horizonte findet das suchende Auge Wilhelmshöhe bei Kassel, vom Westen her aber hält der Vater Rhein seine Umschau und sendet 30 Stunden Wegs dem auch nach ihm hinüberlugenden Astenberge seinen Gruß!
So war es gewlß ein guter Gedanke, als 1843 gelegentlich der tausendjährigen Wiederkehr des Vertrages von Verdun, der das mächtige Reich Karl’s des Großen zum ersten Mal zersplitterte und durch den Gallien von Germanien getrennt wurde, der Plan entstand, den hochragenden Zeugen einer wechselvollen Vergangenheit und den Mittelpunkt einer an malerischen Landschaften so reichen Gegend zum Gegenstande einer besonderen Fürsorge zu machen und ihn mit einem Aussichtsthurme zu schmücken, der, zugleich ein Denkmal an vergangene Zeiten,
[372] Heimischen und Fremden den Reiz noch zu erhöhen, die köstliche Fernsicht noch zu erweitern vermöchte. Und wenn auch später Jahrzehnte dahingegangen sind, ehe der Plan ausgestaltet werden konnte, so wird doch jetzt die feierliche Grundsteinlegung am 22. Juni d. J, erfolgen und der jene Gegenden Bereisende sich bald auch den Thurm auf dem Astenberge nicht entgehen lassen dürfen, der, gegen dreißig Meter hoch, oben eine Gallerie bieten soll, welche mindestens zehn Personen zugleich den Aufenthalt und den Genuß der in jeder Beziehung ausgezeichneten Umgebung gestattet. D. T.
Lenz-Hymnus.
Heilig spricht dich
Die Menschenseele,
Du wonniger Frühling!
Weil frommen Glauben
Huldvoll du kündest
In duftigprangenden
Blüthenlehren!
Hold erschauert
Die ganze Erde
In träumendem Hoffen!
Als hehrer Streiter
Kommst du gerüstet
Mit klaren, schimmernden
Glanzbeweisen!
Golden strahlst du
In freudig hehrem,
Unendlichem Segen!
Und Alles athmet,
Unbewußt folgend,
Berauschend wehende
Liebeswonne!
Sophie von Khuenberg.
Tanzen für ewige Zeiten. In den zwanziger Jahren des 10. Jahrhunderts befand sich Kaiser Heinrich I. von seinem Herzogthume Sachsen aus auf einer Inspectionsreise durch die zweite sorbische Grenzmark, die Uferlandschaften der weißen Elster und der Saale. Die Irmensäulen der heidnischen Sorben waren längst gestürzt, und auf den Stätten vieler ehemaligen heiligen Haine erhoben sich längs der Grenzmark die kaiserlichen Zwing-, Trutz- und Schutzburgen, von welchen aus die kaiserlichen Vögte die Marken regierten. In seinem innersten Fühlen und Empfinden war indeß das Volk noch vielfach heidnisch, und so wie es das kaiserliche Regiment nur ungern ertrug, so fügte es sich auch nur ungern dem Zwange des Christenthums. Nicht selten fiel es sogar direct in die alten heidnischen Gebräuche zurück und dies besonders, wenn ein Tag herankam, an welchem die Vorfahren zu Ehren des einen oder andern der heidnischen Götter ein heiteres Fest gefeiert hatten. An solchen Tagen wurde die ganze mühsam eingeimpfte christliche Anschauung total vergessen, und die heiteren Klänge alter heidnischer Gesänge begeisterten Jugend und Alter zu ausgelassenen Festen, in denen sie sich voll und ganz den poesiereichen Ueberliefernngen einer sagen- und freudereichen Vergangenheit hingaben, den nicht selten zwingenden Verhältnissen der Gegenwart aber nur wenig oder garnicht Rechnung trugen.
Ein solches Fest fand auch eben statt, als Kaiser Heinrich I. das Land bereiste und zu Pfingsten in die Nähe des Marktfleckens Langenberg (Kreis Gera) kam. Die Bewohner gaben sich in dem heiligen Haine auf dem Hausberge in lautem Jubel der Lust eines gottesdienstlichen Tanzes zu Ehren des sorbenwendischen Liebesgottes Liko hin und achteten es wenig, als ihnen von der Nähe des Kaisers Kunde ward. Ja, auch als der Kaiser ihnen Botschaft schickte, er sitze mit seinem Reisezuge drunten im Thale im Moraste der Heerstraße fest und gebiete seinen Unterthanen, unverweilt in ihre Dorfschaften zu eilen und Zugthiere herbeizubringen, damit er seine Reise fortsetzen könne, – auch da ließen sie sich in ihrem Feste noch lange nicht stören, sondern schickten einfach dem Kaiser die Antwort: Sie könnten nicht kommen; sie hätten all’weil zu tanzen! Es wird nicht erzählt, wie der Kaiser diese Antwort im ersten Augenblicke aufgenommen hat, wohl aber, welchen Bescheid er den Tanzenden endlich zurücksagen ließ, und dieser war jedenfalls wohlüberlegt.
„Wohl,“ so lautete er, „wenn sie heute tanzen wollen, so sollen sie vom nächsten Jahre an bis in alle Ewigkeit tanzen zur Frohn!“
Und so kam es. Der heidnische Opfertanz wurde umgewandelt in einen christlichen Tanz an Gerichtsstelle, der Rolandssäule zu Langenberg. An Stelle der heidnischen Priester saßen an der Säule nun die kaiserlichen Richter, deren jüngster den Tanz eröffnete. Der Landrichter von Gera führte in Amtskleidung den Vorsitz, ihm zur Seite saßen die Gerichtsschöffen von Langenberg und den umliegenden Dörfern. Der Gerichtsplatz war durch die bewaffnete Mannschaft Langenbergs abgesperrt; die Namen der Tanzpflichtigen wurden zu Anfang des Tanzes durch einen Actuar feierlich verlesen. H. M.
Professor Dr. Wilhelm Oncken’s Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen ist ein Geschichtswerk, welches, ebenso eigenartig wie gediegen, der deutschen Wissenschaft zu Ruhm und Ehre gereicht. Obgleich von verschiedenen Persönlichkeiten ausgeführt, haben wir doch ein harmonisches Ganzes erhalten, welches die Tiefe der Specialforschung mit dem umfassenden Blick genialer Universalität verbindet. Nach der Methode unserer heutigen Geschichtsforschung, welcher strenge Quellenkritik die Grundbedingung aller historischen Darstellung ist, durchaus objectiv sich an die Thatsachen haltend, ermangelt das Werk wieder auch nicht des künstlerischen Geistes, der überall wohlthuend zu Tage tritt und eine ganz besondere Anziehungskraft ausübt. Hierdurch, wie durch die ganze Art der Darstellung, welche trotz des kritischen Geistes, der sie durchdringt, in ihrer Klarheit, plastischen Gestaltung und dramatischen Belebtheit allgemein verständlich, geistreich und formenschön zugleich ist, fühlt sich auch der Nichtgelehrte, der gebildete Laie, allgemein zu dem Buche hingezogen, und dies berechtigt, das Werk nicht nur dem Gelehrten, sondern auch dem größeren gebildeten Publicum in warmer Empfehlung an das Herz zu legen. Von dem ganzen Werke, unter dessen 26 Mitarbeitern sich die bewährtesten Namen befinden, sind bis jetzt 83 Hefte ausgegeben, in welchen 19 Theile der verschiedensten Epochen vollendet und mehrere andere begonnen sind. Sämmtliche Bände sind mit zahlreichen ebenso instruktiven als anziehenden Abbildungen kulturhistorischer Denkmäler aller Art reich ausgestattet. – Möge besonders die von der Verlagshandlung G. Grote in Berlin veranstaltete neue Subscriptionsausgabe des Werkes in Lieferungen, wodurch zunächst die Erwerbung der ersten und der vierten Hauptabtheilung, die Geschichte des Alterthums und der neuesten Zeit umfassend, wesentlich erleichtert werden soll, in den weitesten Kreisen die verdiente Beachtung finden!
Anfrage. Besteht in Deutschland eine Anstalt, in welcher in älteren Jahren Erblindete ein menschenfreundliches Asyl finden? Das Unglück sucht seine Opfer am häufigsten in den Kreisen, die durch angestrengte geistige Thätigkeit, namentlich durch Unterrichtgeben sich Jahre lang redlich, wenn auch kümmerlich ernährt. Wo öffnet sich für Solche eine milde Stiftung, die sie davor bewahrt, die öffentliche Wohlthätigkeit ansprechen zu müssen?
Allerlei Kurzweil.
Auflösung des magischen Tableaus „Die Eule“ in Nr. 21:
„Alle wissen guten Rath, nur der nicht, der ihn nöthig hat.“
Kleiner Briefkasten.
C. L. in B. Einen guten Rathgeber für die Reise nach Nordamerika finden Sie in dem soeben erschienenen trefflichen Werkchen „Das Reisen nach und in Nordamerika, den Tropenländern und der Wildniß“ von Heinrich Semler in San Francisco. (Wismar, Hinstorff’sche Hofbuchhandlung.) Für die Ihnen so schwer fallende Wahl zwischen einem deutschen und englischen Passagierdampfer dürfte die folgende Stelle aus dem genannten Buche über die Behandlung der Zwischendeckpassagiere auf englischen Dampfern maßgebend sein:
„Das Benehmen der Schiffsmannschaft gegen die Passagiere, namentlich gegen solche, welche nicht englisch sprechen, sich also nicht mit Worten zur Wehr setzen können, ist häufig empörend roh. Ich habe gesehen, daß Seekranke im buchstäblichen Sinne des Wortes aus ihren Kojen geprügelt wurden, weil sie nicht aufstehen wollten, als gereinigt werden sollte. Viele Worte brauche ich darüber nicht zu verlieren, denn die Rohheit und Ungeschliffenheit des englischen Schiffsvolks, vom Capitain bis zum Schiffsjungen herab, ist sprüchwörtlich, und diese Eigenschaft steigert sich zur Brutalität bei den Irländern, welche in der Regel zahlreich an Bord vertreten sind. Diese Schattenseite ist für mich – und ich weiß, daß ich viele Gesinnungsgenossen habe – Grund genug, die englischen Dampfer zu meiden, wo ich nur kann. In den meisten Fällen ist es nur nicht möglich, da dreiviertel der Passagierdampfer der Erde unter englischer Flagge fahren.
Bezeichnend für die Behandlung der Zwischendeckspassagiere auf englischen Dampfern ist unter Anderem, daß sie auf Deck durch ein Seil von den Kajütenpassagieren getrennt werden. Mag das Zwischendeck überfüllt, mag die Kajüte nur spärlich besetzt sein – einerlei, die Passagiere des ersteren werden durch ein Seil eingepfercht, das ein Matrose zu bewachen hat. Wie ein Kettenhund fährt er auf Jeden los, der so verwegen ist, sich der Pferchgrenze zu nähern. Es entspricht das ja auch ganz dem englischen Dünkel den ärmeren Volksclassen gegenüber etc.“ Also hübsch unter deutscher Flagge segeln!
Inhalt: Salvatore. Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein (Fortsetzung). S. 357. – Die Ansteckungswege der Kinderkrankheiten. Von Dr. L. Fürst (Leipzig). 2. Die Verbreitung der Ansteckung. S. 363. – Die Verlobung im Keller. Pfingstgeschichte aus der Zeit der Befreiungskriege. Von J. Baltz. S. 365. Mit Illustrationen S. 365, 367 und 368. – Der Maigraf. S. 370. Mit Illustration S. 369. – Blätter und Blüthen: Ein Thüringer Cantor und sein Werk. S. 371. – Im Sommerrefectorium. S. 371. Mit Illustration S. 360 und 361. – Der Aussichtsthurm auf dem Astenberg. S. 371. Mit Abbildung S. 364. – Lenz-Hymnus. Gedicht von Sophie von Khuenberg. – Tanzen für ewige Zeiten. – Professor Dr. Wilhelm Oncken’s Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen. – Anfrage. S. 372. – Allerlei Kurzweil: Rösselsprung. – Quadrat-Räthsel. – Bilder-Räthsel. – Auslösung des magischen Tableaus „Die Eule“ in Nr. 21. – Kleiner Briefkasten. S. 372.