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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[373]

No. 23.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Brausejahre.
Bilder aus Weimars Blüthezeit.0 Von A. v. d. Elbe.

„Er ist da, Christel! er ist da!“ rief ein frisches hübsches Mädchen, indem es rasch die Thür eines Kämmerchens aufstieß und mehr springend als gehend eintrat.

In dem kleinen Schlafzimmer herrschte noch Dämmerung; das halbe Licht eines Novembermorgens vermochte nicht viel Helle zu verbreiten; kaum erkannte man ein einfaches, weißumhangenes Bett und einige binsenbeflochtene Stühle.

„Aber wie finster ist es noch bei Dir, Langschläferin!“ fuhr die Eintretende fort; sie ging an das Fenster, schlug die Vorhänge zurück, betrachtete fröstelnd den ersten langsam herabflatternden Schnee und trat an das Bett. Eine jugendliche Mädchengestalt richtete sich eben halb empor, öffnete groß die Augen und sagte:

„Wie früh kommst Du, Gustchen, eben graut der Tag, Tante Barbara hat noch nicht angeklopft.“

Auguste von Kalb, die Besuchende, zog einen Stuhl an die Bettkante, setzte sich und ergriff die kleine weiße Hand der Freundin.

Die beiden jungen Mädchen waren sehr verschieden; so frisch, üppig, brünett und lebhaft Gustchen Kalb erschien, so zart, blond und sanft war Christel Laßberg; ihre blauen Augen schimmerten halbversteckt unter schweren Lidern und langen gekräuselten Wimpern; das weiche Oval des Gesichtes, die ruhige Unbeweglichkeit der mattgefärbten Züge bildeten einen Gegensatz zu der lachenden, beweglichen Erscheinung der Andern.

Die frühe Morgenstunde hatte Auguste nicht verhindert, sich festlich zu kleiden, und der weiße Musselinanzug, nach der Mode des Jahres 1775 mit Falbeln ausgeputzt, sowie ein durch die schwarzen, leichtgepuderten Locken geschlungenes gelbes Band stimmten vortrefflich zu dem Roth der bräunlichen Wangen.

„Ich habe Dir unendlich viel zu erzählen!“ sagte sie hastig, mit den Fingern der Freundin spielend. „Gestern Nachmittag, nachdem Du fortgegangen warst, kam ein Expresser von meinem Bruder, welcher meldete, daß er und sein Gast die Nacht durch fahren und heute früh bei uns ankommen würden.“

„Ah! heute?“ sagte Christel, indem sie sich etwas mehr aufrichtete.

„Ja, ja! und sie sind da! Aber höre mich ruhig an, denn ich muß Dir von einer sehr wichtigen Unterredung mit Papa erzählen. Kaum war des Boten Brief eine halbe Stunde in Papas Händen, so ließ er mich rufen. Als ich eintrat, sah ich, daß die Eltern augenscheinlich eine wichtige Besprechung gehabt hatten. Frau Mama saß auf dem Thron am Fenster, und Herr Papa in seinem gelbblumigen Hausrocke ging im Zimmer umher und ruckte so arg mit dem Kopfe, daß der Haarbeutel bald über dem rechten, bald über dem linken Ohre erschien, und das hat immer etwas zu bedeuten. Ich stand und machte meinen Knix, küßte Papa die Hand und fragte, was er befehle?

Er räusperte sich, ja, er klopfte mir die Wange, und Mama wurde roth. Endlich sagte er: ‚Gusta, mein Kind, Dein Bruder kommt zurück und wird einen Gast mitbringen, der ein Freund Seiner Durchlaucht unseres allergnädigsten Herzogs ist, – daher eine Ehre für uns, ihn zu empfangen; man muß ihm das Haus angenehm machen, hörst Du, Gusta! Jugend gesellt sich gern zur Jugend, Dir wird es also dann und wann obliegen, den jungen Mann zu unterhalten.‘ – Mein Herz klopfte vor Vergnügen bei diesem Auftrage! – ‚Nun aber erheischt es meine Vaterpflicht, Dich zu warnen; dieser Doctor Wolfgang Goethe soll ein wilder, unbändiger Jüngling sein, absonderlich gefährlich für jedes wohlgebildete Frauenzimmer; hüte Dich also, nicht zu Denen zu gehören, von welchen er in Büchern schreiben kann! Hüte Dich auch, keinen Gedanken an die Möglichkeit ehelichen Bündnisses aufkommen zu lassen; denn trotzdem er der erwählte Freund unseres Herrn Herzogs Durchlaucht sein soll, ist er nur ein Frankfurter Bürgerssohn und die Verbindung mit einem solchen für ein adliges Fräulein nimmermehr zulässig.‘

Ich schwieg ergeben lauschend, der Papa fuhr, das Haupt bedächtig wiegend fort:

‚Wenn nicht alle Zeichen trügen, wird dieser Herr Wolfgang Goethe für die nächste Zeit der einflußreiche Freund Seiner Durchlaucht werden. Als unser gnädigster Fürst im Winter mit dem Prinzen Constantin und Herrn von Knebel in Paris war, besuchten sie auf der Durchreise den jungen Goethe in Frankfurt. Nachher trafen sie sich wieder in Mainz und ein absonderliches Wohlgefallen an dem Doctor bestimmte unsern Herrn Herzog, ihn zu sich einzuladen; mein Sohn wurde jetzt beauftragt, ihn abzuholen; man estimirt ihn also auffällig genug; er wird hier sehr in seiner Assiette sein –‘

Papa räusperte sich: ‚Ich bin ein alter Mann,‘ fuhr er in kläglichem Tone fort, ‚meine Amtspflichten werden mir täglich lästiger, die Art und Weise der jetzigen Regierung stimmt nicht mehr zu mir, ich sehe mich nach einem Nachfolger um! Aber es ist mir nicht gleichgültig, wer meinen Platz einnimmt; das Glück des Landes hängt von der würdigen Besetzung dieses hohen Postens ab; meine Pflicht ist es, dem Herrn Herzoge einen tüchtigen Mann vorzuschlagen. Dein Bruder ist bereits Kammerjunker und hat mich in meinen Geschäften oftmals unterstützt, in [374] seine Hände möchte ich mein Amt niederlegen. Dieser Wunsch muß mit Delicatesse behandelt werden; Du, Gusta, bist aber vielleicht im Stande, durch den Günstling für Deinen Bruder zu wirken; man darf kein Mittel gering achten, das Familienwohl zu fördern! Politesse also, mein Kind, Zuvorkommenheit, aber in den angedeuteten Grenzen!‘

Ich verneigte mich mit einem: ‚wie der Herr Papa befiehlt!‘ und verließ nach seinem Winke das Zimmer?

Was sie von mir wollen, sehe ich klar genug, Christel, der Speck soll ich sein, um für den Bruder die Maus zu fangen; ich soll seinetwegen mit Doctor Goethe liebäugeln, pah! ich weiß, was ich will, und werde mein eignes Vergnügen bedenken: ist er schön, gefällt er mir, wie sein ‚Weither‘, so gehorche ich, wie weit, das ist meine Sache.

Ich schaute, als ich die Treppe hinanstieg, in’s Gastzimmer, da war Alles auf das Beste hergerichtet; ein Wachslicht auf dem Leuchter und zwei Flaschen Wein, wenn sie in der Nacht kämen. Als ich an das Fenster trat und in den Hof hinaus sah, bemerkte ich, daß man sehr gut in mein Stübchen im Seitenflügel blicken könne; also kann ich auch sein Fenster übersehen. Und nun rathe, Christelchen, warum ich nicht gleich her kam, um Dir Alles zu erzählen; rathe, was ich Wichtiges zu beschaffen hatte?“

Das stille, blonde Mädchen lächelte; „nun?“ fragte sie entgegen ohne sonderlichen Eifer.

Auguste ertrug die Ruhe der Freundin schwer:

„Rathen wirst Du es doch nicht, Du harmlose Taube!“ rief sie, „so wisse denn: ich kramte mein Zimmer um! Vor das bewußte Fenster trug ich mein Nähtischchen, auch das Spinnrad, Stuhl und Bank; ich schürzte die Vorhänge etwas höher, rieb die Scheiben klar, und ersah; mir eine Ecke, von der aus ich auch ungesehen hinüberspähen; konnte; dann nahm ich ‚Werther’s Leiden‘, sein himmlisches Buch, bei dem wir so oft süße Thränen weinten, und setzte mich, in Vorgefühlen schwelgend, auf den neuen Platz. Daß ich in dieser Nacht, wo er jeden Augenblick ankommen konnte, nur halb schlief, wirst Du begreifen! Endlich, als kaum der Tag graut, tönt ein Posthorn, ich höre das Knarren der schweren Hausthür, des Bruders Stimme auf dem Corridore, Thüren werden geschlagen, Koffer werden die Treppen herauf geschleift. Bebend vor Kälte und Erwartung stürze ich im Dunkeln an’s Fenster – da wird drüben das Zimmer hell – man hat Licht angezündet? –“

„Und Du hast ihn gesehen?“ rief Christel, sich rasch aufrichtend und mit flüchtigem Roth übergossen.

„Zwei Schatten habe ich gesehen, welche sich die Hände schüttelten, dann ging mein Bruder hinaus und die Treppe hinab nach seinem Zimmer; und nun kommt das Beste: er trat an das Fenster und sah sich um; aber das Licht stand hinter ihm, ich gewahrte nur eine Silhouette und auch die nur kurze Zeit und undeutlich, aber getrost, heute werde ich ihn ordentlich sehen! Christel, begreifst Du meine Freude? Mit ihm, dem Dichter des Werther, unter einem Dache!“

Es war schwer zu fragen, ob Christel begriff oder nicht; sie hatte die Arme über den Kopf gelegt, die großen blauen Augen mit träumerischem Ausdruck hinauf in die Falten des weißen Bettumhangs gerichtet. Als sie die Antwort schuldig blieb, wurde Auguste ungeduldig.

„Du bist stumm wie ein Fisch!“ rief sie, „warum sitze ich noch hier? Vielleicht kann ich ihn am Fenster sehen, es ist hell genug! Adieu mein kleiner Fisch, mein Goldfisch!“ fügte sie tändelnd hinzu, indem sie eine gelbblonde Locke der Freundin um den Finger rollte, rasch Christel’s weiße Stirn küßte und ebenso lebhaft, wie sie gekommen war, aus dem Zimmer eilte.

Die Zurückbleibende machte keinen Versuch, ihren munteren Gast länger festzuhalten; unbeweglich lag sie da, wie geistesabwesend. Dieser seltsame Zustand hatte sich in ihrer Kindheit oft bis zur Erstarrung gesteigert; jetzt überfiel er sie mehr wie waches Träumen; Fühlen und Denken flossen in einander. Ein süßes unklares Schauen, dem sie sich nicht entreißen mochte, trug sie weit über alle Wirklichkeit hinaus, bis sie gewaltsam aufgerüttelt oder durch zufälliges Geräusch geweckt, wieder zu sich kam und verwundert, manchmal weinend um sich blickte.

Christine von Laßberg war die einzige Tochter des weimarischen Obersten Maximilian von Laßberg. Ihre Mutter, eine Schwedin, war bei der Geburt dieses jüngsten Kindes gestorben. Ihre Brüder, bedeutend älter als sie, hatten sobald wie möglich das Haus verlassen; der alte Oberst war als einer der tyrannischsten Hausväter bekannt, und deshalb fühlten sich die Kinder nicht wohl in der Heimath.

Nach dem Tode seiner leidenschaftlich geliebten Frau nahm er seine unverheirathete Schwester, Tante Barbara, in das Haus, eine vortreffliche alte Dame, welche mit der zärtlichsten Sorgfalt die schwache kleine Nichte aufzog. Anfänglich wollte der Oberst nichts von dem Töchterchen wissen; er hatte einen eigensinnigen Grimm auf das blasse Kind geworfen; nach und nach aber, als er bemerkte, wie ähnlich Christine ihrer schönen, blonden Mutter wurde, gewann er Theilnahme, ja eine stolze Freude, an dem Mädchen. Sie war jetzt siebenzehn Jahre alt und ohne alle Beschränkung aufgewachsen. Weder Vater noch Tante hinderten sie in ihren Neigungen, und harmlos genug waren ja dieselben.

Ihre Freundschaft mit Auguste von Kalb war mehr durch die Verhältnisse, als aus Uebereinstimmung entstanden. Die Häuser der Eltern lagen neben einander, ebenso die Gärten, letztere nur durch eine Stachelbeerhecke getrennt, in der das unbändige Gustchen, stets die Besuchende, manches Stück ihrer Kleidung hängen ließ. Sowohl der alte Kammerpräsident wie der Oberst waren zu hochmüthig oder zu eigensinnig gewesen, um eine Verbindungsthür herstellen zu lassen.

Sie waren Leute der alten Zeit; sie lebten in ihren abgesonderten engen Schneckenhäusern, aus denen sie kaum hervorkrochen, um sich an einem allgemeinen, öffentlichen Interesse zu sonnen. Die Nachbarschaft hatte dazu gedient ein gewisse Spannung zwischen den beiden Häusern zu bilden, welche ihre Nahrung in einem ähnlichen Streben und gehässigen Beobachtungen gefunden hatte. Der Kammerpräsident von Kalb war Excellenz und gründete darauf Ansprüche, welche dem alten, derben Haudegen Laßberg übertrieben vorkamen. Den Kalbs schien alles zu gelingen, während es bei Laßberg vielen Kummer und Verdruß gegeben hatte. Seine Frau war früh gestorben, seine Söhne hatten in Unfrieden das Haus verlassen; die Kalb’schen Söhne dagegen waren gut untergebracht; der jüngere, als Kammerjunker beim weimarischen Hof angestellt, hatte sich vor drei Jahren mit einer reichen Frau vermählt.

Wo man vergleicht, ist der Neid nicht fern; die beiden Herren waren echte Vergleichsbrüder; sie konnten eine Schaar vom Glück begünstigter Leute unbeneidet vorüber gehen sehen, sowie aber dem einen von ihnen Gutes geschah, wurde der andere verdrießlich. Bei dem alten, zeitweise unbeschäftigten Laßberg hatte sich nachgerade eine bittere Stimmung festgesetzt, welche in schlimmen Stunden den Groll über das Schicksal auf den Nachbar übertrug.

Am 3. September dieses Jahres 1775 war die Mündigkeitserklärung des neunzehnjährigen Karl August erfolgt. Die Herzogin Mutter hatte ihm freudig die Geschäfte der Regierung übergeben, sich selbst in das Privatleben zurückziehend. Ihr Einfluß auf den Sohn und ihre Sorge für denselben blieben aber unablässig rege. Sie glaubte den kräftigen, unbändigen Jüngling am leichtesten durch eine Heirath zu zähmen, und vermochte ihn, sich am 3. Oktober mit der reizenden Landgräfin Luise von Hessen-Darmstadt zu vermählen. Das junge Paar war seit vier Wochen in Weimar und der Hofstaat für dasselbe eingerichtet.

Anna Amalie hatte ihrer Schwiegertochter zwei junge schöne Hofdamen abgetreten, die anmuthige, neckische Adelaide von Waldner und die verständige Henriette von Wöllwarth; sie selbst war vorderhand ohne Gesellschaftsfräulein. Diese Stellung bei der allverehrten Herzogin wünschte Laßberg für seine Tochter.

Zufällig hatte Anna Amalie sich tadelnd gegen ihn über Auguste Kalb ausgesprochen und der Oberst die Gelegenheit ergriffen, nach einem väterlich bescheidenen Lobe der Tochter, Christel als Hofdame zu empfehlen. Er wagte sich offen mit seinen Wünschen hervor, da er jetzt wußte, daß „die gefallsüchtige Kalb“; nicht vorgezogen werden würde.

Die Herzogin hatte sich unbestimmt geäußert, Laßberg sah, daß alles auf einen persönlichen Eindruck der Tochter ankomme, und erbat sich die Ehre, sein Kind auf dem nächsten Ball der hohen Frau vorzuführen. Anna Amalie bewilligte diesen Wunsch freundlich. Seitdem gab es keinen andern Gedanken, kein anderes Gespräch im Hause des Obersten, als Christel’s Aussichten, als [375] den Festabend, als die vortreffliche Herzogin und den Putz des jungen Mädchens. Tante Barbara mußte natürlich ihr Pflegekind begleiten; sie war nie so geschäftig, so ängstlich bedacht auf die Mode, so freudig und unruhig zugleich gewesen.

Auch Christel dachte seit dem Morgenbesuch der geschwätzigen Freundin mit unbeschreiblicher Wonne und laut klopfendem Herzen an ihre Aussichten, und diese Gedanken waren es, welche sie in eine tiefe Träumerei versenkten.

Sie hatte seit einigen Jahren Bertuch’s Bilderbuch aus der Hand gelegt und statt dessen mit leidenschaftlich erregten Gefühlen „Götz von Berlichingen“ und jetzt „Die Leiden des jungen Werther“ gelesen.

Jetzt kam Er, der Schöpfer jener Gestalten, für die ihre empfängliche Seele glühte, Er, dessen Ruf schon jetzt die Jugend begeisterte und dem Alter ein bedenkliches, staunendes Kopfschütteln abnöthigte, Er, der Freund des Herzogs, Kalb’s geehrter Gast, der als „gefährlich“ geschilderte Hausgenosse der Freundin. Ein Meer von Gedanken, von Möglichkeiten, Ahnungen und Hoffnungen fluthete über sie herab. Sie sollte, sie mußte ihm begegnen, wenn sie vor der Herzogin auf dem Ball erschien.


2.

Bald nachdem Auguste Kalb von ihrem Besuch im Morgenzwielicht zurückgekehrt war, schritt, vom Fürstenhause über den Markt kommend, ein kräftiger junger Mann dem Hause des Kammerpräsidenten von Kalb zu.

Er war von mittlerer Größe und breitem, knochigem Bau, sein dunkelblondes Haar trug er an den Schläfen in zwei Locken gerollt, nach rückwärts mit einer schwarzen Schleife zusammengebunden. Hell und fest blickte er um sich, und die kräftige Nase, sowie ein energisch geprägter Mund gaben dem Kopfe, trotz aller Jugend und aufblitzenden Leidenschaftlichkeit, etwas Fertiges, Charaktervolles. Ueber dem röthlich violetten Rock mit Stahlknöpfen, der Schooßweste und dem kurzen schwarzen Beinkleide trug er einen weiten dunkelblauen Mantel zum Schutz gegen das Schneestauben des Novembermorgens. In der Hand hielt der rüstig Zuschreitende eine Hetzpeitsche mit Hirschhorngriff, welche er, dann und wann einen Jagdpfiff ausstoßend, lustig über zwei ihn begleitende Rüden schwang, die allemal mit hohen Sprüngen und kurzem Freudengebell antworteten.

Vor der Einfahrt des Kalb’schen Hauses angekommen blieb er stehen; mit vergnügtem Lächeln sah er den von Straßburg erwarteten Landauer Staatswagen an, in welchem diesen Morgen der Kammerjunker mit dem Gaste gekommen war.

„He Philipp!“ rief der Nahende, „bist Du auch mit da? Das ist schön, was macht Dein Herr?“

Die am Wagen beschäftigten Leute traten respektvoll zur Seite, der angeredete junge Diener kam mit dem Hute in der Hand heran.

„Ja, ja, glücklich angelangt, Durchlaucht!“ sagte er schmunzelnd. „Soll ich meinen Herrn Doctor holen? Er ist oben im Gastzimmer.“

„Laß nur, Philipp!“ rief der Herzog Karl August, denn er war’s, und die breite Treppe hinanspringend, öffnete er die Thür des ihm bezeichneten Gastzimmers und stürmte hinein.

Goethe trat ihm entgegen, leuchtende Freude im Antlitz – aber so groß war der Adel dieser Erscheinung, so herrlich die blühende Schönheit dieses Auserwählten unter den Menschen, daß der Herzog einen Augenblick wie gebannt stehen blieb, in Anschauen verloren.

Dann stürzte er auf ihn zu, ihn leidenschaftlich umarmend und ein Mal über das andere jubelnd: „Bist Du da? Habe ich Dich endlich in Weimar, mein Wolf! Mein einziger Freund!“

„Mein theurer, gnädiger Herr!“ entgegnete der Andere, „Sie kommen zu mir? Kalb versprach mir, mich zu Ihnen zu führen.“

„Glaubst Du, ich hätte darauf warten können, Herzensbruder? Gestern erhielt ich durch den Boten die Kunde Deines Kommens, heute laufe ich natürlich selbst her, um zu sehen, ob Du wirklich da bist. Wie wohl wird mir bei Deinem Anblick! Ich athme auf, und Pläne freudigen Lebensgenusses strömen mir zu. Ach, ich habe zu viel Hofluft ertragen müssen!“

„Ich glaubte, Eure Durchlaucht hätten über den Wonnen des Honigmondes alles Andere vergessen?“

„Vergessen, wohl gar Dich? Bleibe mir damit und mit Deiner Durchlaucht vom Halse! Hast Du vergessen, daß wir Brüder sein wollten? Denkst Du nicht mehr an den göttlichen Abend in Frankfurt? Leute, welche per Durchlaucht reden und mir Reverenzen schneiden, habe ich genug. Mich verlangt nach einem Genossen, einem Vertrauten, der nicht unter mir, nach einem Freunde, der neben mir steht, von dem ich gewinnen mag an Lebensfreude und –“ setzte er plötzlich ernst hinzu – „an Weisheit!“

„Mein Fürst!“

„Still! Sag’ Karl, oder ich verlasse Dich und gebe Dir eine Audienz im Kreise meiner stirnfaltenden Räthe.“

„Nun denn, Karl, warum der Spott: von mir Weisheit lernen zu wollen? Von mir, den man einen Ausbund jugendlicher Thorheiten, einen Tollkopf, einen Schwärmer nennt!“

„In Deiner Tollheit, Deiner Schwärmerei liegt Weisheit; die große Weisheit der Wahrheit und Naturwärme, die ich oft mit Diogenes’ Laterne suche und nicht finde.“

„Wie! Du vermissest Wahrheit und Wärme? Sei gerecht, Karl, ein Wort nur, einen Namen halte ich Dir entgegen – Luise!“

Eine flüchtige Röthe streifte die Stirn des Herzogs, und leise seufzend entgegnete er:

„Der Name sagt viel. Aber diese erste Stunde sei dem freudigen Willkommen geweiht! Reiche mir das Glas, schenk’ ein: ein Freudengruß Deinem Hiersein!“

Die Gläser klangen, sie schüttelten einander die Hände, und wie ein Willkommengruß von oben theilte plötzlich die Sonne Schneewolken und Morgennebel, glitzerte auf den letzten Flocken, die wie feines Silber in der Luft tanzten, und strahlte warm in das Zimmer und über die freudig bewegten Jünglinge.

Karl August ergriff zuerst wieder das Wort:

„Es verdrießt mich, daß ich Dich nicht bei mir aufnehmen kann. Du weißt, das Schloß ist vor vier Jahren abgebrannt, und wir sitzen mit Sack und Pack im Fürstenhause. Ganz oben die Kanzlei, meine Gemahlin in der Bel-Etage, unten Damen, Cavaliere, Dienerschaft, was weiß ich, wer alles. Ich habe meinen alten Hofmarschall Witzleben bis zum Verzweifeln gedrückt, daß er mir ein Quärtier für Dich schaffen soll, er windet sich wie ein Wurm und schwitzt vor Angst und Diensteifer, aber ein resoluter Kehraus wird nicht gehalten; so muß ich meinen Gast bei Andern unterstellen. Ich hoffe aber, Du sollst es nicht schlecht haben bei diesen Kalbs; sie sind abhängig von mir, eigennützig, und darum windelweich. Der Kammerjunker wird Dich wie einen jungen Gott tractirt haben? Aber er weiß auch warum! Dann giebt es hier eine Tochter im Hause –“

Goethe lächelte und sein feuriges Auge schweifte zum Fenster hinüber; der Herzog fing den Blick auf.

„Ah, das weißt Du, schon?“ rief er. „Gustchen wirft wohl gar Angeln aus, laß sehen!“

Lebhaft sprang er auf, der Freund folgte, und Beide spähten vorsichtig durch das Fenster.

Ein gar anmuthiges Bild zeigte sich ihnen. Vergoldet vom Sonnenschein, eingerahmt von weißen, bauschenden Vorhängen, neben sich in der Fensterbank ein blühendes feuerrothes Geranium, saß Gustchen Kalb, eine Näherei auf dem Schooße; sie ließ eben den blitzenden Fingerhut so eifrig auf der Scheerenspitze tanzen, als ob es nichts Interessanteres auf der Welt gäbe. Ihre runde Wange brannte, die Augen leuchteten in freudiger Erregung, denn sie hatte eben die lauschenden jungen Männer bemerkt.

„Gut gemacht!“ rief Karl August überrascht, „fürwahr ein schönes Bild! Wie wird meinem Dichter? Ich glaube, sein Quartier gefällt ihm schon.“

Goethe zog den Freund vom Fenster zurück.

„Das Mädchen ist reizend,“ sagte er warm, „der erste Eindruck könnte nicht günstiger sein; was werde ich unter der schönen Hülle finden?“

Der Herzog lachte und zuckte die Achseln.

„Du wirst sehen und – siegen!“ rief er mit komischem Pathos; „aber jetzt zu etwas Anderem. Ich möchte Dich bald einführen, Dir’s wohnlich bei uns machen; Du mußt Menschen und Verhältnisse kennen lernen. Da ist vor allen Dingen meine Mutter. Ich gestehe Dir, daß sie eine kleine Pique auf Dich hat, weil Du gegen unsern alten Wieland Deine stachligen Verse losgelassen hast; aber sie ist versöhnlich, alles Große, Edle zieht sie an, steht mit ihrer herrlichen Natur in harmonischer Wechselwirkung. [376] Du wirst sie kennen und verehren lernen, wie ich es thue; zu ihr führe ich Dich bald. Meine Frau hast Du gesehen –“ Karl August stockte.

„Und bewundert!“ fügte Goethe hinzu. „Die Herzogin ist die reizendste, anmuthigste Dame, die ich kenne.“

„Später von ihr!“ rief der Herzog ungeduldig, „sehen sollst Du sie auch; wen kennst Du sonst noch hier? Ah, meinen Exmentor Görtz; der Graf möchte gern Luisens Oberhofmeister werden, aber ich habe vor der Hand der Schranzen genug. Auch meinen Bruder Constantin kennst Du; er ist und bleibt der weiche, schwärmerische Gemüthsmensch, dabei aber eigensinnig und sehr bestimmt für seine achtzehn Jahre. Eine zärtliche Neigung ist auch schon bei ihm eingezogen. Caroline von Ilten heißt seine Schöne, ein sechszehnjähriges blondes Kind, aber doch erwachsen genug, um die Liebe und Aufmerksamkeit des Prinzen mit leidlicher Grazie entgegen zu nehmen. Constantin wohnt mit seinem biederen Knebel, der noch als Hofmeister fungirt, in Tiefurt, kaum eine Stunde von hier. Was möchtest Du sonst von Weimar und seinen Menschen wissen, ehe ich Dich hinaus führe?“

Goethe zögerte dann sagte er:

„Ich sah bei einem Doctor Zimmermann, den ich mit Lavater in Straßburg traf, unter vielen Silhouetten, die wir beurtheilten, diejenige einer jungen Frau aus den hiesigen Hofkreisen. Das Gesicht hatte, trotz der Unvollkommenheit des Bildes, einen so entzückenden Ausdruck von Liebe und Güte, daß es sich mir unauslöschlich einprägte; ja es verfolgte mich, und ich träumte mehrere Nächte nach einander von dieser Frau. Ein Gesicht, das, sanft und zärtlich im Ausdruck, die Welt klar sieht wie sie ist, aber stets durch’s Medium der Liebe. Von ihr möchte ich hören, sie kennen lernen!“

„Und wer ist es? Wie heißt sie?“ fragte der Herzog gespannt.

„Es ist die Frau des Oberstallmeisters von Stein, geborene von Schardt.“

„Wie! Die Stein? Lottchen Schardt?“ rief Karl August überrascht.

Goethe erschrak. „Habe ich mich geirrt, verdient sie meine Bewunderung nicht?“

Der Herzog entgegnete ernst:

„Sie wird allgemein verehrt; Männer und Weiber nennen sie die bedeutendste Frau unseres Kreises, und gewiß haben sie Recht; für mich ist sie zu ruhig und – erschrick nicht, Freund – zu alt! Das ist ein abscheulicher Fehler, der täglich schlimmer wird!“

Goethe lächelte. „Vielleicht findet man doch nur bei einem gewissen Alter reifen, seelischen Reiz. In welchen Verhältnissen lebt die Dame?“

„Die Dame war lange Hofdame meiner Mutter, dann heirathete sie vor jetzt vierzehn Jahren den Oberstallmeister. Drei ihrer Kinder leben, sie muß dreiunddreißig Jahre alt sein; schön war sie wohl nie, aber es fehlt ihr nicht an Anmuth. Ihr Wesen hat einen sanften Ernst und eine ganz eigene Offenheit. Gesunder Verstand, Wahrheit und Gefühl sprechen aus jedem ihrer Worte, dabei ist sie graziös und freundlich, von tadellosem Tacte und immer gleich an Milde und ruhiger Würde.“

„So habe ich sie mir gedacht!“ rief der junge Dichter mit von Freude und Begeisterung strahlenden Blicken. „Ich brenne vor Verlangen, sie zu sehen! Wo kann ich sie finden?“

„Gemach!“ rief der Herzog. „Steins sind auf ihrem Gute Kochberg, näher bei Rudolstadt als bei Weimar, kaum in vier oder fünf Stunden zu erreichen. Gegen Weihnachten kommen sie zu uns. Neulich waren sie hier, um Luisen vorgestellt zu werden, da habe ich ihre Rückkehr mit dem Oberstallmeister besprochen; bist Du aber gar zu ungeduldig, so will ich in den nächsten Tagen mit Dir hinüber reiten. Laß sehen, heute haben wir Dienstag; am Freitag ist der erste Ball im Stadthause, da dürfen wir nicht fehlen; aber am Sonntag können wir frühzeitig zu ihnen reiten. Stein ist immer begierig, mir seine jungen Pferde zu zeigen, dann hast Du die Frau allein; gelegentlich hoffe ich auf einen Gegendienst von Deiner Seite“ – der Herzog hatte die letzten Worte mit einem verlegen schelmischen Ausdruck vorgebracht, welcher Goethe stutzig machte; er wollte eben eine Frage anknüpfen, als die Thür bescheiden geöffnet wurde und Philipp’s intelligentes Gesicht hereinschaute.

„Der Kammerjunker von Kalb wünscht meinen Herrn Doctor zu besuchen,“ sagte er.

Goethe sah den Herzog an; „soll uns recht sein!“ rief derselbe. Der Kammerjunker trat ein. Er war ein gut aussehender Mann in der Mitte der Zwanzig; nicht ganz so feurig und frisch wie die Schwester, sah er ihr doch ähnlich, nur war ihre kecke Selbstgefälligkeit bei ihm hinter schlauer Zurückhaltung versteckt.

Sein Anzug war mit Sorgfalt gewählt, sein Kopf wohl frisirt und gepudert und sein Benehmen so respectvoll wie möglich.

Nachdem er dem Herzoge mehrere tiefe Verbeugungen gemacht hatte, welche derselbe mit einem raschen: „Guten Morgen, Kalb!“ und kurzem Kopfnicken beantwortete, wandte er sich an den Gast, ihm eine wohlgesetzte Begrüßungsrede des Kammerpräsidenten, seines Vaters, überbringend, welche mit der Bitte schloß, ganz und gar über die Kräfte des Hauses verfügen und bestimmen zu wollen, wen man zum Diner einladen solle.

Er hatte noch nicht ganz geendet, als der Herzog rasch einfiel. „Mich vor allen Dingen! Ich will einmal gemüthlich außer dem Hause essen; dann könnt Ihr den Hofrath Wieland, meinen freundlichen Hildebrand von Einsiedel, Bertuch, Oberforstmeister von Wedel, Musäus –“

Halb mitleidig, halb lachend sah Goethe, wie bei Aufzählung der Namen, welche kein Ende nehmen wollten, das Gesicht des Kammerjunkers immer länger und betretener wurde; er fiel also dem Herzoge, der in seiner heiteren Laune nichts bemerkte, in die Rede und sagte:

„Ich möchte mich, wenn Eure Durchlaucht nichts dagegen haben, vor allen Dingen dem Hausherrn präsentiren.“

Karl August erklärte sich einverstanden; er gebot dem Kammerjunker voran zu gehen und sie anzumelden; Kalb eilte fort.

„Wir wollen uns einen ungebunden lustigen Mittag machen, lieber Junge!“ sagte der Herzog, des Freundes Arm ergreifend. „Und nun komm, der alte Perrückenstock wird sehnlichst unser harren!“

(Fortsetzung folgt.)




Der Holzknecht.

Aber heunt is a Tag
Und da schaugst Dir nit gnua;
Wier i ’naus bin in Wald
Um a Drei in der Fruah!

5
Die Sunna und d’ Vögei’n –

Dös glanzt und dös schreit;
Ja mei’, in der Fruah
Hat der Tag halt a Freud.

Und werd’s nachher Zwölfe,

10
Kimmt’s Weibei daher;

Und bringt mir mein Buabn –
Ja, was willst denn no’(ch) mehr?

„Jetzt krieg’n ma a Suppen,
Du Fretter[1], Du kloaner!

15
Gel’, d’ Holzknecht’, die g’falln Dir

Werst aar amal[2] oaner!“

Müd werd ma wohl ofl[3]
Aber na moan’ i schier,
Wenn i Enk wieder siech’:[4]

20
Daß i gar nix mehr g’spür!


 Karl Stieler.


  1. unbeholfener kleiner Mensch
  2. wirst auch einmal
  3. bei dieser Arbeit
  4. wenn ich Euch wieder sehe


[377]

Der Holzknecht.
Nach dem Oelgemälde von C. Raupp.

[378]

Die Ansteckungswege der Kinderkrankheiten.

Von Dr. L. Fürst (Leipzig).
3.0 Die Maßregeln gegen die Ansteckung.

Als Schutzmittel gegen Uebertragung von Krankheiten vermag vor Allem ein vernünftiges hygienisches Verhalten des Kindes nach dem Grundsatze „Principiis obsta“, „Bekämpfe die Anfänge“, schon viel zu leisten. Abhärtung und Reinlichkeit der Haut, gründliche Lüftung der Lungen, Vermeidung des so gefährlichen Staubes, Pflege des Halses als der Eingangspforte vieler Ansteckungskeime – das ist mehr werth, als ein charakterloses „Hangen und Bangen“. Statt zu fürchten, ob etwas im Halse ist (nebenbei gesagt ist diese Furcht eine Plage für den Arzt), gilt es zu schauen. Man übe sich also nach Anleitung durch den Arzt, bei Tageslicht oder mit einem Lichtstümpfchen (nicht mit einem hohen wackligen Licht auf einem Paradeleuchter, oder mit einer Petroleumlampe) Mandeln und Gaumen täglich zu besichtigen, indem man mit einem festen Speiselöffel die Zunge herabdrückt. Man gewöhne das Kind an diese Empfindung, um nach und nach seinen Widerstand und den Brechreiz zu überwinden. Das Kind lernt bald diese Manipulation ertragen, und es unterbleibt der unangenehme Kampf zwischen Arzt und Kind, wenn letzteres ungeübt ist und sich mit allen Kräften gegen das „Hineinsehen“ wehrt. Man lehre ferner jedes Kind so frühzeitig wie möglich gurgeln, erst mit kaltem Wasser, dem man später Salbeithee, Spiritus oder dessen chlorsaures Kali (einen Kaffeelöffel auf eine Champagnerflasche Wasser), wenn man will, unter Beifügung von einem Eßlöffel Salicylmundwasser, beimischen kann.

Wenn dreimal täglich (früh vor dem Frühstück, Mittags nach dem Essen, Abends vor dem Schlafengehen) durch Gurgeln einer kleinen Tasse solcher Lösung eine Reinigung des Halses und der Mundhöhle, auch ein Ausspülen der Nase mit lauem, schwach salzigem Wasser erfolgt, dann kann sich kaum etwas in den Einbuchtungen der Mandeln und den Grübchen der Schleimhäute festsetzen. Getreu der Mahnung: „Ne pestis intret, vigila“ („Sei auf der Hut, damit die Seuche keinen Eingang finde“) wird man so eine wirksame Prophylaxis, das heißt Krankheitsverhütung am besten anbahnen.

Freilich gehört hierzu, als nothwendige Ergänzung, daß man die Kinder möglichst nicht dem Verkehr mit Angesteckten oder der Ansteckung Verdächtigen aussetzt, sei es in Familien, oder auf Spazierwegen, Spielplätzen und dergleichen. Vor Allem isolire man ein erkranktes Kind rechtzeitig und vollständig; diese Absperrung erweist sich wohl manchmal als überflüssig, ist aber das einzige Mittel, um bei Verdacht auf Infectionskrankheit die epidemische Weiterverbreitung zu verhindern. Ein Kind, das verdächtige Krankheitssymptome zeigt, nicht zur Schnle zu schicken oder daselbst nicht zuzulassen, ehe der Arzt den Fall als unbedenklich bezeichnet hat, sollte allgemein, schon aus Rücksicht auf die anderen Schulkinder, als Regel gelten. Was die schulpflichtigen, aber anscheinend gesunden Geschwister eines erkrankten Schulkindes betrifft, so sind diese auf einige Zeit vom Schulbesuche auszuschließen, und zwar bei Masern acht, bei Diphtherie vierzehn Tage etc., einmal, weil sie möglicher Weise auch schon angesteckt sind und die Krankheit bei ihnen nur noch nicht zum Ausbruche gekommen ist, sodann aber, weil sie Träger des Ansteckungsstoffes sein können, was, trotz erhobener Zweifel, doch als möglich anzusehen ist. Wir verkennen die Störung nicht, die solche Lücken auf den Schulbesuch und die Disciplin üben, ader besser diese leiden, als daß Todesfälle die Reihen lichten.

Aus letzterem Grunde sollte man auch die Genesenen nur nach vollständiger Wiederherstellung und nach wiederholtem Baden auf’s Neue zur Schule lassen, völlig frei von etwaigen in ihren Hautschuppen, Kleidern etc. haftenden Krankheitsstoffen. So sehr übermäßige Aengstlichkeit schadet, so nachtheilig sind nachlässige Befolgung, heimliches Umgehen derartiger Vorschriften. Eine energische ärztliche Beaufsichtigung der Schulen und Bewahranstalten, besonders aber der Spielschulen und Kindergärten ist unter allen Umständen dringend zu wünschen.

„Sie müssen desinficiren!“ – Dieses Verlangen, gegenwärtig wohl allgemein nicht nur als modernes Schlagwort, sondern als wissenschaftlich berechtigte Forderung anerkannt, regt bei jeder Mutter die Gegenfrage an: „Was kann und soll die Desinfection erreichen? Womit und wie soll ich desinficiren?“

Versuchen wir diese Fragen in Kürze zu beantworten.

Da wir wissen, daß die Ansteckungsstoffe wahrscheinlich Spaltpilze sind, die sich rasch ins Unglaubliche vermehren und an Allem haften, so ist es geboten diese Krankheitskeime rasch zu zerstören oder doch unschädlich zu machen, und dies ist die Aufgabe der „Desinfection“. Schon das fleißige Lüften ist eine Art Desinfection; denn es verhütet ein dichtes Ansammeln jener kleinsten Pilze in der Luft des Zimmers, im wohlthuenden Gegensatz zu früher, wo man die Krankenräume ängstlich gegen die Luft absperrte. Im richtigen, guten Krankenzimmer darf heutzutage keine übelriechende, verdorbene Luft sein, das ist die Grundbedingung aller Desinfection.

Fig. 1.0 Die Platin-Glühlampe.

Damit ist aber noch keineswegs der Zweck, die Aufgabe derselben völlig erfüllt. Ebenso wenig kann das sogenannte „Räuchern“ die Desinfection ersetzen, sei es, daß man darunter das Entwickeln starker, alles übertäubender Gerüche versteht, vom Essig bis zum Räucherpulver, oder die Entwickelung von Ozon. Den wunderbar erfrischenden und belebenden Duft der Nadelholzwälder möchten wir gern in das Zimmer hereintrageu. Instinctiv fühlen wir das Reine, Gesunde dieser Waldluft. Das Verdunsten ätherischer Oele, wie Eukalyptus-, Lavendel- oder Terpentinöl, bringt schon beim Sprengen oder Zerstäuben jene angenehme Atmosphäre im Zimmer hervor. Ein Präparat „Coniferen-Geist“ ist eigens für diesen Zweck zusammengesetzt. Neuerdings ist es das Ozogen, wahrscheinlich ein leicht darzustellendes Gemisch von Alkohol, Essigäther, Lavendelöl und Laatschenöl, welches auf der in jüngster Zeit aufs Neue bekannt gewordenen Davy-Döbereiner’schen Platin-Glühlampe (Fig. 1) eine langsame Oxydation und stundenlange Ozonbildung veranlaßt. Diese Lampe ist zwar, streng genommen, nur ein Toilettengegenstand, aber dennoch kann man sich überzeugen, daß in bewohnten Räumen, speciell in Krankenzimmern die einmal angezündete, dann nach dem Verlöschen fortglühende Lampe eine Desodorirung von durchaus wohlthuendem Charakter vornimmt. Uebler Geruch wird nicht nur verdeckt, sondern die Luft auch durch vermehrte Sauerstoffentwickelung merklich verbessert.

Damit ist nun freilich auch die Grenze der Leistungsfähigkeit erreicht und schon gesagt, daß Krankheitskeime dadurch noch keineswegs zerstört werden. Man erreicht allenfalls eine Luftverbesserung, aber keine wirkliche Desinfection.

Wenn wirklich ernste Krankheiten infectiösen Charakters drohen oder schon vorhanden sind, muß man es sich stets gegenwärtig halten, daß alsdann nur ein durchgreifendes, pilztödtendes Verfahren am Platze, jede halbe Maßregel aber in ihrer Wirkung unbefriedigend, nutzlos ist. Ja, noch mehr – gefährlich ist jede dilettantenhafte Spielerei; sie täuscht uns einen vermeintlichen Schutz gegen Ansteckung vor, wiegt uns in Ruhe und Sicherheit, ohne jede Bürgschaft dafür. Ist schon im täglichen Leben „Nichts halb zu thun edler Geister Art“, so bewährt sich dies Wort Wieland’s ganz besonders in der Frage der Krankheitsverhütung. Energisch, gründlich, ja fast rücksichtslos – das ist hier, wo es sich um Gesundheit und Leben handelt, das einzig Richtige. Wer freilich für Möbel, Kleider, Wäsche mehr zittert, als für das [379] Wohl seiner Kinder, der fange lieber nicht erst mit halben, zaghaften Desinfectionsversuchen an. Wir haben jetzt Stoffe, von denen wir wissen, daß ihre Dämpfe die Krankheitskeime ertödten, oder doch ihre Weiterentwickelung hemmen, freilich unter ihnen so kräftig wirkende, daß der menschliche Organismus ihrer zerstörenden Kraft selbst nicht widerstehen, in ihnen nicht mehr athmen könnte.

Am populärsten und bis zu einer gewissen Stärke für den Menschen unschädlich, nur für die kleinsten Organismen ein Gift, ist, seit Lister’s Untersuchungen, die Carbolsäure. Sie vereinigt den Zweck der Desinfection mit dem der Verdeckung schlechter Gerüche in einer bekanntlich so ausgezeichneten Weise, daß sie nicht nur für den Operateur und Arzt, sondern auch für den Nichtarzt fast unentbehrlich geworden ist. In fünfprocentiger Lösung (die man sich ja bei reichlichem Bedarf aus reiner krystallisirter Carbolsäure selbst herstellen kann) ist sie zum Reinigen von Instrumenten, Geräthen, Geschirren, Möbeln, Kleidern und Wäsche verwendbar, macht die Ausleerungen und Absonderungen unschädlich und erweist sich zum Verbessern der Luft in Krankenzimmern, sowie in den übrigen Wohnräumen als recht geeignet, wenn man den Aufenthalt des kranken Kindes und seiner Umgebung in den betreffenden Räumen nicht gut unterbrechen kann.

Fig. 2.0 a. Handdruck-Zerstäuber nach Richardson und Lister.0 b. Desgleichen mit vierfachem Strahl und beweglichem Rohr.

Schon durch das Sprengen des Fußbodens mit Carbollösung wird dieser Zweck einigermaßen erreicht; noch besser, indem man alte Gardinen, nachdem sie in Kaliseifenlösung (ein Loth reinste, unverfälschte sogenannte „schwarze Schmierseife“ auf zehn Liter warmen Wassers) gut ausgewaschen, dann getrocknet worden sind, an Bindfaden in der Nähe des Krankenbettes aufhängt und diese dann ansprengt, ein Verfahren, welches besonders in ärmeren Familien, die kein Geld zur Anschaffung eines Zerstäubers haben, recht zweckmäßig (zumal bei Keuchhusten) anzuwenden ist.

Die beste Form der Lnftreinigung durch Carbollösung ist, in privaten Verhältnissen, die Zerstäubung. Die kleinen Handzerstäuber (Pulvérisateurs oder Rafraîchisseurs) die man zu Toilettenzwecken hat, sind nicht übel, aber unzureichend, da sie keinen ununterbrochenen, ergiebigen Strahl geben. Besser sind die mit zwei Gummiballons versehenen Apparate (Spray), wie sie seit 1866 Richardson zum Unempfindlichmachen bestimmter Hautgebiete durch Aether zuerst empfahl und Lister in verbesserter Form (anfangs auch als Handgebläse) behufs Herstellung eines antiseptischen Sprühregens angab. (Fig. 2. a.) Solche Zerstäuber mit doppeltem Gummiballon sind überall vorräthig, leicht anwendbar und ganz ungefährlich. Der mit ihnen hergestellte Carbolnebel ist etwas stark abkühlend, weshalb man die Carbollösung zu diesem Zweck erwärmt benutzt.

Ein zur Erzeugung eines besonders ergiebigen Sprühregens geeigneter Apparat ist der große Handzerstäuber mit vier in einem Bleirohr eingeschlossenen, parallel neben einander liegenden Röhrchen. (Fig. 2. b.) Dieser bei Karl Katzenstein (Leipzig) vorräthige Zerstäuber hat noch den Vorzug, daß das vierfache Rohr biegsam ist, seine Strahlenbündel also nach beliebigen Richtungen hinsendet.

Fig. 3.0 a und b. Dampf-Zerstäuber nach Waldenburg u. A., mit Sicherheitsventilen. c. Großer Carbol-Spray. d. Sprühbrunnen nach Heinrici.

Statt des Handdrucks hat man nun, wie bekannt, den Dampf auch für diesen Zweck dienstbar gemacht und das ursprünglich sehr einfache Sigle’sche Kesselchen an den eigentlich für Inhalationen bestimmten Apparaten nach und nach zu immer größerer Vollkommenheit gebracht. Besonders sind es Sicherheitsventile und Erleichterungen in der Füllung, welche den auf gleichem Princip beruhenden kleinen Zerstäuber von Waldenburg (Fig. 3. a.) auszeichnen, während andere (Fig. 3. b.) wieder durch einen Handgriff leichter transportabel sind. Der heiße Dampf verdünnt oberhalb des Röhrchens, das aus dem mit Carbollösung gefüllten Glas emporsteigt, die Luft und saugt die Lösung dadurch empor, sodaß sie, mit dem Dampf fortgerissen, zu einem Carbol-Dampfnebel zerstäubt wird. Mit Vortheil kann man schon solche kleine Apparate zur Luftreinigung benutzen. Besser freilich, und zugleich eleganter, ja eine Zimmerzierde, ist der von Louis Heinrici in Zwickau (Sachsen) hergestellte „Sprühbrunnen“ (Fig. 3. d.), der, nachdem man die Schale mit Carbollösung gefüllt hat, die Luft im Zimmer desinficirt. In größtem Maßstabe wirkt auf gleiche Weise der mehr zu chirurgischen Zwecken dienende „Dampf-Spray“ (Fig. 3. c.), der ein bis zwei Stunden lang nach beliebigen Richtungen mit großer Gewalt eine bedeutende Carbol-Dampfwolke entsendet und jedenfalls die in der Luft schwebenden Krankheitserreger in sehr energischer Weise unschädlich macht. – Außer diesen stillstehenden Dampf-Zerstäubern sind neuerdings noch solche angegeben worden, die von selbst eine drehende Bewegung ausführen und, nach dem Principe der Turbine, die Carbollösung entweder allein (Fig. 4 a), oder gemischt mit Wasserdampf zerstäuben, wie in dem von Dr. Guttmann angegebenen imposanten und prompt arbeitenden „Rotirenden Desinfections-Apparate“ (Fig. 4 b), welcher bei Ed. Meßter in Berlin vorräthig ist. – Neben der Carbolsäure, die meist in flüssigem, wenn auch fein vertheiltem Zustande zur Anwendung gelangt, sind chemische Körper zu nennen, welche durch Entwicklung bacterientödtender Gase eine ganz eminente Desinfectionskraft besitzen. Schon lange ist in dieser Beziehung das Chlor bekannt, welches als Gas den Raum erfüllt, nachdem man in einem flachen Gefäße ein Pfund Chlorkalk mit einem Pfunde Salzsäure übergossen hat. Das sich entwickelnde Chlor, dessen specifischer Geruch gar manchen an einen Todesfall erinnert, wie der nur Wenigen unangenehme des Carbol sofort an ärztliche, speciell chirurgische Thätigkeit, oder an Desinfection gemahnt, tödtet in gehörig geschlossenen Krankenräumen recht gut alle Mikro-Organismen, die etwa in der Luft, [380] oder an Gegenständen, Möbeln etc. haften. Ebenso zerstört die schweflige Säure, die man durch Verbrennen von Schwefelfaden oder Schwefel herstellt, die Pilze. Aber leider ist die Handhabung unbequem und, trotzdem man den Schwefel meist auf eiserne Platten legt, manchmal feuergefährlich. Zu erwähnen ist noch, daß die Verbrennung oft nur theilweise erfolgt. Nicht minder als Chlor und Schwefel vermögen die schweren orangegelben Bromdämpfe die Ansteckungsstoffe in Räumen, die vorher zum Aufenthalte eines kranken Kindes gedient hatten, zu vernichten, wenn man sie aus höher gelegenen Partien des Zimmers in die tieferen herabsinkeu läßt. Da das Brom jedoch sehr flüssig ist und demnach sich schwer bis zum Momente des Gebrauches aufheben lassen würde, so war es eine praktische Idee des Chemikers Dr. Adolph Frank in Charlottenburg, es an Kieselguhr zu binden, jene in der Lüneburger Haide sich findende poröse Masse von muschelförmigen Diatomeen. Hieraus geformte kleine Stangen ermöglichen, durch die gleichmäßige Vertheilung des Brom, einmal ein ganz allmähliches Verdunsten, sodann aber auch eine so genaue Dosirung, daß man den nöthigen Bromkieselguhr sich entsprechend dem Cubikinhalte des zu desinficirenden Raumes (Länge X Breite X Höhe) leicht berechnen und, da für jeden Cubikmeter fünf Gramm der Masse erforderlich sind, ohne Weiteres abmessen kann. Die Anwendung dieses recht hübschen Präparates ist nun sehr leicht, da sich, sobald man die kleinen Stangen der Luft aussetzt, das Gas von selbst entwickelt. Man stellt entweder die Flasche offen in einen Teller mit Wasser und stülpt ein Glas glockenartig darüber, bis es mit seinem Rande etwas unter dem Wasserspiegel ist (Fig. 5 a.). Oder man bringt es in eine Flasche mit Zu- und Abflußansätzen (Fig. 5 b), die man mit Gummischläuchen oder Gebläsen derart verbinden kann, daß sich das Gas direct an bestimmte Stellen, die man desinficiren will, vermöge seiner eigenen Schwere hinleiten läßt. Schlüssellöcher, Fenster etc. müssen dabei fest geschlossen, Metallgegenstände, wie Schlösser, Lampen oder dergl., durch Bestreichen mit Petroleum oder Eau de Cologne geschützt, Kleider, Teppiche, Möbel, Betten, Geschirre aber den Dämpfen ausgesetzt werden. Der Geruch ist durch aufgespannte Tücher, die mit Salmiak getränkt sind, leicht wieder aus dem Raume zu tilgen.

Fig. 4.0 a. Kleiner rotirender Dampf-Zerstäuber.0 b. Großer rotirender Dampf-Zerstäuber nach Meßter.

Chlor, schweflige Säure und vor Allem Brom sind souveraine Mittel zur Tilgung von Ansteckungsstoffen bei Kinderkrankheiten, sei es in Privaträumen, oder in Schulclassen und Bewahranstalten. Wo sie über Nacht ihre Wirksamkeit ganz und voll entfaltet haben, ist alles organische Leben, speciell die Existenz der Krankheitserreger, am Morgen erloschen. Der Raum und was in ihm war, ist infectionsfrei. Selbst die sonst auch noch für die Umgebung gefährliche Leiche eines an einer ansteckenden Krankheit verstorbenen Kindes ist nicht mehr in so hohem Grade gefährlich, so erwünscht auch ihre baldige Entfernung aus den Räumen der Wohnung ist. Besonders sind die Einrichtungsgegenstände desinficirt; einiges Andere bedarf aber noch der Erwähnung.

Will man der Ansteckung und Weiterverbreitung gründlich vorbeugen, dann muß es Grundsatz sein, daß, soweit dies überhaupt möglich ist, nichts undesinficirt das Krankenzimmer verlasseu sollte.

Waschbare Kleider und Wäsche des Kindes dürfen nicht ausgeschüttelt werden, wodurch sich die trockenen staubförmgen Pilze mit der Stubenluft verbinden und weiter getragen würden, sondern sind im Krankenzimmer in ein Gefäß einzulegen, welches mit der oben erwähnten Kaliseifenlauge gefüllt ist. Dieses schon erwähnte Mittel, im wahrsten Sinne ein einfaches Hausmittel, ein wenig beachtetes „Aschenbrödel“ des Hanshaltes, ist von trefflicher und sicher desinficirender Kraft, und besonders zum Durchtränken der Wäsche und zum Abwaschen des Fußbodens in Krankenräumen, schon seiner allgemeinen Verbreitung und Billigkeit wegen geeignet. Wäre es nicht eine Art Entweihung, so könnte man auf dies schlichte Mittel die Worte änwenden:

„Warum in die Ferne schweifen?
Sieh! Das Gute liegt so nah’.“

Aber es ist ein Zug unserer Zeit, stets neue Desinfectionsmittel aufzusuchen; speciell für die Chirurgie sind noch Thymol, Bor, Jodoform u. a. in Gebrauch. – Allein für die häusliche Gesundheitspflege dürften „bis auf Weiteres“ die obigen Vorschriften zur Einschränkung eines Krankheitsherdes ausreichen. – Wir sagen „bis auf Weiteres“, denn die rastlos, wie bei dem Wettkampfe zwischen Panzerplatten und schwerem Geschütz, sich abspielenden Errungenschaften auf den Gebieten der Bacterien- und Desinfectionslehre verändern das Bild mit jedem Tage um ein Wenig. Ein Jahr kann hier manches über den Haufen werfeu – aber ein Gebot bleibt bei dem Kampfe gegen die Ansteckung unerschüttert bestehen: „Wir müssen stets und entsprechend dem jedesmaligen neuesten Standpunkt der Wissenschaft unsere Pflicht thun.“

Fig. 5.0 a und b. Vorrichtungen zur Entwickelung von Brom-Dämpfen.

Epidemieen, die Leben und Gesundheit des Kindes bedrohen, sind (welche Eltern würden dies nicht bestätigen?) schwere, ernste Prüfungen. Aber diese dürfen uns nie thatenlos, rathlos finden; wir müssen gerade zu solchen Zeiten planvoll, ruhig, aber energisch handeln. So wird die Prüfung zugleich ein Prüfstein für den Charakter jedes Einzelnen.

Niemals zeigen sich so wie bei Epidemien erhebende Beispiele von Selbstlosigkeit und Gemeinsinn; nie sieht man so deutlich, daß man durch seine Mitwirkung an Beseitigung einer allgemeinen Nothlage sich selbst und den Seinen am besten nützt. Freilich reifen auch solche Zeiten die Seelengröße, welche nöthig ist, um, nach Erschöpfung aller menschlichen Vorsicht, unvermeidliche Schicksalsschläge mit Würde zu tragen und einzusehen, daß trotz aller Umsicht und Maßnahmen die irdische Einsicht und Macht doch ihre Schranken hat. Kommen aber an solche Naturen Momente allgemeiner Gefahr, dann empfinden diese die Wahrheit der schönen Psalmenworte David’s, des königlichen Sängers: „Daß man nicht zu erschrecken brauchet vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht, und der Seuche, die im Mittag verderbet.“

Dann stehen sie, „wenn Tausende fallen zur Seite, und Zehntausende zur Rechten“, treulich und fest zusammen, Einer für Alle, Alle für Einen.




[381]

Deutsche Bühnenleiter.

Karl Freiherr von Perfall. – August Freiherr von Loën.

Unter den Bühnenleitern des deutschen Reiches gehören zwei Männer zu den Hauptvertretern der idealen Kunstrichtung: Karl Freiherr von Perfall, Generalintendant der Hofbühne zu München, dieser südlich heiteren, geistig bewegten Stadt der schönen Künste, und August Freiherr von Loën, Generalintendant des Hoftheaters der zwar kleinen, aber von classischem Geist durchwehten Dichterstadt Weimar.

Beide übernahmen die Regentschaft der ihnen unterstellten Kunstanstalten zur selbigen Zeit, nämlich im Herbste des Jahres 1867. Bei der glücklichen Uebereinstimmung ihrer künstlerischen Grundprincipien konnte es ihnen zugleich nicht an vielen inneren Berührungspunkten fehlen. Wie Perfall, der als Musiker in seinen Lieder- und Operncompositionen eine edle, echt deutsche Richtung vertrat, ohne darum als Bühnenleiter in den eigenen Neigungen befangen zu bleiben, so zeigte Loën als Schriftsteller eine Vorliebe für das Feinempfundene, Gefällige und einfach Schöne, während ihn als Bühnenleiter die Weite des Blickes und das Verständniß für die Zeit vor starrer Einseitigkeit bewahrten. Den großen Strömungen nur da entgegentretend, wo es sich um das triviale niedere Genre handelte, dessen Pflege selbst an bedeutenden Bühnen an der Tagesordnung ist, trugen Perfall und Loën allen anderen Richtungen volle Rechnung, namentlich, wenn ein hervorragender Geist, wie Richard Wagner, die Blicke der Zeitgenossen auf sich hinlenkte.

Karl Freiherr von Perfall.

August Freiherr von Loën.

Perfall, der im Anfange schwere Kämpfe durchzumachen hatte, wurde seinem Mitstrebenden gegenüber insofern vom Schicksal begünstigt, als es ihn an eine weitaus größere Wirkungsstätte, in die eigentliche Kunststadt von Deutschland stellte. Der hochsinnige Monarch von Baiern ist der Schirmherr der Musik und Schauspielkunst, und ein unausgesetzter Fremdenbesuch steigert das Interesse an den theatralischen Aufführungen. Dazu gesellte sich für den Intendanten der Vortheil, daß ihm zwei schöne Häuser zu Gebote standen, das Hof- und Nationaltheater und das königliche Residenztheater. Alle Stücke im heiteren wie im ernsten Genre, die zu einer intimeren Wirkung einen kleineren Rahmen forderten, verlegte Perfall in das freundliche Residenztheater, während die Oper und die hohe Tragödie, die zur Entfaltung der Comparserie eines großen Rahmens bedurften, ihre Heimstätte im Hof- und Nationaltheater erhielten.

Das Stammgut des Münchener Repertoires trägt einen ausgesuchten Charakter, und in der gediegenen Auswahl der dramatischen Novitäten geht München allen Bühnen voran. Zugleich finden wir neben den deutschen und englischen Nationaldramen unter den französischen die sonst nirgends in dieser Weise vertretenen Werke von Molière. Die Münchener Schauspielaufführungen befriedigen in ihrer Mehrzahl die Besucher in seltenem Maße: ein geistig bewegtes Ensemble, eine lebendige Wahrheit des Spiels und eine malerische Anordnung im Großen und Einzelnen wecken in den Zuschauern die Ueberzeugung, daß die dramatische Kunst im ganzen deutschen Reiche auf keiner so hohen Stufe steht, wie in München. Da das recitirende Drama dort nicht die bekannte Aschenbrödelrolle spielt, so erhellt zur Genüge, daß Perfall, obgleich Musiker, dennoch keinen einseitigen Cultus mit der Oper treibt, wenn dieselbe auch den Ruhm einer glänzenden Schwester für sich in Anspruch nimmt. Die ewigen Frühlingsgesänge der alten Meister wie Gluck, Mozart, Beethoven, Weber etc., wo kommen sie herrlicher zu Gehör, als auf der Münchener Bühne, und wo werden gegenwärtig sämmtliche Tondramen von Richard Wagner in gleicher Vollendung gegeben?

Einer besonderen Einrichtung im Zuschauerraume der Münchener Hofbühne müssen wir noch flüchtig gedenken, da sie von dem Schönheitssinne ihres Erfinders, des Intendanten, ein nicht geringes Zeugniß ablegt. In den Schauspielvorstellungen sieht man nämlich nicht, wie anderswo, den leeren, gähnenden Orchesterraum, sondern es führt über denselben hinweg eine breite, römische Treppe bis zu den Füßen des Publicums im Parquet. Die Zuschauer gewinnen dadurch einen intimeren Zusammenhang mit den Darstellern. Das Ganze ist in der That die eigenthümlich poetische Idee eines Künstlers.

Der Leiter der Hofbühne von Weimar, der Nachfolger von Dingelstedt, bethätigte schön lange vor seiner Berufung durch den Großherzog seine warme Theimahme an der lebendigen Fortentwickelung des deutschen Dramas. Die Sympathie des musenfreundlichen Fürsten sollte Loën in Folge seiner Essays über das Culturleben der Gegenwart gewinnen, in welchen er die höheren Aufgaben des Theaters beleuchtete. In diesen Essays war nichts von der Luft der Studirstube zu spüren, es sprach vielmehr daraus ein offenes Verständniß für die anzustrebenden Ziele und ein feiner Sinn für dramatische Poesie. Angehende Bühnenschriftsteller, auch wenn sie zu den zweifelhaften Talenten gehörten, erprobten in Weimar zuerst die Kraft ihrer Schwingen, und Diefenigen, die dann den Weg über andere Bühnen fanden, boten ihrem Bahnbrecher reichen Ersatz für die übrigen. So führte Loën Stücke von Wildenbruch auf, als noch Niemand den Namen dieses Dramatikers kannte. Zugleich betrachteten namhafte Schriftsteller, wie Lindau, Heyse, Hopfen, Roquette, Spielhagen, Weilen etc., das stille Weimar als eine Art Versuchsstation für die Wirksamkeit ihrer Werke.

Bei der Säcularfeier von Goethe’s Ankunft in Weimar wurden daselbst beide Theile des „Faust“ in der Eimrichtung von Otto Devrient, mit der Musik von Lassen, zum ersten Male aufgeführt. In dieser eigenthümlichen, dem Geiste des Goethe’schen Weltgedichtes zwar nicht überall entsprechenden, aber doch vielfach glänzenden Einrichtung, deren malerische Wirkungen namentlich den zweiten Theil zur vollen Geltung brachten, ging die Faust-Tragödie über eine Reihe deutscher Bühnen.

In der Oper zeigte Loën eine Vorliebe für Wagner ohne Einseitigkeit. Außer München hatte keine Bühne gewagt, den „Tristan“ zu geben: in Weimar gelang es. Im Jahre 1871 gab die erste Gesammtaufführung der Wagner’schen Opern unter Mitwirkung der vornehmsten Gesangskräfte den Anlaß, daß sich die Verehrer Wagner’s aus allen Richtungen der Windrose zusammen fanden. In ähnlicher Weise suchte Loën während seiner sechszehnjährigen Thätigkeit nach allen Seiten hin anregend und fördernd zu wirken. Unter seiner Leitung steigerte sich das Interesse für das Theater in einem früher nie gekannten Maße, ja es erreichte eine solche Höhe, [382] daß die Blicke der gebildeten Welt abermals auf die durch ihre Traditionen geweihte Bühne Weimars gerichtet sind.

Die beiden hier flüchtig skizzirten Bühnenleiter bringen uns Eines lebhaft zum Bewußtsein: Soll das Theater wirklich das Reich des schönen Scheines, soll es im Geiste Schiller’s eine der Kunst geweihte Stätte sein, von welcher die Schauenden zu höheren Empfindungen entflammt und begeistert werden, so muß es ein kunstsinniger Monarch oder ein städtisches Gemeinwesen gegen Privatspeculationen sicher stellen und zwar dadurch, daß die Oberleitung Persönlichkeiten übertragen wird, welche durch ihre Fähigkeiten und ihre ganze Geschmacksrichtung dazu berufen, durch den Umfang ihrer Rechte aber zugleich in den Stand gesetzt sind, dem Theater eine bestimmte künstlerische Signatur zu verleihen. Wenn Schiller den Künstlern zuruft:

„Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben,
Bewahret sie!
Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!“

so haben vor Allem die Bühnenlenker, denen die Künstler unterstellt sind, dieser beherzigenswerthen Mahnung eingedenk zu sein. M.     




Salvatore.

Napoletanisches Sittenbild.0 Von Ernst Eckstein.
(Fortsetzung.)

Salvatore mußte den Rock, den er bis dahin getragen, mit einem kurzen, enganschließenden Wamms vertauschen. Dann rückte man die Holzbank in die Mitte der Zelle. Nachdem der Apulier sich rittlings darauf gesetzt, packte ihm der jüngere der beiden Knechte das dichte Gelock und zog es straff an, während der ältere es mit haarscharfer Scheere dicht am Kopf abschnitt.

Bei der ersten Berührung des kalten Stahls war Salvatore zusammengezuckt.

„Gemach!“ rief der Knecht auflachend. „Sträubt Ihr Euch, dann geht mit den Haaren auch die Schwarte zum Teufel. Das hat zwar nicht viel mehr zu sagen für die anderthalb Stunden, – aber es thut nicht gut, so bei lebendigem Leibe skalpirt zu werden.“

Salvatore biß die Zähne zusammen. Die langen Wochen im Verließe von Pizzo Falcone hatte er hingenommen wie eine schwere, unabweisliche Arbeit: jetzt aber dieser brutale Angriff wider seine Person, diese Entwürdigung durch die Fäuste der Henkersknechte – das warf ihn beinahe zu Boden. Nicht viel hätte gefehlt, und er wäre schwankend geworden, ob er nicht jetzt noch im letzten Moment die Maske abwerfen und – „neuer Geständnisse halber“ – die Vorführung beim Präsidenten des Tribunals verlangen sollte.

Nachdem sein schönes dunkles Gelock unter der Scheere des Knechtes gefallen war, trennte man ihm den zollbreiten Bund vom Hemde los, damit der Hals auch nach unten vollständig freiliege. Die flachen Bastschuhe mußte er mit Lederstiefeln vertauschen. Auf die rechte Schulter heftete man ihm ein schwarzes Kreuz aus gestepptem Wolltuche, – das Zeichen, daß er dem Tode verfallen sei.

Hiermit waren die Zurüstungen vollendet.

„Eine halbe Stunde noch haben wir Zeit,“ sagte der Knecht, der bis dahin das Wort geführt hatte. „Verlangt Ihr etwas zu essen oder zu trinken, so könnt Ihr’s haben. Ich weiß wohl, ein armer Teufel in Eurer Lage verspürt keinen übermäßigen Appetit: aber wenn ich Euch rathen soll, so genießt wenigstens etwas Wein, damit Ihr nicht schwach werdet. Ein Kerl wie Ihr darf nicht sterbeu, wie eine alte Giftmischerin, mit Zittern und Winseln!“

Salvatore verspürte in der That das Bedürfniß nach einer Stärkung. Der Knecht pochte wider die Thür; gleich darauf brachte der Schließer einen Korb mit Lebensmitteln und eine offene Foglietta. Das Gewohnheitsgemäße, das aus dieser Promptheit zu sprechen schien – denn der Kerkermeister hatte eine Bestellung gar nicht erst eingeholt – übte auf Salvatore abermals eine bedrückende Wirkung. Er kam sich vor, als sei er nur noch das Rad einer Maschinerie, die mit scharf zu berechnender Genauigkeit arbeite. Was ihm denn eigentlich bei der Sache so nahe ging, wußte er selbst nicht; denn ein Zweifel an der Zuverlässigkeit seiner Vereinbarungen mit dem vermeintlichen Cardinal war ihm, seit Emmanuele ihn im Kerker besucht hatte, nicht wieder aufgetaucht.

Gierig leerte er ein paar Gläser; dann aß er einige Bissen von dem gebratenen Fleisch, ohne sich um die halb gutmüthigen, halb cynischen Redensarten der beiden Knechte zu kümmern, die ihm allerlei Rathschläge ertheilten und Muth zusprachen und ihm versicherten, es gehe schnell wie der Blitz.

Es schlug acht. Gleich darauf begann ein schrilles, klagendes Glöcklein zu läuten. Die Knechte banden dem Verurtheilten die Hände quer übereinander und führten ihn durch den langen Corridor nach der steinernen Wendeltreppe, wo der Priester sich ihnen anschloß.

Vor dem nördlichen Thor des Castells hielt ein zweirädriger Wägen, – nach Landessitte mit schwarzen Tüchern bedeckt.

Beim Anblick dieses entsetzlichen Fuhrwerks ward Salvatore blaß wie der Tod. Nacosta mußte ihn unerhörter Weise getäuscht haben, oder Seine Eminenz hielt nicht Wort; denn es war dem Verurtheilten mit aller Bestimmtheit versichert worden, die Execution politischer Verbrecher finde neuerdings stets im inneren Hof des Castells statt, so daß auch er die Mauern von Pizzo Falcone nicht werde verlassen müssen. Jetzt aber bewies ihm das schwarzverhangne Corricolo, daß ihm die Fahrt durch die volksbelebten Gassen der Stadt bevorstehe, nach dem Richtplatz des Signore di Napoli, wo eine unabsehbare Menschenmenge ihn voll Neugier begaffen würde.

Er stutzte. Er stammelte etwas von Verrath. Er machte eine Geberde des Widerstandes. Im nächsten Moment jedoch sah er sich von den Knechten rechts und links bei den Armen gepackt und auf den Vordersitz der Karre gedrängt, wo der Priester schon Platz genommen. Fast betäubt, wie er war, fügte er sich schweigend ins Unvermeidliche.

Von berittenen Sicherheitswächtern begleitet, setzte das Fuhrwerk sich in Bewegung. Ueberall wich das Volk mit jenem neugierigell Grausen zurück, das der Anblick eines todgeweihten Verbrechers hervorruft. Gleichzeitig machte sich ein halbunterdrücktes Murmeln gelteud, das beinahe wie Bedauern klang. Die öffentliche Meinung hatte während der letzten Wochen einen Umschwung erfahren. Alle Welt erzählte sich jetzt: Salvatore Padovanino sei von Zauberern und Dämonen verlockt worden – denn so legte sich das abergläubische Volk die Behauptungen Antonio Cesaris zurecht. Der Verurtheilte erschien daher mehr im Lichte eines unglücklichen Verhängnisses, als in dem der Schuld und der Missethat, – und da man überdies wußte, daß er von auffallender Schönheit war, so hatte sich namentlich bei den Frauen eine mitleidige Sympathie entwickelt, die allgemach bis hinauf in die höchsten Kreise ging. Salvatore, der – nach seinen Erfahrungen vom Tage des Attentats – einen Sturm der Entrüstung und des Hasses erwartet hatte, begriff diese Ruhe nicht; in seiner tiefen Erregtheit hielt er sie für jenes Uebermaß der Verachtung, das keines Wortes mehr fähig ist, und abermals befiel ihn eine trostlose Zaghaftigkeit, die ihn das ganze Gaukelspiel qualvoll bereuen ließ.

Auf dem Platze des Signore di Napoli hatte man in der Nacht zuvor das Blutgerüst aufgeschlagen. Eine Barrière, mit Polizisten und Soldaten besetzt, sperrte die eigentliche Richtstätte gegen das Publicum ab. Hier traf Salvatore, vom Corricolo steigend, den Präsideuteu des Tribunals und zwei seiner Beisitzer, den Staatsprocurator, den Secretär des Cardinals, die Spitzen der Sicherheitsbehörden und einige andere officielle Persönlichkeiten, die in ceremoniöser Haltung dem aufregenden Acte, zu dessen Erledigung sie hier versammelt waren, entgegensahen.

Jenseits des Blutgerüstes, wider den Stamm eines Flaggenbaums, lehnte, in Scharlach gekleidet, Meister Gregorio, der Henker, den das Volk „il Signor di Napoli“ nannte. Rechts von ihm, gleichfalls in Scharlach, stand sein erster Gehülfe, ein feister, stämmiger Sicilianer; links, in Scharlach und Gelb, sein zweiter –: Nacostas Mitverschworener Marsucci. Der Letztere hatte sein breites Barett tief in die Stirn gedrückt. Der Vollbart, [383] der ihm das breite, behäbige Antlitz umrahmte, ließ allerdings den Pseudo-Cardinal aus dem Albergo zum „Goldnen Kreuz“ nur mühsam erkennen.

Die Knechte, die den Apulier aus dem Kerker geholt, führten ihn jetzt in die Mitte des Platzes. Der Staatsprocurator in seiner langen, wallenden Robe trat mit feierlicher Würde zu ihm heran und las ihm noch einmal das Urtheil des Tribunals, das der König durch seine Unterschrift für vollstreckbar erklärt hatte; danll winkte er dem Signore di Napoli und überantwortete ihm in der vorgeschriebenen Redewendung den Verurtheilten zur Execution.

Salvatore hörte nur den Klang dieser dröhnenden Stimme; den Sinn des Gesprochenen faßte er nicht mehr auf. – Sein Blick haftete mit wachsender Ungeduld an der Oeffnung der umstellten Barrière, wo der Bote des Cardinals mit dem Begnadigungsdecrete erscheinen mußte. Wahnsinniges Grausen ergriff ihn bei dem Gedanken, den er früher bereits im Kerker sich ausgemalt hatte: daß dem Boten ein Hinderniß in den Weg treten, daß er verunglücken könne – Und dann . . .? – Freilich, Emmanuele hatte ihm noch neulich erklärt, der Sendling Seiner Eminenz werde sich ganz in der Nähe halten: im schlimmsten Fall habe der Signore di Napoli Auftrag, die Sache künstlich hinauszuziehen. Aber wer konnte wissen, ob nicht da oder dort etwas Wesentliches versäumt war, ob nicht die Rechnung so oder so einen Fehler enthielt ...?

Er träumte noch, als die Schergen ihn schon bei den Armen ergriffen und nach dem Ausgang zum Blutgerüst fortzogen. Der Priester stand bereits oben, beklommene Starrheit in den sympalhischen Zügen, offenbar noch ein Neuling in dem traurigen Berufe des letzten Trösters . . .

„Ja, was soll’s denn ...?“ ächzte Salvatore, sich krampfhaft umkehrend. „Wo bleibt – So wartet doch . . .!“

„Faßt Euch ein Herz!“ raunte der Knecht, der ihn schon im Kerker ermahnt hatte. „Das hilft nun nichts, und je schneller Ihr zuschreitet, um so eh’r ist’s vorüber.“

„Nacosta! Er läßt mich im Stich!“ röchelte Salvatore verzweiflungsvoll. Mechanisch gehorchend, stieg er die Stufen hinauf. Dann aber, als er den offenen Sarg erblickte, der neben der Guillotine stand, ergriff’s ihn wie heller Wahnsinn. Er sträubte sich mit übermenschlicher Kraft; „Verrath! Verrath!“ rief er im Ton des höchsten Entsetzens. „Nacosta – der Cardinal – ich bin verloren!“

Die beiden Knechte, an solche Scenen gewöhnt, hielten ihn mit eisernem Griffe gepackt. Von der anderen Seite her war inzwischen der Signore di Napoli mit seinen Gehülfen auf das Gerüst getreten. Die Knechte übergaben ihr widerspenstiges Opfer den beiden Unterbeamten des Scharfrichters, denn diesen lag es nun ob, den Delinquenten auf’s Brett zu schnallen.

Marsucci, die Blicke gesenkt, trat zu Salvatore heran und faßte ihn bei den Handschellen. Der Apulier starrte ihm in’s Gesicht, als gewahre er ein Gespenst. In der Verlegenheit seines bösen Gewissens schloß Marsucci das rechte Auge, wie er in gewissen Momenten zu thun pflegte, und nun schwand dem unglücklichen Salvatore der letzte Zweifel.

„Ihr! Ihr!“ schrie er mit herzzerreißender Stimme. „Der Cardinal . . . O, nun versteh’ ich’s ...!“

Marsucci fühlte, daß vom nächsten Moment Alles abhing. Wie ein Rasender hatte er den Apulier zu Boden gezerrt, während sein Genosse dem Unglücklichen die Stricke fest um den Leib schlang.

Bei dem Ausruf: „Der Cardinal!“ besorgte der Staatsprocurator, der Delinquent möchte sich in beschimpfenden Wuthausbrüchen gegen Monsignore De Fabris ergehen. Er veranlaßte den commandirenden Officier, die Trommeln rühren zu lassen, sodaß die weiteren Angstrufe Salvatore’s jäh übertäubt wurden.

„Er hat vor Angst den Verstand verloren!“ sagte Marsucci zu seinem Amtsgenossen.

Der Priester trat klopfenden Herzens zu Salvatore heran.

„Ich bin verrathen!“ schrie der Gefesselte ihm entgegen. „Ich widerrufe, was ich gestanden habe! Alles ist Lüge! Alles ist Bosheit! Hülfe! Die Verruchten ermorden mich!“

Kopfschüttelnd wandte sich der Priester hinweg. Die Hände faltend, sprach er ein stilles Gebet, während Marsucci, der Teufel in Menschengestalt, das Brett unter die Guillotine zog.

Der Signore di Napoli trat heran, um die Schnur zu lösen. Dem Apulier legte sich ein schwarzer Schleier über die Seele, eine Gefühllosigkeit, die Balsam war im Vergleich mit dem, was ihn bis dahin zerfleischt hatte. Eine Secunde noch, und das haarscharfe Beil mußte herabsausen.

Da – im letzten Moment – verstummte plötzlich das Trommelgewirbel. Ein donnernder Zuruf: „Halt! Wir bringen die Gnade des Königs!“ scholl über den menschenwimmelnden Richtplatz. Zwei Officiere von der königlichen Palastgarde waren durch die Oeffnung der Barrière gesprengt und hatten den Staatsprocurator beinahe über den Haufen geritten.

Marsucci war wie erstarrt. Das mußte das Werk des fluchwürdigen Rechtsgelehrten Antonio Cesari sein, der gleich von Anfang Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um seinen Schutzbefohlenen zu retten.

Fahl und hohläugig tastete Marsucci nach dem Haken, der die verhängnißvolle Schnur hielt. Wenn jetzt noch das Beil fiel, so konnte er einen Irrthum vorschützen, und der furchtbare Ankläger, der ihm in Salvatore erstehen mußte, war ein- für allemal stumm gemacht.

Im nämlichen Augenblicke jedoch taumelte er mit einem wilden Aufschrei zurück. Sein Vorgesetzter, von dem althergebrachten Rechte der Signori di Napoli zum ersten Male seit langen Jahren Gebrauch machend, hatte dem Widerspenstigen, der seinen Meister von Amt und Brod zu bringen gewillt schien mit dem eisernen Stab, den er führte, einen Schlag auf die Stirne versetzt, daß ihm das helle Blut über Augen und Nase rann.

Während Marsucci geblendet sein Gesicht in die Hände preßte, legte der Nachrichter selbst Hand an, um den Apulier aus seiner entsetzlichen Situation zu befreien.

Die Officiere von der Palastgarde hatten inzwischen dem Staatsprocurator eröffnet, Seine Majestät der König befehle, den Begnadigten sofort nach dem Arresthause der Municipalität zu bringen, da dem Salvatore Padovanino zwar die Todesstrafe, nicht aber die gebührende Züchtigung für seine demnächst nach Umfang und Bedeutung noch zu erhärtende Schuld erlassen sei. Eine Wiederaufnahme des Rechtsverfahrens habe Seine Majestät bereits angeordnet.

So ward Salvatore, verstört um sich schauend, wieder vom Blutgerüste herabgeführt, während Marsucci auf Ansuchen seines Vorgesetzten von einem der umstehenden Polizei-Beamten verhaftet wurde. Der Signore di Napoli, eifersüchtig auf das, was er seinen Credit nannte, heischte genaueste Untersuchung des unerhörten Gebahrens, dessen Marsucci sich beim Erscheinen der zwei Palastofficiere schuldig gemacht.




11.

Tödtlich erschöpft von Allem, was er durchlitten hatte, erreichte Salvatore das Municipalgefängniß. Jeder Nerv an ihm fieberte. Unfähig, sich länger aufrecht zu halten, warf er sich auf die Bettstatt und schloß die Augen. Ein bleierner Schlaf überkam ihn.

Gegen Mittag erst weckte ihn das Klirren der Schlüssel.

Er sah empor.

Sein Vertheidiger Antonio Cesari und Maria standen schweigend an seinem Lager.

„Du, Zingarella!“ rief er, höchlich bestürzt. Seine Gedanken verwirrten sich; er wußte nicht, wie er die Anwesenheit Maria’s verstehen sollte. Während der Fahrt nach dem Municipalgefängniß war er mehrmals geneigt gewesen, in dem plötzlichen Eingreifen der Palastofficiere dennoch die Verwirklichung des Plans zu erblicken, den er mit Emmanuele vereinbart hatte. Dann aber trat ihm die Gestalt Marsucci’s vor die schaudernde Seele und mit ihr die zweifellose Gewißheit, daß Alles Lüge und Trug gewesen. Wie aber erklärte sich dann die unerwartete Rettung?

Ein ängstlich forschender Blick in das Antlitz der Zingarella verrieth ihm, wo er die Ursache dieser Rettung zu suchen habe.

„Also ist Alles verrathen,“ sagte er zu sich selbst. „Wenn mir auch das Schlimmste erspart blieb, so ernte ich doch statt des ersehnten Lohnes neue Verfolgung; denn daß die Sache nicht einfach begraben wird, das ist klar wie die Sonne!“

[384] Seufzend schaute er bald nach Maria, bald nach Cesari. Die Zingarella war bleich, beinahe hohläugig. Im Angesichte des Rechtsgelehrten las der Apulier ein Gefühl des Triumphes – und doch wieder etwas Finsteres, Verstimmtes und Vorwurfsvolles.

„Unglückseligster aller Menschen,“ begann Cesari, „welcher Fluch verfolgt Euch, daß Ihr so blindlings in Euer Verderben rennt? Wer weiß, vielleicht wäre es besser gewesen, das Entsetzliche hätte sich regelrecht abgespielt und die Botschaft des Königs wäre zu spät gekommen!“

„O, Signore Cesari!“ stammelte Salvatore; „Ihr wißt also ...?“

„Alles weiß ich – Alles, nur nicht den Namen jenes Verruchten, der Euch im Albergo zum ‚Goldnen Kreuz‘ die Rolle des Monsignore De Fabris vorspielte. Auch das wird sich finden, denn die Häscher sind bereits auf dem Wege nach der Wohnung Eures Freundes Nacosta. Aber nun sagt mir doch, Ihr unglaublicher Thor, – wie war es möglich, daß Ihr den Sinn dieses Truggewebes nicht augenblicklich durchschautet? Daß Ihr Euch einreden konntet –? Bei San Gennaro, ich zweifle noch, ob Ihr nicht wirklich reif seid für das Tollhaus von Capua!“

„Ja, Ihr habt Recht!“ stöhnte Salvatore zerknirscht. „Mit offenen Augen habe ich geträumt, geras’t wie ein Irrsinniger. Ich verstehe mich selbst nicht! O, und wie erkenn’ ich nun, Signore Cesari, was Ihr damals im Kerker von Pizzo Falcone mir zurieft: daß es ein Wahn ist, wenn Einer sich vorredet, mit schlechten Mitteln sei das Gute zu fördern! Thorheit, unglaubliche Thorheit!“

Er stützte den Kopf in die Hand.

„Aber verlaßt Euch drauf,“ fuhr er fort, „so weit wäre es niemals mit mir gekommen, hätte ich eine Stätte gehabt, wo ich wirken konnte! Mein Geist verlangte nach Bethätigung seiner Kräfte – und da mir Alles versagt blieb, verlor ich mich in’s Abenteuerliche und Leere! Ach, ich kann’s Euch nicht schildern, Signore, wie sehr ich elend bin! Was aber den Schurken betrifft, der sich mit Emmanuele Nacosta zu meinem Untergange verschwor, so hört, was ich sage: Es ist einer von den Gehülfen des Henkers!“

„Unerhört!“ versetzte der Rechtsgelehrte. „Man sollte glauben, der verruchte Nacosta habe eigens zur Bosheit den Hohn fügen wollen, daß er sich gerade Den zum Spießgesellen erkor. Nun, sein Mitverschworener würde auch ohne Eure überraschende Mittheilung nicht verborgen bleiben, da Nacosta selber uns sicher ist. Jetzt aber erzählt mir – ruhig und der Wahrheit gemäß – wie sich das Alles entwickelt hat! – Von Anfang an – hört Ihr? Und versucht mich ja nicht zu täuschen! In Eurem eignen Interesse! – Ich schwöre Euch: um ein Haar hättet Ihr Eure Narrheit mit dem Leben gebüßt; denn mir, als einem Mitglied der Oppositionspartei, hielt es doppelt schwer, bei so kurz anberaumter Frist die gewünschte Audienz bei dem Könige zu erwirken. Auch jetzt noch seid Ihr lange nicht über alle Schwierigkeiten hinaus! Der Staatsprocurator verfügt über Angriffspunkte genug, Eure gesammte Existenz zu Grunde zu richten. Da heißt’s: energisch gekämpft – oder das Spiel ist verloren! Aber nur, wenn ich klar schaue bis in’s Einzelne, kann ich möglicher Weise etwas erreichen! Also redet die Wahrheit, Padovanino!“

„Die volle Wahrheit, wie ich sie selber weiß!“ betheuerte Salvatore.

Er begann und erzählte. Staunend folgte Cesari der phantastischen Darlegung dieser Irrthümer und Verschrobenheiten. Das war in der That ein ungewöhnlicher Mensch, und wenn auch die frühere Vermuthung des Rechtsgelehrten – daß der Apulier nämlich Spuren einer geistigen Abnormität aufweise, jetzt nicht aufrecht zu halten war, so grenzte doch die Extravaganz seines Wesens hart an die Linie, wo die Eigenart des Genies oder des Narren anfängt.

Es war unzweifelhaft: Salvatore Padovanino hatte seinen Beruf verfehlt.

An den richtigen Posten gestellt, konnte er Bedeutsames leisten; das blinde, rath- und sinnlose Streben, das bisher bald in der Maske eines ktankhaften Ehrgeizes, bald als Gold- und Genußgier aufgetreten war, mußte nur auf ein würdiges Ziel hingelenkt werden, um siegreich und gedeihlich zu wirken.

Antonio Cesari nahm sich vor, demnächst auch in diesem Punkte für seinen Clienten thätig zu sein.

Nachdem der Apulier den ganzen Hergang ausführlich berichtet hatte, ließ es ihm keine Ruhe: er mußte erfahren, wie Antonio Cesari dem so wohlverhehlten Geheimniß auf die Fährte gekommen sei. Die brennende Ungeduld der Neugier beherrschte ihn jetzt vollkommener, als die Besorgniß wegen der Zukunft, – zumal die imponirende Sicherheit, mit welcher Antonio Cesari sein Ziel erreicht hatte, dem Bethörten Bürgschaft zu geben schien, daß er unter dem Schutze dieses Vertheidigers auch fürder geborgen sei.

Er dankte also dem Rechtsgelehrten mit leidenschaftlichen Ausdrücken, bat ihn flehentlich um Verzeihung, daß er, Salvatore, nach der Vereinbarung mit Emmanuele Nacosta genöthigt gewesen sei, ihn, den einzigen wahren Freund in all’ dieser Noth, zu täuschen und zu belügen, und ersuchte ihn dann um Aufklärung: wie’s ihm gelungen sei, die Wahrheit zu finden, die doch selbst Maria nur unvollständig gekannt habe.

Antonio Cesari willfahrte ihm.

Die Sache war ja einfach genug.

(Fortsetzung folgt.)




Der Sitz des deutschen Reichstags.
Sonst und Jetzt.

Eine historisch-politische Plauderei von Karl Braun-Wiesbaden.


Erstes Capitel.

Der Grundstein zum Gebäude des deutschen Reichstages soll in diesen Tagen gelegt werden. Das Gebäude wird in Berlin aufgerichtet. Mag man über Architektur und Baustil streiten, so viel man will – der alte lateinische Spruch, daß über den Geschmack gar nicht zu streiten, ist auch heute noch eine Wahrheit – es wird ein stattlicher und monumentaler Bau werden, und Deutschland wird Ursache haben, sich seiner zu freuen. Mit diesem Bau aber und mit dessen Vollendung ist thatsächlich eine Frage entschieden, über welche, wie bei Gelegenheit des preußischen Verfassungsconflicts sich einmal der Staatsminister von der Heydt ausdrückte, „in der Verfassung nichts geschrieben steht“.

Der geneigte Leser wird sich erinnern, daß der Reichskanzler Fürst Bismarck, der an der guten Stadt Berlin Mancherlei auszusetzen hat, zuweilen Zweifel darüber ausgesprochen, ob es nothwendig oder auch nur zweckmäßig sei, daß der Reichstag seinen Sitz gerade in Berlin habe. Er fürchtete, die jeweilige Stimmung der mit jedem Tage mehr anschwellenden hauptstädtischen Bevölkerung könne dort einen allzu mächtigen Einfluß auf die Volksvertretung Gesammtdeutschlands ausüben. Er sprach sogar von einer Verlegung des Reichstags nach Potsdam, wo der „Pfingstberg“ die Möglichkeit eines Reichstagsgebäudes mit einer dominirenden Lage und einer schönen Aussicht gewähren würde. Ein andermal von Kassel, der Hauptstadt der Provinz Hessen, wo sich am Ende wohl die nöthigen Sitzungslocalitäten auf der Wilhelmshöhe finden ließen, – zu Füßen des „großen Christoph“, wie das biedere Volk der Hessen mit Beharrlichkeit den Hercules nennt, der dort auf dem Octogon thront. Und als diese Aeußerung des Fürsten im Reichstage fiel, wurde sie sofort nach Kassel telegraphirt – und zwar, wie dies ja bei der Kürze der Telegramme zum Oefteren zu geschehen pflegt, – in einer etwas zu kategorischen Fassung. Die Zeitungen meldeten, man habe an dem Abend in Kassel vor Freuden illuminirt – was in dieser allgemeinen Fassung ebenfalls nicht ganz richtig war – und dann machten sich die nämlichen Zeitungen nachgehends lustig über die optimistische Leichtgläubigkeit der Chatten, welche den Reichstag schon in der Tasche zu haben und an den diätenlosen Abgeordneten viel Geld verdienen zu können glaubten. Auch dieser Spott war nicht ganz in der Ordnung. Denn man darf nicht Jemandem

[385]

Kloster auf dem Jungfernfelde bei Moskau.
Originalzeichnung von F. Stoltenberg.

[386] Beweggründe unterschieben, zu welchen er sich nicht selber bekennt, und warum soll eine Stadt es sich nicht zur Ehre rechnen, den Reichstag, der ja früher stets auf der Wanderschaft war, auch einmal in ihrer Mitte zu haben? Und endlich, haben nicht ähnliche Motive, wie die oben angedeuteten, in anderen Ländern mit repräsentativen Verfassungen obgewaltet? Hat nicht die amerikanische Union den Sitz des Congresses statt nach einer der volkreichen Städte nach dem verhältnißmäßig kleinen Washington gelegt? Und hat nicht Frankreich sein Parlament von der Hauptstadt nach dem stillen und todten Versailles verlegt? Freilich geschah letzteres nur nach einem so unerhörten Ereignisse, wie es der Commune-Aufstand war, und auch dann nur auf kürzere Zeit.

Wenn man aber den Gang der deutschen Geschichte auf ein Jahrtausend rückwärts überblickt, wenn man vergleicht, was der Reichstag in dem alten heiligen römischen Reiche deutscher Nation war und was er in dem gegenwärtigen modernen deutschen Reiche ist, und wenn man endlich Umschau hält über Alles, was darum und daran hängt, so wird man zu der Ueberzeugung gelangen, daß es schwerlich in der Macht eines Sterblichen liegt, auch wenn er so gewaltig ist, wie der Fürst Bismarck, den jetzigen deutschen Reichstag – und mit ihm natürlich auch die Reichsregierung, die preußische Regierung und den Bundesrath, denn das Alles gehört ja zusammen – von Berlin zu verlegen, sei es, um ihm einen anderen Ort zum bleibenden Sitz anzuweisen, sei es, um ihn, wie dies vormals der Fall war, zum Wandern zu verurtheilen.

Einer der am meisten in die Augen springenden Unterschiede zwischen dem alten und dem gegenwärtigen Reichstag ist ähnlich dem zwischen einem seßhaften und einem im Umherziehen betriebenen Gewerbe. Mit anderen Worten: der jetzige Reichstag ist ein seßhaftes Parlament, der alte dagegen war nichts als eine Wanderversammlung. Der Letztere konnte an jeden beliebigen Ort im deutschen Reiche einberufen werden. Ja sogar auf fremdem Boden hat man ihn abgehalten, z. B. im Jahre 967 in Verona und im zwölften Jahrhundert auf den Roncalischen Feldern. Wo der Kaiser sich aufhielt, mochte es auch das kaiserliche Heerlager im Auslande sein, dahin folgte ihm auch der Reichstag. Später, als die Gewalt des Kaisers im Schwinden war und die der Territorialherren, namentlich die der Kurfürsten, immer mehr zunahm, war der Kaiser an die Zustimmung der Kurfürsten gebunden in Betreff der Fragen, ob, wann und wohin der Reichstag zu berufen sei. Im sechszehnten Jahrhundert aber, da Karl V. Kaiser war, wurde ausdrücklich vom Reichstage beschlossen, daß ein Reichstag nicht im Auslande abgehalten werden dürfe. Karl V. war zugleich auch König von Spanien, er hatte Besitzungen in Italien und in den Niederlanden, ja gar jenseits der Meere; und es schien der Verdacht vorzuliegen, daß er den deutschen Reichstag nach dem Ausland zu berufen die Absicht habe, um ihn dort fügsamer zu machen.

Im Uebrigen bestand überhaupt keine Beschränkung in der Auswahl des Ortes, mit Ausnahme einer Clausel zu Gunsten der freien Reichsstadt Nürnberg. Schon in der „Goldenen Bulle“ Kaiser Karl’s IV., die im Jahre 1356 auf den Reichstagen in Nürnberg und in Metz festgestellt wurde und von der ich später noch reden werde, heißt es wörtlich:

„Schon in den angesehnsten Berichten und Ueberlieferungen der Alten finden wir festgestellt, daß durch die, welche uns im Regiment glücklich voraufgegangen, von uralten Zeiten her, so daß sich Niemand einer gegentheiligen Uebung erinnert, stets daran festgehalten worden ist, daß der deutsche König und zukünftige römische Kaiser seinen ersten königlichen Tag (Prima regalis curia) in der Stadt Nürnberg abhalte, weßhalb auch Wir aus bewegenden Gründen uns für die Zukunft daran festgehalten wissen wollen, soweit nicht ein gesetzliches Hinderniß im Weg steht.“

Die Gelehrten stritten in einer Anzahl profunder und zum Theil sogar leidenschaftlicher Pamphlete zwar über die Frage, ob unter „Curia regalis“ ein wirklicher Reichstag zu verstehen, aber gleichwohl finden wir, daß Jahrhunderte lang an dieser Ueberlieferung festgehalten worden ist. Konnte einmal ausnahmsweise an dieser Regel nicht festgehalten werden, dann stellte der Kaiser der Stadt Nürnberg auf deren Verlangen einen Revers aus des Inhalts, daß diesmal aus bewegenden Gründen von der gedachten Regel habe abgewichen werden müssen, daß daraus jedoch der mehrgedachten getreuen Stadt keinerlei Nachtheil oder Präjudiz erwachsen sollen. Ich habe nirgends eine zuverlässige Nachricht über den Ursprung oder Grund dieses Vorzuges von Nürnberg finden können, ich vermuthe aber, die Ursache ist der von mir in meinen Aufsätzen über den Reichsadler und die Kaiserkrone in Nummer 14 und 15 der „Gartenlaube“ d. J. des Weiteren aus einander gesetzte Umstand, daß die im Eigenthum des Reichs und im Besitz und Gebrauche des jeweiligen Kaisers befindlichen Reichsinsignien und Krönungsgeräthe der Stadt Nürnberg zur Aufbewahrung anvertraut waren, – mit alleiniger Ausnahme des Kaiserschwertes, des Gladii Caroli Magni, das in Aachen aufbewahrt und jedesmal von dort requirirt, bei der Krönung aber dem Kaiser von dem Kurfürsten von Brandenbnrg, als des heiligen römischen Reiches Erzkämmerer, umgegürtet wurde, worauf der Kaiser den Thron bestieg, verschiedenen Herren mit diesem Schwerte den Ritterschlag ertheilte und dann sich nach althergebrachter Sitte zum Mitcanonicus des Aachener Stiftes aufnehmen ließ, wie dies Alles des Näheren zu lesen in dem über die letzte Krönung vom 14. Juli 1792 aufgenommenen „Protokoll des kurfürstlichen Wahl-Conventes zu Frankfurt am Main mit allen Beilagen nach dem Original“, Frankfurt 1792.

Der Umstand also, daß Nürnberg diese Insignien aufbewahrte und daß dieselben nicht nur bei der eigentlichen Krönung, sondern auch auf den Reichstage, besonders auf dem ersten, eine absonderliche Rolle spielten, mag wesentlich dazu mitgewirkt haben, daß der deutsche König oder römische Kaiser seinen ersten Reichstag, wenn nicht unübersteigliche Hindernisse vorlagen, allemal in Nürnberg abhalten mußte.

Sonst konnte der Kaiser – später der Kaiser in Uebereinstimmung mit den Kurfürsten – den Reichstag berufen, wohin er wollte; nur mußte, im Gegensatze zu dem heute üblichen Verfahren, bei welchem zuweilen nur acht Tage zwischen dem Tage der Einberufung und dem des Zusammentritts liegen, damals zwischen dem Einberufungs- und dem Zusammentrittstage ein Zwischenraum von wenigstens sechs Monaten eingehalten werden. Freilich waren damals der Telegraph, die Eisenbahn und das Dampfschiff noch nicht erfunden, für dieselben Strecken brauchte man damals wenigstes eben so viele Tage, als heute Stunden; kurz, das Reisen war ein mühsam und beschwerlich Ding und wurde dadurch noch umständlicher, daß bei vornehmen Herren ein großes Gefolge von Pferden und Menschen aus Standesrücksichten nicht entbehrt werden konnte.

Aus Zweckmäßigkeitsrücksichten wählte man für den jeweiligen Sitz des Reichstages regelmäßig größere und wohlhabendere Orte, „so weder der Behäbigkeit noch der Sicherheit ermangeln.“ Denn besondere Vorkehrungen gegen Ueberfall und Gewalt waren überall nöthig, und sicher schlief man nur hinter Graben und Mauern.

Gewöhnlich war es entweder ein opulenter Bischofssitz, oder die Stätte eines Kaiserpalastes, oder eine ansehnliche freie Reichsstadt, wo der Reichstag sein Zelt aufschlug. Ausnahmsweise finden wir den Reichstag auch in einer gewöhnliche Land- (im Gegensatze zu Reichs-) Stadt, z. B. 1497 in Freiburg.

Während der letzten drei Jahrhunderte des Bestehens des heiligen römischen Reichs deutscher Nation wird regelmäßiger Weise immer nur eine Reichsstadt zum Sitze des Reichstags auserkoren, besonders solche im Westen und Süden des Reiches.

Wenn auf einem Reichstag über den nächstfolgenden und die Zeit seines Zusammentrittes Beschluß gefaßt wurde, so wurde bei dieser Gelegenheit in der Regel auch in Betreff des Ortes „Abrede genommen“. Zuweilen auch gaben die Kurfürsten dem Kaiser Vollmacht, die Wahl des Ortes allein zu treffen. Seit dem sechzehnten Jahrhundert machte auch die Berücksichtigung der confessionellen Verhältnisse einige Schwierigkeiten. Man verlangte nämlich, daß nicht nur die Katholiken, wie früher, sondern auch die Protestanten an dem Sitze des Reichstages Gelegenheit hätten, ihren religiösen Uebungen obzuliegen, und zwar öffentlich. Die Katholiken und die Lutheraner wußten für sich dies durchzusetzen. Auf die Reformirten nahm man weniger Rücksicht; man gestattete ihnen nur, eigene Priester mitzubringen und durch dieselben in ihren Privatquartieren Gottesdienst abhalten zu lassen. In Frankfurt und in Regensburg war den Katholiken zwar der öffentliche Gottesdienst gestattet, nicht aber die Abhaltung von Processionen auf öffentlichen Straßen und Plätzen. Gleichwohl wurde an diesen Orten der Reichstag sehr häufig abgehalten.

In der Regel wurde der Reichstag an dem Orte, wo er abgehalten wurde, auch geschlossen. Ausnahmsweise aber kam [387] es vor, daß der Reichstag „an ein anderes Ort um entstandener Kriegsumruhen oder um der ‚Contagion‘ (d. i. ansteckender Krankheiten) willen“ theils durch den Kaiser und die Kurfürsten, theils durch einen vom Kaiser mit seiner Zustimmung versehenen förmlichen Reichsschluß verlegt wurde. Vielleicht gewährt folgende hierher gehörige Episode, die ich dem alten Quartanten Johann Jacob Moser’s „Von den deutschen Reichstägen“ entnehme, einiges Interesse:

Im Jahre 1713 tagte die Versammlung in Regensburg, als daselbst die Pest zum Ausbruch gelangte. Darauf erstattete der Reichstag an die kaiserliche Commission am 18. August 1713 folgenden Bericht:

„Nachdem man dahier seit einiger Zeit wahrgenommen, daß die eingeschlichenen ansteckenden Krankheiten nicht nachlassen, es auch nicht abzusehen, welchen ferneren Verlauf es damit haben werde: so hat man in den drei Collegien des Reichstages – nämlich erstens dem Kurfürsten-Collegium, zweitens dem Reichsfürsten-Rath und drittens dem Collegium der Reichsstädte – für gut befunden, daß zwar des heiligen römischen Reiches freie Stadt Regensburg der eigentliche Sitz der Versammlung sein und bleiben solle, sich aber weiter dahin verabredet, sich zwischenzeitig und so lange, bis obgedachte Krankheit sicher sei aufgehört zu haben, nach des heiligen römischen Reichs freier Stadt Augsburg insgesammt zu begeben, worüber der kaiserlichen allergnädigsten Genehmhaltung entgegen gesehen werde.“

Diese Genehmigung erfolgte noch an dem nämlichen Tage. Man scheint es sehr eilig gehabt zu haben und führte noch als Grund an, wie zu befürchten stehe, man werde bei längerer Verzögerung der Abreise außer Stand gesetzt, von hier (Regensburg) abzureisen oder anderwärts eingelassen zu werden. – wegen der um der Pest willen von allen Gebieten angeordneten gegenseitigen Ab- und Aussperrung nämlich.

Der kaiserliche Principal-Commissarius sandte sofort einen „Cavalier“ mit der erforderlichen Notification nach Augsburg. Allein der hohe Rath dieser freien Reichsstadt war bei übler Laune. Er ließ besagten „Cavalier“ gar nicht zur Stadt herein, sondern ließ ihm hinaussageu, daß man sich zur Aufnahme des Reichstages nicht anders verstehen könne, als nachdem alle Gesandtschaften der Reichsstände in der Nachbarschaft der Stadt eine vierzehntägige Contumaz (Quarantäne) abgehalten hätten. Und es behielt, trotz aller Proteste und trotz der Berufung darauf, „was der allerunterthänigste Respect gegen Ihro kaiserliche Majestät und das Reich erfordert hätte“, dabei sein Bewenden.

Der Reichstag fühlte sich in dem widerborstigen Augsburg nicht behaglich. Regensburg dagegen wünschte dessen Rückkehr. Schon am 6. März 1714 schrieb die Stadt Regensburg an den hohen „Reichs-Convent“ (so nannte man damals den Reichstag), die Pest habe aufgehört und es sei böswillige Nachrede, wenn ausgestreut werde, die Stadt sähe lieber, daß der Reichs-Convent wegbliebe. Der Reichstag stellt seine Anträge auf Rückkehr ad locum unde, und endlich erläßt die kaiserliche Commission die Verfügung: „Nachdem durch göttliche Gnade sich eine Bestand verheißende Besserung aller Orten, und sonderlich zu Regensburg, auch nach zurückgelegter Frühlings- und hitziger Sommerzeit gezeiget, will es Allerhöchst Ihre Kaiserliche Majestät allergnädigst zufrieden sein, daß die Reichsversammlung gegen die Mitte des bevorstehenden Monats October dorthin wieder zurückverleget werde, allermaßen alsdann Kaiserliche Majestät den Magistrat zu Regensburg dessen werde versichern lassen, damit er alles dazu Benöthigte zeitig veranstalten und fertig zu halten habe.“

Ich gebe in der unten stehenden Anmerkung[1] ein Verzeichniß der Orte, in welchen der Reichstag in der Zeit vom Ende des zehnten bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts abgehalten wurde. Ich häbe es mit großem Zeitaufwand aus zahlreichen Folianten ausgezogen, kann aber trotzdem für dessen vollkommene Genauigkeit und Vollständigkeit nicht einstehn. Denn gerade die Ortsfrage ist nirgends ex professo behandelt.

In dem zweiten und letzten Capitel werde ich von einzelnen dieser früheren Sitze des alten deutschen „Reichs-Convents“ eine kurze Charakteristik und Schilderung zu geben versuchen, um zum Schluß, anknüpfend an den Eingang dieses ersten Capitels, zu einer Parallele zwischen Sonst und Jetzt zurückzukehren und zu erklären, warum der neue deutsche Reichstag in Berlin sitzt und menschlicher Berechnung nach dort zu bleiben bestimmt ist.

(Schluß folgt.)


  1. Von Verona, im Jahre 967, geht der Reichstag, unter den sächsischen Kaisern, nach Goslar, Magdeburg, Quedlinburg, Dornburg. In Goslar saß er in dreiundzwanzig verschiedenen Jahren in sächsischen sowohl als in fränkischen Zeiten. Unter den Königen und Kaisern fränkischen Stammes (vom Jahre 1024 bis 1137) hat der Reichstag seine Versammlung 1030 in Speyer, 1036 in Augsburg, 1044 in Costnitz (jetzt Constanz), 1048 in Ulm, 1074 in Worms, 1122 abermals in Worms und 1125 in Regensburg gehalten. Während der Hohenstaufenzeit und des großen Interregnums (1137 bis 1272) finden wir den Reichstag 1157 in Worms, 1166 in Würzburg, 1209 in Augsburg und in Würzburg, 1220 in Frankfurt am Main, 1235 in Mainz, 1236 wieder in Frankfurt, 1269 in Worms. In der Zeit von dem Ende des großen Interregnums bis zur Entwickelung der reformatorischen Ideen in Reich und Kirche, also in der Periode von 1272 bis 1493, saß der Reichstag 1278 in Mainz, 1281 in Nürnberg, 1291 in Speyer, 1293 in Köln, 1295 in Nürnberg, 1309 wieder in Speyer, 1314 in Mainz, 1323 in Nürnberg, 1333 in Eßlingen, 1356 in Nürnberg und Metz – (hier entstand die Goldene Bulle Kaiser Karl’s IV., die in ihrem ersten Theile eine Erweiterung, Formulirung und Anerkennung der Rechte der Kurfürsten auf Kosten der übrigen Reichsstände enthält, im zweiten Theile aber hauptsächlich ein Ceremonienbuch ist, welches uns an das moderne preußische Ceremonienbuch des Grafen Stillfried von Alcantara erinnert) –, 1379 in Oppenheim, 1383 in Nürnberg, 1389 in Eger, 1398 in Frankfurt am Main, 1422 in Nürnberg, 1423 in Frunkfurt, 1431 in Nürnberg, 1435 in Frankfurt, 1437 in Eger, 1438 in Nürnberg, 1441 in Mainz, 1442 in Frankfurt, 1457 daselbst, 1466 in Nördlingen und Ulm, 1467 in Nürnberg, 1471 in Regensburg, 1474 in Augsburg, 1480 und 1481 in Nürnberg, 1486 in Frankfurt, 1487 in Nürnberg. Die Reichstage in Worms, 1495, sowie in Lindau und Worms, 1497, gehören schon der Regierung des Kaisers Maximilian I. (1493 bis 1519) an. Ich werde ihrer im zweiten Capitel gedenken. Ich beschränke mich hier auf diese Aufzählung, welche, wie gesagt, eine vollständige nicht ist.




Blätter und Blüthen.

Das Nowo-Dewitschij-Kloster bei Moskau. (Mit Illustration S. 385.) Der Ursprung des Namens Nowo-Dewitschij-Monastyr (Neues Jungfrauen-Kloster) ist nicht ganz aufgeklärt. Als altes Jungfrauen-Kloster wird keines der übrigen Nonnenklöster Moskaus bezeichnet. Jedes von ihnen trägt entweder den Namen eines Heiligen, wie z. B. Alexejewsky, Nikitsky (des heiligen Alexej, Nikita), oder den eines kirchlichen Festes, wie z. B. das Nonnenkloster zur Geburt Christi, zur Empfängniß, zur Himmelfahrt. Blos dem Nowo-Dewitschij-Kloster fehlt eine solche specielle Bezeichnung. Manche behaupten, es trage seinen Namen von der ersten Aebtissin, die Helene Dewotschkin geheißen habe. Ob der Platz, auf dem das Kloster sich befindet, das Jungfernfeld, von dem Kloster seinen Namen erhalten hat, oder umgekehrt, ist gleichfalls nicht festzustellen.

Fast im südwestlichsten Winkel des großen Bogens, den die Moskwa bildet, bevor sie in’s Innere der Stadt, am Kreml vorbei fließt, liegt, ganz am Ende des Jungfernfeldes, dieses historisch-merkwürdige Kloster. Von den 21 Klöstern der Hauptstadt ist es eines der größten, es birgt innerhalb seiner mit Thürmen und Schießscharten versehenen Mauern nicht weniger als 8 Kirchen.

Das Nowo-Dewitschij-Kloster wurde vom Czaren Wassilij Iwanowitsch im Jahre 1524 zum Andenken an die Wiedervereinigung von Smolensk mit dem Großfürstenthum Moskau gegründet (nach andern Quellen zum Andenken an die Rücksendung des wunderthätigen Bildes U. L. Frauen von Smolensk nach dessen Heimathstätte, und bis zu der Stelle, wo sich jetzt das Kloster befindet, soll die Procession das nach Smolensk zuruckgesandte Heiligenbild begleitet haben).

Nach dem Tode Wassilij Iwanowitsch’s nahm seine Wittwe, die Czarin Irene, im Jahre 1598 unter dem Namen Alexandra hier den Schleier. Auch Boris Godunow, ihr Bruder, hatte sich nach dem Tode des jungen Thronerben Dmitrij – dessen Ermordung ihm zugeschrieben wird – hierher zurückgezogen. Er erwartete hier auch die Ankunft des Patriarchen Hiob, der an der Spitze der Geistlichkeit ihm die Czarenkrone anzubieten kam.

Im Jahre 1610 wurde das Nowo-Dewitschij-Kloster, während der blutigen Kämpfe mit den Polen, welche mit dem falschen Dmitrij gekommen waren, um dem Czaren Boris Godunow die Krone zu entreißen, theilweise zerstört. Czar Michail aber ließ es wieder herstellen.

Unter Peter dem Großen gelangte das Kloster abermals zu historischer Bedeutung. Hier war es, wo er seine widerspenstige und herrschsüchtige Schwester Sophie unter dem Namen Susanne einkleiden ließ. Von hier aus sann diese Intriguantin während der langen Abwesenheit Peter’s außerhalb der Grenzen seines Reichs auf neuen Verrath, dessen Folge [388] der Aufstand der Streltzy war, welche der Czarewna Sophie den Thron antrugen. Nach Peter’s schleuniger Rückkehr aber wurde ein fürchterliches Strafgericht gehalten. Vor den Fenstern der Zelle seiner Schwester ließ er dreihundert Streltzy aufknüpfen. Diejenigen, welche die Czarewna schriftlich um Annahme der Krone gebeten hatten, erhielten den Ehrenplatz unmittelbar vor dem Fenster, und Papierrollen wurden ihnen in die Hand gesteckt. Ihrem Führer aber, dem Fürsten Chowanskij, wurde die rechte Hand im Fenster von Sophiens Zelle festgenagelt. Später ließ Peter an jener Stelle, wo diese Executionen stattfanden, den hohen Glockenthurm bauen, dessen Uhr sogar die Minuten schlägt.

Im denkwürdigen Jahre 1812 besuchte Napoleon dieses Kloster. Beim Abzuge der Franzosen sollte es in die Luft gesprengt werden; die muthigen Nonnen aber wußten diese Katastrophe zu verhüten.

Das Hauptthor, welches in den Klosterhof führt, hat einen etagenförmig aufgebauten Thurm; dicht dahinter ragt die Hauptkirche mit ihren fünf Kuppeln, hier und da kleine Thürme von Nebenkirchen oder Capellen, links der große Glockenthurm hervor. Gleich beim Eingange, um die Hauptkirche herum, bei den Capellen und an der Mauer entlang, befindet sich der schöne Kirchhof mit hervorragenden Grabdenkmälern. In der Hauptkirche selbst befinden sich die Gräber der Czarewna Anna Iwanowna, Tochter des Czaren Iwan Wassiljewitsch, gestorben 1550; ferner der obenerwähnten Schwester Peter’s des Großen Sophie Alexejewna, gestorben 1704 im Rufe großer Frömmigkeit, und der beiden andern Schwestern desselben, Eudoxia, gestorben 1712, und Katharina, gestorben 1718. Auch die Czarin Eudoxia Feodorowna, die erste Gemahlin des großen Peter, welche 1696 in Ssusdal den Schleier nehmen mußte und 1727 in das Nowo-Dewitschij-Kloster gebracht wurde, starb hier. In der Hauptkirche ist sonst nicht viel Bemerkenswerthes zu sehen. Das Haus, in welchem früher Sophie Alexejewna gewohnt hatte, ist jetzt die Wohnung der Aebtissin. Der hohe Glockenthurm gewährt eine schöne Aussicht auf die Stadt, vorzugsweise aber auf die Sperlingsberge.

Unser Bild zeigt eine der Processionen, an denen der Gottesdienst des griechisch-katholischen Cultus so reich ist. Zu den Hauptprocessionstagen gehören der Eliastag (20. Juli) und der Alexander-Newskij-Tag (30. August). Die Pracht der großen Kirchenfahnen, von denen einzelne so schwer sind, daß sie von drei Männern getragen werden müssen, ferner die mit Gold und Edelsteinen reichgeschmückten Heiligenbilder und die Prachtgewänder der Geistlichkeit machen diese Processionen zu imposanten Aufzügen, die immer eine große, andächtige Menge anziehen. Liegt es doch in den Traditionen der orientalisch-christlichen Kirche, hauptsächlich auf die äußeren Sinne ihrer Anhänger einzuwirken. W. H.     



Herzens-Angelegenheiten.0 Nach dem Oelgemälde von Paul Höcker.
Photographie im Verlage von F. Hanfstängl in München.


„Schelm von Bergen.“ Die Sitte fürstlicher Häuser, den Taufnamen ihrer Sprossen häufig Benennungen hinzuzufügen, die, längst veraltet, an die Vorzeit mit ihren ritterlichen Erinnerungen mahnen, pflegt in den meisten Fällen die verschiedensten Deutungen über den Ursprung derselben zu veranlassen. Bei vielen freilich muß die Sage historische Quellen ersetzen, während bei andern Tauf- oder Geschlechtsbeinamen die Forschung in nüchterner Weise den Schleier der Romantik gelüftet hat, welchen Ueberlieferung darum gewoben. Einen der bekanntesten Fälle dieser Art weist das im Jahre 1799 mit dem letzten ledigen Mannessprossen erloschene Geschlecht der „Schelm von Bergen“ auf. Es galt lange als feststehende Thatsache, daß bei einem Mummenschanz, den Friedrich II. im Kaiserpalast zu Frankfurt veranstaltet, der Scharfrichter (auch Schelm genannt) des nahen Flecken Bergen, sich in die Säle gestohlen, mit der Kaiserin getanzt habe. Als er entlarvt wurde, soll man ihn, um die hohe Frau vom Schimpfe zu reinigen, ehrlich und adlig zugleich gemacht haben.

Weit berechtigter aber ist die Annahme, daß der sonderbare Beiname irgend einem höfischen Dienstverhältnisse entstammte, auch die im Mittelalter für einen Landpfleger (Voigt) gebräuchliche Bezeichnung „Faut“ würde heute wohl ohne genauere Kenntniß des Ursprungs anders gedeutet. Einen Beinamen, der vielleicht allein das Richtige bezeichnet, führte der im Jahre 1310 lebende Gilbrecht Schelm von Bergen: „dictus pesti“ (nach der „Pest“ genannt). Diese Geißel früherar Perioden ward im Volksmund auch häufig „Schelm“ genannt. Daß sich übrigens auch in der Familie Derer zu Bommersheim laut Urkunde A. d. 1308 ein „Theodoricus Schelmer de Bommersheim“ vorfindet, macht den romantischen Austrag eines Tanzes des Scharfrichters und der Kaiserin zu noch sagenhafterer Deutung. H. H.     


Herzens-Angelegenheiten. Recht sauber und blank sieht es aus in der Rüstkammer der Schönen, die freilich augenblicklich an etwas ganz Anderes denkt, als an Herd und Mahl. Ungestört spielen selbst die jungen Nachkommen der treuen Hausgenossin Diana zwischen Kohl und Wurzeln, was die Schöne entrüstet gewiß längst nicht geduldet hätte, wenn sie nicht so völlig von einer Angelegenheit in Anspruch genommen gewesen wäre, die da sicher auch ungleich wichtiger war und die sie die Umgebung für eine Weile ganz vergessen ließ. Was es aber ist, das sie so eifrig hinnimmt? Genau wissen wir es nicht; aber wenn der Künstler versichert, es seien Herzens-Angelegenheiten der Schönen: – sollte das etwa nicht ganz glaubwürdig sein?


Kleiner Briefkasten.

„H. Z. 33.“ Da ist schwer zu rathen. Wenden Sie sich in eine größere Stadt, so müssen Sie überall von unten auf dienen, da helfen auch keine Vermittelungsbureaux. Bleiben Sie, wo Sie sind. Wenn Sie auch den Zinsenertrag Ihres Vermögens an Ihre Kinder wenden müssen, was schadet es? Sie können das Geld ja gar nicht besser anlegen, als Ihren Kindern eine möglichst gute Erziehung und Bildung angedeihen zu lassen.

K. in G. G. Hessen. Wenden Sie sich an die Direction des Lehrerseminars und Gouvernanten-Institutes in Droißig, Provinz Sachsen.

„Zwei fürstliche Bücher“. Wir bitten um Angabe der Adresse.


[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht übernommen.]


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.