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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 8.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der heimliche Gast.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


„Ich bedaure zu stören,“ wandte sich Hilda an den Eintretenden zerstreut und befangen.

„Nein, bedauern Sie nichts, wodurch Sie mir eine Freude bereiten, Hilda!“ unterbrach sie Meinhard. Er drückte ihre Hand und geleitete sie zum Sopha, und während er sich selbst in ihrer nächsten Nähe auf einen der Lehnstühle niederließ, versicherte er ihr, daß nichts Wichtiges zu erledigen sei; das Postpaket werde schon geschlossen. „Ein Brief an meinen Minister,“ setzte er dann, wie mit sich selbst redend, hinzu, „kann ja bis morgen liegen bleiben, obwohl ich nicht glaube, daß die Nacht andern Rath bringt, es müßte denn ein Wunder meinen Ehrgeiz wecken.“

„Handelt es sich wieder um einen Versuch, Sie uns zu entführen?“ fragte Hilda, ohne besondere Ueberraschung zu dem Lächelnden aufblickend.

„Unser neuer Minister kennt mich aus früherer Zeit, wo wir eine Weile gewissermaßen neben einander arbeiteten. Er ist so freundlich, sich dessen zu erinnern, und knüpft einen Vorschlag daran, der vielleicht – manches Verlockende hätte –“

„Und Sie widerstehen?“

Auch das klang nicht wie eine besorgte Frage, sondern eher wie eine im Voraus sichere Annahme. Meinhard zuckte die Achseln.

„Es ist mir nicht lange Ueberlegung gegönnt; die Entscheidung muß zwischen heute und morgen fallen, und da an ein Wunder, wie gesagt, nicht recht zu glauben ist – freilich, es ereignen sich zu Zeiten noch solche, wie eben Ihr Besuch beweist –“

„Ich hoffe,“ fiel Hilda mit einem Versuch zu scherzen lebhaft ein, „Sie zählen dieses Ereigniß wenigstens nicht zu den Wundern, welche Ihren Entschluß, unser getreuer Nachbar zu bleiben, ändern könnten.“

„Sie wissen recht gut, Hilda, was mich hier fesselt: mein Freundeskreis und in ihm vor allem – Sie.“

„Aber Sie lassen sich vielleicht Vortheile entgehen –“

„Die für mich keinen Werth haben. Für meine Bedürfnisse ist ausreichend vorgesehen; ein Mensch, der allein steht, ist bald versorgt. Nach Auszeichnung dürste ich nicht, und Einfluß – nun, man kann ja in jeder Stellung nützen und sich selbst genug thun. Das ist am Ende die Hauptsache, so wird es denn am entsprechendsten sein, wenn man mich auch fernerhin da vergißt, wo man mich nun schon so lange vergessen hat.“

„Die aber, bei denen Sie bleiben, werden es Ihnen nicht vergessen,“ sagte Hilda. Ihre beiden Hände hatten die seinigen erfaßt, und aus ihren Augen brach ein Strahl der Rührung, an dem sich sein Blick aber nicht entzündete. Er nickte nur leise, und ein ganz schwaches, wehmüthiges Lächeln spielte um seinen Mund.

„Sie verleiten mich zu Selbstsucht,“ lenkte er ab. „Ueber meine Angelegenheiten lassen wir die Ihrigen bei Seite.“

„In mir also sehen Sie die Egoistin und in meinem Besuche eine eigennützige Ursache?“

„Den sah ich allerdings voraus, schätze ihn darum aber doch, als ob er nur mir ein Glück zugedacht hätte.“

In dem Tone dieser Worte lag mehr als ein liebenswürdiger Scherz. Hilda war jedoch zu sehr mit ihrer Absicht beschäftigt, als daß sie die galante Wendung auf ihr Gewicht geprüft hätte.

„Ich habe in der That ein kleines Anliegen,“ entgegnete sie mit möglichst leichtem Berühren der Sache, von der er ja nicht ahnen sollte, wie sehr sie ihr am Herzen lag. „Aber ich könnte ja auch im Auftrag meines Bruders kommen. Warum nicht?“

„Weil es im Frauencharakter liegt,“ antwortete Meinhard in neckischem Tone, „an den Freund nur zu denken, wenn man ihn für sich selbst braucht.“

„Sie haben doch eine recht abfällige Meinung vom ‚Frauencharakter‘. Das könnte mich reizen, Ihnen zu beweisen, wie ungerechtfertigt diese Meinung ist.“

„Da muß ich Ihnen nur rasch den Umweg abschneiden und darf mich dabei wohl der gewöhnlichen Geschäftsformel bedienen. Womit kann ich Ihnen dienen, mein Fräulein?“

Hilda mußte trotz der innerlichen Unruhe lächeln. Dann faßte sie sich ein Herz und sprach kurz ihren Wunsch aus, die bei ihm deponirte Geldsumme an sich zu nehmen. Während sie sprach, wagte sie aber nicht, ihn anzusehen, aus Furcht, er könnte ihre Unruhe in ihren Augen lesen.

Vielleicht hatte er eine andere Mittheilung erwartet; denn er sah ein wenig überrascht aus, fand sich aber sofort in die Lage. Eine natürliche Ideenverbindung brachte ihn auf das ohne Resultat gebliebene Gespräch, zu dem er auf dem vorgestrigen abendlichen Heimwege von Waltershofen selbst die Anregung gegeben hatte. Er neigte verständnißvoll das Haupt.

„So stellt sich denn die Entwickelung, welche ich voraus gesehen, früher ein, als es vorgestern noch den Anschein hatte,“ sagte er. „Ist seither etwas vorgefallen, was die Entscheidung brachte? Doch nein, es bedarf ja auch keiner plötzlichen gewaltsamen Ereignisse, um die Ueberzeugung bei einem Menschen reifen zu lassen, daß er sich nicht mehr an seinem Platze fühlt. Die kleinen Daten [122] summiren sich. Ich habe sie mitempfunden und mich in Ihre Seele versetzt. Wie mir muß es auch Ihnen klar geworden sein, daß die Verhältnisse, von denen Sie immer mehr eingeschränkt werden, ein ernstes Erwägen der Zukunft und einen Beschluß über dieselbe erheischen. Eine Natur wie die Ihrige fühlt sich heimathlos, wo sie nicht einen bestimmten Beruf in der Familie ausüben kann. Sie sind zu jung, um auf den Altentheil gesetzt zu werden, zu jung, um das Leben als etwas Abgeschlossenes zu betrachten, zu jung, um ohne Zweck und ohne Zwang hier in einem vergessenen Winkel fast ohne Berührung mit der Welt den langen Rest der Jahre hinzudämmern. Sie können nur glücklich sein, wo Sie Arbeit für Ihre Kräfte, ein Ziel für Ihre Arbeit haben, wo Sie nützen können und das Bewußtsein dieses Nutzens haben.“

„Man kann in jeder Stellung nützen,“ meinte sie, plötzlich in einen ganz andern Gedankengang gelenkt.

„Ja, auch wenn Sie blos die Blumen pflegen und lediglich durch Ihre freundliche Anwesenheit das Familienleben verschönern. Aber ein Anderes ist es, ob Sie damit in dem großen in einander greifenden Räderwerke den Platz ausfüllen, der Ihnen mit den Ihnen verliehenen Anlagen zugedacht ist, ob Sie sich selbst genügen in einem Kreise, wo Ihr Ausscheiden kaum eine Lücke hinterließe. Sie bedürfen eines Wirkungskreises und werden sich nur in demjenigen wohl und zufrieden fühlen, der Ihnen eine volle Entfaltung Ihres Wesens gestattet und Sie ganz in Anspruch nimmt; denn in Ihrer Natur liegt nicht die Beschaulichkeit.“

„Und so sprechen Sie, Meinhard, Sie, dem jedes dieser Argumente selbst gelten könnte und der doch im Begriffe steht, den an ihn ergangenen Ruf abzulehnen?“

Vor der ernsten Frage senkte nunmehr Meinhard den Blick. Sein Eifer war verstummt, und gedämpfter, fast befangen brachte er nach einer Weile eine Erklärung, die wie eine Enttäuschung klang, hervor.

„Es lebt der Drang in jedem Manne, sich zu bethätigen und das Feld seines Schaffens zu erweitern, aber es hat nicht jeder die Kraft und Selbstverleugnung, diesem Drange alles Andere unterzuordnen. Die Wahl ist schwer, welches Gefühl dem andern zum Opfer gebracht werden soll, und in der Regel siegt das – welches tiefer im Herzen entspringt.“

In diesen letzten Worten webte ein so wunderliches Schwingen der tiefen wohlklingenden Stimme, daß Hilda sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, Meinhard bemeistere nur mühsam eine mächtige Bewegung. Es war ihr selbst dabei ganz befremdlich zu Muthe; ihr Blick schweifte hinüber zu den welken Rosen, und eine zarte durchsichtige Röthe trat auf ihre Wangen. Aber mit einem schnellen energischen Rucke des Kopfes wies sie auch sich selbst energisch zurecht. Die letzte Zeit hatte schon Anwandlungen gebracht; heute galt es zu handeln, nicht zu träumen.

„Ich denke, wir lassen die Erörterungen bis auf ein andermal. Die Zeit vergeht, und wenn ich Sie bitten darf –“

„Sie wünschen Ihr Geld? Ja, das kann ich Ihnen sogleich –“

Dienstfertig erhob er sich, und während er an den Schreibtisch ging und dort eines der Schubfächer öffnete, fragte er: „Die ganze Summe oder nur einen Theil?“

„Bitte, die ganze!“ antwortete sie.

„Soll ich die Papiere für Sie verkaufen und den Erlös an eine bestimmte Adresse senden?“ fuhr er fort zu fragen.

„Das geht nicht wohl an,“ erwiderte sie.

„Ich dachte an einen Hauskauf,“ meinte er, „an eine Anzahlung – aber darf man denn von Ihrem Plane nichts erfahren? Vielleicht kann ich Ihnen mit meinem Rathe nützlich sein. Uebereilung thut ja nicht Noth. Man hat Ihnen doch Kost und Logis nicht schon gekündigt?“

Der Scherz fand keinen Anklang; er steigerte nur Hilda’s Verlegenheit.

„Darf ich nicht mein kleines Geheimniß haben?“ fragte sie scheinbar in seinen Ton eingehend. Nun aber war er es, der ihn wechselte.

„Ein kleines? Mich dünkt, Hilda, ein solcher Entschluß – wie immer er gestaltet sei – ist ein großer, ein sehr großer, und sonst ist es auch nicht Ihre Art, derlei wie etwa eine Geburtstagsüberraschung leicht zu nehmen und insgeheim zu betreiben. Was haben Sie vor?“

„Ich werde es Ihnen sagen, wenn es an der Zeit ist.“

„Ich war der Meinung, Ihr Vertrauen zu besitzen.“

„Ach, was Ihr Männer doch für umständliche Leute seid!“

Die Ungeduld hatte ihr diesen Ausruf erpreßt. Wie erschrak sie aber, als Meinhard das Paket, welches er zwischen andern aus der kleinen Hauscasse, die in der Lade gestanden, hervorgeholt hatte und das sie schon in der Tasche zu haben vermeinte, gedankenvoll in der Hand wog und dann wieder auf den Tisch zurücklegte.

„Ich weiß doch nicht,“ sagte er dabei, „ob ich recht daran thue, Ihnen dieses Geld so ohne Weiteres zu übergeben.“

„Welche Geschäftsbedenken!“ Es war ihr, als vernehme sie Edwin’s Stimme: ‚der Pedant!‘ „Ich unterschreibe Ihnen die Empfangsbestätigung, und Sie sind damit aller Verantwortung enthoben.“

„So ganz und gar denn doch nicht! Im Einvernehmen mit Franz wurde dieses Capital meiner Verwaltung anvertraut. ,Es soll dereinst meiner Nichte gehören,‘ erklärten Sie.“

„Allerdings! Mimi soll darum nicht verkürzt werden. Ich werde Ihr die Summe aus meinem Vermögensantheil ersetzen, sobald Franz ihn mir herausbezahlt.“

„So haben Sie also dieses Geld für einen Zweck bestimmt, bei dem es ihr – und wohl auch Ihnen verloren geht?“

„Ach, das ist ja ganz Nebensache.“

„Nicht doch!“

„Nun, dann nehmen Sie an, ich hätte die Summe zum Einkauf einer Lebensrente bestimmt!“

„Für sich oder für einen Andern? Darin liegt der Unterschied.“

„Für – meine Nichte.“

„Sie haben deren zwei. Es könnte für jene in Amerika sein.“

„O, daß ich das Leben des armen Kindes noch versichern könnte! Es ist leider todt.“

„Vielleicht zu seinem Glück.“

„Sie sind herzlos.“

„O nein, Hilda, bedenken Sie selbst, was dem armen Wesen bevorstand!“

Hilda senkte den Kopf.

„Es ist möglich, daß Sie Recht haben,“ gab sie zu; „denn es ist schrecklich zu denken, was aus dem Kinde hätte werden müssen unter der Leitung einer solchen lieblosen, lügnerischen und genußsüchtigen Mutter.“

„Ich erstaune, Hilda. Sie waren ja immer der entgegengesetzten Ansicht.“

„Weil ich von der Heuchelei dieses Weibes umstrickt war,“ erwiderte sie. „O, es empört mich, daß ich diesen niedrigen Verleumdungen Glauben schenken und mich verleiten lassen konnte, meinem Bruder so großes Unrecht zu thun, dem eigenen Bruder auf die Anklage einer Fremden hin, der ich von vornherein hätte mißtrauen sollen. Sie allein hat sein Unglück auf dem Gewissen, sie ganz allein.“

„Sind Sie auch gewiß, Hilda, daß Sie in keinen neuen Irrthum verfallen? Ein Mann lebt nicht Jahre lang an der Seite eines unwürdigen Weibes, ohne selbst entwürdigt zu werden.“

„Aber er kann sich wieder erheben,“ nahm Hilda mit warmem Eifer die Partei des Angegriffenen. „Er ist ein Anderer, ein Besserer, sobald er die entwürdigende Gemeinschaft löst, und es ist ja die einfachste Menschenpflicht, einen solchen Besserungsversuch zu unterstützen.“

„Also das ist die Bestimmung dieses Geldes?“

Meinhard’s ruhige, kalte Frage bewirkte bei Hilda eine plötzliche Ernüchterung. Sie sah mit Schrecken, daß sie sich zu weit hatte hinreißen lassen, daß sie sich verrathen hatte.

„Nun denn, ja,“ erklärte sie nach einer kleinen Weile, ihr ganz in Purpur getauchtes Antlitz trotzig erhebend.

„Ich hätte es voraussehen sollen, Hilda. Die Selbstsucht wird immer wieder Mittel finden, Ihr Mitleid zu mißbrauchen.“

„Nein, nein, diesmal ist es kein Mißbrauch, ich weiß es bestimmt –“

„Woher?“ fragte er gespannt.

Hilda bebte vor innerer Erregung.

„O, wozu diese Discussion?“ kam es im Tone strenger Zurückhaltung von ihren Lippen. „Hier kommt es nicht darauf an, Sie zu überzeugen, sondern mir das Verfügungsrecht über mein Vermögen zu wahren.“

„Aber warum haben Sie kein Zutrauen mehr zu mir, Hilda?“ [123] fragte er leise den Kopf schüttelnd. Aber der milde Vorwurf schürte nur das Feuer.

„Habe ich denn über alles Rechenschaft abzulegen?“ entgegnete sie trotzig. „Unterscheiden kann ich selbst auch; ich bin kein Kind mehr.“

„Ja, herzensgut und unerfahren sind Sie, wie ein Kind, das man vor einer Falle warnen und vor Schaden behüten muß.“

„Komm’ ich zu Schaden, so ist es meine Sache.“

„Nein, die Verantwortung träfe, wenn auch nur vor dem eigenen Richter, den man im Innern trägt, Denjenigen, der seine Pflicht als Ihr Beschützer so arg vernachlässigt hätte.“

„Mein Beschützer?“ Hilda trat mit einem stolzen Emporheben des Kopfes zurück. „Kein Mann hat das Recht, sich dazu aufzuwerfen, es wäre denn –“

„Nun?“ fragte er die Stockende, der abermals ein Blutstrahl in’s Angesicht geschossen war.

„Der Ehemann,“ sagte sie leise.

„Und der wahre Freund,“ fügte er hinzu.

„Ja, Meinhard, aber der ist kein wahrer Freund, der eine freiwillig ihm eingeräumte Stellung in ein Abhängigkeitsverhältniß verwandeln will. Genug des Wortwechsels! Machen wir der Sache ein Ende! Geben Sie –“

„Nein, Sie bekommen das Geld nicht.“

Und statt in die gebieterisch ausgestreckte Hand, legte er das Paket in die Lade zurück und schob sie zu. Miene und Haltung deuteten, als er sich Hilda wieder zuwendete, auf einen unabänderlichen Entschluß.

„Sie enthalten mir mein Eigenthum vor?“ rief sie heftig.

„Bis auf Weiteres, ja.“

„Wie dürfen Sie das? Es ist eine gesetzwidrige Handlung.“

„Allerdings, und es steht Ihnen frei, mich dafür zu belangen. Klagen Sie immerhin – ich entziehe mich den Folgen nicht. Aber bis das Gericht mich zur Auslieferung zwingt, wird doch einige Zeit vergehen, und es ist möglich, daß Sie unterdeß zu klarerer Einsicht kommen. Es ist besser, daß ich Sie zum Schein beraube, als daß Sie thatsächlich beraubt werden.“

„Sie begehen einen Vertrauensbruch, einen Rechtsbruch,“ rief Hilda, und ihr brennendes Auge, in dem eine Thräne zerfloß, richtete sich in Haß auf Meinhard.

„Das Vertrauen, das nicht existirt, kann nicht gebrochen werden,“ erwiderte er, tiefen Gram in den Zügen. „Es war nur ein Irrthum, daß ich an Ihr Vertrauen glaubte, Hilda. Was aber das Recht betrifft, so will ich es lieber verletzen, als meine Pflicht gegen die Freundschaft, der ich meinerseits treu bleibe.“

„Treu? Ich entbinde Sie derselben – für immer!“

„Hilda!“

„Sie selber, Meinhard, haben das Band mit Gewalt entzweigerissen. Das ist nimmermehr gut zu machen.“

„Sie sind im Zorn, meine Freundin – der wird verrauchen.“

„Mag sein!“ stieß sie, durch seinen Gleichmuth gereizt, hastig hervor. Sie kannte sich selbst nicht mehr. „Unter dem Vorwande, Mißbrauch zu verhüten, selbst einen begehen, ist eine unehrenhafte Handlung, und einer solchen gegenüber verwandelt sich die Empörung – in Verachtung.“

Es kam kein Wort über seine Lippen; kein Zug seines Gesichtes regte sich; er war wie zu Stein geworden. Aber vor diesem bleichen Antlitz, vor dem starren Blicke fühlte sich Hilda von einer jähen Furcht erfaßt. Die rücklaufende Welle des Bluts jedoch verdrängte wieder diese Empfindung. Nein, es gab da nichts zu widerrufen. Sie hatte nur ausgesprochen, was sie dachte. So war es.

Meinhard hatte eben das ihm anvertraute Geld wieder an seinen alten Platz gelegt und unter Verschluß gebracht, als die Thür sich öffnete und in dem Rahmen derselben der Hausdiener erschien – er kam Hilda wie eine Rettung aus banger Noth. Er entschuldigte die Unterbrechung, indem er gleichzeitig Fritz, den Reinach’schen Kutscher, einließ.

Die gnädige „Frau Schwiegermama“, berichtete Dieser, warte unten in der Equipage und habe ihn heraufgeschickt, es dem gnädigen Fräulein zu melden.

Verwirrt erklärte sich Hilda bereit, ihm sogleich zu folgen. Nur noch mit einem scheuen Blick streifte sie Meinhard, von dessen ruhiger Haltung keine Aenderung seiner Entschlüsse zu erwarten stand und der sie stumm bis zur Thür begleitete, wo er sich mit einer förmlichen Verbeugung kühl von ihr verabschiedete.

Erst als Hilda von Frau Rohrwek mit strenger Miene empfangen wurde, schoß ihr die Frage durch den Kopf, wie dieselbe denn dazu gekommen, sie hier zu vermuthen und abzuholen. Hilda war zwar heute früh mit ihr in die Stadt gefahren, hatte auch eine Rückfahrt um Mittag mit ihr halbwegs verabredet, aber wie konnte sie ahnen – – kurz der Gedanke, ihre Wege ausgekundschaftet zu wissen, übte auf das erregte Mädchen eine peinlich deprimirende Wirkung – aber nur für einen kurzen Moment; denn schnell tauchten in ihrem erhitzten Kopfe alle andern Gedanken in den einen an das eben Erlebte unter. Hilda hörte kaum darauf, als ihr nicht ohne eine gewisse Schadenfreude auseinandergesetzt wurde, wie man sie hier aufgefunden. Das war nämlich so gekommen: Fritz war die so lange Ausbleibende suchen gegangen und hatte im Kaufmannsladen, wo er vorfragte, den Amtsschreiber getroffen, der gerade zum Essen ging und die Vermißte auf der Treppe gesehen hatte. Frau Rohrwek schloß an diese Auseinandersetzung unverhohlene Vorwürfe über die verzögerte Heimfahrt an einem Tage, wo das Essen, des nach Tisch projectirten Ausflugs wegen, ausdrücklich auf eine frühere Stunde angesagt war; die alte Dame endete ihre Rede mit einem ernsteren Tadel, auf den es wohl von allem Anfange an abgesehen war und der in dem gravitätischen Urtheilsspruche gipfelte:

„Mein liebes Kind, eine solche Freundschaft ist unschicklich. Man kann nie vorsichtig genug sein. Die böse Welt macht so gern ihre Schlüsse.“

„Vor solchen Trugschlüssen bin ich wohl sicher,“ entgegnete sie verletzt.

„Gut, gut, mein Herzchen!“ sagte die alte Frau beschwichtigend und nickte schlau, „bin ja ganz überzeugt. Ist schon eine zu alte Bekanntschaft, und was so lange in der Entwickelung zurückbleibt, wächst sich nicht mehr aus. Aber, glauben Sie mir, das Beste ist doch, um den Leuten den Mund zu stopfen: Sie heirathen sobald als möglich.“

Immer wieder dieser unausstehliche, stets gleichbleibende Refrain! Hilda gab keine Antwort und lehnte ihr schmerzendes Haupt in die weichen Kissen des Wagens zurück.




8.

Hilda hatte Kopfweh, und so war es keine bloße Ausrede gewesen, als sie gebeten, vom Mittagstische wegbleiben und sich der Ausfahrt entziehen zu dürfen. Diese Ausfahrt galt nämlich dem ersten der in den Wintermonaten reihumgehenden Wohlthätigkeitskränzchen, an dem Mimi Theil nehmen sollte. Statt von der wirklich kranken Hilda wurde das jubelnde Kind nun von Frau Rohrwek begleitet.

Hilda war wirklich krank. Ihr Puls ging rasch; ihre Stirn glühte, und als sie aus dem Schlummer erwachte, der sie inmitten des Gewühles hastig kreuzender Gedanken wie eine schwere Betäubung überfallen, da fühlte sie sich nicht gestärkt, nicht geklärt, nicht beruhigt, nein, nur muthloser als zuvor. Sie hatte eine Niederlage erlitten – wie und durch wessen Schuld, diese Erwägung folgte erst in zweiter Reihe; was sie am schmerzlichsten drückte, war: daß sie ihr Ziel verfehlt hatte.

Ihr Wille hatte sich als ohnmächtig erwiesen; ihr Drohen war sogar verhöhnt worden; denn offenbarer Hohn lag in dem Hinweis auf die ihr zustehenden gerichtlichen Schritte. Hätte man ihr so begegnen dürfen, wenn sie ein Mann gewesen wäre? Als solcher hätte sie noch über andere Waffen zu verfügen gehabt als über das Wort, und der Mann hätte sich auch nicht begnügen müssen, die thatsächliche, tiefempfundene Beleidigung mit einer anderen zu erwidern, die ja der Hochmuth des Mannes eben darum, weil sie aus dem Munde eines Weibes kam, wieder verächtlich abschütteln konnte, ohne daß sie ihn weiter berührte. Eine Frau, der ein Gatte zur Seite stand, konnte solche Ueberhebung strafen lassen, und deshalb schon war sie in gewissem Grade vor ihr sicher. Sie aber war ein Mädchen, hülflos und gänzlich der Willkür dessen preisgegeben, mit dem sie um ihr gutes Recht kämpfte. Der einzige natürliche Beschützer, den sie besaß, durfte nicht einmal aufgerufen werden, weil er sich selbst feindlich gegen ihre Absicht verhalten hatte. O, es war eine verzweifelte Lage, in der sie sich befand!

Ja, es gab doch ein Versäumniß in ihrem Leben, ohne das [124]

sie jetzt nicht so wehrlos dastehen würde, so rathlos, so mit leeren Händen.

Doch wozu nützten solche Erwägungen? Darüber entschwand nur die Zeit, und diese leeren Hände durften sich doch nicht in selbstzufriedener Ergebenheit in den Schooß legen. Hilda hatte ebenso wenig Anlage zum stillhaltenden Fatalismus des Mohammedaners wie zur alles dem Walten der Vorsehung anheimstellenden Frömmigkeit der Nonne. Ihr gesundes, reges Naturell drängte zum Handeln, zur Selbsthülfe. Es mußte etwas geschehen – um des armen Kranken willen, den sie noch immer mit Bangen im Jägerhause wußte.

Und wenn es nicht anders ging, wollte sie sich an Franz wenden. Ja, es blieb kein anderes Mittel. Er hatte sich ja bereit erklärt, ihr das ganze auf Waltershofen eingesetzte Capital auszufolgen, und nur Geduld verlangt. Doch eben diese konnte sie nicht haben. Er mußte ihr wenigstens die Summe, die in Frage stand, schaffen. Und wenn er, wie Meinhard, nach dem Zwecke fragte? Nun, dann würde sie zu sprechen wissen. Kein fremder Zwang legte ihr hier Verschwiegenheit auf, und es war nur zartfühlende Scheu gewesen, die sie abgehalten, seiner ablehnenden Heftigkeit die Stirn zu bieten. Jetzt zeigte sich ihr kein glatterer Weg mehr. Mochte Franz sich ereifern, wie er wollte, er konnte es doch nicht geschehen lassen, daß sein Bruder – –

Aber zaudern durfte sie nicht mehr. Die Stunden verrannen; schon begann der Abend zu dunkeln, und der Wagen konnte die Fortgefahrenen jeden Augenblick zurückbringen; dann war die günstige Gelegenheit zu einer ungestörten Verhandlung unwiederbringlich verpaßt.

Rasch entschlossen erhob sich Hilda und begab sich aus dem im oberen Stockwerke gelegenen Gastzimmer, das sie am vergangenen Tage bezogen hatte, die Treppe hinab, nach dem Arbeitszimmer ihres Bruders. Sie nahm den Weg durch das kleine Gemach, in welchem seine Garderobe und seine Jagdrequisiten untergebracht waren. Da – in dem Augenblicke, als sie eben den Fuß über die Schwelle setzen wollte – klang etwas, wie ein Lachen, an ihr Ohr. Erschrocken hielt sie den Schritt an.

„Ha, was ist das?“

(Fortsetzung folgt.)




Aus dem Thierleben Aegyptens.

In dem alten, classischen Reiche der Pharaonen, dem Lande der Pyramiden, begegnet man heutiges Tages noch einzelnen interessanten Repräsentanten des Thierreiches, welche die ältesten Menschenrassen des ursprünglichen ägyptischen Reiches überlebt haben und deren Bildnisse noch manches Monument der damaligen Zeit zieren. Unter diesen sind als besonders hervorragend zwei Thierarten zu bezeichnen, die, obgleich zu verschiedenen Classen der Wirbelthiere gehörend, dennoch in Bezug auf die mannigfachen, mehr oder weniger fabelhaften Erzählungen der Alten in einer gewissen Beziehung zu einander stehen.

Es sind dies die Pharaonsratte oder der Ichneumon, auch unter dem Namen „Manguste“ bekannt, und der vielberüchtigte Leviathan des Nilflusses, das Krokodil.

Der Ichneumon, welcher seiner Zeit gemeinschaftlich mit dem Krokodil an den fruchtbaren Ufern des großen Flusses in Unter-Aegypten lebte, ist ein recht nettes, ansehnliches, aber durchaus raubsüchtiges Thier, das nach mehreren Schriftstellern seit Urzeiten auch als Hausthier zur Vertilgung des Ungeziefers in den Wohnungen der Aegypter gehalten und gepflegt wurde.

Dieses Thierchen, zur Ordnung der Fleischfresser gehörend, ist nicht größer, als unsere gemeine Katze, jedoch etwas gestreckter, niedriger auf den Beinen und fast ebenso schlank gebaut, wie unsere Marder, denen es in Bezug auf Gefräßigkeit und Raubgier nicht im mindesten nachsteht. Dem Anscheine nach ist es ein recht anmuthiges Geschöpf, in dem man sicher nicht auf den ersten Blick, wäre es nicht seiner kleinen, schwarzen, frechen Augen wegen, eine so bösartige Natur vermuthen würde.

Das Exemplar, welches der Kölner zoologische Garten zur Zeit besitzt, hat eine Höhe von einundzwanzig Centimeter und eine Länge von einem Meter, wovon etwas mehr als die Hälfte dem Schwanze zukommt, dessen Basis ziemlich dick erscheint und zur Spitze hin, die in eine kleine, pinselartige schwarze Quaste endet, allmählich abnimmt. Den ganzen Körper ziert ein ansehnlicher Pelz von schwarz und gelblich geringelten, steifen Haaren, die in fahlgraue Spitzen enden, sodaß der Hauptton des Ganzen, abgesehen von dem Rücken, dem Kopfe und den Beinen, wo die Nuance etwas dunkler ist, dem Auge als hellgrau erscheint. Unter diesem sichtbaren Haarkleid steckt noch ein dichter, wolliger, rostgelber Pelz. Die Schnauze, die Sohlen und ein Ring um die Augen sind unbehaart, die Ohren klein und abgerundet und die Zehen bis an die Hälfte mit kurzen Spannhäuten versehen. Nach Brehm, der den Ichneumon in Aegypten gesehen, soll seine ganze Länge nur fünfundsechszig Centimeter betragen, wovon der Schwanz ungefähr die Hälfte einnimmt. Allein die Größe dieser Thiere, sowie die Nuancen derselben bieten uns, je nach den Ortschaften Afrikas, aus denen sie stammen, gewisse Modificationen, die aber hier nicht in Betracht kommen. Nach den verschiedenen Beschreibungen zu urtheilen, gehören alle Ichneumons, welche Afrika vom Norden bis zum Süden bewohnen, derselben Art an.

In der Wildniß lebt der Ichneumon vorzugsweise an den feuchten mit Schilf bewachsenen Ufern der Flüsse, wo er geschützte Verstecke zu seinem Aufenthalte leicht auffindet, um von dort aus unerwartet und ohne Gefahr auf seine Beute losstürzen zu können. Er nährt sich von allerlei kleineren Vierfüßlern, soll aber auch Schlangen, Eidechsen, Frösche und Insecten, ja sogar Würmer fressen, vorzugsweise aber geht er auf Raub von Geflügel und Eiern aus, und ist deshalb ein unbeliebter Gast der Landbewohner; denn gleich dem Marder und dem Iltis zerstört er viel mehr, als sein Bedürfniß erheischt. Uebrigens hat uns die Erfahrung gelehrt, daß er Fische den Fleischspeisen vorzieht.

Der Ichneumon, im Arabischen unter dem Namen „Nims“ bekannt, ist ein durchaus flinkes, behendes Thier und doch sehr vorsichtig in seinem Benehmen. Er klettert mit Gewandtheit auf kleinere Bäume, um Vögel zu erhaschen oder ihre Eier in den Nestern aufzusuchen. „Nach meinen Beobachtungen,“ sagt Brehm, der dem Ichneumon eine lange, ausführliche, höchst interessante Beschreibung widmet, „geht er nur bei Tage auf Raub aus, wagt sich niemals auf’s offene Feld, sondern schleicht vielmehr möglichst gedeckt und mit großer Vorsicht dahin. Sein Gang ist ganz eigenthümlich. Es sieht aus, als ob er auf der Erde dahin kröche, ohne ein Glied zu bewegen, weil seine kurzen Beine fast vollkommen von den langen Haaren seines Pelzes bedeckt werden. In den Sommermonaten gewahrt man ihn selten allein, sondern stets in Gesellschaft seiner Familie. Immer läuft ein Mitglied dicht hinter dem anderen her, zuerst das Männchen, dann das Weibchen und zuletzt die Schaar der Jungen, sodaß es aussieht, als wäre die ganze Sippschaft nur eine Kette eines einzigen Wesens, einer langen, sich dahin windenden Schlange nicht unähnlich.“

Seine Stimme klingt wie ein leises Wimmern, welches während der Paarzeit in ein scharfes, durchdringendes Pfeifen übergeht, sonst aber vernimmt man nur selten irgend einen Ton von ihm. Das Weibchen wirft im Frühjahr zwei bis vier Junge, die von Vater und Mutter sorgfältig gepflegt und bewacht werden, bis sie selbstständig sind; alsdann trennt die Familie sich, und jedes bleibt allein für sich, bis die Paarungszeit die beiden Geschlechter wieder zusammenbringt.

Der Ichneumon ist der Gegenstand einer Reihe von fabelhaften Erzählungen. Daß er die Krokodileier verspeist und deshalb, wie Herodot erzählt, bei den alten Aegyptern der höchsten Verehrung genoß, kann wohl als wahrscheinlich gelten; wenn aber Plinius berichtet, daß er dem Krokodil, während dieses sich mit aufgesperrtem Rachen in der Sonne labt, in’s Maul hineinspringt, sich durch die Halsöffnung desselben bis in den Leib hineinbohrt, dort Herz und Leber zerbeißt und sich alsdann, vermittelst seines kleinen Gebisses, einen Weg nach außen durch die Leibeshöhle bahnt, so gehört diese Mittheilung ohne Frage in das Gebiet der Erfindung. Eine bloße Volkssage ist sicherlich auch der Bericht, er pflege sich mehrmals im Kothe zu wälzen und sich alsdann an der Sonne zu trocknen, damit die Giftzähne der ihm gefährlichen Schlangen diese Art Harnisch nicht zu durchbohren vermögen.

[125] 

Ichneumons, Krokodileier raubend.
Originalzeichnung von F. Specht.

[126] Sicher aber ist, daß der Ichneumon diesen Volkssagen die hohe Verehrung verdankt, die er unter den alten Aegyptern genoß, welche seinen Leichnam einbalsamirten, an heiligen Stätten beerdigten und sein Andenken durch Bildnisse auf ihren Monumenten verewigten.

Weshalb aber der infame Räuber, das Krokodil, der alte Zeitgennosse des Ichneumon, gleich diesem, wie Herodot und Strabo berichten, derselben Ehren genoß, ist weniger begreiflich und kann wohl nur der unbeschreiblichen Angst und dem überaus großen Respect zugeschrieben werden, den ein großer Theil dieser Völkerschaften vor dem Ungeheuer hatte. Heute soll der alte berühmte Leviathan in Unterägypten zu einer Mythe geworden sein, sodaß der Ichneumon sich dort nicht mehr an seinen Eiern laben kann.

Ruhig und still fließen nunmehr die Fluthen des klassischen Nils dahin, und Friede wohnt an seinen Ufern, wo die gelbblüthigen, viel gepriesenen Lotosblumen wuchern, wo die prächtigen Mimosen, Sykomoren und Tamarisken blühen und die eleganten Palmen ihre imposanten Kronen entfalten. Die einzigen Thiergeschöpfe, welche heutigen Tages diese paradiesische Landschaft noch beleben, sind außer dem Ichneumon Züge von Pelikanen, Störchen, Reihern und Ibissen, sowie Schaaren von Flamingos, Schwalben und wilden Tauben.

Dagegen beherbergt der obere Nilfluß noch viele Tausende von Krokodilen, die jedoch allmählich, je mehr der Mensch dort seine Herrschaft ausbreitet, der alles besiegenden Macht der neuen Jagdgeschosse unterliegen; bald wird man Krokodil und Schlange mehr und mehr vergessen, und auch ihr äußeres Bild wird im Gedächtnisse der dortigen Völker verblassen; denn die Zeit ist dahin, wo ihre Leichname in den heiligen Stätten der Krokodilstadt am See Moeris eine Grabstätte fanden. N. Funck.     


Die Gobelin-Manufactur zu Paris.

Zugleich ein Blick auf den Antheil deutscher Meister an ihrer Entstehung.
Von Ernst Pasqué.
(Schluß.)

Während der französischen Revolution lagen die Arbeiten der Gobelin-Manufactur so gut wie völlig darnieder; wie die Sansculotten des Jahres 1793 mit den Gobelins verfuhren, haben wir schon angedeutet. Doch unter dem Kaiserreiche erstand die Manufactur zu neuer Blüthe; denn Napoleon der Erste brauchte ihre Kunstproducte zur Verherrlichung seiner Thaten und seiner Person. Die letzten Arbeiten vom Jahre 1814: „Empfang der Königin Luise in Tilsit“, „Zurückgabe der Waffen an den Herrscher von Alexandria“, „Audienz des persischen Gesandten durch Napoleon“, blieben unvollendet, und heute noch sind diese drei Fragmente in dem Gobelin-Museum ausgestellt. Unter Ludwig dem Achtzehnten wurde 1825 die Teppichmanufactur der Savonnerie, von welcher später noch die Rede sein wird, mit den Gobelins vereinigt; desgleichen unter Napoleon dem Dritten die Teppichmanufactur von Beauvais; ihre schlimmsten Tage aber, ja fast ihren Untergang, erlebten die Gobelins unter der wahnsinnigen Herrschaft der Commune; denn am 25. Mai 1871, als die Communards sich vor den Versailler Truppen von den Buttes aux Cailles, vor der Barrière d’Italie gelegen, zurückziehen mußten, setzten sie die Gobelin-Manufactur in Brand. Glücklicher Weise war durch Beamte und Arbeiter des Etablissements ein großer Theil der werthvollen Tapeten rechtzeitig geborgen worden, doch zerstörte das Feuer der Petroleurs noch eine bedeutende Menge derselben. Nach dem amtlichen Berichte verbrannten achtzig laufende Meter Gebäude, darunter die dem Publicum geöffnete Gallerie, ein Atelier mit sechs Webstühlen, drei Säle, angefüllt mit Spulen, welche mit gefärbter Wolle und Seide umwickelt waren, die Schule der Tapetenwirkerei, ein Maleratelier und ein großer Theil des Magazins, welches letztere Gypsabgüsse für den Zeichenunterricht enthielt. Den Hauptverlust aber bildeten siebenzig große Tapeten, darunter eine ganze Reihe aus der Geschichte Napoleon’s des Ersten, unersetzliche Kunstschätze, die bis dahin eine Zierde der Gallerie gewesen waren und die Bewunderung jedes Beschauers erregt hatten.

Noch heute leidet die Manufactur unter den Folgen dieses schweren Schicksalsschlages; denn wenn in ihr gegenwärtig auch noch über hundert Arbeiter und Künstler beschäftigt sein mögen, ihre Glanzperiode ist dahin.

Es bliebe uns nun noch übrig, einige Worte über die Art und Weise der Herstellung der Tapeten zu sagen, obgleich diese wohl mehr oder minder bekannt sein dürfte. Also in Kürze Folgendes: Bei den Hautelisse- (hochschäftigen) Tapeten ist die Kette eine verticale, bei den Basselisse- (tiefschäftigen) Tapeten eine horizontale, doch wird heute bei der Tapetenwirkerei und Teppichweberei fast nur noch in Hautelisse gearbeitet. Bei ersterer sitzt der Arbeiter hinter der Kette; er hat das Fenster vor sich und das Gemälde, welches er copirt, neben sich (bei der Teppichweberei ist das Umgekehrte der Fall; er sitzt vor seiner Arbeit, hat das Licht hinter sich und sein Modell fast über sich). Vermittelst Pauspapier überträgt er das Gemälde, einen Theil desselben nach dem andern, auf seine Kette, und dann umfährt er mit schwarzer Kreide, die an ihrem Ende nicht zugespitzt, sondern leicht ausgekehlt ist, jeden Faden an der Stelle, wo sich die Zeichnung befindet, welche somit ganz genau auf beiden Seiten der Kette zu sehen ist. Nun muß er sich die ihm nöthigen, einarmig geformten, mit Wolle und Seide in tausendfachen Farbennuancen umwickelten Spulen (heute hat jede Farbe vierundzwanzig Schattirungen) hervorsuchen und ordnen, und erst dann beginnt seine eigentliche Arbeit, die er ebenso selbstständig fort- und zu Ende führt, wie er sie begonnen. Immer ist er dabei genöthigt, vor seine Tapete hinzutreten, Wirkung und Fortgang seiner Arbeit zu prüfen, zu bessern oder gar zu vernichten und wieder von Neuem zu beginnen, ein schweres Stück Arbeit, bei dem ein geübter und fleißiger Arbeiter im Durchschnitte pro Tag nur vierunddreißig Quadratcentimeter fertig zu stecken vermag; welchen Aufwand an Zeit dies für eine große Tapete erfordert, an der jedoch gewöhnlich mehrere Arbeiter beschäftigt sind, ist hiernach wohl annähernd zu bemessen, wie auch der Werth, den sie repräsentirt, dadurch in ein helles Licht tritt.

Der höchste Gehalt, den ein solcher Künstler bezieht, übersteigt nicht 2000 Franken, und vor der theilweisen Zerstörung der Gobelins durch die Commune befanden sich etwa fünfunddreißig solcher Kunstwirker dort.

Daß die Färbereien heute die höchste Stufe der Vervollkommnung erreicht haben, bedarf wohl keiner Darlegung; der alte Gluck würde sich wundern, wenn er heute die vierundzwanzig Nuancen seines Scharlachs vom tiefsten Roth bis zum feinsten Rosa, oder Grau von dem Dunkelgrau des Schiefersteins bis zu dem lichtesten Silbergrau der Perlmutter sehen könnte.

Schließlich sei es uns gestattet, noch eine kurze Darstellung der Entstehung und Entwickelung der Schwestermanufactur der Gobelins, der seit 1825 mit dieser vereinigten „Teppichweberei der Savonnerie“ zu entwerfen!

Neben den Tapetenwirkereien unterhielten die französischen Könige nämlich noch Teppichwebereien, in welchen Fußteppiche, doch auch Behänge, nach der Weise des Orients und anfänglich auch nach seinen Mustern, in Plüsch gewebt wurden. Nach den neuesten Forschungen war Johann Forstier der erste Teppichweber, welcher ein solches königliches Privileg erhielt. Er wurde im Louvre neben den früher vorgeführten flamändischen Tapetenwirkern untergebracht. 1615 hatte Maria von Medicis in dem damals vor Paris gelegenen Dorfe Chaillot ein Hospital für hundert arme Kinder errichtet, und zwar in einem großen alten Gebäude, in welchem schon seit langen Jahren eine Seifenfabrik bestanden hatte und das deshalb den Namen „la Savonnerie“ führte. In diese Savonnerie wurde die königliche Teppichweberei verlegt und die dort erzogenen Kinder zu Lehrlingen und Arbeitern für dieses Kunstgewerbe herangebildet. Die neue Anstalt behielt den obigen Namen bei und führt ihn in ihren Producten sogar noch heute, obgleich letztere nicht mehr in jenem alten Locale verfertigt werden.

Die Plüschteppiche, welche in der Savonnerie gewebt wurden, müssen wahre Wunderwerke gewesen sein; dafür spricht unter Anderem jener Riesenteppich, welcher aus zweiundneunzig Theilen bestand [127] und den ganzen Fußboden der überaus langen Louvregallerie bedeckte. Die Fabrik der Savonnnerie war stets mit Arbeiten überhäuft, da alle königlichen Gemächer, sammt den Treppen, mit reichen „türkischen“ Teppichen belegt wurden und weil ferner dieselben sich ziemlich schnell abnutzten und deshalb oft erneuert werden mußten.

So reichten denn unter Ludwig dem Vierzehnten die Producte der Savonnerie nicht mehr aus, und 1614, zwei Jahre nach Errichtung der Gobelin-Manufactur, wurde daher von Colbert eine zweite königliche Teppichweberei in Beauvais errichtet, die heute noch, wenn auch unter anderen Verhältnissen als zur Zeit ihrer Gründung, besteht und die herrlichsten Producte aller Art Weberei liefert. Die Savonnerie arbeitete bis zur Revolution fort, wo sie nur noch vegetirte. Unter Napoleon hob sie sich zwar wieder, doch Ludwig der Achtzehnte ließ sie eingehen, und 1825 wurden ihre Arbeiter denen der Gobelin-Manufactur zugesellt.

Die Gallerie der Gobelins, welche heute, nach dem Brande unter der Commune, nur 85 Nummern umfaßt, besteht genau zur Hälfte aus Erzeugnissen der Savonnerie, welche allerdings meistens aus neuerer Zeit stammen. Doch enthält das „Mobilier National“, das frühere „Garde-Meuble de la Couronne“, unter vielen anderen kostbaren kunstgewerblichen Gegenständen noch eine überaus große Anzahl von prachtvollen Teppichen und Tapeten.

Wer die Gobelin-Ausstellung besucht hat, der wird an der Hand obiger Daten sich den Genuß in’s Gedächtniß zurückrufen, den ihm der Anblick der herrlichen gewirkten Tapeten und Teppiche bereitet hat. Wer aber die Ausstellung noch nicht gesehen, der möge sich durch die hier gemachten Mittheilungen angetrieben fühlen, bei einem Besuche der Seinestadt an den Gobelins nicht vorüberzugehen; denn wenn auch heute in kleineren Verhältnissen, so gehört die Gobelin-Manufactur doch immer noch zu den anziehendsten Sehenswürdigkeiten von Paris, da ihre Tapeten und Teppiche unbedingt die künstlerisch schönsten und auch historisch interessantesten sind, welche existiren.


Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten.

Es ist in Deutschland wenig bekannt, welch hohen Werth unsere Nachbarnationen auf ihre Nordseebäder legen, mit welcher Rücksicht auf möglichsten Comfort diese Stationen gepflegt werden und einer wie großen Frequenz sich dieselben erfreuen. Die belgischen und holländischen Hauptstationen Ostende, Blankenberghe und Scheveningen haben in der begüterten deutschen Welt zahlreiche Verehrer. Aber ein Leben und Treiben, wie es sich in den Spätherbstmonaten an der englischen Küste in Brighton, Hastings und St. Leonards, Scarborough und anderen Orten entwickelt, findet man dort noch nicht, und von dem Werthe, welchen englische Familien einem Aufenthalte aus der Insel Wight, in Ryde, Sandown, Shanklin, Bonchurch, Ventnor und anderen Orten beimessen, hat man bei uns zu Lande kaum eine Ahnung.

Noch weniger ist in Deutschland bekannt, wie viel Dankenswerthes an den Seeküsten unserer Nachbarnationen für unbemittelte Kranke geschehen ist. Auf Grund der sicheren und weitverbreiteten Kenntniß von der unschätzbaren Heilkraft der Nordseeluft und des Nordseebades hat man überall an den Seeküsten Hospize geschaffen, welche alljährlich Hunderten die Gesundheit wiedergeben oder schwere Leiden erträglich machen. Mustergültig steht das schon im Jahre 1796 gegründete „National Hospital for the scrophulous poor of all England“ (Nationalhospiz für unbemittelte Scrophulöse von ganz England) in Margate da, mustergültig das Hospital für Schwindsüchtige in Ventnor. Für nicht weniger als drei Millionen Franken ist ferner an der französischen Nordküste in Berck-sur-mer ein Hospital für sechshundert Kranke errichtet, und in Scheveningen bietet die Sophia-Stiftung hundert Kranken Raum, während für Ostende eine halbe Million Franken zur Errichtung eines Kinderasyls und einer Kindercolonie disponibel geworden ist. Im Dänemark besteht ein Kinderhospiz in Refsnäes, und in Italien sind an den verschiedene Küsten gegenwärtig schon zweiundzwanzig Kinderhospize errichtet, nachdem der Segen des ersten derselben, welches im Jahre 1856 von Dr. Barellai in Viareggio gegründet wurde, zu immer neuen Nachahmungen aufforderte. Ein einziges derselben, das man in jüngster Zeit am Lido in Venedig erbaute, zählt allein hundert Betten; es wurde mit einem Kostenaufwande von 170,000 Lire hergestellt und dieser ganze Betrag fast ausschließlich von Privaten, Gemeinden, öffentlichen Instituten, Banken etc. aufgebracht.

Was bieten dagegen unsere deutsche Küsten? Kaum ein einziger Ort an der Nordseeküste hat Einrichtungen aufzuweisen, welche den Aufenthalt an demselben anziehend machen könnten, und unter den vielen deutschen Nordsee-Inseln beginnt auf Norderney, Borkum und Föhr erst eben eine Periode des Aufschwungs. Das Meer ist so reich an Schönheit, an gewaltigen Eindrücken, an heilender Kraft, daß man dafür gern einmal eine Zeit lang andere Naturschönheiten[WS 1] oder einigen häuslichen Comfort entbehrt. Die Oede der Dünen und Dünenthäler wird aufgewogen durch einen Strand, welcher uns täglich mit neuer Wonne erfüllt. Aber es ist nicht abzusehen, weshalb die Wohnungen auf unseren deutschen Inseln und an den Küsten so mangelhaft sein müssen, wie sie es der Mehrzahl nach noch sind. In dieser Beziehung wird durch eine gesunde Speculation noch Vieles besser werden müssen, und wenn die Regierungen es gleichzeitig übernehmen, durch Herstellung gemeinnütziger Einrichtungen nicht nur für die Sicherheit der Inseln selbst, sondern auch für die Annehmlichkeit des großen Verkehrs zu sorgen, so werden zahlreiche deutsche Familien nicht mehr Ostende, Blankenberghe und Scheveningen oder die englische Küste aufsuchen, sondern den deutschen Nordseegestaden zueilen und den Wohlstand dieser Inseln fördern.

Noch weniger als für die wohlhabenden Gesellschaftsclassen ist aber für die unbemittelte Welt an den Seeküsten Deutschlands geschehen. Für diese sind kaum die erste Anfänge gemacht. Auf Norderney existirt seit vier Jahren eine Diakonissen-Pflege-Anstalt für scrophulöse Kinder mit vierundzwanzig Betten, und besteht der Vorstand aus dem Grafen zu Inn- und Knyphausen, dem Ortsprediger Roedenbaek und dem Kaufmann Raß. Ein Arzt ist nicht in den Vorstand aufgenommen. Es sind bis dahin weder ärztliche, noch andere Berichte über die Anstalt erschienen, und man weiß deshalb auch nicht, welcher Art die Krankheitszustände der verpflegten Kinder und welches die Resultate des Aufenthalts derselben in der Anstalt waren.

Eine zweite Anstalt ist seit 1880 von der Flensburger Diakonissenanstalt in Wyck auf Föhr in’s Leben gerufen worden. Dieselbe wurde zunächst in einem gemietheten Locale etablirt und steht unter der ärztlichen Leitung des Comitémitgliedes Dr. Gerber in Wyck, doch auch von ihr sind bisher weder ärztliche noch andere Berichte veröffentlicht worden. In Groß-Müritz an der Ostsee sind in einem Hôtel drei Zimmer mit im Ganzen acht Betten unter ärztlicher Leitung hergestellt, und in Colberg besteht seit einem Jahre ein Institut, das sich „Christliches Curhospital und Heilanstalt für scrophulöse Kinder“ nennt und dreißig Betten für Unbemittelte aufweist; die Direktion dieser Anstalt führt der Geheimrath Dr. von Bünau.

Weitere Hospize an den deutschen Seeküsten existiren, so weit bekannt, nicht. Also: in der einen Anstalt Englands in Margate dreihundertfünfzig, in Berck-sur-mer sechshundert, in Scheveningen hundert, in den Hospizen Italiens gegen achthundert Betten für unbemittelte oder wenig bemittelte Kranke, an der ganzen Nord- und Ostseeküste Deutschlands kaum achtzig Betten!

Es ist nur zu begreiflich, daß sich angesichts dieser Verhältnisse endlich auch in Deutschland eine Bewegung entwickeln mußte, welche sich die Hebung des an den Seeküsten liegenden Heilschatzes in größerem Umfange, als es bisher geschehen ist, sowohl für Bemittelte wie für Unbemittelte zum Ziel steckt. Handelt es sich doch darum, ein Heilmittel zur vollen Anerkennung zu bringen, über dessen Wirkungen gerade in Deutschland auch die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen vorgenommen wurden, während in den benachbarten Ländern fast ausschließlich die Resultate der praktischen Erfahrung das Urtheil sprechen.

Auf der Versammlung in Berlin im April 1880 wurde zunächst vom Geheimen Medicinalrath Professor Beneke aus Marburg der Antrag gestellt, daß die Section für Kinderheilkunde es sich zur Aufgabe machen möge, an der deutschen Nordseeküste ähnliche Kinderheilstätten [128] in’s Leben zu rufen, wie sie in allen Nachbarstaaten in Blüthe stehen. Es wurde dabei hervorgehoben, wie verhältnißmäßig wenig in Deutschland die Heilkraft der Nordseeluft und des Nordseebades in ihrer vollen Bedeutung erkannt werde und wie doch durch die große Anzahl der Nordsee-Inseln die reichste Gelegenheit gegeben sei, diese Heilkraft zu verwerten. Der gestellte Antrag fand einstimmige Unterstützung, und es wurde sofort eine Commission gewählt, welche die Ausführung des Planes in nähere Erwägung ziehen sollte. Mitglieder dieser Commission waren die Herren Geheimer Medicinalrath Beneke, Sanitätsrath Dr. Fromm, erster Bade-Arzt auf Norderney, Professor Ewald, Professor Liebreich und Dr. Zuelzer in Berlin, sowie Professor Mosler in Greifswald. Die Commission erweiterte sich dann alsbald zu einem „Comité zur Errichtung von Kinderheilstätten an der Nordsee“, das die Namen der hervorragendsten Aerzte und akademischen Lehrer Deutschlands in sich vereinigte. Dieses Comité erweiterte sich noch im Jahre 1880 durch den Hinzutritt einer Anzahl angesehenster Männer aus den verschiedensten Berufskreisen zu einem aus fünfundsiebenzig Mitgliedern bestehenden Gründungscomité, welches am 3. April 1881 seine erste Generalversammlung in Berlin hielt.

Die Aufgabe, welche sich das Comité gestellt hatte, galt, dem ursprünglichen Antrage entsprechend, zunächst nur der Errichtung von Kinderheilstätten an den Küsten der Nordsee. Aber schon im September 1880 ging ein von einundvierzig Aerzten der baltischen Provinzen unterzeichneter Antrag bei dem Comité ein, die Ostseeküsten in den entworfenen Plan mit aufzunehmen und auch für diese die Errichtung von Kinderhospizen in’s Auge zu fassen.

Obwohl die Aufgabe des ursprünglichen Comités damit eine erheblich größere und schwierigere wurde, beschloß die Generalversammlung vom 3. April 1881 dennoch, den Antrag der baltischen Aerzte anzunehmen, und es constituirte sich nunmehr das Comité zu einem „Verein für Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten“ unter Feststellung eines Statuts und Einsetzung eines für das Jahr 1881 bis 1882 geschäftsführenden Vorstandes, bestehend aus Geheimen Medicinalrath Professor Beneke in Marburg, Professor Dr. Ewald in Berlin (Königgrätzerstraße 125) und Bankdirector Thorade in Oldenburg.

Seit fast einem Jahre ist dieser Verein nun in Thätigkeit, und in einem Aufruf hat sich derselbe zunächst an die weitesten Kreise Deutschlands mit dem Ersuchen gewandt, sein im reinsten nationalen Interesse begonnenes Unternehmen durch Geldbeiträge zu unterstützen. Der Verein will für keinen einzelnen Ort, für keine einzelne Provinz, für kein einzelnes Bundesland, sondern für das ganze Deutschland arbeiten, um alljährlich Hunderten von schwächlichen, scrophulösen oder zur Schwindsucht disponirten Kindern und jugendlichen Personen die Heilkraft der deutschen Seeküsten zu erschließen.

Freilich eine große, sehr große Aufgabe! Aber unter dem Beistande der ganzen Nation ist dieselbe dennoch bald zu lösen, und der Segen, welchen die zu gründenden Hospize über die deutsche Jugend verbreiten werden, wird dann in weiten Kreisen Anerkennung finden. Mit leuchtendem Beispiele ist in der Unterstützung der Vereinsbestrebungen die deutsche Kaiserin vorangegangen, und der deutsche Kronprinz und die Kronprinzessin haben das Protectorat über den Verein übernommen, der sich die Errichtung von Hospizen auf Norderney, in Wyck auf Föhr, in Groß-Müritz und in Zoppot als nächste Ausgabe gestellt hat; in zweiter Reihe werden Borkum und Sylt an der Nordsee und ein dritter noch nicht näher bestimmter Platz an der Ostsee folgen.

Für Norderney ist das größte aller Hospize bestimmt, weil Zugänglichkeit der Insel, Vorhandensein ärztlicher Kräfte, leichte Möglichkeit der Beschaffung aller Bedürfnisse etc. derselben den ersten Platz einräumen. Man beabsichtigt aus Norderney ein Hospiz für zweihundertundfünfzig Betten zu errichten, welches einen Kostenaufwand von circa 350,000 Mark erfordern wird. In der Voraussicht, daß diese Aufgabe erst im Laufe einiger Jahre gelöst werden kann, ist auf Norderney zunächst ein provisorisches Hospiz mit dreißig Betten eingerichtet, und dieses wird bereits gegen Ende Mai dieses Jahres zur Aufnahme von Kindern und jugendlichen Kranken bereit stehen. In Wyck auf Föhr ist nach getroffener Vereinbarung mit dem Diakonissenhause in Flensburg sofort ein Neubau in Angriff genommen worden, welcher einen Kostenaufwand von 60,000 Mark erforderlich macht. Derselbe soll Raum bieten für fünfzig bis sechszig Kinder, zehn Pensionäre und zehn bis fünfzehn Feriencolonien-Kinder. Der Bauplan ist vom Herrn Regierungsbaumeister Andersen in Flensburg entworfen, und der Bau selbst wird unter dessen Leitung noch in diesem Jahre vollendet werden.

Während auch für Groß-Müritz ein Neubau projectirt wird und die Pläne zu demselben gegenwärtig ausgearbeitet werden, ist für Zoppot durch die Zuwendung eines Legates von sechstausend Mark seitens des verstorbenen Fräuleins Louise Abegg in Wiesbaden der erste Grund für ein Hospiz gelegt. An jedem der genannten Orte ist der Verein durch ein Localcomité vertreten.

Die Generalcasse des Vereins befindet sich bei der Spar- und Leihbank in Oldenburg unter Leitung des Bankdirectors Thorade, und durch die jährliche Zahlung von zehn Mark oder einmalige Zahlung von hundert Mark wird die Mitgliedschaft des Vereins erworben. Die Zuwendung von dreitausend Mark berechtigt für Lebenszeit zur Disposition über ein Bett in einem der bestehenden Hospize, und zwar alljährlich für die Dauer von sechs Wochen, und das in dieser Weise gestiftete Bett trägt den Namen des „Stifters“.

Bereit zur Entgegennahme von Beiträgen sind außer den oben genannten derzeitigen Mitgliedern des Vorstandes die Herren Geheimer Medicinalrath Dr. Mettenheimer in Schwerin und Geheimer Sanitätsrath Dr. Abegg in Danzig für die Ostseehospize, Apotheker Ommen und Gemeindevorsteher Kuhlmann aus Norderney, Landvogt Forchhammer, Dr. Gerber und Kaufmann Martens in Wyck auf Föhr und Landvogt Hübbe in Keitum auf Sylt für die Nordseehospize.

Für geregelte ärztliche Aufsicht ist in allen Hospizen gesorgt, wie auch regelmäßige jährliche Berichte nicht nur über die Verwaltung derselben, sondern auch über die Behandlung einzelner Krankheitszustände und die bei derselben erzielten Erfolge ertheilt werden sollen; dieselben haben nicht nur als Rechnungsablage zu dienen, sondern auch einen klaren Einblick zu gewähren in den thatsächlichen Nutzen, den die Hospize schaffen, und werden in dieser Weise der medicinischen Wissenschaft selbst zu Gute kommen.

Es ist ein beklagenswerther Mangel bei vielen deutschen Wohlthätigkeitsanstalten, daß die Vorstände derselben, um die Druckkosten zu sparen, dem unterstützenden Publicum so selten genügende Berichte zugehen und dieselben namentlich nicht zu einer Quelle der Belehrung werden lassen. Der Segen, namentlich von Hospitälern, kann durch derartige wahrheitsgetreue und ungeschminkte Berichte verdoppelt werden. Auf die Herstellung dieser Berichte wird der Verein für Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten deshalb eine besondere Sorgfalt verwenden.

Möge das menschenfreundliche Unternehmen denn auch in dem großen Leserkreise der „Gartenlaube“ der teilnehmenden Förderung empfohlen sein! Die Statuten des Vereins haben die Bildung von „Bezirksvereinen“ für die Gründung von Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten vorgesehen, und wo immer Freunde der Sache geneigt sind, solche Bezirksvereine zu bilden, wird denselben von jedem Mitgliede des Vorstandes dankbar die Hand geboten und alles erforderliche Material zugestellt werden. Wenn sich die Hoffnung, daß der Verein in weitesten Kreisen Anerkennung finden möge, erfüllt, so ist die Gewißheit vorhanden, daß in wenigen Jahren die deutsche Nation gleich ihren Nachbarnationen sich im Besitze einer Reihe von Gesundheit und Leben rettenden Seehospizen befinden wird. – Die Tragweite der Wirksamkeit dieser Hospize wird eine noch beträchtlich größere werden, nachdem eben in diesem Winter auf Norderney der Beweis geliefert worden ist, daß sich die Heilkraft des Nordsee-Inselklimas weit über die Badezeit, das heißt die Zeit der sogenannten officiellen Saison, hinaus erstreckt. Bei der Einrichtung der Hospize auch für die Spätherbst- und Winterzeit werden dieselben nahezu das ganze Jahr hindurch Kranke aufzunehmen im Stande sein und einer um so größeren Anzahl von Kindern zu Nutzen kommen. Die Zugänglichkeit Norderneys wird durch die im Herbst dieses Jahres bevorstehende Eröffnung der Eisenbahn von Emden nach Norden um ein Beträchtliches erleichtert werden, und so trifft eine Anzahl von Umständen zusammen, um der Entwickelung des dortigen Hospizes ein günstiges Prognosticon zu stellen. Was der einzelnen Kraft unmöglich ist, wird der vereinten Arbeit auch hier zum Segen des Vaterlandes gelingen.


[129]

Kloster Lehnin.

Ein Stück märkischer Romantik.

Nein, sie ist in Deutschland nicht so ganz ausgestorben, die blaue Wunderblume, die vor Zeiten eine so große Rolle gespielt und einem ganzen Abschnitte unserer Literatur ihren Namen gegeben hat. Aber sie blüht selten an den großen Heerstraßen des modernen Verkehrs; sie hat sich verschämt in die Einsamkeit geflüchtet und fristet in der friedlichen Stille abseits gelegener Thäler ihr träumerisches Dasein. Wer aber ein guter Botaniker und daneben zufällig ein Sonntagskind ist, der wird sie noch heute zu finden wissen, und wer sie fand, den erquickt die Blume der Romantik noch heute dankbar mit ihrem Dufte.

Im Zauch-Belziger Kreise der ob ihrer landschaftlichen Nüchternheit mehr als billig verrufenen Mark, zwei Meilen südöstlich von Brandenburg und gegen drei Meilen südwestlich von der königlichen Residenzstadt Potsdam entfernt, liegt Lehnin, ein Städtchen von gegenwärtig etwa 2000 Einwohnern. Von Großkreuz, einer Station der Berlin-Magdeburger Bahn zwischen Potsdam und Brandenburg, erreicht man den kleinen Ort zu Fuß in ungefähr zweieinviertel Stunden; zieht man Fahrgelegenheit vor, so bietet sich entweder die kaiserliche Post selbst, oder aber eine Art von Postfuhrwerk dar, welches ein Briefträger auf eigene Rechnung hält und bei dem nur die Adjustirung des Kutschers an einen Zusammenhang mit der gedachten wichtigen Reichsinstitution erinnert. In beiden Fällen verringert sich die Entfernung von der Bahnstation Großkreuz nach dem Städtchen Lehnin bis auf etwa eine Stunde, doch ist hierbei zu bemerken, daß leider die postalische Verbindung zwischen beiden Punkten eine herzlich mangelhafte genannt werden muß, dergestalt, daß der Reisende, der wegen seines Gepäckes oder aus sonstigen Gründen sich auf diese Art der Beförderung angewiesen sieht, unter Umständen Stunden lang zu warten hat, bevor das Gefährt sich in Bewegung setzt. Heiliger Stephan, hilf!

Die Klosterkirche von Lehnin.
Originalzeichnung von W. Schuffenhauer.

Von Kreuz aus führt der Weg zunächst durch fußtiefen Sand, durch den die Pferde sich nur mühsam hindurcharbeiten. Später folgt eine Strecke Lehmweg, der den Thieren gestattet, sich von den soeben überstandenen Strapazen einigermaßen zu erholen. Zuletzt erreichen wir glücklich eine wohlgepflegte Chaussee, auf der uns die Rosse in nunmehr beschleunigter Gangart unserem Reiseziele entgegenführen.

Lehnins Lage ist – wenigstens nach märkischen Begriffen – eine überaus anmuthige, man könnte sagen: romantische. Die Hochebene von Kreuz und ausgedehnte Fichtenwaldungen verdecken den Ort, bis man ihn, wenn auch nicht in einem tiefen Thale, so doch in einer dem Anscheine nach früher sumpfig gewesenen Niederung plötzlich vor sich sieht; Seen, Wälder und kleine freundliche Häuser mit weißen Giebeln und rothen Ziegeldächern geben das Bild des Ganzen.

Ueber die Gründung Lehnins cursiren verschiedene Sagen, von denen hier wenigstens eine Platz finden möge. Otto der Erste aus dem askanischen Hause, der Sohn Albrecht’s des Bären, des Wendenbesiegers in der Mark, hatte sich, von seinem Gefolge getrennt, auf der Jagd verirrt und war unter einem schattigen Eichenbaume eingeschlafen. Da sah er im Traum eine Hirschkuh, die ihn ohne Scheu unablässig verfolgte, bis er sie, der Belästigung überdrüssig, durch einen wohlgezielten Pfeilschuß niederstreckte. Das [130] seinen Fürsten suchende Gefolge, unter welchem sich zufällig einige Räthe („Geheime Hofräthe“ würden wir heute sagen) befanden, rieth ihm nach Anhörung des Traumes, an dieser Stelle eine Burg zu erbauen; denn die Hirschkuh bedeute das Wendenvolk. Otto aber erwiderte: „Eine Burg will ich hier gründen, aber eine solche, von der aus alle teuflischen Widersacher verjagt werden durch die Stimmen geistlicher Männer, und ich selbst will darinnen den jüngsten Tag erwarten.“ So ward das Kloster um’s Jahr 1180 erbaut, und Otto nannte es „Lehnin“, zu deutsch: Hirschkuh. Also die Sage, der augenscheinlich gewisse geschichtliche Thatsachen zu Grunde liegen.

Wie man weiß, hatte Albrecht der Bär die Wenden in der Zauche durch Waffengewalt besiegt, die im Teltow aber durch Vertrag sich unterworfen. Aeußerlich beugten sie sich vor der Macht, innerlich aber hielt dieses zähe Volk nach wie vor fest an seinen heidnischen Gebräuchen und an seiner Nationalität. Ein vollständiger Sieg der Deutschen konnte nur durch Einführung des Christenthums errungen werden. Mehr als Albrecht erkannte dies Otto, und so wählte er sich zu diesem Zwecke diejenigen Verbreiter der christlichen Lehre aus, welche ganz und voll von deren Wahrheit durchdrungen und der großen Sache die schwersten Opfer zu bringen bereit waren: er ließ die Cisterzienser Mönche kommen.

Wie die Wenden sich mit Vorliebe an Sümpfen anbauten, so suchten auch die Cisterzienser die düstersten und unwirthlichsten Plätze auf, um von da aus durch Wort und Beispiel auf das Volk zu wirken. Die Zahl der Mönche belief sich auf einige dreißig; sie bildeten einen Convent, der einen aus freier Wahl hervorgegangenen Abt an seiner Spitze hatte. Wie mächtig übrigens Kloster Lehnin in kurzer Zeit emporgeblüht sein muß, das geht unter Anderem auch aus der Thatsache hervor, daß von hier aus die Klöster Chorin, Himmelpfort und Neuzelle gegründet und mit Mönchen besetzt wurden.

Der erste und zugleich bedeutendste Abt von Lehnin war Sebaldus, der in Ausübung seiner Amtspflicht den Märtyrertod starb. Ueber die Ursache seines Todes lauten die Ueberlieferungen verschieden. Der im Volke verbreitetsten Legende zufolge ging Sebaldus in Begleitung eines Mönchs eines Tages nach einem entfernter gelegenen Orte; auf dem Rückwege kehrten sie ermüdet in das Dorf Namitz ein. Hier erregt die Ankunft der beim Volke verhaßten Mönche große Aufregung; die Kinder erheben ein Geschrei, und die in den Häusern anwesenden Frauen suchen sich eiligst zu verstecken. Der Abt, nichts Böses ahnend, tritt in eins der Häuser ein und setzt sich, um auszuruhen, auf einen umgestürzten Backtrog, unter dem eines jener furchtsamen Weiber einen Unterschlupf gesucht hatte. Ihr Kind eilt zu dem Vater auf’s Feld und meldet ihm, der Abt sei im Hause und säße bei der Mutter. Daraufhin stürzen die Männer in’s Dorf, bewaffnen sich mit Aexten und dringen auf den Abt ein; dieser ergreift die Flucht und erklettert im nahen Walde einen Eichbaum. Vielleicht wäre er hier, durch dichtes Laubwerk versteckt, gerettet worden, hätte er nicht zum Unglück ein Bund Schlüssel verloren, das von den Verfolgern gefunden ward und ihn so verrieth; der Baum wurde gefällt und der Abt getödtet. So berichtet die Sage.

Die Eiche, unter welcher Otto, der Stifter des Klosters, begraben sein soll, ließ man so lange stehen, bis das Dach der Kirche aufgelegt werden mußte, worauf man sie bis zur obersten Stufe der zum Chore hinaufführenden Treppe absägte. Der Stamm ist heute noch sichtbar, doch erzählt man, derselbe habe keine Wurzel, sondern sei auch unten glatt abgeschnitten. Zu erwähnen ist noch, daß die Einrichtung des Klosters erst zweiundachtzig Jahre nach seiner Gründung, und zwar im Jahre 1262 durch den Erzbischof von Magdeburg und die Bischöfe von Havelberg und Brandenburg bewirkt wurde.

Die Aufgabe der Mönche von Lehnin, nämlich die Beförderung der deutschen Cultur im Zauch-Belziger Kreise und im Teltow, war längst erreicht, als die Reformation dem Fortbestehen des Klosters ein Ende machte. Im Jahre 1539 ward die neue lutherische Lehre unter Joachim dem Zweiten in der Mark eingeführt, doch gebot der Kurfürst die Aufhebung des Klosters aus Pietät gegen seinen dort ruhenden Vater und aus persönlicher Hochachtung für den dasselbe damals verwaltenden Abt Valentin nicht sofort. Nachdem jedoch Letzterer im Jahre 1542 das Zeitliche gesegnet hatte, wurde Lehnin in ein kurfürstliches Amt verwandelt; das Kloster hat also im Ganzen 362 Jahre bestanden.

Die ehemalige Klosterkirche hat eine romanische Basilika, ein langes und in schönem Verhältniß der Breite zur Höhe gehaltenes Mittelschiff und zwei ungefähr halb so hohe Seitenschiffe. Ein Querschiff, welches Chor und Langschiff trennt, bildet mit diesem ein römisches Kreuz, und ein Theil des Langschiffes liegt jenseits des Querschiffes und vertieft das Chor wesentlich. Auch die äußeren Formen der Kirche sind einfach und edel gehalten, und zwar der Hauptsache nach in romanischem, einzelne Bautheile jedoch, die erst in späterer Zeit hinzugefügt worden, in gothischem Stile. Nachdem unter König Friedrich dem Zweiten behufs Gewinnung von Baumaterial die Seitenschiffe und das Gewölbe des Langschiffes bis zum Querschiffe weggerissen und an deren Stelle eine Balkenschaldecke angebracht worden war, wurde von Friedrich Wilhelm dem Vierten zuerst der Gedanke angeregt, die Lehniner Klosterkirche in ihren ursprünglichen Formen wieder herzustellen, und wurden noch unter der Regierung dieses kunstsinnigen Fürsten die bezüglichen Pläne gezeichnet; da sich jedoch kein vollständiges Bedürfniß herausstellte, so unterblieb einstweilen die Ausführung. Je rascher sich aber Lehnins Einwohnerschaft durch die seitdem erfolgte Anlage größerer Ziegeleien vermehrte, um so dringender machte sich ein Zurückgreifen auf jenen Gedanken der Erneuerung nöthig, und so wurde denn die Wiederherstellung der Kirche nach den vorhin erwähnten Plänen in ihrem alten Grundriß und in ihren alten Formen vor etwa zehn Jahren in Angriff genommen und unlängst beendigt. Merkwürdig war es, daß die königliche Genehmigung zum Aufbau genau in den Zeitpunkt fiel, da König Wilhelm in Versailles zum deutschen Kaiser proclamirt wurde, was uns Veranlassung giebt, auf die Lehninsche Weissagung näher einzugehen.

(Schluß folgt.)




Die Herrschaft des französischen Geistes.

Eine Studie aus der Zeit.

Auf meinem Büchertische finde ich in diesem Jahre drei literarische Novitäten, welche biographische Bilder aus der Pariser Welt enthalten. Ich blicke in das erste Buch und finde im Inhaltsverzeichniß unter anderen Namen Victor Hugo, Labiche, Zola; ich blättere im zweiten und finde Zola, Sarah Bernhardt, Labiche, Gambetta; ich schlage das letzte auf und finde Gambetta, Sarah Bernhardt, Emile Zola, Victor Hugo. Im verflossenen Jahre fand ich um dieselbe Zeit die Novitäten von drei anderen deutschen Autoren an derselben Stelle, und jede enthielt die Portraits von Victor Hugo, Gambetta, Zola, Daudet, Sarah Bernhardt und anderen französischen Berühmtheiten. Diese Erscheinung und der Umstand, daß auch noch unzählige Feuilletons in jedem Jahre sich mit Paris beschäftigen – giebt nicht dies alles zu zeitgemäßen Erwägungen Anlaß?

In einem holländischen Volksliede wird Paris die größte Uhr der Welt genannt, welche allen Völkern die Stunde wies. Das ist ein zutreffender Vergleich. Mag heute das Werk dieser Uhr in manchen Theilen etwas rostig geworden sein, immer noch vernehmen wir das laute Ticken ihres Pendels, und immer noch schauen wir nach dem weithin leuchtenden Zifferblatt. Manches Volk ist es müde geworden, sich nach der Pariser Zeit zu richten, uns in Deutschland aber verkündet die Presse noch immer gewissenhaft, was an der Seine die Glocke geschlagen hat. Von dem Baron Grimm an, welcher im vorigen Jahrhundert die deutschen Fürstenhöfe mit pikanten Neuigkeiten aus Paris versah, bis auf die heutigen deutschen Journalisten in der Seinestadt hat es jenseits des Rheins an allzu bereitwilligen Berichterstattern nicht gefehlt, welche unsere Presse zu einem Canal für die Uebertragung des französischen Geisteslebens nach Deutschland gemacht haben. Seit Börne und Heine ist dieser Canal ganz besonders breit geworden, und man muß gestehen, daß französische Ideen bei keinem andern Volke so tief durchgesickert sind, wie gerade bei uns.

Man schaue nur auf den Büchermarkt! Heute, wo die besten Romane und Gelehrtenwerke unserer heimischen Autoren nur zum [131] Theil und unter kläglichen Bedingungen Verleger finden, wird Neues aus Paris mit Freuden erworben. Heute, wo die Werke unserer ersten Dichter und Schriftsteller kaum fünf Auflagen erzielen, werden in Berlin nach annähernder Schätzung von Zola’s „Nana“ gegen 8000 Exemplare verkauft. Noch war „Die Tochter Nana’s“, das Werk der Schüler des naturalistischen Meisters, nicht zur Verschickung gelangt, und schon hatten deutsche Sortiments-Buchhändler zahlreiche Bestellungen darauf gemacht. Für die Uebersetzung Daudet’scher Romane bezahlen große deutsche Journale höhere Honorare als für die besten deutschen Originalwerke. Daudet wird in Deutschland gelesen, wenn uns Deutschen in seinen Romanen auch gar vieles ganz unverständlich bleiben muß, weil es allzu französisch ist.

Und ist es auf dem Bühnengebiete anders? Den Zierden deutscher Schauspielkunst wird es bei Gastspielen schwer, ein volles Haus zu erzielen, der großen Tamtamschlägerin Sarah Bernhardt aber bietet man fabelhafte Summen und zahlt sie auch. An unsere Tendenzstücke legen wir den strengsten kritischen Maßstab; aber dem Sturmlaufen der französischen Dramatiker gegen ein Ehestandsgesetz, das uns nichts angeht, folgte unser Publicum mit Vergnügen.

Während deutsche Theaterdirectoren für die Inscenirung heimischer Novitäten geringe Mühe aufwenden und schmale Honorare zahlen, werden um französischer Operetten und Ehebruchsdramen willen Reisen nach Paris gemacht, große Summen im Voraus bezahlt, Gäste engagirt, neue Decorationen gemalt, Costüme nach Pariser Modellen angefertigt. Durch die Franzosen ist auch der ungeheure Toilettenaufwand auf unsere Bühne gekommen, welcher Talent und Moral zu ersticken droht, und von vielen Bühnen kann man schon heute betreffs ihrer Schauspielerinnen sagen: die Kleider sind ihr besserer Theil. In Wien hörte das feine Ohr einer Berichterstatterin im Nachtkleid der von Sarah Bernhardt dargestellten „Cameliendame“ „die Cypressen rauschen“. Ich fürchte, diese Cypressen der Pariser Kleiderkünstler werden auf das Grab manches deutschen Talents verpflanzt werden.

Für die Werke der plastischen Kunst ist es in der Schätzung des deutschen Publicums leider gleichfalls ein Vorzug, wenn sie aus Paris kommen. Pariser Künstler jeder Art finden in Deutschland ein reiches Erntefeld und ziehen schwere Summen Geldes aus dem „Milliardenland“. Könnte Fürst Bismarck einen Schutzzoll für deutsche Kunst- und Luxusindustrie einführen, er würde einen erheblicheren Gewinn erzielen, als durch Besteuerung fremden Roheisens. Selbstverständlich wird im Ernst kein vernünftiger Mensch eine geistige Grenzsperre herbeiwünschen, welche uns zu chinesischen Zuständen führen müßte, aber wir sollten mit allen Mitteln der französischen Ueberlegenheit zu begegnen suchen, welche unsere eigene Production verkümmert und uns auf dem Weltmarkte schädigt.

Der Umstand, daß Frankreich so viele Länder dieser Erde, vor allem aber Deutschland seiner Kunst tributpflichtig macht, liegt nicht so sehr an der geistigen Ueberlegenheit, wie an der Tradition, an der Art, wie Paris seine Hervorbringungen durch die Presse fördert, und endlich an der Zuvorkommenheit, mit welcher die deutsche Presse den Ruhm der Franzosen verbreitet und erhöht. Sehen wir die Mittel an, durch welche der französische Geist seine Herrschaft behauptet, so wird sich die Lehre für uns von selbst ergeben.

Den Ursachen nachzuforschen, durch welche Frankreich diese Herrschaft gewann, würde hier zu weit führen. Bekannt ist, daß von Heinrich dem Vierten ab die geeinte Nation sich auf dem industriellen Gebiet rühmlichst hervorthat, daß von dem Hofe des Sonnenkönigs, dank der aufblühenden Kunst, ein Glanz ausging, der die Blicke der ganzen gebildeten Welt nach Frankreich lenkte; bekannt ist ferner, daß die Aufklärungsphilosophen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Geister der ganzen Culturwelt in eine vorwärts drängende Bewegung brachten, welche zum Umsturz alter verrotteter Institutionen führte. Der Mittelpunkt des geistigen und commerciellen Lebens in Frankreich war Paris; hier concentrirten sich alle Kräfte; hier wurden neue Ideen geboren und der Welt durch tausend Organe verkündet. Eine Erfindung, ein Kunstwerk, ein Mode-Artikel, welcher die Anerkennung von Paris fand, besaß einen Empfehlungsbrief für ganz Europa. Wie das „Roma locuta est“ („Rom hat gesprochen“) entscheidend wirkte für die politische Welt des Alterthums, so war das Urtheil von Paris in Sachen des guten Geschmacks maßgebend für die moderne Welt.

Nach dem Zusammenbruch des ersten Kaiserreichs hatte Frankreich – und mit ihm Paris – viel von seiner Machtstellung eingebüßt, und während die Franzosen dem Phantom des Kriegsruhms nachjagten, hatte das Volk der Denker unter schweren Leiden auf dem geistigen Gebiete achtbare Eroberungen gemacht. Die Aufklärungsmänner sind im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr in Frankreich, sondern in Deutschland zu suchen; unsere Literatur zeitigte Werke von unvergänglichem Werth, und heute steht unser Culturleben sicher auf ebenso hoher Stufe wie das französische. Aber trotz unserer Fortschritte, trotz unserer neuerrungenen politischen Machtstellung übt gerade in der neuesten Zeit der französische Geist die altgewohnte Herrschaft aus.

Woher rührt diese Zauberkraft der Lutetia?

Nun, mir scheint, wir würden nicht nach dem Zifferblatt von Paris schauen, wenn dort die Zeiger nicht wirklich munter vorwärts rückten. Ja, die Franzosen schreiten rascher vorwärts, als wir, weil ihre Geistesbildung tiefer in der Gegenwart wurzelt, als die unsrige. In Frankreich haben die Lebenden Recht, bei uns die Todten. Dabei befinden sich die lebenden Franzosen wohl und die lebenden Deutschen übel. Wir thun wohl daran, uns der idealen Güter zu erfreuen, aber sehr übel, ewig bei der Bewunderung dieser Schätze zu verharren und das Neue immer mit dem Maßstab des Alten zu messen. Unsere Literarhistoriker, Aesthetiker und Feuilletonisten vergraben sich nach echt deutscher Art förmlich in den Nachlaß der Classiker, stöbern nach Briefen der Bettina, nach Aufzeichnungen Eckermann’s und jubeln, wenn sie ein Lichtchen gefunden haben, durch welches sich das mystische Dunkel im zweiten Theil des „Faust“ erhellen ließe. Da wird mit eifrigem Bemühen ein verrostetes Scherzspiel des Hans Sachs für die Bühne blank gescheuert, und wer gar ein Päckchen vergilbter Briefe des Heinrich von Kleist fand, darf kühn auf seinen Fund hin eine neue Monatsschrift gründen; das Glück kann ihm gar nicht fehlen. Kein Wunder also, daß die, welche zeitlebens in Anschauung der Classiker versunken waren, wenig Verständniß für das Neue zeigen, das aus dem Leben der Gegenwart hervorging. Sie beurtheilen alle Productionen nach den Werken der alten Meister und vergessen ganz, daß Diese auch einst Kinder ihrer Zeit waren; sie vergessen, daß das Beste, was Jene geschaffen, tief im Geistesleben ihrer Zeit wurzelt, einer Zeit also, die nicht mehr die unsrige ist, und daß Altmeister Goethe das kluge Wort sprach: „Greift nur hinein in’s volle Menschenleben!“ Unsere Maler, die zum Theil diesen Rath befolgen, mußten sich in Berlin von einem süddeutschen Aesthetiker eine Bußpredigt gefallen lassen; denn der Abfall von den großen Vorbildern ist Ketzerei und führt zum Abgrund des Alltäglichen. Nach dem französischen Beispiel haben wir zur Förderung der Künste Preise, Medaillen und Auszeichnungen anderer Art eingeführt, und obgleich dieselben noch ziemlich dürftig bemessen sind, so könnte doch viel Gutes damit erreicht werden, wenn man die Selbstständigen ermuntern wollte und nicht die Nachahmer. Wir belohnen die Stehenbleibenden, Frankreich die Fortschreitenden, und das sichert dieser Nation in erster Linie die Aufmerksamkeit der Nachbarvölker; denn das Neue hat für alle Menschen einen unwiderstehlichen Reiz. Der Wechsel belebt und verjüngt in der Kunst wie im Leben, wie der Strom, welcher rasch fluthet, Wellen hat und Alles mit sich fortreißt. In Paris kennt man kaum ein größeres Lob, als wenn die gute Gesellschaft erklärt: das ist neu. Bei uns fragt man vor der neuen Erscheinung: paßt sie in die alte Schablone? Dadurch, daß die französische Kunst aus der Zeitströmung heraus geboren wird, daß sie alle Fragen der Gegenwart erfaßt und dieselben der Lösung näher zu bringen oder wiederzuspiegeln sucht, bleibt sie vor Einseitigkeit bewahrt und fördert fortwährend Neues und Anziehendes zu Tage. In Paris verzweifelt man nicht gleich, wenn das Neue schlecht ist, sondern man glaubt an den Triumph des Guten. Träte bei uns ein Zola auf, so riefe man sofort nach der Polizei, jammerte über den Verfall der schönen Literatur, und die Romantiker hingen ihre Harfen an den Weiden der Ilm auf und weinten an der Weimarer Dichtergruft blutige Thränen. Wenn dagegen in Frankreich ein fragwürdiges Literaturproduct an’s Tageslicht tritt, dann sagen sich die Beständigen ruhig: diese neue Dichtung wird bald in eine Sackgasse gerathen, und der Strom des Lebens wird über sie wegfluthen. Victor Hugo zerschellt nach den Angriffen der Naturalisten durchaus nicht seine Leier, sondern dichtet mit freudigem Muthe „Die vier Windrichtungen des Geistes“. Das Erhabene geht nicht unter, selbst wenn das Triviale sich noch so breit macht. Nehmen wir aber den Fall an, eine ganze Nation verfolge eine Zeitlang Irrwege, so wäre das nicht schlimmer, als [132] wenn sie wie der Bär im Winterschlafe das Fett aus den eigenen Pfoten saugte.

Dafür, daß jede neue Regung auf dem geistigen Gebiete recht deutlich bemerkt werde, sorgt die französische Presse. Uns in Deutschland würde es befremden, wenn ein berühmter Bühnendichter oder Romancier in der Tagespresse das Leben und Wirken eines minder bedeutenden Collegen schilderte. Alphonse Daudet aber schreibt ein hübsches Feuilleton über den Possendichter Goudinet; er schildert einem Wiener Journale den Lebensgang und die Bedeutung Edmond de Goncourt’s und nimmt sich anderer Collegen im Auslande an. Zola rühmt seine Nachahmer und fördert sie in Paris wie im Auslande. In einem Petersburger Journale kritisirte er die französischen Romantiker in nicht eben freundlicher Weise, aber er weckte damit doch das Interesse der dortigen Gesellschaft für französisches Geistesleben. Der Einwand, daß die weite Verbreitung ihrer Sprache den Franzosen einen mächtigen Vorschub leiste, ist hinfällig; denn auch das deutsche Sprachgebiet ist ein sehr weites. Deutsche Journale sind außer in Deutschland und Oesterreich bekanntlich auch in der Schweiz, in Rußland, in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, ja in Australien in reicher Zahl zu finden, und wir könnten weithin wirken für deutsche Capacitäten auf dem künstlerischen, dem wissenschaftlichen und industriellen Gebiete, wenn wir ernstlich wollten. Nur zu oft aber helfen wir, statt zunächst an uns selbst zu denken, den Einfluß der Franzosen fördern.

Auf der Eselsbank. 0Nach dem Oelgemälde von Gustav Igler.

Deutsche Schriftsteller fühlen sich weit eher veranlaßt, amerikanischen Journalen über Daudet und Zola, über Gambetta und Grévy, als über Spielhagen und Schweichel oder über Eugen Richter und Bismarck zu berichten. Sind wir denn so arm an neuen Kunstwerken, sinnreichen Erfindungen, Forschern und Politikern, daß wir nach den großen Städten Amerikas, nach Zürich und Petersburg unsere Anschauungen über „Nana“ berichten müssen? Fort und fort wird deutsche Tinte verspritzt, um uns Victor Hugo, George Sand, Gambetta, Alphonse Daudet, Gréwy, Labiche und Zola in einer neuen Beleuchtung zu zeigen.

Thäten wir nicht besser, die geistigen Beziehungen mit dem uns so eng verwandten Oesterreich nach allen Kräften zu verstärken? Jeder Berliner hat ein dutzend Mal Victor Hugo schildern hören, aber wie Viele vermögen uns zu sagen ob Robert Hamerling noch lebt oder schon todt ist? Ein Wiener Kunstmäcen, welcher über Meissonier vortrefflich unterrichtet war, erklärte jüngst einem französischen Gaste, welcher Aquarelle des berühmten Berliner Malers Adolf Menzel bewunderte, mit großer Zuversicht, Menzel sei ein ganz talentvoller junger Mann und gehöre der Düsseldorfer Schule an. Wer heute die Wiener Journale liest, muß zu der wenig tröstlichen Ansicht kommen, daß die Kluft zwischen den Deutschen im Norden und jenen Oesterreichs sich mehr und mehr erweitere, und das ist namentlich deshalb der Fall, weil starke französische Einflüsse sich allerorts geltend machen. In den Privattheatern Wiens werden fast alle Pariser Lustspiel- und Possennovitäten vorgeführt, und Sarah Bernhardt’s Gastspiel verfolgt man bis Jassy und Odessa hin mit derselben Sorgfalt, als handle es sich um eine Kaiserreise; sogar ihre Cassenrapporte läßt man sich telegraphisch melden.

Ein Wunder ist es freilich nicht, daß man in Deutschland und Oesterreich französische Schriftsteller so gern bei sich einkehren sieht; denn jene prunken niemals mit Gelehrsamkeit, sondern machen [133] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



von ihrem Wissen den denkbar bescheidensten Gebrauch – und das ist in der Belletristik vollkommen richtig. Der Franzose beugt sich in der Tagespresse zu seinem Publicum herab, um von möglichst vielen verstanden zu werden; er giebt sich selten das Ansehen geistiger Vornehmheit, sondern sucht mit Recht alle Dinge in eine anziehende und geschmackvolle Form zu kleiden. Der Grundsatz Voltaire’s: „Jedes Genre ist willkommen, ausgenommen das langweilige“, hat in Frankreich volle Geltung in der Literatur behalten; bei uns dagegen hat die Langeweile Zutritt in die angesehensten Zeitschriften, wenn sie von der Gelehrsamkeit eingeführt wird.

In Deutschland wundert man sich, daß die berühmtesten Dichter Frankreichs es nicht verschmähen und niemals verschmäht haben, in den Dienst der Journalistik zu treten. Voltaire, Rousseau und Diderot arbeiten fleißig für die Journale; Alphonse Daudet berichtet der „Neuen Freien Presse“ über französische Ammen und verkehrte Kinderpflege; er übersendet der „Gegenwart“ Skizzen aus dem französischen Leben; Victor Hugo schreibt über Wohlthätigkeitsanstalten; Gerard de Nerval schildert die Zufluchtsorte der Armen und Elenden von Paris; Zola widmet dem Leben der niedrigsten Volksclassen eine Reihe von Feuilletons. So vergolden französische Dichter von großem Ruf und Ansehen die bemerkenswerthesten Erscheinungen des socialen Lebens mit dem Zauber ihrer Kunst. Immer bleiben die französischen Dichter in der Fluth des Lebens, erforschen die Strömungen der Zeit, erwärmen sich für die Leiden, Arbeiten und Schöpfungen des Volks und gelangen so zur Erkenntniß der höheren Aufgaben der Nation. Das ist ein Weg, den die deutsche akademische Ueberhebung und Pedanterie nicht begreift, den sie mißbilligt – sie mißbilligt ihn mit großem Unrecht; denn der Dichter soll den Zeitgenossen voranschreiten, das aber kann er nur, nachdem er lange Zeit mit ihnen Schritt gehalten. Wohl ziemt es der Jugend, durch die Thore der Poesie in’s werkthätige Leben zu schreiten; wohl sollen wir uns an den mustergültigen Schöpfungen der Meister für ideale Ziele begeistern, die Kraft des reifen Mannes aber gehört der Gegenwart mit ihren Leiden und Hoffnungen, mit ihren Stürmen und Errungenschaften.

Von diesem zeugungskräftigen Grunde aus sollte das Werk des Künstlers sich erheben zu dem duftigen Reiche des Ideals; denn wie der Baum nur stark und schön genannt zu werden verdient, welcher seine Wurzeln tief in’s Erdreich senkt und seine Wipfel hoch in die blaue Luft zu strecken vermag, so sind auch nur diejenigen Kunstwerke von höchstem Werthe, welche tief im Leben wurzeln und sich hoch in die Gedankenwelt erheben.

Von unseren berühmten Dichtern wüßte ich im Augenblick nur Spielhagen als einen zu nennen, der im Journalismus von Zeit zu Zeit – wie Zola sagt – seine Kraft stählt und seine Waffen blank und scharf wetzt, der sich ferner seiner minder berühmten Collegen und anderer Künstler liebreich annimmt und im Ausland das Verständniß für deutsches Geistesleben zu fördern sucht.

So sehr die Nationaleitelkeit zu verachtet ist, welche sich auf der Bühne und in Romanen in sogenannten „patriotischen“ Reden breit macht, so sehr erscheint andererseits unser Vertrauen in die eigene Kraft als ein berechtigtes. Die Presse ist das Organ der Nation; durch sie müssen wir die geistige Production im Innern zu fördern und zu ermuntern und ihr dem Auslande gegenüber Geltung zu verschaffen suchen. Das oft mißbrauchte Wort Goethe’s: „Nur Lumpe sind bescheiden“, ist hier an seinem Platz. Statt [134] zehnmal im Jahre das Leben Victor Hugo’s, Gambetta’s, Zola’s und Sarah Bernhardt’s zu schildern, thäten wir wahrlich besser daran, wir zögen die Verdienste der Unsrigen an’s Licht; statt dem Nichtigen und Unbedeutenden aus dem Leben großer Todten nachzujagen, sollten wir lieber die Aufstrebenden unter unseren Zeitgenossen zu muthigen Geistesflügen ermuntern. In dem Streben nach Vollkommenheit soll eine Nation von der andern lernen, und wir wollen und müssen auch von Frankreich lernen, das darf aber nicht auf Kosten unserer eigenen Kunst, unserer eigenen Literatur, unserer eigenen Wissenschaft geschehen; wir dürfen mit Frankreich als ebenbürtige Rivalen in die Schranken treten und müssen alle Kräfte anspannen, um auf dem geistigen Gebiete von keiner Nation überflügelt zu werden.

R. Elcho.     




„Die Lerche des deutschen Frühlings“.
Von Fr. Helbig.

Es war eine sinnige That, als baierische Kammerdeputirte ihrem einstigen Collegen, dem am 22. Januar dieses Jahres verstorbenen Joseph Völk in Augsburg, einen Kranz auf den Sarg legten, der neben Lorbeeren, den Blättern des Ruhmes, auch Schneeglöckchen, die Blumen des Frühlings, enthielt. „Es will Frühling werden in Deutschland,“ hatte er, den sie hier in ein frühes Grab senkten, im Wonnemonat des Jahres 1868 vorahnend ausgerufen – ein Wort, das ihm später den sinnreichen Ehrennamen, „die Lerche des deutschen Frühlings“ eintrug. Und in den Lenz- und Honigmond des neuerstandenen Reichs hinein fallen auch die Tage von Völk’s Ruhm und seiner unbeirrten Größe. Als aber der Sommer gekommen, als die heiteren Flitterwochen der jungen Einheit und Freiheit vorüber und die herben Tage des ehelichen Zwistes, der Streit zwischen Haupt und Gliedern, erschienen waren, da fing der feste Mann an zu wanken und zu schwanken, und der energische Kopf verlor das sichere Fühlen.

Völk war wie so Viele, deren politische Thätigkeit sich zurückdatirt bis vor die achtundvierziger Jahre, bis in die Zeiten des Harrens und Sehnens, ein Idealpolitiker. Er trieb die Politik nicht blos mit dem Verstande, er trieb sie noch weit mehr mit dem Herzen, und solchen Politikern geschieht es nur zu oft, daß die ewig rollende Woge der Zeit ihnen einen Conflict vor die Füße wirft, dem wohl ihr Kopf, nicht aber ihr Herz gewachsen ist; sie können von den alten Idealen nicht loskommen und opfern lieber ihre eigene politische Existenz, als auch nur ein Theilchen jener Ideale. Es liegt eine herbe Tragik in dem Schicksal dieser Märtyrer, eine Größe, der wir, wie allem echt Tragischen, unsere Theilnahme nicht versagen können.

In der That breitet sich denn auch Völk’s politisches Leben vor uns aus wie ein Drama. Es hat seinen Aufstieg zur Höhe, seine Umkehr und seine Katastrophe, aber die letztere ist, da das rein menschliche Ende nicht als solche erscheint, noch nicht eingetroffen, nein, sie bereitet sich erst für die nächste Zeit vor. Der Held des Einzeldramas hat den Eintritt der politischen Katastrophe nicht mit erlebt, und wie im ernsten Drama die aufsteigenden Acte immer die wohlthuendsten sind, da sie den Helden noch in seiner Reinheit und der Freiheit von Irrthum und Fehler zeigen, so sind sie es auch in dem Drama, das wir hier zu entwickeln gedenken, im Lebensdrama: „Völk“. Sie vor Allen machen uns den Mann lieb und werth und legen uns die Pflicht auf, an seinem frischen Grabe nicht wort- und theilnahmlos vorbeizugehen.

Joseph Völk war – um hier nur einige Daten aus seinem vielbewegten äußeren Leben kurz zu berühren – am 9. Mai 1819 in Mittelstetten bei Augsburg geboren und hatte in den Jahren 1838 bis 1842 in München Jura studirt und mit einer Preisschrift über die „Handlöhne“ den juristischen Doctorgrad erworben. Drei Jahre später beginnt mit seiner selbstständigen Praxis als Rechtsanwalt auch schon sein Eintritt in’s politische Leben. Der sechsundzwanzigjährige Advocat wurde als Vertreter des Kreises Günzburg in den baierischen Landtag gewählt. Er hat seinen Sitz dort innebehalten durch die Stürme der kommenden Zeit hindurch und vom Anfange bis zum Ende alles Reaktionäre in Staat und Kirche, alle die vielfachen antinationalen Bestrebungen im Schooße der Ministerien und der in Baiern allzeit besonders mächtigen Ultramontanen mit siegreichem Worte bekämpft.

Zu der Zeit als die deutsche nationale Bewegung in Fluß kam, Ende der fünfziger Jahre, gründete er als Pendant zu dem in Norddeutschland gestifteten „Nationalvereine“ mit seinen baierischen Collegen Marquardt, Barth und Brater eine „deutsche Partei“ und suchte in der baierischen Kammer durch seinen auf die Reform der Bundesverfassung gerichteten Antrag vom 14. August 1859 den Bestrebungen jener Partei ein reales Ziel zu stecken – damals freilich ohne Erfolg.

Aber auch unmittelbar im Volke suchte er den nationalen Gedanken wach zu halten und vor der feindlichen Gegenströmung zu schützen. Auf den Festen und in den Volksversammlungen, an denen jene Zeit so überreich war, warf er die zündenden Feuerströme seiner Worte in die Massen hinein; war er doch durch die Gewalt seines Organs, durch das Imponirende seiner Erscheinung, durch die Volksthümlichkeit seines Wesens, die Energie seines Vortrags und die Wärme seiner Empfindung ein Volksredner im besten Sinne des Wortes.

Die deutschen Abgeordnetentage fanden in ihm einen regen Theilnehmer. Seine Rede auf dem Frankfurter Tage am 20. Mai 1866 als Referent über die Frage der Neutralität der deutschen Mittelstaaten steigerte sich zur Bedeutung eines geschichtlichen Moments. Mit kühner Initiative, mit männlicher Unerschrockenheit und zugleich als geschickter Anwalt für seine Sache suchte er in jener Rede die damals mächtig angefachte mißtrauische Antipathie des deutschen Südens gegen das aufstrebende Preußen zu erdrücken.

Als dann das baierisch-österreichische Bündniß durch den Majoritätsbeschluß der Kammern dennoch zur Thatsache geworden war, strebte er dem damaligen Minister von der Pfordten als Resultat desselben wenigstens die Aufstellung eines deutschen Reformprojects abzugewinnen. Auch hier vergebens. Und als nun durch den Ausgang des sechsundsechsziger Krieges die Bahn des Anschlusses an Norddeutschland geebneter erschien, da war die Zahl der Feinde eher noch gewachsen als gemindert; denn es war nicht blos die sogenannte patriotische Partei, besser gesagt die des Adels und der Ultramontanen, sondern auch die Partei der Radikalen, welche sich dem Anschlusse Baierns an die norddeutschen Staaten feindlich entgegenstellten.

Mit gewaltiger Hand erdrückte Völk die letztere noch in ihrem Werdeprocesse, ehe sie bis zu der Macht emporstieg, welche sie in dem benachbarten Württemberg errang. Dann gelang es dem vereinten Mühen Völk’s und seiner Freunde, die Majorität der Abgeordnetenkammer für den Zollvereinsantrag und das Schutz- und Trutzbündniß mit dem norddeutschen Bunde zu gewinnen. Dieser Beschluß, den ein damaliges baierisches Volksblatt in einer die Zeitströmung kennzeichnenden Weise als den „Begräbnißact des baierischen Selbststands und Lebenswohls“ bezeichnete, wurde zugleich ausschlaggebend für das zögernde Schwabenland, und es war besonders Völk’s Kammerrede vom 27. October 1867, welche den entscheidenden Erfolg herbeiführte.

Der Wahlkreis Immenstadt-Kempten sandte Völk in’s deutsche Zollparlament. Dort hielt er am 28. Mai 1868 die Eingangs erwähnte Frühlingsrede, in welcher er die Ueberbrückung der Mainlinie nur als eine Frage der Zeit, als eine halb und halb schon vollzogene Thatsache bezeichnete. Völk’s warmes Eintreten für die nationale Einigung von Süd und Nord blieb, wie man bestimmt behaupten kann, nicht ohne Einfluß auf die rasche Entschließung Baierns in dem kritischen Momente des Jahres 1870.

Die Ränke der Jesuiten und Ultramontanen hatten es indeß zuwegs gebracht, daß Völk in seinem alten Wahlkreise nicht wieder gewählt wurde. Dafür wählte ihn sein heimisches Augsburg. Aber schon bei der ersten Wahl in’s deutsche Reichsparlament fiel ihm sein alter Allgäuer Wahlkreis, den er scherzend als den „höchsten im Reiche“ bezeichnete, wieder zu.

Im deutschen Parlamente gründete Völk in Verbindung mit seinen süddeutschen Genossen Marquardt, Fischer, Barth und Fürst Hohenlohe die „liberale Reichspartei“. Als indeß die alten Freunde bei den Neuwahlen im Jahre 1874 sich nicht wieder [135] vollzählig zusammenfanden, schloß Völk sich der nationalliberalen Partei an und zählte fortan zu ihren thätigsten und regsten Mitgliedern, zugleich zu den zuverlässigsten Förderern der damaligen Politik des Reichskanzlers.

Bekannt ist, daß die Einführung der Civilehe und der Civilstandsregister namentlich aus der Anregung Völk’s hervorging. Die Verhältnisse in Baiern hatten ihm die Nothwendigkeit derselben nahe gelegt, war doch für die katholische Geistlichkeit das Trauungsmonopol zu einer Handhabe religiöser Intoleranz geworden, und machte sie bei Eingehung gemischter Ehen ihren Consens doch geradezu von der Bedingung abhängig, daß die Brautleute sich verpflichteten, ihre späteren etwaigen Kinder katholisch erziehen zu lassen, während von katholischen Eheleuten das Bekenntniß zum Unfehlbarkeitsdogma verlangt wurde.

Nachdem die baierische Abgeordnetenkammer einen bereits eingebrachten Gesetzentwurf, wenn auch mit geringer Mehrheit, abgelehnt hatte, blieb nur der Reichstag als weitere Instanz für die Abhülfe der schreienden Mißstände übrig, und so brachte Völk schon im Jahre 1872 eine Resolution an die Reichsregierung ein. Sie wurde angenommen, als aber die letztere mit der Einbringung des Entwurfes zögerte, veranlaßte er mit Hinschius die Initiative des Reichstags, und da die Sache in einer Commission vergraben zu werden schien, brachte er in der Frühjahrssession 1874 den Antrag von Neuem ein. Nun erlangte der Entwurf mit großer Mehrheit die Annahme.

In seiner auch hier wieder wesentlich entscheidenden Rede führte Völk aus, daß der Staat, indem er das Recht der Eheschließung selbst beanspruche, im Grunde genommen nichts weiter verlange, als was ihm von Alters her bereits zustand; denn die Eingehung der Ehe vor Laien war die ursprüngliche, die echt deutsche Form. Erst später, führte der Redner weiter aus, und es ist geboten, gerade jetzt wieder auf das damals Gesagte zurückzukommen – erst später habe die Kirche, treu ihrem Grundsatze, sich in alles zu mengen, dem Staate sein gutes Recht entzogen. Der ultramontane Abgeordnete Dr. Jörg wollte umgekehrt in dem Gesetze einen Eingriff des Staats in die Rechte der Kirche finden, und ihm hielt Völk mit Recht entgegen: wenn man sagen wolle, der Staat habe hier einen Rechtsbruch begangen, so sei ihm das gerade so unerfindlich, als daß die vatikanischen Decrete nichts an der katholischen Kirche geändert hätten.

Wie im Reichstag dem Reichskanzler, so war Völk in der baierischen Kammer dem liberalen Ministerium Hegnenberg-Lutz eine kräftige Stütze, wie denn auch die Einfügung des sogenannten Kanzelparagraphen in das Reichsstrafgesetzbuch, der dem Mißbrauche der Kanzel und der geistlichen Stellung zu staatsfeindlichen Agitationen steuern soll, wesentlich das Werk des den Antrag der Regierung lebhaft unterstützenden Völk ist.

Stand somit Völk bis dahin immer auf dem Boden der nationalliberalen Partei, so wurde dieser feste Boden für ihn ein schwankender, als die neue Wirthschafts- und Zollpolitik des Reichskanzlers ihren opferreichen Einzug in das Haus der Abgeordneten hielt. Völk hatte seine national-ökonomische Bildung aus den Schriften des schutzzöllnerischen Volkswirthes List gezogen, und die Beziehungen persönlicher Freundschaft zu den Großindustriellen seiner baierischen Heimath hatten ihn darin nur bestärkt.

Als daher nach dem Ende der Aera Delbrück der Reichskanzler, dem Völk mit hoher persönlicher Verehrung zugethan war, die gleichen schutzzöllnerischen Bahnen wie Völk’s volkswirthschaftliches Vorbild, Friedrich List, zu wandeln begann, da war gegen diesen gemeinsamen Druck der Gegendruck der Fractionspolitik nicht mehr stark genug, und die Katastrophe war unausbleiblich. Sie brach denn auch herein und zwar leider weit schroffer und herber als die Verhältnisse dazu nöthigten; sie wurde herbeigeführt durch den ominösen Antrag Frankenstein, der für die Parteiverhältnisse, besonders aber für die nationalliberale Partei eine so verhängnißvolle Tragweite gewann. Dieser Zusatzantrag des Centrumsmitglieds von Frankenstein vom Zolltarifgesetzentwurf vom 10. Juli 1879, beabsichtigte die Ueberweisung des Ueberschusses der Zölle und der Tabakssteuer an die einzelnen Bundesstaaten nach Maßgabe der Matricularbeiträge und unter Zugrundelegung eines dreijährigen Durchschnittsergebnisses.

Die liberalen Parteien erblickten in diesem Antrage eine Hintansetzung des konstitutionellen Budgetrechtes, eine Verschiebung der Verhältnisse der Reichsgewalt zu der Vertretung in den Einzelstaaten, eine Conservirung der Matricularbeiträge, deren endliche Beseitigung durch eine Steigerung der Reichseinnahmen erwünscht erschien. Bennigsen, der Führer der nationalen Partei, stellte deshalb einen Gegenantrag, der die Selbstständigmachung des Reichs und seiner Finanzwirthschaft durch die jährliche Feststellung der Zollsätze im Reichshaushaltetat und damit zugleich eine Wahrung der konstitutionellen Garantien bezweckte. In der Fractionssitzung kam es bereits zu einem heftigen Für und Wider. Dennoch erklärten am Schlusse Völk und Treitschke, daß sie, obwohl sie dem Frankenstein’schen Antrage eine principielle Bedeutung beimessen könnten, dennoch gegen denselben stimmen würden.

In der Reichstagssitzung Tags darauf legte Fürst Bismarck, wie er das gern in allen entscheidenden Lagen zu thun pflegte, das ganze Gewicht seiner, wir möchten sagen historischen Persönlichkeit zu Gunsten des von der Regierung adoptirten Antrags Frankenstein in die Wagschale. Er werde, sagte er, den Weg, den er betreten und den er für recht und gedeihlich halte, bis an’s Ende gehen. Möge er darum Haß oder Liebe ernten. Die Einigung Deutschlands zu fördern und so zu erhalten, daß sie dauernd erhalten bleibe, aus dem freien Willen aller Mitwirkenden, sei von Anfang an sein Streben gewesen.

Dieser Berufung an seinen eigenen Idealismus widerstand Völk nicht. Angesichts der Bennigsen’schen Erklärung, daß die ganze nationalliberale Partei beschlossen habe, gegen den Antrag Frankenstein zu stimmen, und des von der Regierung erklärten Bruchs mit den liberalen Parteien, stimmte er für den Antrag. Er könne, meinte er in seiner Rechtfertigungsrede, die grundsätzlichen Bedenken gegen denselben nicht theilen, mindestens seien sie nicht so tiefgreifend, daß er es verantworten könne, deshalb dem deutschen Volke das ganze große Reformwerk des Reichskanzlers vorzuenthalten. „Wo Begriffe fehlen,“ schloß er mit einem schwungvollen Citate aus Goethe’s „Faust“, „da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.“

Das Citat war unglücklichen Ursprungs; denn es entstammt bekanntlich dem Munde Mephisto’s, der die Worte dem Schüler gegenüber gebraucht, mit dem er seinen Spott treibt. Weit schlimmer aber war es, daß Völk nicht das that, was Treitschke that, daß er seinen faktischen Bruch mit der nationalliberalen Partei nicht sofort vollzog, sondern vielmehr abwartete, bis die Parteigenossen in einer sehr erregten Sitzung ihm ein Mißtrauensvotum, das eine Minorität sogar bis zu einem Tadelsvotum steigern wollte, zuerkannten.

Völk’s gemüthliche und versöhnliche Natur mochte wohl trotz seiner Stimmabgabe einen so schroffen Bruch nicht erwartet, eine Aussöhnung nicht für unmöglich gehalten haben, aber nirgends herrscht das Princip des Unversöhnlichen wohl so sehr wie auf dem Gebiete der Politik. Völk büßte seine That mit dem Fluche politischer Vereinsamung, da die neugebildete Gruppe Schauß-Völk zu keiner selbstständigen Bedeutung gelangte, und das mag er tief empfunden haben, er, der so gern unter Vielen stand und sich gern von Vielen gehört und geehrt sah. Sein Herz mochte nach dem, was er früher im Dienste des Vaterlands gethan, die strenge Logik der Thatsachen als bitteren Undank empfinden. Und es ist ja wahr: er hat dem deutschen Vaterlande viel, sehr viel geopfert, nicht blos an geistiger Kraft, auch an äußeren Gütern. Seine advocatorische Praxis hätte ihm ein großes Vermögen gesichert, wenn er ihr seine Zeit und seine Kraft voll hätte widmen wollen. Doch blieb diese Uneigennützigkeit wenigstens nicht ganz ohne dankbare Anerkennung; denn an seinem fünfundzwanzigjährigen Kammerjubiläum übergaben ihm seine politischen Freunde und Anhänger ein Haus in Augsburg als Dotation für sein opferreiches Wirken. Er hat den behaglichen Besitz, die Erfüllung eines längst gehegten Wunsches, nicht lange genossen, und auch die kurze Ruhe wurde ihm noch durch den frühzeitigen Tod seines ältesten Sohnes Josef tief vergällt, desselben, der, in der Liebe zum deutschen Vaterlande mit dem Vater wetteifernd, als der „jüngste Soldat der deutschen Armee“ – er war damals erst fünfzehn Jahre alt – 1870 in den Kampf gegen Frankreich gezogen war. Dann schlichen sich die Schatten finsterer Krankheit auch noch in’s Haus und mißgönnten Völk den Humor, dem der Frohgesellige sich allezeit so gern hingegeben.

Völk starb, wie die Zeitungen berichteten, an der vollständigen Degeneration des Herzens, des Herzens, das immer so warm geschlagen für des Volkes Wohl und des Reiches Größe.

Uneigennützig und selbstlos hat Völk den besten Theil seiner Zeit und seiner Kraft dem Vaterlande gewidmet; eingedenk des [136] Wortes: „Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles setzt an ihre Ehre.“ Der Tod tilgt alles Herbe und Unversöhnte: so ließen auch die drei liberalen Parteien des deutschen Reichstags dem alten treuen Genossen durch den Reichstagsabgeordneten Armand Busch einen Kranz auf den Sarg legen, „auf den Sarg“, wie ihr Sendbote sprach, „des trefflichen Mannes und braven Patrioten, dem es das deutsche Volk niemals vergessen wird, daß er das Vaterland so treu geliebt hat.“



Blätter und Blüthen.



Nachrichten über Vermißte. In Folge unserer im vorigen Jahrgang der „Gartenlaube“, Nr. 8, 20 und 35 veröffentlichten Vermißtenlisten sind außer den bereits mitgetheilten noch folgende Nachrichten über dort genannte Personen eingegangen:

Ueber Hermann Feustel, Steingutdreher aus Dresden, verheißt Herr Anton Walz in East Liverpool, Ohio (Nordamerika), genaue Nachrichten; wir bitten die Angehörigen sich direct an diesen Herrn zu wenden. Die uns nachträglich noch mitgetheilte Adresse Feustel’s ist: „East Palestine Cl. Co. (Ohio)“.

Freudig überrascht wurden wir hinsichtlich des Zimmermanns Wilhelm Holz aus Greifswald. Wir hatten die Nachricht erhalten, daß derselbe auf einem amerikanischen Kriegsschiff („Oneida“), das in Folge des Zusammenstoßes mit einem englischen Kriegsschiffe in der Nähe der japanischen Küste zu Grunde ging, mit 250 Mann der Besatzung wahrscheinlich seinen Tod gefunden habe. Sein Name habe wenigstens auf der Verlustliste des Schiffes gestanden. Da werden wir am Schluß des Jahres mit der Kunde überrascht, daß Herr Wilhelm Holz noch wohlbehalten und in den angenehmsten Verhältnissen lebt und nur in elf Jahren weder Zeit noch Veranlassung fand, an seine alte Mutter zu schreiben. Er hat sich in Queensland niedergelassen, dort eine Deutsche geheirathet und konnte, als die „Gartenlaube“ ihn an seine Pflicht erinnerte, seiner Mutter auch das Bild ihres Enkels senden.

Der junge G. Hübner ist, in Folge unseres Aufrufs (1881, S. 336) gefunden und glücklich wieder heimgekehrt.

Auch dem alten Vater Knopf in Weida haben wir gute Nachricht über seinen Sohn bringen können. Derselbe lebt in der Nähe von Coritiba, der Hauptstadt der brasilianischen Provinz Parana, eine Nachricht, die wir dem Herrn Postagenten C. Lange zu Joinville in Donna Francisco zu verdanken haben.

Der junge Buchbinder Cajetan Wolfgang Köppel, der in Nr. 20 (1881), auf S. 336 gesuchte blondlockige und durch eine Stirnnarbe besonders gekennzeichnete Sohn einer Wittwe in München, ist an verschiedenen Orten Mitteldeutschlands als Handwerksbursche gesehen worden. Möchte ihn doch Jemand an seine sich in Gram verzehrende Mutter erinnern!

Mrs. Anna Rhaesa Ames in Camden, Maine (Nordamerika), hat in Deutschland statt des vermißten Vaters einen Vetter gefunden, dessen Mutter (Emilie, nicht Amelie) eine Schwester des Gesuchten war.

Wir hätten fast daran gezweifelt, daß die „Gartenlaube“ ihre Aufspürkraft bis in’s birmanische Reich erstrecken werde, und doch hat sich dies erwiesen. Wir suchten dort einen Genfer, J. F. Bouant, und erhalten durch die Firma J. M. Stohmann n. Comp. in Rangoon die Nachricht, daß unser Vermißter dort, in Mandalay, 1865 am Sonnenstich gestorben sei.

Von den auf den Umschlägen der Heftausgabe der „Gartenlaube“ für Nordamerika gesuchten Vermißten sind drei gefunden worden:

Gustav Krause meldet sich uns aus Jersey City Heights, New-Jersey, und beklagt, daß er seit langer Zeit ohne Nachricht von seinen Angehörigen sei.

Robert Schumann lebt noch, wie er uns selbst schreibt, in Winona, Staat Minnesota.

Julius Kern betreffend wird uns aus San Francisco geschrieben, daß nach dem Adreßbuche der Stadt zwei Personen dieses Namens sich dort befinden, deren Adressen den Angehörigen mitgetheilt worden sind.

Draußen „in der Welt“ gesucht und weit näher entdeckt wurde O. R. Zischang, der zu Mühlhausen im Elsaß Arbeit und Herd, aber leider auch nicht die Zeit gefunden hat, dies den Seinigen mitzutheilen.


Ehe wir nun die neue Vermißten-Liste zum Abdruck bringen, müssen wir das Ergebniß unserer nachstehenden Bitte abwarten. Es ist seit der Veröffentlichung der letzten Liste eine starke Anzahl Meldungen zu einer neuen eingegangen; in derselben Zeit wurden uns aber auch mehrere dieser Vermißten von den Angehörigen selbst als erledigt angezeigt. Solche Fälle kommen, wie wir aus Erfahrung wissen, häufiger vor, ohne daß wir pflichtschuldig davon benachrichtigt werden. Da nun doch der Raum der „Gartenlaube“ zu werthvoll ist, um für unnöthig gewordenes Suchen nach Vermißten verwendet zu werden, so bitten wir sämmtliche Einsender der vom vorigen Jahre datirenden Zuschriften wegen Vermißter, durch Postkarte an die Redaction der „Gartenlaube“ zu erklären, ob dieselben noch Gültigkeit haben oder nicht.

Da über die Hälfte dieser Einsendungen auch an dem Mangel genügend bezeichnender Angaben über Person, Aeußeres, Alter, Beruf und etwaige Besonderheiten der Vermißten leidet, so ersuchen wir dringend, in der erneuerten Zuschrift diesem Mangel genau (und mit möglichst lesbarer Handschrift) abzuhelfen. Wo dies nicht geschehen, müssen die Gesuche unberücksichtigt bleiben, da der Abdruck so ungenügender Anfragen ebenfalls nur Raumverschwendung sein würde.

Wiederholen müssen wir ferner die Bemerkung, daß die „Gartenlaube“ mit ihrer Hülfe erst dann eintritt, wenn die obrigkeitlichen Nachforschungen nach den Bewußten ohne Erfolg waren. Seitdem wir uns eines „Deutschen Reichs“ erfreuen, ist uns in dem „Auswärtigen Amt“ desselben eine Hülfe geboten, welche durch ihre Gesandten und Consuln ebenso gut wie die „Gartenlaube“ über die cultivirte Erde reicht, und im Innern des Reichs sind die Sicherheitsbehörden für Jedermann vorhanden. Also: erst die Obrigkeit, dann die „Gartenlaube“! Wenn wir bei den Bitten alter armer Eltern eine Ausnahme machen, so geschieht’s, um sie nicht um den Trost der Hoffnung zu verkürzen, die sie schon aus dem Abdruck der Nachfragen nach ihren Vermißten schöpfen.

Ohne Weiteres in den Papierkorb gehören alle anonymen Zuschriften, und dies um so mehr, als wir schon in einigen derselben mehr Steckbriefe, als liebevolle Nachfragen zu erkennen hatten.

Wir richten diese Bitten und Bemerkungen nur in dieser öffentlichen Weise, durch die „Gartenlaube“, an die Einsender, weil in allen Zuschriften derselben ausdrücklich versichert wird, daß sie Leser der „Gartenlaube“ sind, und zwar „die eifrigsten“ und meistens „Jahre lang“. Trotz alledem müssen wir immer wieder versichern, daß die Gartenlaube“ noch nie eine Zeile „Inserat“ abgedruckt hat und daß ihre Nachforschungen nach Vermißten nur ein freier Liebesdienst auf einem Gebiete sind, auf dem

oft nur sie noch helfen kann.
Die Redaction.




Institute für Körpergewichtswägungen. Der in Nr. 2 des Jahrgangs 1881 der „Gartenlaube“ von Geh. Medicinalrath Professor Beneke in Marburg gegebenen Anregung zufolge sind in verschiedenen Städten (Hamburg, Bremen, Berlin, Stettin u. a.) Körpergewichtsbestimmungs-Institute eingerichtet oder in der Errichtung begriffen, und dieselben haben sich sowohl den Aerzten wie dem Publicum als sehr willkommene und nützliche Einrichtungen bewährt. Die regelmäßig, bei Kindern halbjährlich vorgenommenen Wägungen, einschließlich der gleichzeitigen Längenmessungen des Körpers, verschaffen den Eltern derselben eine fast absolute Gewißheit darüber, ob die gesundheitsgemäße Entwickelung ihrer Kinder in normaler Weise fortschreitet oder ob ein äußerlich vielleicht noch gar nicht wahrnehmbarer Krankheitszustand vorhanden ist. Die für den letzteren Fall zu erlangende Gewißheit giebt dann Veranlassung, rechtzeitig der Entwickelung einer weiteren Erkrankung vorzubeugen, und es werden so nicht nur manche Sorge, sondern auch viele Kosten erspart.

In den Jahresberichten des Vereins für Kinder-Feriencolonien finden wir fast überall die Körpergewichte der Kinder vor der Abreise, nach der Rückkehr und einige Monate nach der letzteren als Beweise für die Zuträglichkeit der Ferienaufenthalte im Walde oder auf dem freien Lande angeführt. Bei der immer wachsenden Theilnahme an den Feriencolonien sollte dafür gesorgt werden, daß in allen Städten, welche Feriencolonien einrichten, ein zuverlässiges Körperwägungs-Institut besteht.

Für den Arzt haben sich die Institute als besonders werthvoll herausgestellt. Nicht nur, daß sie demselben ein zuverlässiges Urtheil darüber verschaffen, ob ein Kind oder ein Patient überhaupt ein für sein Alter normales Körpergewicht besitzt, – ein Urtheil, welches oft durch den bloßen Augenschein durchaus nicht gewonnen werden kann – die Wägungen sind auch fast unentbehrlich, um den richtigen Fortschritt in der Genesung von Krankheiten zu constatiren, oder um Gefahren vorzubeugen, wie denn zum Beispiel ein englischer Arzt (Dr. Dobell) nachgewiesen hat, daß die schwindsüchtigen Zustände meistens, ehe noch irgend ein locales Leiden nachzuweisen ist, mit einer Körpergewichtsabnahme, als erstem wichtigstem Symptome beginnen.

Man hat den Werth der Körperwägungen noch lange nicht genügend erkannt. Das Pfund Butter oder der Sack Reis, welchen die Mutter für ihre Kinder kauft, pflegt sie als gute Hausfrau sorgfältig nachzuwiegen, um keinen Schaden zu leiden. Darf ihr das Gewicht ihres Kindes gleichgültiger sein und wird durch die Bestimmung desselben nicht oft der größte Schaden verhütet werden?!

Seit der Aufforderung zur Errichtung von Körperwägungsstuben ist bei Theodor Firsten in Cassel ein „Lebensbuch“ von einem nicht genannten Verfasser erschienen, welches bestimmt ist, ganz regelmäßige Aufzeichnungen über die Entwickelung des einzelnen Kindes, und so auch über sein von Halbjahr zu Halbjahr fortschreitendes Körpergewicht in sich aufzunehmen. Es sei dieses Buch, als mit den Zwecken der Körpergewichtsbestimmungen in nächstem Zusammenhänge stehend, hiermit dringend empfohlen. Die Zwecke und Aufgaben desselben finden sich in einer Vorrede zu dem Buche ausführlich erörtert.





Berthold Auerbach †! – Die „Gartenlaube“ hat abermals mit dem Tode einer unserer Literaturgrößen den Verlust eines alten treuen Mitarbeiters zu beklagen: Fern vom Vaterlande, in Cannes, wo er Heilung seiner Leiden gesucht, ist Berthold Auerbach am 8. Februar gestorben, während seine Freunde daheim sich im Stillen darauf vorbereiteten, am 28. Februar den siebenzigsten Geburtstag des allgeliebten Dichters und Mannes würdig zu feiern. Wie die „Gartenlaube“ es sich, hervorragenden Todten gegenüber, seit Jahren zur Pflicht gemacht, wird sie auch dieses ihres Mitarbeiters Andenken durch Bild und Wort ehren.

Die Redaction.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Natürschönheiten